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Der Schrein der Zeit

Sawako und die Krieger vom Aokigahara
von

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Überraschendes Angebot

Die Sonne zog sich, nachdem sie den ganzen Tag lang das Land in ihr Licht getaucht hatte, hinter die dichten Bäume des Waldes zurück. Von den hohen Baumkronen aus fielen tiefe Schatten und die Wärme des Tages verschwand fast ebenso schnell wie das Licht. Der Himmel färbte sich rot. Es war ein schöner Kontrast zu den nun schon fast schwarz wirkenden Bäumen. Sawako beobachtete das Schauspiel, ohne sich zu bewegen. Sie hatte sich seit Stunden nicht mehr gerührt. Was hätte sie auch tun sollen? Nervös im Kreis laufen hatte sie schon nach dem zweiten Tag abgehakt. Auf der Veranda sitzen und das mehr oder weniger aufregende Treiben im Hof beobachten war spätestens am Ende des dritten Tages unzumutbar unspektakulär, denn schnell hatte sie erkannt, dass die gleichen Bauern die Wäsche trugen, die Soldaten die gleiche Runde gingen und die Dienstmädchen in denselben Ecken tratschten. Zu gerne hätte sie Mäuschen gespielt und gelauscht. Selbst Klatsch und Tratsch über fremde Leute wäre ihr eine willkommene Abwechslung gewesen. Und wer weiß, vielleicht tuschelten sie auch über Sawako, die mysteriöse Gefangene. Noch besser, dann hätte sie wenigstens mitreden können. Aber nein, auch der vierte und nun auch der fünfte Tag verstrichen, ohne die kleinste Veränderung.

„Fünf Tage“, grummelte sie. Sie hatte in dieser Zeit kaum mehr gesehen als das Zimmer, den Flur zum Bad, das Bad selbst und den Ausblick in den Garten. Das konnte man wirklich nicht Gefahr von Reizüberflutung nennen. Und unglücklicher Weise hatte sie ihre alte Angewohnheit vor sich hin zu reden, auch wenn keiner da ist, wiedererlangt. Darauf hätte sie durchaus verzichten können. Die Soldaten, die sich abwechselnd vor ihrem Zimmer positionierten, mussten sie inzwischen für verrückt halten, falls sie das nicht schon von Beginn an taten. Sie glaubte langsam zu verstehen, warum im Fernsehen Gefängnisinsassen immer verrückt wurden und komplett durchdrehten. Sie hatte sich selbst schon fast an dem Punkt gesehen, als am Nachmittag ein Käfer ihre Aufmerksamkeit erregte und sie ihm ihr Leid klagte. Und das Traurige daran war, dass der Käfer ein weitaus besserer Zuhörer war als ihr Dienstmädchen oder die Soldaten draußen. Er kehrte ihr nämlich nicht immer gleich den Rücken zu, sobald sich ihm die Möglichkeit bot. Vielmehr kam er immer wieder direkt auf sie zu gekrabbelt, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Ihre Abneigung gegen derart Getier hatte sie nicht abgelegt, auch nicht bei ihrem Survival-Training im Wald. Das Schicksal machte sich scheinbar über Sawako lustig.

Sie überlegte, welches Wort ihren Gemütszustand gerade wohl am besten beschrieb.

„Frust“, murmelte sie entschlossen. Frust über ihre Gefangenschaft. Frust über ihr Zeitproblem, wie sie es inzwischen nannte, weil es freundlicher klang als Zeitreise in die Vergangenheit wider Willen. Frust über die Ungewissheit, was mit ihr passieren würde. Und Frust, dass sie nicht in der Lage war, zum Schrein der Zeit zu gelangen, um allem auf den Grund gehen zu können.

Sie hatte die fünf Tage sehr wohl genutzt, um sich einen Einblick über die Sicherheitsvorkehrungen zu verschaffen. Ständig überlegte sie, welche Fluchtmöglichkeiten sie hatte. Was passieren würde, wenn sie dieses und jenes tat und wie sie die Soldaten überlisten konnte. Leider wurden ihre Ideen von Stunde zu Stunde absurder. Es war eine Schande, dass es ihr nicht gelang, dem Ernst der Sache gerecht zu werden. Stattdessen entstanden in ihrem Kopf Bilder, wie sie den Käfer fing, dem Soldaten unter die Kleidung krabbeln ließ und dessen Irritation darüber ausnutzend unauffällig davon schlich. Auch gefiel ihr Shinobi-Sawako, die ihr schon in Yorinagas Zelt in den Sinn gekommen war.

Sawako, Shinobi, Spion, Mädchen für alles, tarnte sich gut als hilfloses Opfer. Doch als ihre Feinde nicht aufpassten, erkämpfte sie sich den Weg ins Schloss, sagte Ogata einmal gehörig die Meinung, hielt einen Vortrag über richtige Gastfreundschaft und verschwand dann in den Schatten. Vielleicht sollte sie bei ihrem Abgang noch ein paar Kirschblütenblätter werfen, nur für den schönen Effekt.

Ihr Vater hatte ihr immer schon vorgeworfen, dass sie nicht mit genug Ernst bei einer Sache bleiben konnte. Genau darum hätte sie einen so unspektakulären Bürojob. Er hatte gemeint, sie könnte sich nicht mal dann zusammenreißen, wenn ihr Leben davon abhinge und dass ihn das wahnsinnig machte, weil er nachts kaum ruhig schlafen konnte, wenn sie alleine durch Tokio zog. Einen kurzen Moment überlegte sie, ob er Recht hatte.

„Du irrst dich, alter Herr.“ Immerhin hatte sie sich erfolgreich gegen Yorinaga verteidigen können. Naja, verteidigen wäre übertrieben. Sie hatte sich erfolgreich retten können. Und ihr Vater könnte ihr nicht erzählen, dass es ihm gelingen würde, fünf Tage lang jeden wachen Moment mit dem Schmieden von Fluchtplänen zu verbringen, ohne seine Gedanken abschweifen zu lassen.

Eine besonders kalte Brise holte sie aus ihren eigenen zunehmend abschweifenden Gedanken. Sie fror, also zog sie murrend die Arme eng um ihren Körper. So lange schon hatte sie sich nicht gerührt, die Bewegung fühlte sich merkwürdig an. Inzwischen war die Sonne komplett verschwunden. Gleich würde der Soldat, wie jeden Tag zuvor, die Tür zum Hof schließen und sie damit wieder in ihrem Zimmer einsperren. Was machte das schon für einen Unterschied? Eingesperrt war sie auch so. Sie müsste sich jetzt nur genug motivieren, um sich zu erheben und in ihr Bett zu hieven. Wenn sie Glück hatte, könnte sie heute traumlos schlafen.
 

Sie wurde jäh aus dem Schlaf gerissen, als im Hof Tumult ausbrach. Rufe, unruhige Gespräche, das Trampeln von flinken Schritten auf der Veranda. Das ganze Schloss war in Aufruhr, so viel war klar. Sofort war Sawako hellwach. Sie war eh so ausgeruht, dass ihr Schlaf nur leicht war und sie ständig aufwachte. Nur dass normalerweise lediglich das Rauschen der Bäume und das Zirpen der Insekten zu hören war. Irgendetwas war passiert. Endlich war etwas passiert. Ihre Neugier erwachte. Alles war ihr als Ablenkung willkommen. Sie spannte die Hände zu Fäusten. Vielleicht ließe sich diese allgemeine Verwirrung ja nutzen, um endlich diesem Schloss zu entwischen und ihrem einzigen Indiz nachzugehen, dass sie Richtung Heimat führen sollte. Schnell versuchte sie, ihre Kleidung zu richten, stolperte dann hektisch Richtung Tür, hielt einen Moment inne, um sich zu beruhigen und zu sammeln und öffnete diese dann ganz leise. Der Hof war hell erleuchtet und Soldaten liefen in Aufruhr an ihr vorbei. Sie trugen offen ihre Waffen. Es schien tatsächlich etwas nicht zu stimmen. Ob das Schloss angegriffen wurde? Hoffnung keimte in Sawako auf. Vielleicht war es die beste Chance, die sich ihr bieten würde. Sie lehnte sich ein Stückchen weiter hinaus, um zu schauen, ob jemand sie noch immer bewachte. Unglücklicher Weise stand dort weiterhin ein Soldat. Der einzige, der sich nicht zu rühren schien. Sawako wusste, dass es zu leicht gewesen wäre, aber die Enttäuschung verpasste ihr einen gehörigen Stoß in den Magen. Jedoch war es noch lange kein Grund aufzugeben.

„Was ist passiert?“, fragte sie ihren Bewacher.

„Ogata-sama hat die Krieger herbeigerufen. Die Shinobi sind zurück. Aber irgendetwas stimmt nicht. Die Rückkehr von Shiba-dono würde nicht diesen Aufruhr verursachen, wenn nicht irgendwas ganz übel stinken würde.“ Er wirkte noch grimmiger als sonst. Vermutlich würde er seinen Kameraden lieber folgen und herausfinden, was los war. Drohte dem Schloss Gefahr oder handelte es sich um eine Vorsichtsmaßnahme? Bei der Vorstellung, dass ein Angriff über das Schloss hereinbrechen könnte, wurde ihr mehr als mulmig. Sie erinnerte sich an das Chaos im brennenden Tempel, in das sie geraten war. Sicher hatte sie kein Interesse, so etwas noch einmal zu erleben. Aber andererseits wäre genau diese Art von Chaos ihre beste Chance zu entwischen. Und die Anspannung von diesem Mann, aber auch die der anderen Soldaten, ließ sie Schlimmes erahnen.

„Was könnte denn der Grund sein?“

„Woher soll ich das wissen?“, blaffte er sie an. Na gut, er war jetzt wenigstens gesprächiger als sonst, ein weniger aggressiver Tonfall wäre sicher zu viel verlangt. Gut, Sawako war auch damit zufrieden. Vielleicht konnte sie damit etwas anfangen.

„Wird das Schloss angegriffen?“, fragte sie in einem zuckersüßen Tonfall weiter. Vielleicht konnte sie ja seinen Geduldsfaden zerreißen.

„Ich weiß es nicht“, knurrte er. Der Soldat war wirklich aufgebracht. Es schien ihn wahnsinnig zu machen, hier festzuhängen.

„Solltest du es nicht herausfinden? Was ist, wenn Gefahr droht? Dann sollte ein tüchtiger Kämpfer wie du doch nicht hier herumstehen und Wachhund spielen.“

„Die halbe Armee von Dewa ist hier im Schloss. Sei nicht dumm, was macht da ein Schwert mehr oder weniger?“

„Aber wenn wir angegriffen werden und du stehst hier nur herum, könntest du dir das dann verzeihen?“

„Ich befolge meine Befehle. Deren Missachtung könnte ich mir nicht verzeihen.“

Was für ein Sturkopf, dachte Sawako. Aber hey, sie hatte alle Zeit der Welt, auf ihn einzureden. Es schien fast, als wäre nicht mehr viel notwendig. Sein Gesicht war rot vor Wut über sie und seine Abseitsposition hier. Ein junger Soldat wie er, der nach Chancen sucht, sich zu beweisen, wäre lieber im Getümmel als am Rande, während die anderen vielleicht Ruhm und Ehre erkämpften und er nur auf die komische Frau aufpassen musste, dachte sie vor sich hin. Hm, die Formulierung gefiel ihr.

„Was ist, wenn die anderen gerade um Ruhm und Ehre kämpfen und ...“

Sie kam nicht weiter. Er drehte sich so plötzlich zu ihr herum und riss die Tür komplett auf, dass sie dachte, er würde sie schlagen. Stattdessen griff er nach ihrem Handgelenk und zerrte sie aus dem Raum. Sein Griff war stählern und fast schmerzhaft.

„Wir werden nachsehen. Du wirst die ganze Zeit an meiner Seite bleiben. Wenn du irgendwas Komisches versuchst, wirst du dir wünschen, das Schloss nie betreten zu haben. Hast du verstanden?“, knurrte er sie an. Sawako konnte das Glänzen in seinen Augen aber genau erkennen. Er wollte um jeden Preis an den Ort des Geschehens und ihr war es gelungen, ihm den richtigen Schubs zu geben. Selbstzufrieden überlegte sie, wie es nun weitergehen könnte, während er sie den Weg entlang zerrte. Zwar beunruhigte es sie, sich in Richtung der versammelten Mannschaft zu bewegen, da es dort schwerer werden würde zu entfliehen und dort vielleicht sogar ein Kampf lauerte, jedoch war sie immer noch optimistisch, dass sich eine Chance finden lassen würde.

Sie liefen flink durch den Hof Richtung Eingang des Schlosses. Dort hatten sich bereits die meisten Soldaten versammelt und links und rechts des Weges aufgestellt. Die Atmosphäre wirkte gefährlich, Feindseligkeit lag in der Luft. Sie bemerkte, dass die Soldaten ihre Hände am Waffengriff hatten. Einige hatten ihre Schwerter bereits gezogen. Was wohl bedrohte das Schloss?

„Mikawa“, knurrte ihr Bewacher als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Die feindliche Provinz? Sawakos ungutes Gefühl breitete sich weiter aus. Nun ließ sie sich nicht mehr so bereitwillig von dem Krieger hinterher schleifen. Er zog sie nicht zu den aufgereihten, bewaffnete Soldaten, wofür Sawako eher dankbar war, sondern zu einem Seitenweg des Schlosses. Da sie hier auf der Veranda stehen konnten, hatten sie einen etwas besseren Überblick. Außerdem konnten sie sich hinter einer Ecke verbergen, falls die Situation es erfordern würde. Wahrscheinlich wollte er einfach nur möglichst nicht auffallen, wie er die Gefangene spazieren führte. Ihr sollte es recht sein. Wenn er nur noch ihren Arm loslassen würde.

Kaum hatten sie sich dort positioniert, drangen Stimmen zu ihr durch. Sie erkannte Ogata, am Eingang des Schlosses stand und auf den Weg vor ihm herabblickte. Dort kniete ein Mann vor ihm und eine Gruppe von Leuten schien sich um einen Verletzten zu kümmern. Ein paar Meter entfernt stand ein weiterer Mann, zu voller Größe aufgerichtet. Sawako brauchte keine Sekunde, um ihn zu erkennen, obwohl sie sein Gesicht zuvor nur im Dunkeln gesehen hatte. Der Schreck durchfuhr fast schmerzhaft ihren Körper. Es war Yorinaga. Auf eine weitere persönliche Begegnung mit ihm konnte sie gerne verzichten. Sie war froh, dass der Soldat und sie so weit abseits standen, außerhalb des hell von Fackeln erleuchteten Weges und in der sicheren Dunkelheit. Die Angst, er könnte sie von dort aus entdecken, war sicher unbegründet, so konnte Sawako den Schreck schnell überwinden. Sie hatte bemerkt, dass ihrem Aufpasser ihre Reaktion auf den Sohn des Herrn von Mikawa aufgefallen ist. Egal, es war kein Geheimnis, dass sie in seinem Zelt gefangen gehalten wurde. Ihr schneller schlagendes Herz ignorierend musterte sie erneut die Umgebung. Allein die Tatsache, dass Yorinaga hier war, musste ganz Dewa in Alarmbereitschaft versetzen. Standen die beiden Provinzen nicht kurz vor dem Krieg? Es musste einen wichtigen Grund für diesen Auftritt geben. Sie betrachtet nun die Gruppe um den Verletzten genauer. Es schien ein alter Mann zu sein, er war bewusstlos und seine Kleidung war voller Blut. Sehr viel Blut. Das dunkle Rot, es wirkte fast schwarz, zeichnete sich deutlich vom hellen Stoff ab. Grauen packte Sawako, sie wollte sich nicht ausmalen, was diesem Mann zugestoßen war. Als sie das Gefühl von Übelkeit in ihrem Magen aufsteigen spürte, ließ sie ihren Blick schnell weiter schweifen und erkannte nun auch den Mann, der vor Ogata kniete, in der üblichen respektvollen Verbeugung. Es war Shiba, und Sawako erinnerte sich, dass ihr Soldat gesagt hatte, die Shinobi seien zurück. Wieso war dann Yorinaga mit hier? War er ihnen gefolgt? Ist die Mission schief gegangen? Sie lauschte jedem Wort, das sie aus der Entfernung aufschnappen konnte.

„...Dewa's Gastfreundschaft nicht überstrapazieren“, hörte sie Ogata sagen. Er sprach ruhig, aber sie glaubte, einen Unterton in seiner Stimme herauszuhören, der sie an Yorinagas Stelle sehr eingeschüchtert hätte. Der aber schien weitestgehend unbeeindruckt.

„Ich will Eure Gastfreundschaft keinesfalls ausreizen. Seid versichert, dass ich nur hier bin, um mein Angebot vorzutragen. Um mein Wohlwollen zu zeigen, bin ich allein gekommen, bis auf die zwei Krieger, die Ihr habt draußen warten lassen.“ Seine Stimme klang genauso entspannt wie zuvor, als er Sawako in seinem Zelt festgehalten hatte. Alleine hierher zu kommen, in feindliches Gebiet und das nur wenige Tage nach dem für Dewa so schmerzlichen Angriff auf den Tempel? Er musste sich seiner Sache sehr sicher sein. Shiba hatte ihr zuvor gesagt, dass Dewa diesen Krieg meiden will. Sie würden jegliche Provokation vermeiden. Den Sohn des Daimyou zu töten, der zur Verhandlung das Schloss des Feindes besuchte, würde den Krieg dagegen unausweichlich heraufbeschwören.

„Nun sagt mir doch, warum sollte ich mit Euch handeln, nachdem Ihr unseren Tempel überfallen, dessen Schatz gestohlen und den obersten Priester entführt habt?“, erwiderte Ogata und nun war die Feindseligkeit in seiner Stimme nicht mehr zu überhören.

„Als weiteres Zeichen meiner friedlichen Gesinnung habe ich Euch den Priester wiedergebracht. Ich habe ihn gut bewachen lassen und Eure Shinobi waren nicht imstande, ihn zu befreien, ohne dabei aufzufallen. Nun, sie sind aufgefallen, und großzügig, wie ich bin, habe ich allen erlaubt, lebend hierher zurückzukehren. Mit der einen Bedingung, dass ich Euch mein Angebot unterbreiten kann.“ Sawako empfand seine Worte eher als Beleidigung, als eine besänftigende Geste. Yorinaga strotzte insgesamt, hier in der Höhle des Löwen, nur so vor Selbstsicherheit und Arroganz. Bei dem Priester handelte es sich also um den verletzten Mann. So wie sein Zustand aussah, konnte man keinesfalls von 'Großzügigkeit' sprechen. Ogata musste es ebenfalls als pure Provokation empfinden.

„Dennoch“, erwiderte der Daimyou von Dewa, „bin ich aufgrund der aktuellen Ereignisse zu keinem Handel mit Mikawa bereit. Das solltet Ihr wissen. Ihr hättet Euch den Weg sparen können. Kehrt wieder zurück, Ihr seid hier nicht willkommen.“

„Es ist aber, das müsst ihr zugeben, ein für Euch hervorragendes Angebot. Ein kleines Vermögen für etwas, was Euch nicht fehlen wird und was Ihr mir sowieso entwendet habt. Niemand lässt sich gerne etwas wegnehmen, das geht Euch sicher nicht anders, oder? Das Geld täte Euch sicher gut für den Wiederaufbau des Tempels. Ich habe ihn gesehen, wie ausgesprochen prächtig er war, nur kurz bevor er niederbrannte.“ Das war sicher wie ein Schlag ins Gesicht. Was war es, das ihm entwendet wurde und was sich nun hier befand? Es musste etwas Kostbares sein, sonst wäre er nicht hier.

„Ihr wisst, dass Euer Angebot dann die Zurückgabe des Steines des Zeit beinhalten sollte. Dann wären wir uns einig. Auch wir lassen uns in der Tat nicht gerne bestehlen. Was Ihr zurück wollt gegen das, was wir wieder in unserem Besitz wissen möchte. So bekäme jeder, was er verlangt.“

„Ich fürchte, der Stein gefällt mir zu gut, als dass ich ihn wieder hergeben möchte. Ich bleibe beim Geld. Ihr wisst, dass das mehr ist, als Ihr erwarten könntet.“

„Wir brauchen nicht weiter verhandeln. Was Ihr sucht, befindet sich nicht im Schloss von Dewa. Und für ein bisschen Geld werde ich Euch nicht beim Suchen helfen. Nun brecht auf und verlasst mein Land.“

„Ihr sagt, sie ist nicht hier? Meine Vöglein haben mir verraten, dass sie in eurem Schloss ist. Wo sonst solltet Ihr sie hinbringend, nachdem Eure Männer sie mir entwendet haben?“

„Eure Informationen scheinen falsch zu sein. Ich kann mich nicht entsinnen, auch nur irgendetwas aus Eurem Besitz hier zu haben.“

„Wollt Ihr etwa behaup...“

Weiter konnte Sawako nicht lauschen. Wie aus dem Nichts heraus wurde sie plötzlich zur Seite und tiefer in die Schatten hinein gezogen. Sie hätte vor Schreck fast aufgeschrien, aber eine Hand auf ihrem Mund unterdrückte den Laut. Sie wollte sich gerade über den Soldaten aufregen, was ihm denn einfiel, ihr einen solchen Schreck einzujagen, da fiel er auch schon vor ihr in eine demütige Verbeugung. Wem gehörte dann der Arm, der von hinten um sie geschlungen war und der ihren Rücken gegen eine harte Rüstung drückte? Die Hand, die eben noch ihren Aufschrei verhindert hat, griff nun nach dem Soldaten, packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Der Mann musste sehr kräftig sein, wenn er den Soldaten mit nur einer Hand so hochreißen konnte, denn die andere Hand hielt sie weiterhin fest. So fest, dass ihre Füße kaum mehr den Boden berührten und er sie eher trug als dass er sie festhielt.

„Es tut mir leid, ich hätte nicht...“

„Sei still“, zischte die Stimme hinter ihr. „Warum bist du verdammt nochmal mit ihr hierher gekommen? Was ist so schwer zu verstehen gewesen an deinem Befehl?“ Es lag so viel Zorn in seiner Stimme, dass sie ihn fast nicht erkannte. Es war Harada und er schien vor Wut fast zu beben. Das erklärte jedenfalls, warum der Soldat sofort in eine Verbeugung gefallen war.

„Es tut mir Leid, Harada-sama. Ich hatte befürchtet … Ich dachte … Sie hat ...“. Ihm stand die Furcht ins Gesicht geschrieben. Was würde jetzt mit ihm passieren? Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie so auf ihn eingeredet hatte. Und wofür am Ende? Alles umsonst. Yorinagas Auftauchen hatte sie so abgelenkt, dass sie gar nicht weiter an ihre Flucht gedacht hatte. Und der Griff des Soldaten war hatte die ganze Zeit erbarmungslos wie ein Schraubstock um ihren Arm umklammert. Nun fand sie sich in einem noch unausweichlicheren Griff wieder. Die winzige Chance das Schloss zu verlassen war dahin. Sie versuchte, mit den Fußspitzen den Boden zu erreichen, damit sie wenigstens das Gefühl hatte, nicht getragen zu werden, jedoch erreichte sie das Holz der Veranda nicht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, von einem Krieger in Rage so hilflos gehalten zu werden. Ein sehr beunruhigendes Gefühl.

„Lass mich runter!“, zischte sie und begann in seinem Arm zu zappeln. Er ließ den Soldaten los, um seinen rechten Arm frei zu haben. Dieser fiel sofort wieder auf die Knie und bettelte um Vergebung. Sie wusste nicht, ob Harada ihm weitere Beachtung schenke, da sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

„Du sei erst recht still!“, knurrte er.

„Wenn du mich runter lässt“, forderte sie, auch wenn ihr Mut angesichts seiner Wut verpuffte.

„Vergiss es. Keinen Laut!“ Anstatt sie loszulassen packte er sie mit beiden Händen an den Hüften, drehte sie herum, sodass sie kurz einen Blick auf sein finsteres Gesicht erhaschen konnte und dann warf er sie sich über die Schulter. Normalerweise hätte sie getobt, aber der Blick in seinen Augen hatte sofort allen Widerstand im Keim erstickt. Er trug sie schnellen Schrittes weg vom Geschehen. Sie konnte noch ein paar letzten Blicke auf Ogata und Yorinaga werfen. Eigentlich war sie froh, von ihnen wegzukommen, allerdings war ihre jetzige Gesellschaft auch nicht so viel besser. Sie fragte sich, ob sie nach seinem Speer greifen sollte, der direkt neben ihrer Schulter auf seinen Rücken geschnallt war. Schnell verwarf sie die absurde Idee. Er war größer, stärker, geschickter und erfahrener als sie. Es würde ihn keine zwei Sekunden kosten, sie zu überwältigen. Hatte er auch so schon nicht die geringsten Schwierigkeiten, sie in Schach zu halten. Sie war vermutlich nicht viel aufwendiger und widerstandsfähiger als ein Hundebaby und sie wollte seine Wut nicht weiter schüren.

Er bewegte sich sehr schnell, also dauerte es nicht lange, bis er ihr Zimmer erreichte. Wenig rücksichtsvoll ließ er sie herunter und sie landete unsanft auf ihrem Hintern. Wie zuvor machte es sie nervös von unten zum ihm aufzusehen, weil seine Größe noch einschüchternder wirkte, wenn sie auf dem Boden saß. Sie wollte sich aufrichten, doch da hockte er sich schon vor sie und hielt sie mit einer Hand auf der Schulter am Boden. Ihr Herz schlug ihr bis in die Ohren. In seinem Blick erinnerte nichts an das herzliche Gespräch von vor fünf Tagen, als sie das letzte Mal mit ihm geredet hatte.

„Wer zum Teufel bist du?“, verlangte er zu wissen.

„Was ist los? Was habe ich gemacht, dass du so wütend bist? Was geht hier vor?“

„Beantworte meine Frage!“

„Ist es wegen Yorinaga? Warum ist er hier? Was geht verdammt noch mal vor?“

„BEANTWORTE MEINE FRAGE!“, schrie er jetzt schon eher, als dass er sprach.

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich kann es verdammt nochmal nicht sagen“, schluchzte sie.

„Du wirst es sagen müssen, denn Ogata wird eine Erklärung dafür haben wollen, dass Yorinaga extra hierher kommt und ein kleines Vermögen anbietet, um dich mitzunehmen.“

„Was?“, fragte sie ungläubig.

„Hast du es nicht gehört? Du warst doch da. Er kam nach Dewa, um über die Herausgabe der Frau zu verhandeln, die bei unserem Angriff auf sein Lager entschwunden ist. Er bietet einen kleinen Berg Geld für die 'junge Sawako aus Tokio'.“

Jetzt blieb ihr Herz endgültig stehen. Das konnte doch unmöglich wahr sein. Starr blickte sie auf ihre Hände.

„Schau mich an“, forderte er und hielt mit seiner freien Hand ihr Kinn, damit sie ihren Blick nicht abwenden konnte.

„Nun verrate mir, warum du für Yorinaga wertvoll genug bist, dass er so viel Geld für dich bietet?“

Jetzt liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Aber bitte, bitte lasst nicht zu, dass er mich mitnimmt! Bitte, behaltet mich hier. Ihr könnt mich nicht mitgeben.“ Angst stieg in ihr auf. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit ihm nur zu gut. Sein Gewicht, das sie gnadenlos auf den Boden drückte und seine Hand auf ihrem Schenkel.

„Ogata-sama wird ihm sicher nicht seinen Willen gewähren. Wir werden dich nicht einfach hergeben, bevor wir wissen, warum Yorinaga dich haben will. Andererseits … wenn du weiterhin nicht redest, wird Ogata-sama sich vielleicht anders entscheiden.“

Das Grauen und die Angst, die sie packten, musste er in ihren Augen erkennen können.

„Wenn du Angst hast, dann rede!“

„Ich kann nicht.“

„Dann schicken wir dich nach Mikawa.“

„Nein, bitte nicht.“

Er ließ sie los. Sawako versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Sie hasste es, wie hilflos sie war in dieser Welt. Sie hasste es, dass sie nichts tun oder sagen konnte, um wieder ihr eigener Herr zu werden.

„Ich habe keine Ahnung, was wir mit dir machen sollen“, seufzte er plötzlich, woraufhin sie ihn überrascht anblickte.

„Jetzt reiß dich erst einmal zusammen. Heute bringt dich niemand irgendwohin, das verspreche ich dir. Also schlaf und mach dir Gedanken, ob du Ogata-sama morgen die Wahrheit sagst oder es riskieren willst, zurück nach Mikawa zu Yorinaga geschickt zu werden.“

Sie nickte nur und wartete, dass er verschwand. Er rührte sich aber nicht und sein Blick ruhte weiterhin starr auf ihr.

„Also, ich würde dann ...“, gestikulierte sie in Richtung ihres Schlafplatzes. Er nickte nur als Reaktion.

„Würdest du dann ...“ Diesmal deutete sie zaghaft zur Tür.

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich aus den Augen lasse, wenn gerade unser größter Feind einen riesigen Berg Geld für dich geboten hat. Ich werde weder zulassen, dass du uns entwischst, noch, dass du uns weggeschnappt wirst. Und zwar solange bis Ogata-sama entschieden hat, was wir mit dir machen.“

Nichts an seinem Tonfall ließ Raum für Widerspruch. Sie bezweifelte, dass sie in dieser Nacht Schlaf finden würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Enyxis
2013-08-23T22:26:48+00:00 24.08.2013 00:26
DX Ich will mir gar nicht vorstellen, was Yorinaga mit Sawako machen würde, wenn er die in seine Finger kriegt. DX Alleine dafür, dass sie ihn übelst gehaun hat gibt's schon heftig Kloppe... Spannendes Kapitel, wirklich toll geschrieben!
Von: abgemeldet
2012-11-18T21:40:01+00:00 18.11.2012 22:40
omg omg omg ihr dürft sie doch nicht einfach wieder zu dem verrückten (aber schmucken) Feind geben?
und warum will er sie unbedingt wiederhaben? Weiß er was, was sie nicht weiß? Schreib schnell weiter, ich will wissen, was die beiden machen so die ganze nacht zusammen im dunklen zimmer ^///^
Von:  kokuskeks
2012-11-18T20:02:27+00:00 18.11.2012 21:02
Endlich ein neues Kapitel! Ich muss aber betonen, dass sich die Wartezeit gelohnt hat. Deine sonst üblichen Fehler sind fast nicht mehr vorhanden und wenn ich doch mal einen gefunden habe, musste ich 2mal drüberlesen um mir sicher zu sein! Mach weiter so.
Zum Kapitel selber: Mach es nicht immer so spannend! Am liebsten würd ich jetzt in deinen Kopf schauen um zu wissen wie´s weitergeht ;)
Ich freu mich schon auf das nächste Mal.


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