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Heroes II

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist meiner (ja, meiner!) Antonio gewidmet, weil sie (ja, sie!) zufällig heute Geburtsag hat! Alles Gute <3 Komplett anzeigen

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3

Hizumi
 

„Ich gehe einfach davon aus, Sie sagen mir immer noch nicht, wo wir gerade hinfahren. Auch wenn ich weiterhin freundlich frage.“

Matsumura machte sich nicht einmal die Mühe, Hizumi einen Blick zuzuwerfen. Stattdessen bremste er an einer Kreuzung viel zu scharf ab, was beide in ihren Gurten nach vorne schmiss. Als der Wagen wieder anfuhr, verpasste sein neuer Partner Hizumi mit einem einzigen, unglücklichen Gesichtsausdruck eine Art optische Ohrfeige.

„Ich dachte eigentlich, du würdest merken, dass ich keine Lust aufs Reden habe. Spätestens nach der zweiten, unbeantworteten Frage. Lernt man das heutzutage nicht mehr bei der Polizeiausbildung?“

Hizumis Mund verzog sich, und er hielt sich davon ab Matsumura darauf hinzuweisen, dass sie beinahe gleich alt waren. Doch er befand es als klüger aus dem Fenster zu sehen und den Verkehrsstrom zu beobachten.

Irgendwann hatte Matsumura den Polizeifunk eingeschaltet und drehte mit missmutigem Blick am Empfang herum. Zwischen dem Knacken und Rauschen drangen immer wieder stückchenweise Meldungen der Streife zu ihnen durch. Meistens ging es um Betrunkene, die zum Ausnüchtern mitgenommen wurden, ein paar Mal auch um irgendwelche öffentlichen Prügeleien zwischen Halbstarken. Und irgendwo in Südtokyo hatte man ein ertrunkenes Kleinkind aus einem Zierteich gefischt. Hizumi schüttelte sich einmal unmerklich und widmete sich wieder den Fahrzeugen, die sich gemeinsam mit ihnen durch die Stadt schlängelten.
 

Mit einem Fluchen zog Matsumura den Wagen halb auf den Gehweg, als er bereits bei der dritten Blockumrundung keinen Parkplatz fand. Er warf Hizumi einen warnenden Blick zu, während er ruckartig die Handbremse anzog und ausstieg. Aber der hätte es sich sowieso erspart, irgendetwas dazu zu sagen. Es war davon auszugehen, dass er ohnehin nur irgendwelche Drohungen geerntet hätte. Oder einfach ignoriert wurde.

Er stieg ebenfalls aus und versuchte so auszusehen, als würde er nicht bemerken, wie Matsumura noch einmal die Fahrertür aufriss und die Warnblinkanlage einstellte. Dann nickte er knapp dem Wohnkomplex zu und machte sich auf den Weg.

Hizumi legte den Kopf in den Nacken und blickte das Gebäude hinauf, während er ihm folgte. Anscheinend befanden sie sich in irgendeiner Art Neureichen-Viertel. Von Osttokyo hatte er so gut wie keine Ahnung, da seine Arbeit ihn meistens im Westen beschäftigt hatte. Es erstaunte ihn ein wenig, dass es nach vierundzwanzig Jahren immer noch Orte gab, die er noch gar nicht kannte.

Als er wieder hinabsah, standen sie vor der Eingangstür in den vordersten Komplex. Matsumura studierte die Klingelschilder, rieb sich das Kinn und drückte schließlich weiter oben auf den Namen Yagasumo.

Nichts geschah. In gleichmäßigen Abständen klingelte er noch vier weitere Male. Hizumi rümpfte die Nase, machte ein paar Schritte rückwärts und versuchte die Etage abzuzählen, in die sein Kollege so offensichtlich wollte. Die Fenster die er sehen konnte waren allesamt unbeleuchtet, auch wenn das nicht besonders viel zu sagen hatte. Immerhin dämmerte es erst ein wenig.

Gerade als er anmerken wollte, dass wohl niemand zuhause war, zog Matsumura mit einem lauten Ratschen seinen Unterarm über die Klingelschilder. Nach ein paar Sekunden summte es. Mit einem barschen Nicken in Richtung Treppenhaus drückte er mit der Schulter die Tür auf und trat ein.

Hizumi folgte ihm mit einem Hechtsprung, kurz bevor sie wieder zu fiel. Er presste die Augen zusammen, als der Bewegungsmelder das grelle Licht einschaltete. Matsumura und er lauschten eine Weile, hörten aber nichts. Wer auch immer ihnen geöffnet hatte, machte sich wohl nichts aus ihrem Besuch.

„Der Fahrstuhl.“

Ohne ein weiteres Wort drückten sie sich in hinein, ehe Matsumura den 11. Stock wählte. Mit einem Ruckeln setzte sich die Kabine in Bewegung und Hizumi sah starr zu der Anzeige mit den Etagenzahlen empor, bis sie an ihrem Ziel wieder ausgespuckt wurden.

Sein Kollege begann sofort damit, die vier Klingelschilder zu inspizieren und klingelte schließlich beim letzten. Hizumi gesellte sich zu ihm, lauschte in die Stille hinein. Innerlich zählte er die Sekunden, bis er Matsumura unterbreiten sollte, dass anscheinend wirklich niemand da war.

Der klingelte wieder. Dann klopfte er. Nach einem hastigen Blick auf die Uhr räusperte er sich laut, und nahm Haltung an.

„Frau Yagasumo! Wenn Sie zuhause sind, machen Sie auf. Polizei!“

Hizumi sah an seinem Blick, dass er nie auf eine Reaktion gehofft hatte und das alles bloß zu Formalitäten gehörte. Mit einem leisen Seufzen rieb er sich den Nacken.

„Wäre es nicht besser wenn wir morgen-“

„Runter auf die Knie.“

Hizumi starrte ihn an. "Was?"

„Schau durch den Türspalt und sag mir, ob du was siehst.“

„Ob ich was- Wieso machen Sie das nicht selbst?!“

„Du bist kleiner als ich. Na los!“

Hizumi überlegte kurz fieberhaft, ob es sich lohnte, das auszudiskutieren oder es einfach zu machen. Er entschied sich resignierend für Letzteres, kniete sich hin und rutsche so weit es ging an die Tür heran. Mit schmalen Augen versuchte er irgendetwas zu erkennen.

„Alles dunkel.“

Er atmete tief durch und hielt inne. Dann holte er nochmal so tief Luft er konnte.

„Lernt man heutzutage bei der Polizei Türen aufzuschnuppern?“

Er ignorierte den sarkastischen Kommentar seines Kollegen und versuchte herauszufiltern, was genau er da roch. Es erinnerte an eine Mischung aus Moder und rohem Fleisch.

„Kommen Sie mal runter! Riechen Sie das auch?“

Er blickte auf, sah wie Matsumura ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete und sich schließlich neben ihm auf den Boden kauerte. Wie Hizumi zuvor holte er am Türspalt tief Luft. Dann sprang er auf, zog seine Dienstwaffe und machte sich daran die Tür einzutreten.

Das laute Krachen schien das ganze Treppenhaus zu erschüttern. Hizumi erhob sich ebenfalls, noch überrumpelt von dieser plötzlichen Aktion. Er konnte spüren, wie ihn Adrenalin zu durchfließen begann, fischte ebenfalls seine Waffe hervor und drehte sich um, als hinter ihm Wohnungstüren aufgingen. Eine wüste Mischung aus Fragen, aufgeregten Rufen und Schimpfereien wallte ihm entgegen.

Es knirschte, als Matsumura ein letztes Mal gegen die Tür trat, einen Satz zurück machte und die Waffe in Anschlag brachte. Ein paar der Rufe wurden zu erschrockenen Schreien.

Hizumi fasste sich an die Stirn und hob beschwichtigend die Hände, senkte dann aber lieber die, in der er die Pistole hielt.

„Hören Sie, es ist alles-“

„Was tun Sie da? Sind Sie Einbrecher?!“

„Wir sind von der Polizei.“

„Wieso treten Sie fremde Türen ein?!“

„Wir haben den Verdacht, dass in dieser Wohnung-“

„Ich will Ihre Marke sehen!“

Hizumi sah über die Schulter zu Karyu, der ihn verstimmt beobachtete. Mit einem Mach-Hin Blick. Ruppig pfriemelte er seine Marke aus der Jackentasche und hielt sie gut sichtbar in die Höhe.

„Bitte bewahren Sie Ruhe, okay? Wir haben alles unter Kontrolle!“

Die aufkommende Diskussion unter den Leuten nutzte er dazu, sich zu Matsumura zu gesellen, der die Augen verdrehte.

„Okay? Okay? Bewahren Sie Ruhe, OKAY?“

„Können Sie mich einmal in Ihrem Leben in Ruhe lassen?“

„Gehen wir einfach rein“, wisperte Matsumura abschätzig. „ Augen auf, Grünschnabel!“

Er wartete nicht einmal ab, bis Hizumi bereit war. Schon nach ein paar Sekunden hatte ihn die Dunkelheit im Wohnungsflur verschluckt. Als Hizumi ihm folgte, schlug ihm sofort ein widerlicher Geruch entgegen, noch schlimmer, als er nach der Probe am Türspalt hätte vermuten können. Nur mit Mühe hielt er sich davon ab sein Gesicht unter dem Jackenkragen zu verbergen, holte auf und sicherte gemeinsam mit Matsumura den Eingangsbereich.

„Gut. Du gehst links rum. Ich rechts. Keiner macht hier Licht an. Wenn du angefallen wirst wird geschossen, aber möglichst so, dass keiner stirbt. Verstanden?“

„Ja.“

Mehr brachte er nicht hervor, in der Angst seinem Kollegen sonst auf die Schuhe zu kotzen.

Wie auf Zehenspitzen schwärmten sie in entgegen gesetzte Richtungen aus. Hizumis Weg führte ihn als erstes in die Küche, und er blieb angespannt an die Wand gepresst stehen, während er den Raum im Dunkeln nach etwas Auffälligem absuchte. Nach einer schieren Ewigkeit traute er sich tief durch den Mund einzuatmen und verbarg ein plötzliches Husten in der Armbeuge. Er lauschte konzentriert, stellte aber erleichtert fest, dass sich nichts tat.

Die Küche zu inspizieren nahm nicht viel Zeit in Anspruch, und schon nach ein paar Minuten schob er sich an der Wand entlang zur Tür, die ihm gegenüber lag und in ein angrenzendes Zimmer führte. Er presste seinen Rücken an den Türrahmen und beugte sich mit vor sich ausgestreckter Waffe in den Raum. Als er merkte, dass der Geruch strenger wurde, konnte er sich nur mit Mühe davon abhalten den Lichtschalter zu suchen, um sich endlich ein klares Bild machen zu können. Konzentriert ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Das einzige Licht, das ihn dabei unterstützte, war eine Mischung aus Dämmerung und einem Meer aus Großstadtlichtern, das immer größer wurde.

Er hielt inne, als seine Augen ein Klavier erreichten, das in der hintersten Ecke des Zimmers stand. Der Hocker davor war nicht leer.

Ein eiskalter Schauer durchfuhr ihn, und er konnte sekundenlang nur auf diesen eigenartigen Sack starren, der allem Anschein nach darauf lag. So sehr er sich auch anstrengte, dieses Objekt aus sicherer Ferne zu identifizieren, es funktionierte nicht.

Okay, dachte er sich und atmete einmal tief durch, um zur Ruhe zu kommen. Okay, okay, okay.

Mit der Pistole im Anschlag durchmaß er das Zimmer mit langen, leisen Schritten. Und als er direkt hinter dem Klavier stand und dieses Etwas auf dem Sitz sich nicht gerührt hatte überkam ihn eine Erkenntnis zu der ihn der fürchterliche Gestank, der von hier ausging, schon längst hätte bringen müssen.

Hizumi wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte schon einmal eine Leiche gefunden, vor etwa einem Jahr, aber das war ein Obdachloser gewesen, der sich offensichtlich zu Tode getrunken hatte. Diese Person hier war weder heimatlos noch stank sie nach Alkohol. Und als Hizumi seinen Kopf leicht hin und her bewegte, glänzten dunkle Flecken auf den Klaviertasten. Links und rechts von dem Kopf, der auf sie hinunter gesackt war.

Vorsichtig streckte er eine Hand aus und legte sie auf eine der Schultern. Der Stoff der Kleidung war nass und warm, er nahm an, vom ausströmenden Blut. Und auch wenn er wusste, dass er es womöglich bereuen würde, ging er in die Hocke und inspizierte den Kopf genauer, der auf der Seite lag und in die Leere starrte. Ein Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt. Ohne große Erwartungen legte er zwei Finger an die Halsschlagader. Nichts.

Ein ferner Fluch hielt ihn davon ab, sich zu eingehend mit dem zu beschäftigen, was er sah. Völlig erschrocken fuhr er hoch und zielte mit der Waffe in die Richtung, aus der er gekommen war. Unsicher, ob Matsumura Hilfe benötigte oder sich mit sich selbst stritt, verharrte er. Doch dann fiel ihm auf, dass man außer seiner Stimme nichts hören konnte. Allem Anschein nach also ein falscher Alarm.

Hizumi zog die Waffe wieder zurück, warf noch einen Blick auf das tote Mädchen und wandte sich leichenblass von ihr ab, um die Durchsuchung fortzuführen. Doch er merkte, dass er nicht ganz bei sich war, als er das Anschlusszimmer betrat. Immerhin hatte er nicht erwartet, an seinem ersten Tag mit Matsumura direkt mit Leichen zu tun zu bekommen.

In diesem Raum sah er sofort, dass es ein Kinderzimmer sein musste. Direkt unter dem Fenster stand ein mit Plüschtieren überfülltes Bett, schwach angestrahlt von einer Lichtquelle, nach der Hizumi erst suchen musste. Er fand sie hinter einem kleinen Spielzeugregal, als er einen großen Schritt in das Zimmer tat: ein Nachtlicht.

Es dauerte nicht lang, bis er sämtliche Ecken abgesichert hatte und feststellen durfte, dass von hier wohl keine Gefahr für ihn ausging. Allerdings hatte er längst bemerkt, dass der Leichengeruch auch von hierher kam. Als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als das Bett in Augenschein zu nehmen, atmete einmal tief durch. Ganz plötzlich wünschte er sich, sein neuer Kollege wäre hier und würde ihm diese Aufgabe abnehmen.

Aber Matsumura kam nicht. Hizumi hörte ihn am anderen Ende der Wohnung irgendwelche Schubläden oder Schränke untersuchen. Und da wurde ihm klar, dass Du gehst links rum nicht einschloss, dass ihm hier unter die Arme gegriffen wurde.

Mit spitzen Fingern griff er in die Masse aus Kuscheltieren und schob sie umher, nahm sie schließlich vom Bett und ließ sie neben sich zu Boden fallen. Ein übler Geruch umwehte ihn dabei, und manchmal platschte es, wenn die Sachen auf dem Laminat aufkamen. Nur mit Mühe konnte er sich dazu bringen nach unten zu schauen um im Schein des kleinen Lichtes blutige Spritzspuren rund um die Tiere zu erkennen.

Er wusste nicht wieso, aber das was er sah, spornte ihn an. Schließlich legte er die Waffe beiseite und zog sich beidhändig die Sicht frei. Was immer hier passiert war, er wollte alles schnellstmöglich hinter sich bringen.

Als er hinter einem Teddybären auf einmal in etwas Festes fasste, zuckte er erschrocken mit seiner Hand zurück. Ein Schaudern durchfuhr seinen Körper, er wischte sich instinktiv die Handfläche an der Hose ab und starrte in die dunkle Ritze, als würde er erwarten, dass etwas hervorgekrochen käme. Ihm wurde jedoch schnell klar, dass das wohl nicht passierte.

Er überlegte fieberhaft. Schließlich klaubte er seine Waffe wieder auf, tat ein paar Schritte rückwärts und tastete blind nach dem Lichtschalter, den er irgendwo neben der Tür vermutete. Bei dieser Sache konnte er sich unmöglich ohne Beleuchtung ein Bild von der Lage machen.

Die Lampe flackerte ein wenig, als sie anging. Und als Hizumi auf das Bett sah, wünschte er sich, er hätte nicht nach dem Schalter gesucht.

„Was habe ich über das Licht gesagt?!“

Das plötzliche Zischen hätte ihn unter anderen Umständen vielleicht mehr erschreckt. Matsumura machte neben ihm einen langen Schritt in den Raum und holte Luft, um dem noch etwas hinzuzufügen. Doch dann fiel auch sein Blick auf die abgetrennten Gliedmaßen im Bett. Eine erstickte Stille legte sich über sie.

Irgendwann landete nur für den Bruchteil einer Sekunde eine Hand auf Hizumis Schulter. Vielleicht etwas, womit sein Kollege Mitgefühl ausdrücken wollte, falls er so etwas wirklich besaß. Er sah dabei zu, wie Matsumura vor dem Bett in die Hocke ging, einen Blick unter die Decke und unter eins der Kissen warf. Hizumi war dankbar, dass er nicht sehen konnte, was genau er da fand. Es dauerte ein wenig, bis er sich sammeln und neben Matsumura stellen konnte, der sich gerade wieder aufrichtete und prüfend seine blutigen Fingerspitzen aneinander rieb. Man konnte ihm nicht ansehen, was er dachte.

„Ruf die Spurensicherung“, sagte er schließlich. „Ihre Mutter hängt im Bad.“
 

Dass Hängt im Bad präzise bedeutete, dass diese Frau sich dort mit einem an der Deckenlampenverankerung befestigten, stabilen Kabel stranguliert hatte, erfuhr Hizumi später vollkommen ungewollt von zwei Forensikern, deren Arbeitsenthusiasmus ihn erschütterte. Als er eine Gelegenheit sah, sich davonzustehlen ohne dass sie es bemerkten, schlängelte er sich durch die Personentrauben, die sich innerhalb von nur einer Viertelstunde in der Wohnung eingefunden hatten. Die Wohnungstür stand weit offen, draußen im Flur immer noch die aufgebrachten Nachbarn und in deren Mitte Matsumura, der mit einem unglaublichen Pokerface einen nach dem anderen mit knappen und ausweichenden Antworten abspeiste. Hizumi hielt auf ihn zu, schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und genoss es, dass es hier draußen weit weniger stank.

„Da bist du ja.“ Matsumura schüttelte eine Hand ab, mit der offensichtlich jemand versuchte, sich Gehör zu verschaffen. „Dann kannst du ja jetzt deine Polizeiqualitäten sprechen lassen.“

„Aber-“

„Aber mich nicht an. Es reicht mir schon, dass ich heute neben dem Sondereinsatzkommando anscheinend auch noch zur Streife, zur Kripo und bald noch zur Forensik gehöre, wenn die da drinnen mich entdecken und ausquetschen. Du bist doch frisch von der Streife gekommen, oder etwa nicht?“

Er vollführte eine ausladende Geste in die Menschenmenge, die wie ein wilder Hühnerhaufen durcheinander redete.

„Sie gehören jetzt dir. Ich warte unten im Wagen. Das hier ist erstmal nicht mehr meine Angelegenheit.“

„Sondern meine?“

„Bis du mit denen fertig bist.“

Mit diesen Worten schlängelte er sich an den Leuten vorbei und verschwand in Richtung Treppe, wo er einer Gruppe der Spurensicherung auswich, die gerade ihre Ausrüstung nach oben schleppte. Dann war er verschwunden.
 

Hizumi schätzte, dass er sich noch beinahe eine halbe Stunde den zahlreichen Fragen aussetzen musste, bis endlich und auch nur langsam Ruhe einkehrte. Die ersten Leute hatte er bereits dazu bewegen können, den Tatort zu verlassen, und irgendwann mussten ihm die beiden Forensiker, die so begeistert vom Kabelgalgen erzählt hatten, ihm dabei helfen, das Feld ganz zu räumen.

„Ich hoffe Sie sind nicht sauer, dass wir Sie damit belagern aber wissen Sie, das ist seit Wochen das spannendste mit dem wir zu tun bekommen! Und außerdem müssen wir es ja früher oder später ohnehin an Sie weitergeben. Ich meine, Sie sind dann doch zuständig hierfür, oder nicht? Jetzt ganz ehrlich, ich habe die Typen aus der Ballistik schon beneidet, dass-“

„Misao, halt die Luft an. Der Kollege ist ja kalkweiß im Gesicht!“

Hizumi hatte sich schon denken können, kalkweiß im Gesicht zu sein. Aber jetzt, wo es jemand aussprach, war es ihm irgendwie peinlich. Mit müdem Blick schob er zusammen mit der Frau, deren Name offensichtlich Misao war, die letzten Leute in Richtung Treppenhaus. Als er auf sie hinab sah, hob sie ihre Augenbrauen.

„Wow. Sie sehen ja wirklich scheiße aus!“

„Danke.“

„Oh, also, das sollte keine Beleidigung sein, wissen S-“

Ihr Kollege zog sie am Arm beiseite und flüsterte irgendwas. Immerhin er schien zu wissen, wann das Maß voll war. Schließlich räusperte er sich und drehte sich zu Hizumi um.

„Gehen Sie ruhig nach hause und duschen Sie sich kalt ab oder so etwas. Wir schmeißen den Laden schon.“

„Danke.“ Hizumi überlegte kurz. „Ich weiß nicht- also. Ich bin im Sondereinsatzkommando.“

„Na, wenn das kein Sondereinsatz war! Drei Leich-“

„Man könnte denken sie hat ihr Feingefühl verloren, aber sie ist eben etwas abgebrüht, wissen Sie?“

Hizumi nickte mechanisch und warf einen sehnsüchtigen Blick zum Aufzug.

„Den sollten Sie lieber nicht nehmen, da fahren wir Ausrüstung auf und ab, die zu sperrig für die Treppe ist.“

„Schon klar.“ Er gähnte. „Was ich sagen wollte: Leiten Sie alles an die Kriminalpolizei. Ich habe damit nichts am Hut. Oder-... naja. Ein Befund wäre schön.“

„Gehen Sie ins Bett, Mann. Wir werden Ihnen schon keine Leichenteile auf den Schreibtisch knallen.“

Hizumi kam nicht umhin sich das bildlich vorzustellen und erschauderte bei der Erinnerung an den Anblick im Kinderzimmer. Er war ganz plötzlich froh, über dieses Thema nicht so daherreden zu können.

„Ja. Wie auch immer. Gute Nacht.“

Er drehte sich um, hörte noch wildes Geflüster, aber achtete nicht darauf. Wie von allein trugen ihn seine Beine bis ins Erdgeschoss hinab und ehe er sich versah, stand er vor dem Gebäude, das vollkommen friedlich in den Nachthimmel ragte. Mit missmutigem Blick zog er sich den Reißverschluss der Jacke bis zum Kinn und stolperte in Richtung Wagen.

Als er an ihm ankam, fiel ihm urplötzlich ein, dass er jeden Grund hatte, sauer auf Matsumura zu sein. Das da oben wäre alles schneller gegangen, wenn er sich nicht einfach mit einem Befehl verdrückt hätte. Vielleicht nutzte er es ja aus, Hizumi auf eine gewisse Art einzuarbeiten.

Er nahm sich fest vor, beim Einsteigen irgendetwas zu sagen, auf das selbst diesem Mann kein Konter einfiel. Für diesen Abend brauchte er wenigstens die Genugtuung, ihn einmal nach Worten ringen zu sehen. Mehr wollte er ja nicht. Das war schon ein geringer Preis für diesen ersten Tag.

Seine Gehirnzellen gerieten während der letzten Meter auf Hochtouren, er zog die Beifahrertür auf und stieg ein. Luftholend wandte er sich Matsumura zu- und hielt sie an, als er sah wie der mit vollkommen verzerrtem Gesicht und glasigen Augen die Straße hinunter starrte. Seine Kiefer hatte er so stark aufeinander gepresst, dass sie sich deutlich abzeichneten. Er schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass Hizumi dazu gestiegen war.

Mit einer Mischung aus Überraschung und Verwirrtheit schluckte er seinen mutigen Kommentar wieder herunter und schnallte sich an, ohne seinen Kollegen aus den Augen zu lassen.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er nach einer endlosen Stille. Keine Reaktion.
 


 

Karyu
 

Karyu hörte, wie Hayashimas Handy zu vibrieren begann, ehe die Tür hinter ihm zufiel. Das leise Klicken verschluckte sämtliche Geräusche vom Gang, und jetzt nahm er erstmalig die ratternden Maschinen wahr. Er drehte sich zu ihnen um, und für einen kurzen Moment kam Panik in ihm auf. Dieselben Geräte hatten vor Monaten auch ihn am Leben erhalten.

Tsukasa hatte sich auf einen der Hocker am Bett gesetzt und bedeutete Karyu mit einem sanften Klopfer auf das Polster neben ihm, auch Platz zu nehmen. Er tat wie ihm geheißen und war verblüfft, dass er sich nicht traute in das Gesicht des Mannes zu sehen, der vor ihm lag.

„Er wird nicht mehr aufwachen.“

Karyu war dankbar, dass Tsukasa nicht zu denen gehörte, die lange um etwas herum redeten. Zumindest nicht, was seinen Beruf anbelangte. Und auch wenn das eine sehr überrumpelnde Art und Weise war, hatte er die Angewohnheit in solchen Situationen mit einer furchtbar beruhigenden Stimme zu reden.

„Ich wollte, dass du ihn noch einmal siehst, bevor er stirbt. Verstehst du das?“

„Ja.“

„Er hat es nicht verdient.“

„Ich weiß.“

Karyu dachte daran, wie viel Verachtung er immer für Yagasumo empfunden hatte. Wer konnte es ihm verübeln? Er hatte ihm, wenn auch ungewollt, nur Ärger bereitet. Und am Ende dafür gesorgt, dass er es rechtzeitig schaffen konnte, Tsukasa vor diesem verrückten Katashi zu retten. Fushimasu hatte Karyu gegenüber ein paar Andeutungen gemacht, kurz nachdem das alles geschehen war. Wie es ihm gelungen war, vor den Geiselnehmern zu fliehen. Er war leichenblass dabei geworden, doch Karyu war der Ereignisse viel zu müde, um zu verstehen, was er da hörte. Erst jetzt holte ihn alles tatsächlich ein.

Er zuckte zusammen, als Tsukasa seine Hand nahm und in die seinen einschloss. Seine Augen hielten sich krampfhaft auf der weißen Bettdecke, aber er wusste, dass er angesehen wurde.

„Ich habe eine Bitte.“ Tsukasa stieß seinen Atem langsam hervor und schwieg eine Weile. Als Karyu schließlich seinen Blick hob, sah er nachdenklich aus.

„Ja?“

„Yagasumo hat das alles nur getan, um seine Frau und seine Kinder zu schützen. Er wollte uns nie etwas Böses.“

„Ich weiß.“ Karyu fuhr sich mit der freien Hand einmal übers Gesicht. Sie hatten bereits einmal darüber geredet, doch da war noch nie die Rede davon gewesen, dass dieser Mann hier sterben würde. „Ich weiß.“

„Sie haben ihn jetzt eine Weile nicht besucht. Vielleicht habe ich mir bloß angewöhnt schnell argwöhnisch zu werden, aber könntest vielleicht bei ihnen nach dem Rechten sehen? Ich denke wir sind es ihnen schuldig, dass wir uns um sie kümmern.“ Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über Tsukasas Lippen. „Ich würde es selbst tun, aber du hast mir deutlich gesagt, dass ich noch immer eine Art Pflegefall bin.“

Es beruhigte Karyu, etwas Schelmisches in seinen Augen zu sehen. Und für einen kurzen Augenblick konnte er sich auch vorstellen, dass sie in seiner Wohnung auf dem Sofa saßen, nicht an einer Art Totengelage. Er streckte seine Hand nach Tsukasas Haaren aus und strich darüber hinweg. Schließlich seufzte er leise.

„Ich fahre gleich vorbei. Und wenn ich nachhause komme, will ich, dass du dann schon da bist. Genug Arbeit für heute.“

„Versprochen.“ Tsukasa beugte sich vor und küsste ihn. „Danke. Wirklich.“

Als er sich wieder zurücklehnen wollte, hielt Karyu ihn davon ab. Den fragenden Blick ignorierend rahmte er Tsukasas Gesicht mit den Händen ein und legte erneut seine Lippen auf seinen Mund.

Nach schier endloser Zeit löste er sich von ihm und kämpfte sich beinahe schwerfällig auf die Beine. Und trotz aller Vorsicht fiel in diesem Moment sein Blick auf das fahle Gesicht von Yagasumo. Ein Knoten bildete sich in seinem Magen.

„Gut. Ich gehe jetzt.“

„Karyu?“

„Mhm?“

„Es wird alles gut. Irgendwann ist alles wieder gut.“

Karyu musterte Tsukasa eine Weile. Auch wenn sein Freund es vielleicht nicht darauf anlegte, konnte er in seinen Augen wieder diesen Ehrgeiz erkennen, mit dem er auch einmal ihn am Leben erhalten hatte. Vielleicht konnten sie Yagasumo nicht mehr helfen, aber Karyu wurde klar, dass sie noch immer eine Chance hatten, das Beste aus allem zu machen. Er lächelte flüchtig.

„Ja, das wird es.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Cilia
2013-11-12T18:48:17+00:00 12.11.2013 19:48
Hey! Erster? Warum?
Wie immer freu ich mich wahnsinnig, wenn zu meiner Lieblings-Fic ein Update bereit ist! Und die hohe Qualität macht die Wartezeit auch wieder wett.
Ich saß ganz gefesselt vor diesem doch gruseligen Kapitel, hatte wie sonst auch deutlichere Bilder im Kopf, als es sein müsste..
Karyu als Welpen-Erzieher - die "mach mal alleine" Nummer ist zwar hart, wird Hizumi aber vielleicht eines Tages in die Fußstapfen des Großen treten lassen...naja, soweit sind wir noch nicht, aber Hizumi ist jetzt schon eine spannende Erweiterung in den Polizeibereichen.
Nur ein paar Unstimmigkeiten sind mir aufgefallen, z.B. dass Hizumi wohl erst Handschuhe angezogen hätte, bevor er den Puls einer blutigen Leiche fühlt (oder überhaupt einen nach Leiche stinkenden Ort betritt). Das bringt auch zum zweiten Punkt. Ich bin zwar kein Forensiker, aber kann Blut noch feucht sein, wenn die Toten schon stinken? Leichengeruch tritt nach sehr unterschiedlichen Zeiträumen auf, aber im Prinzip kann man von drei Tagen ausgehen. Solange bleibt kein Blut warm und flüssig. Es sei denn, die Mutter hing schon drei Tage, bevor die Kinder ermordet wurden und stank deshalb...naja, das wird zu makaber.
Ich freue mich auf's nächste Mal ^^


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