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Vertrau mir deine Flügel an

von

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Das Grab der Vergangenheit

Harada hatte das Gefühl, dass ihn gerade ein Fels erschlagen hatte, als er Erenyas Worte vernommen hatte. Er verstand das Mädchen nicht, denn erst schwieg sie ihn an und nun verkündete sie, dass sie Kyoto für immer verlassen wollte.

“Wieso? Warum willst du Kyoto verlassen? Hat dir irgendjemand was getan? Ist es wegen Mugen?”

Ruhig sah er das Mädchen an, das immer noch mit gesenktem Haupt den Boden schrubbte. Erneut spielte sie das Spiel des Schweigens. Wie konnte Harada nur von ihr erfahren, was passiert war? Wieso wollte sie nicht reden?

Es machte Harada fuchsig.

“Jetzt rede doch mit mir, Eri-chan! Du kannst doch nicht einfach hier auftauchen, dich mit deiner engelsgleichen Art in die Herzen deiner Mitmenschen schleichen und dann verschwinden, als hätte es dich nie gegeben. Was ist verdammt noch mal passiert?”

Der Krieger wurde wütend, nicht auf das Mädchen, sondern auf die Tatsache, dass sie ihm scheinbar immer noch nicht alles anvertrauen konnte. Doch seine Worte trafen bei ihr einen empfindlichen Punkt. Er sah es, denn kleine Tränen kullerten ihre Wange hinab und tropften auf den Lappen. Harada verstand nun, dass sie eigentlich nicht gehen wollte.

Ohne wirklich darüber nachzudenken, hob der Krieger seine Arme und legte sie um das Mädchen, um es an sich heranziehen zu können.

Sanft drückte er den zierlichen Körper des Puppenmädchens an seinen und legte ihr sanft die linke Hand aufs Haupt.

“So lasse ich dich nicht gehen, Eri-chan. Wenn du weinst, bedeutet es, dass du gar nicht weg willst. Und mit Tränen im Gesicht werde ich dich nicht einfach so ziehen lassen.”

Mit dem Mädchen im Arm verweilte Harada eine ganze Weile. Er spürte die Tränen, die den Stoff seiner Sachen durchnässten und ihre Hände, die sich an ihm festkrallten. Sie klammerte sich verzweifelt an ihn, in der Hoffnung doch nicht gehen zu müssen, denn sie wollte ihn und ihre Freunde nicht verlassen.
 

Wie lange sie in seinen Armen lag und sich an seiner Schulter ausweinte, konnte Harada nicht sagen. Er spürte irgendwann nicht mehr die warmen Tränen auf seiner Haut, weil sein Oberteil bereits feucht genug an den betroffenen Stellen war. Doch er störte sich nicht daran. Er wollte die starke Schulter sein, an der sie sich ausweinen konnte. Er wollte der Mann sein, dem sie ihre Sorgen anvertraute.

“Es… tut mir Leid, Harada-kun. Aber… ich habe Angst, euch zu verlieren, wenn ich hier bleibe.”

Der Krieger spürte, dass das Mädchen sich ihm öffnen wollte. Er hoffte, nun zu erfahren, warum sie solche Angst hatte.

“Du wurdest wegen mir in einen Kampf mit diesem Mugen gezogen. Ich wurde angegriffen… Was wenn… Mizu und Lhikan etwas passiert? Was wenn… dir etwas passiert, Harada-kun?”

Fester krallte sich Erenya an dem Oberteil des Kriegers fest. Sie hoffte inständig, dass er sie nun verstehen und gehen lassen würde. Das alles war schließlich auch zu seinem Besten.

“Einfach zu gehen und vor dem Problem wegzulaufen, macht es auch nicht besser. Es gehört zum Leben dazu, sich seinen Problemen zu stellen.”

Sanft legte Harada den Daumen und Zeigefinger unter Erenyas Kinn und hob ihren Kopf vorsichtig an, um ihr in die Augen sehen zu können.

Sie wehrte sich nicht und ließ ihn gewähren, auch wenn sie nicht verstand, wieso.

“Ich bin immer für dich da, Eri-chan. Und wenn du jetzt immer noch gehen willst, muss ich dich wohl gefangen nehmen. Denn ich lasse dich erst gehen, wenn ich weiß, dass du nicht mehr in Gefahr bist. Hast du das verstanden?”

Ernst, als würde es um ihr Leben gehen, fixierten die goldbraunen Augen des Kriegers das Mädchen. Wie sollte sie ihm standhalten, diesem Mann, mit diesen Augen, die wie geschmolzenes Gold glühten?

Magisch zog er sie mit seinem Blick in seinen Bann. Es waren seine Augen, die sie verzauberten und ihr ein leichtes Kopfnicken abrangen.

“Schön. Du wirst also hier bleiben und dich nicht einfach heimlich wegschleichen?”

Erneut nickte sie. Gegen seine warmen, freundlichen Augen hatte sie einfach keine Chance.

“So ist es gut. Und nun sei nicht mehr so traurig und lächle wieder. Schließlich ist es ein Lächeln, das eine Frau wunderschön macht.”

Sanft wischte Harada mit seinem Handrücken die letzten Tropfen von Erenyas Tränen weg. Dieses Mädchen würde er jetzt nicht gehen lassen. Er würde sie beschützen, solange sie ihm erlaubte, in ihrer Nähe zu bleiben.
 

Mizu war froh, als sie endlich mit allen Böden fertig war, und hoffte inständig, dass es auch Erenya war. Doch viel mehr sorgte sie sich um das Mädchen, das seit dem Morgen wie ausgewechselt war. Sie konnte nur hoffen, dass Harada, der mit ihr reden wollte, irgendetwas herausbekam. Obwohl sie nicht wusste, seit wann Harada und Erenya sich kannten, hatte sie das Gefühl, dass er vielleicht der Einzige war, dem sie sich öffnen würde.

Das Mädchen seufzte und warf ihren Lappen zurück in den Eimer. Es war schon deprimierend zu wissen, dass die Mitbewohnerin einen nicht vertraute. Auf Dauer würde das sicher nicht gut gehen. Mizu fragte sich sogar, ob sie Erenya zu viel Zeit gab und sie nicht doch den ersten Schritt wagen sollte.

Zweifelnd hob das Mädchen den Eimer an und lief Richtung Küche, wo noch mehr Arbeiten auf sie wartete. Doch sie hielt inne, als sie Erenyas und Haradas Stimmen vernahm.

“Du hast dem Händler und Mizu-chan also noch nichts erzählt?”

Mizu wurde hellhörig, als sie ihren Namen hörte. Eigentlich war Lauschen nicht ihre Art, doch wenn Erenya nie mit ihr sprach, konnte sie vielleicht nur so erfahren, was mit dem Mädchen los war.

“Nein, wenn ich es ihnen erzähle, machen sie sich nur Sorgen. Ich will ihnen nicht noch mehr Kummer bereiten, als ich sowieso schon tue.”

Vorsichtig lugte Mizu hinter der Hauswand vor und sah zu Harada und Erenya, die nebeneinander saßen.

Das Puppenmädchen hielt den Putzlappen fest umklammert und sah starr nach vorne, während sie mit dem Krieger sprach, der sie keine Sekunde lang aus den Augen ließ.

“Sie sollten es dennoch erfahren, Eri-chan. Sie sind immerhin deine Freunde. Du musst deine Sorgen nicht alleine tragen. Man teilt mit Freunden alle Sorgen, Leid und auch alles Glück.”

Fest drückte sich Mizu an die Wand. Sie wollte nun wissen, warum sie sich genau Sorgen um Erenya machen musste.
 

Mizu war so sehr damit beschäftigt, Harada und Erenya zu belauschen, dass sie nicht merkte, wie jemand sich von hinten anschlich und langsam seine Hände nach ihr ausstreckte. Erst als sie eine der Hände auf ihrem Mund spürte und die andere sie mit sanfter Gewalt zurückzog, realisierte sie die Person, die etwas größer als sie war und sich runterbeugen musste, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

“Wenn du schreist, Mizu-chan, bringe ich dich um.”

Kaum dass Mizu die Stimme vernahm, verflog die Anspannung, die sich aufgebaut hatte und sie traute sich auch, mit ihrer Hand zu der an ihrem Mund zu greifen und sie wegzuziehen.

“Okita-kun, du hast mich erschreckt!”, zeterte das Mädchen leise, denn ihre Lauschopfer sollten sie nicht gerade jetzt entdecken.

“Lauschen gehört sich nicht. Haben deine Eltern dir das nicht gesagt?”

Mit einem verspielten Lächeln sah der Größere auf Mizu herab, die einen rötlichen Schimmer auf ihre Wange bekam.

“Das weiß ich auch, ohne dass meine Eltern es mir sagen müssen”, murrte sie und schwieg.

“Scheinbar aber doch. Denn wie es scheint, haben deine Eltern bei der Erziehung versagt.”

Mizus Augen weiteten sich, als Okita das sagte. Er wusste nicht, wovon er sprach, was er mit seinen Worten bei ihr auslöste.

Ohne es kontrollieren zu können, holte Mizu mit der Hand aus und schlug den Samurai so fest sie konnte auf die Wange.

“Sei ruhig! Du weißt nichts von mir oder von meinen Eltern.”

Sie konnte es nicht. Sie konnte nicht mehr hier bleiben, an diesem Ort, mit diesem taktlosen Krieger.

“Ihr Rônin seid wirklich das Letzte.”

Wütend lief das Mädchen an Okita vorbei und verließ das Tempelgelände. Vergessen waren die Arbeit, Erenya und alle anderen Dinge. Sie wollte einfach nur weg.
 

Seufzend sah Mizu auf das obligatorische Grab, das sie aufgebaut hatte, um ihren Eltern hin und wieder die Ehre zu erweisen. Es stand außerhalb der Stadt, verborgen auf einem Hügel. Sie kam immer hierher, wenn sie wegen irgendetwas aufgebracht war. Hier konnte sie sich einigermaßen beruhigen und wieder klar im Kopf werden, selbst wenn sie hier nur mit kaltem, ungraviertem Stein reden konnte. Manchmal blieb sie solange, dass sie nicht einmal bemerkte, wenn die Sonne unterging. So wie heute.

Erst als der Mond und sein Licht das Grab ihrer Eltern beleuchteten, realisierte sie, wie spät es war.

‘Verdammt! Erenya ist sicher noch bei der Roshigumi. Ich muss sie schnellstens abholen.’

Mizu erkannte, dass sie die Roshigumi Hals über Kopf verlassen hatte, und hoffte, dass ihrer schweigsamen Freundin nichts passiert war.

Schnellen Schrittes lief Mizu zurück in die Richtung der Roshigumi. Es wurde bald dunkel, und alleine wollte sie nur ungern auf der Straße sein.

‘Mir fehlt eindeutig meine Waffe’, dachte sie und lief weiter zu einer Brücke, die über einen kleinen Fluss führte.

Kurz hielt sie davor inne, als sie einen Menschen dort stehen sah. Sie erkannte seine Silhouette und fragte sich, was er hier draußen machte.

“Okita-kun?”, fragte sie leise und ging auf den Mann zu, der seinen Kopf hob und sie aus seinen giftgrünen Augen heraus ansah.

“Mizu-chan?”

Obwohl es bereits dunkel war, erahnte das Mädchen ein sanftes Lächeln auf Soujis Lippen.
 

“So ist das also. Du sollst zurück nach Edo?”

Souji nickte, als Mizu zusammenfasste, was dem Krieger beim Abendessen mit seinen Kollegen widerfahren war. Obwohl das Mädchen kein Mitglied der Roshigumi war, vertraute der Junge mit den rostbraunen Haaren ihr, selbst wenn es um Probleme wie diese ging. Sie hörte ihm auch aufmerksam zu, weswegen er glaubte, dass sie seine Gefühle verstand.

“Aber weglaufen ist auch keine Lösung. Man sollte sich dem Problem stellen, um es ändern zu können.”

Mizus Gedanken, die sie laut äußerte, entlockten Souji ein leises Lachen.

Verwundert sah das Mädchen den Krieger an.

“Du bist vorhin doch auch weggelaufen. Weißt du noch? Kurz nachdem deine zierliche Hand mir die Ohrfeige meines Lebens verpasst hat.”

Verlegen sah Mizu weg. Sie erinnerte sich noch genau daran, und es war offensichtlich, dass der Krieger Recht hatte.

“Also, du meintest, dass ich nichts von dir oder deinen Eltern weiß. Dann erzähl mir was über dich, Mizu-chan.”

Das verspielte Lächeln Okitas wich einem freundlichen, warmen, das er Mizu schenkte, die kurz über seinen Vorschlag nachdachte.

“Na schön, Okita-kun. Ich werde dir ein bisschen was erzählen. Aber das darfst du niemanden erzählen”, flüsterte sie leise und überlegte, wo sie mit ihrer Geschichte anfangen sollte.

Vielleicht war der Anfang die beste Entscheidung.
 

“Mein Vater war ein Samurai, und als ich geboren wurde, erlebte er seine größte Enttäuschung. Sein Wunsch nach einem männlichen Erben fand eben nicht seine Erfüllung. Doch mein Vater war einfach nicht der Mann, der sich von so etwas unterkriegen ließ. Obwohl ich ein Mädchen war, kleidete er mich wie einen Jungen. Er lehrte mich den Schwertkampf und andere Kampftechniken. Und abends gab er mir immer etwas von seinem Sake ab, damit ich auch zu einem trinkfesten Krieger werde.

Wenn ich so daran zurückdenke, waren es eigentlich recht schöne Zeiten, aber sie währten leider nicht lange genug.”

Mizus Blick glitt auf das Wasser, das durch das Licht des Mondes und der Sterne wie ein Edelstein funkelte. Doch vor ihrem inneren Auge färbte sich das Wasser feuerrot.

“Rônin drangen in meine Heimat ein und verwüsteten alles. Mein Vater und seine Männer versuchten, sie zu vertreiben, aber sie waren zahlenmäßig unterlegen und starben. Die Frauen und Kinder flohen in den Wald, um dort zu warten, dass die Lage sich beruhigte.

So genau kann ich mich nicht mehr an damals erinnern. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter plötzlich nicht mehr bei mir war, und als ich zurück ins Dorf kam, waren ich und einige andere Kinder Waisen. Alles, was mir von meinen Eltern blieb, waren die Erinnerungen und das Schwert meines Vaters. Das alles geschah, als ich acht Jahre alt war.”

Kurz sah Mizu zu Souji, der geistesabwesend in die Ferne sah. Sie fragte sich, ob er zuhörte, und woran er gerade dachte.

“Wir sind uns ähnlich, Mizu-chan. Mein Vater war auch ein Samurai. Und wie bei dir sind meine Eltern gestorben. Allerdings hatte ich eine Schwester, die sich eine Zeit lang um mich kümmerte. Doch sie brachte mich in Kondou-sans Tempel, wo ich schließlich lebte und trainierte. Doch selbst dort waren die Zeiten hart. Der Einzige, der immer für mich da war, war Kondou-san.”

In Soujis grünen Augen schimmerte ein Funken Melancholie, als er sich an die Zeit im Shieikan zurückerinnerte.

Vorsichtig tastete Mizu nach Soujis Hand, die auf dem Brückengeländer lag.

“Waisen haben es nicht leicht. Das mussten auch meine Freunde und ich lernen. Wir wurden aus dem Dorf gejagt und wir schlugen uns durch die umliegenden Wälder zu den großen Städten. Dort klauten wir uns ehrlos alles zusammen, was wir brauchten. Oder wir bettelten. Es war uns eigentlich egal, wie wir an Geld oder Essen kamen. Wir wollten einfach überleben. Und es gelang einigen von uns. Lhikan hat nun seinen eigenen Laden, und einige andere haben feste Arbeit im Rotlichtviertel gefunden, und ich weiß auch, was ich tun muss, um einigermaßen gut zu leben. Und dieses Mal ist es Arbeit, auf die ich stolz bin.”

Ein Lächeln lag auf den Lippen des Mädchens, als sie ihm vom finsteren Teil ihrer Vergangenheit erzählte. Nun hatte sie, neben Lhikan und einigen ihrer alten Freunde, noch jemanden, der etwas über ihre Vergangenheit wusste.

“Ich sollte langsam zurück. Erenya wartet sicher schon auf mich.”

Auch wenn Mizu sich ungern in diesem Moment von ihm und diesem Gespräch trennen wollte, musste sie es. Sie konnte ihre verschwiegene Freundin nicht länger alleine lassen.

“Um Eri-chan musst du dir keine Sorgen machen. Sie ist bereits in bester Begleitung eskortiert wurden.”

Erleichterung machte sich in Mizu breit, denn sie konnte sich schon ahnen, wer diese “beste Begleitung” war. Immerhin konnte sie nun sicher sein, dass ihre Mitbewohnerin sicher zu Hause angekommen war.

“Dann sollte ich dich vielleicht sicher zurückbringen, Okita-kun”, scherzte Mizu, doch der Samurai schüttelte den Kopf.

“Nein, ich möchte noch etwas alleine sein und nachdenken.”

Die Kriegertochter seufzte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass Souji auf den Scherz eingehen würde, doch scheinbar war der Krieger noch nicht zum Scherzen aufgelegt.

“Dann sehen wir uns später. In der Roshigumi.”

Langsam wandte sich Mizu von Souji ab. Ihr war klar, dass der Junge nichts mehr sagen würde, denn er hatte seinen Standpunkt klar gemacht. Er wollte alleine sein, und da störte sie eben. Sie musste also den Rückzug antreten, aber immerhin konnte sie nach Hause gehen, dahin, wo Erenya vielleicht schon auf sie wartete.
 

Es war seltsam ruhig auf Kyotos Straßen, als Yuki auf dem Dach des Gasthofes saß. Sie fragte sich, wann sie endlich das Puppenmädchen finden würde. Zwar hatte sie die Roshigumi auf ihrer Seite, aber auch sie hatten ihre internen Probleme.

‘Verlange ich vielleicht zu viel von ihnen?’

Yuki seufzte und sah in den sternenübersäten Himmel. Irgendwo da draußen war sie.

“Ich hätte nie erwartet, dass du so etwas tust, Yuki-chan. Aber irgendwie bin ich froh, dass du es getan hast.”

Leicht zuckte der Schneeengel zusammen, als sie die vertraute Stimme eines alten Bekannten hinter sich hörte.

Vorsichtig sah sie über ihre linke Schulter zu dem Mann in der schwarzen Federrüstung.

“Du bist auch hier, Koji?”

Niemals im Traum hätte sie geglaubt, den Gefallenen wiederzusehen, doch das Schicksal hatte sie wieder zusammenführen wollen. Die Frage war nun, was er hier, ausgerechnet in Kyoto, wollte.

“Was willst du hier?”, fragte sie deswegen und sah wieder gen Himmel, wo die Sterne wie kleine Edelsteine funkelten.

“Ich bin wegen einem Mädchen hier. Genauso wie du.”

Nun verwunderte er sie. Anhand seiner Worte verstand sie, dass er nach dem Puppenmädchen suchte. Die Frage war nur, warum?

“Unser Schöpfer hat mich geschickt, um sie zu holen. Allerdings ist das nicht so einfach. Sie ziert sich ein wenig.”

Langsam ging der Schönling zu Yuki und setzte sich neben sie. In Yuki machte sich ein nostalgisches Gefühl breit, denn es war lange her, dass sie so zusammen saßen.

“Du weißt also, wo sie ist?!

...

...

...

Sicher wirst du es mir nicht verraten, oder?”

Nur aus dem Augenwinkel heraus sah Yuki den gefallenen Engel an. Sie ahnte, warum man ihm diesen Auftrag gegeben hatte. Er war der einzige Gefallene, dem man einigermaßen vertrauen konnte. So schlimm waren seine Taten der Vergangenheit nicht gewesen. Zumindest gab es bei weitem schlimmeres.

“Nun ja, sie ist ganz in deiner Nähe. Du musst nur deine hübschen Augen offen halten.”

Ein amüsiertes Grinsen lag auf Kojis Gesicht, denn das Seufzen von Yuki verriet ihm, dass sein Hinweis nicht sehr hilfreich war. Er sollte es wohl auch nicht sein. Sie wäre schließlich auch nicht mit Informationen gekommen, wenn sie mehr wüsste als er.

“Verzeih mir bitte, Yuki-chan. Aber wir sind Gegner in diesem Spiel und ich möchte es nur zu gerne gewinnen, denn es hängt zu viel davon ab.”

Yuki schwieg. Ihr war egal, was Koji für seinen “Sieg” erhalten würde. Für sie war das kein Spiel, denn das Puppenmädchen war ihr wichtig.

“Wenn du nichts interessantes zu sagen hast, dann entschuldige mich bitte… Ich geh schlafen.”

Ruhig und gelassen erhob sich Yuki von ihrem Platz, doch blitzschnell griff Koji nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest.

“Ich werde ihr Herz erobern und es mir zu eigen machen”, verkündete er, doch Yuki entzog sich seinem Griff und verließ das Dach, hoffend, dass das Puppenmädchen noch absolut emotionslos war.
 

Es war wahrscheinlich Mitternacht, als Mizu endlich nach Hause kam und von Dunkelheit begrüßt wurde. In der Ecke, ungefähr da, wo Erenyas Schwert stand, und ihre Futons lagen, sah sie den kleinen Berg, der sich gleichmäßig hob und senkte.

Seufzend schlüpfte Mizu aus ihren Schuhen und betrat das Zimmer, das so ruhig und unbelebt wie zu den Tagen ohne Erenya war. Doch das Mädchen war hier, und sie schlief gerade, weswegen sich Mizu bemühte, leise zu sein.

Vorsichtig und langsam betrat die Kriegertochter das Zimmer und versuchte, den quietschenden Holzdielen auszuweichen. Sie kannte die Schwachstellen ihres Heimes, und so fiel es ihr auch im Dunkeln nicht schwer, tänzelnd über die Gefahrenstellen zu laufen.

Doch trotz aller Vorsicht konnte Mizu einer Tischkante nicht ausweichen. Leise fluchte sie, als sie das Klappern von Geschirr auf dem Tisch hörte, und sah zu dem schlafenden Mädchen, das scheinbar nichts bemerkt hatte.

‘Moment mal, hatten wir den Tisch heute früh nicht leer geräumt?’

Verwundert ging Mizu auf die Knie und tastete am Tisch entlang, bis ihre Finger auf das glatte Porzellan einer Schüssel stießen.

Mizu blinzelte, denn sie war sich mehr als nur sicher, dass sie den Tisch aufgeräumt hatte.

“Du kannst ruhig eine Kerze anmachen. Ich kann sowieso nicht schlafen.”

Leicht blinzelte das Mädchen, als sie Erenyas leise Stimme hörte. Sie hatte gedacht, dass ihre Mitbewohnerin schlief, doch scheinbar hatte sie sich damit geirrt.

“Ich habe dir Essen gemacht… Oder es versucht. Wenn du magst, kannst du vor dem Schlafen noch etwas essen.”

So langsam verstand Mizu, warum es auf dem Tisch geklappert hatte. Und in der Tat, sie hatte schon noch Hunger, denn sie hatte seit dem Mittag, das aus zwei Onigiri bestanden hatte, nichts gegessen. Es war also keine schlechte Idee von dem Puppemmädchen, jetzt noch eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.

“Wo warst du eigentlich?”, fragte das Mädchen schließlich, als Mizu sich erhoben hatte und zur Kochnische ging, wo eine kleine, aber wirkungsvoll lichtspendende Lampe stand.

Leise seufzte Mizu. Sie konnte es dem Mädchen nicht sagen, denn dann wusste sie, dass diese sie und Harada belauscht hatte.

“Ich musste woanders hin. Ich habe aber von Okita-kun erfahren, dass du nach Hause begleitet wurdest.”

Schnell wechselte Mizu das Thema, denn sie wollte nicht, dass ihre Mitbewohnerin noch mehr fragte und in ihren Problemen herumstocherte. Und sie hatte Erfolg mit ihrer Ablenkungstaktik.

“Ja, Harada-kun hat mich begleitet und mir beim Essen geholfen. Allerdings…”

Leise lachte das Mädchen verlegen und Mizu erkannte sofort wieso. Abgedeckt in einem Wok sah sie die verkohlten Reste, die wohl einst mal Gemüse gewesen waren. Verbrannt konnte man das sicher nicht mehr nennen.

“Harada-kun konnte nicht verhindern, dass mir das Gemüse etwas anbrennt. Den Reis hat er deswegen gemacht, der sollte also genießbar sein.”

Mizu sah in das unschuldige Gesicht ihrer Mitbewohnerin und musste selbst etwas schmunzeln. Die ganze Situation erinnerte sie an die Zeit, als sie mit den anderen Waisenkindern zusammengelebt hatte.

“Mal sehen, ob mein Magen noch abgehärtet ist”, flüsterte sie leise und füllte ihre Schale mit Reis.

Darauf gab sie noch etwas von dem verkohlten Gemüse, denn Erenya hatte sich Mühe gegeben, und diese Mühe wollte sie angemessen honorieren.

Mit ihrem Abendessen in der Hand setzte sich Mizu auf ihren Platz und griff zu ihren Stäbchen, die dort bereits lagen.

“Guten Appetit…”, wisperte die Kriegertochter und genehmigte sich den ersten Bissen.

Sofort fiel ihr auf, was mit dem Gemüse nicht mehr stimmte. Es war zu trocken, zu salzig, und vom Geschmack her konnte sie nicht mehr identifizieren, was Erenya für Gemüse benutzt hatte.

“Also eines steht fest, Eri-chan. Wegen deiner Kochkünste wird Harada-kun dich nicht lieben.”

Mizu musste lachen, als sie das zu Erenya sagte und diese einfach nur ausdruckslos und verwundert vor sich hinstarrte.

“Harada-kun… mich lieben?”, fragte sie nach, als ihre Mitbewohnerin sich beruhigte und einen weiteren Bissen genehmigte.

“Was ist Liebe?”

Die Waise konnte nicht glauben, was sie da hörte, und musste schwer mit dem Bissen im Mund kämpfen, damit sie sich nicht verschluckte.

“Du weißt nicht was Liebe ist? Ohje…”

Leise seufzte Mizu und überlegte nun, wie sie diesem unschuldigen Wesen die Liebe erklären sollte.

“Nun, es gibt drei Arten von Liebe. Das Mögen, das Verliebtsein und eben das Lieben. Wenn man jemanden mag, redet man mit ihm und vertraut ihm die dunkelsten Geheimnisse an. Ist man verliebt, wird man schnell verlegen in der Nähe dieser gewissen Person. Man will mehr über denjenigen erfahren und so oft wie möglich in seiner Nähe sein. Und wenn man diese Person dann richtig liebt, will man sie vor allen Gefahren beschützen. Das Band der Liebe ist das mächtigste auf Erden, und noch nicht einmal der Tod kann es zerstören.”

Schweigend lauschte Erenya ihrer Freundin. Mizu sah, wie es im Kopf des Puppenmädchens arbeitete, und beließ es erst einmal dabei. Sie selbst war sicher auch nicht die beste Lehrerin, wenn es um Gefühle ging, immerhin hatte sie sich selbst noch nie in ihrem Leben verliebt.
 

Obwohl Mizu schon lange in ihrem Futon lag und schlief, konnte Erenya noch immer kein Auge zumachen.

Ausdruckslos sah sie an die Decke und dachte über das Neugelernte nach. Sie rekapitulierte die Worte Mizus und versuchte, sie nun auf ihre Umgebung zu reflektieren.

‘Mizu und Lhikan… mag ich. Die Jungs der Roshigumi… mag ich, auch wenn ich sie kaum kenne. Aber Harada-kun…?’

Angestrengt dachte Erenya nach und rief sich Haradas Gesicht in Erinnerung.

‘Ich glaube, ich mag ihn.’

Leicht schloss Erenya die Augen und dachte darüber nach, was sie mit ihm erlebt hatte. Er hatte sie vor Koji beschützt, sprach viel mit ihr, besuchte sie in Lhikans Laden, wenn sie dort arbeitete…

‘Ich denke… ich könnte auch verliebt in ihn sein.’

Obwohl sich Erenya darüber gar nicht sicher war, formte sich dieser Gedanke. Vielleicht war es ja wahr, obwohl sie nicht wusste, was es bedeutete, verliebt zu sein.

‘Ob mich Harada-kun mag?’

Auch darüber dachte sie einen kurzen Moment nach, ehe sie wie von selbst nickte.

‘Er mag mich’, entschied sie und seufzte leise aus.

Es konnte nicht anders sein, denn schließlich hatte Harada sie dazu überredet, Kyoto nicht zu verlassen.

‘Er mag mich.’

Noch einmal formte sich der Gedanke in ihrem Kopf, ehe sie ruhig und friedlich einschlief.
 

Früh am Morgen erwachte Mizu aus ihrem erholsamen, traumlosen Schlaf und sah sich in ihrem Zimmer um. Alles war wie immer. Das Schwert ruhte in der Ecke, der Tisch wartete darauf, gedeckt zu werden, und der Futon neben ihr war leer. Alles war so wie… immer? Schlagartig, als Mizu realisierte, dass doch nicht alles wie immer war, erwachte sie aus ihrem Wachschlaf und stand auf.

Wieder glitt ihr Blick durch das Zimmer und erst jetzt, beim zweiten Mal, bemerkte Mizu die offenstehende Tür.

‘Erenya!!!’

Obwohl Mizu nicht wusste, wann Erenya die Wohnung verlassen hatte, lief sie zur Tür und schlüpfte in ihre Schuhe.

‘Bitte, sei nicht zu weit weg!’

Die Kriegertochter flehte, dass sie rausgehen und Erenya schnell finden würde, denn alleine da draußen war das Puppenmädchen verloren.

“Guten Morgen, Mizu!”

Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie vom Dach des gegenüberliegenden Hauses eine ihr wohl vertraute Stimme hörte. Fragend sah das Mädchen nach oben, wo Erenya putzmunter saß und sie anlächelte.

Ungläubig darüber, was sie sah, rieb sich Mizu den letzten Schlafdreck aus den Augen. Sie hätte schwören können, dass sie das Mädchen mit einem Paar schneeweißer Flügel gesehen hatte. Doch nun, wo sie erneut zu dem Mädchen sah, war diese Illusion verschwunden.

“Was machst du hier draußen, und wie kommst du da rauf?”

Mizu konnte nicht anders, als zu fragen, denn sie sah nirgends eine Leiter oder sonst ein Hilfsmittel, womit Erenya auf das Nachbarhaus hätte steigen können.

“Ich hatte Hunger, und die Sonne geht gerade auf.”

Mit einem unschuldigen Lächeln, und so, als erklärte es alles, sah Erenya zu Mizu hinab, die leise seufzte.

“Wir haben noch Reis von gestern da. Außerdem, wie soll das Sitzen auf dem Dach deinen Hunger stillen? Komm da wieder runter!”

Weiterhin sah die Kriegertochter zu ihrer Freundin, deren Lächeln nicht schwand.

“Später!”, rief sie der Mitbewohnerin zu und ließ ihre Füße über den Dachrand baumeln.

Sofort verstand Mizu, dass sie Erenya nicht vom Dach bekommen würde, aber das war ihr egal. Sollte das Puppenmädchen doch tun, was sie wollte. Sie hatte immerhin noch genug Dinge vor dem Abend zu erledigen.
 

Seufzend lief Mizu mit einer schweren Flasche Sake durch die Straßen. Sie hatte vor, sich bei Harada für seine freundliche Fürsorge zu bedanken.

Sie war sich sicher, dass der Sake als Zeichen ihrer Dankbarkeit reichen würde. Immerhin war auch Harada nur ein Mann und Krieger. Und sie kannte zwei Dinge, die jeden Mann glücklich machten. Alkohol und Frauen. Deswegen war sich das Kriegermädchen sicher, dass dieses Geschenk genau ins Schwarze treffen würde.

Mizu verlor den Weg nicht aus den Augen und kam zum Hauptquartier der Roshigumi, das fast schon wie ein eigener Stadtteil Kyotos aussah. Die Frage war nun, wo sie Harada finden konnte, oder jemanden, der ihm die Flasche überreichen würde.

“Kennst du einen Mann namens Tonouchi?”

Mizu sah geradeaus, als sie die grobe, tiefe Stimme Serizawas und die des Raufboldes Okita hörte. Sofort erkannte sie die Männer und verschwand schutzsuchend hinter einer Ecke.

“Er kam zu meinem Zimmer und stattete mir einen Besuch ab… Er sprach über Kondou-kun.”

Mizu wurde hellhörig. Sie wusste, wie viel Okita das Oberhaupt bedeutete, und sie hatte kein gutes Gefühl, was Serizawa anging.

“Scheinbar lehnt er einen Mann, der nicht als Krieger geboren und als Anführer der Roshigumi dient, ab. Er sagte, dass wenn ich ihn töten will, er gerne die Ehre hätte.”

Entsetzt schlug sich das Mädchen eine Hand vor den Mund und starrte auf die drei Männer. Sie konnte nicht glauben, dass es nach der Regelaufstellung wirklich jemand wagte, irgendwen zu hintergehen. Doch wo es sie schockierte, entlockte es Okita nur ein Lachen.

“Du kannst ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen! Serizawa-san, du bist überraschenderweise ein netter Kerl.”

Leicht sah das Mädchen aus ihrem Versteck hervor und beobachtete, wie Serizawa mit seinem Anhängsel das Hauptquartier verließ.

“Mir scheint, dass du immer noch gerne lauschst, Mizu-chan.”

Ertappt zuckte Mizu zusammen, als Okita sie direkt ansprach. Im Gegensatz zu ihm hatte Serizawa sie nicht bemerkt. Und Okita machte auch keinen Hehl daraus, dass er Mizu bemerkt hatte.

“Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dich töten muss, wenn du irgendjemanden davon erzählst.”

Die Sakeflasche fest umklammernd, kam Mizu aus ihrem Versteck raus und sah den Samurai an. Sein Blick verriet ihr, dass es dieses Mal kein Spaß war. Der junge Mann meinte es ernst.

Schweigend nickte das Mädchen und lief weiter. Sie wusste nicht, wem sie davon erzählen sollte, denn sie kannte niemanden, den es vielleicht interessieren konnte.
 

Summend stand Erenya im Lager von Lhikans Laden und räumte die neu angekommenen Waren ein. Fein säuberlich reihte das Puppenmädchen eine Packung Klebereismehl nach der anderen ein, immerhin hatte Lhikan sie darum gebeten.

“Erenya, kehrst du bitte das Lager, wenn du fertig bist?”

Klar und deutlich vernahm Erenya Lhikans Stimme aus dem Laden. Sie war verwundert darüber, dass sie jetzt schon das Lager ausfegen sollte, denn in der Regel machten sie das immer nur zum Ladenschluss.

“Okay!”

Schnell räumte sie noch die restlichen Tüten Klebereismehl ein, ehe sie sich ihrer neuen Aufgabe zuwandte. Obwohl nur eine Kerze das Lager spärlich beleuchtete, fand Erenya ihren Weg zum Besen, der neben der Tür, die in den Laden führte, stand.

“Na dann, kehren wir doch mal den Arbeitsdreck zusammen.”

Ohne Umschweife begann sie, den rauen Holzboden zu kehren, denn sie wollte das nicht zu lange vor sich herschieben.
 

Erenya war bis in die hinterste Ecke des Lagers vorgedrungen. Der Dreck war fast vollständig zusammengekehrt, und der Feierabend lag in greifbarer Nähe.

Lächelnd und gedankenverloren kehrte sie den letzten Dreck zusammen und ließ den Besen auch unter die Regale gleiten. Schnell hatte sie bemerkt, dass Lhikan unter diesen wohl eher weniger sauber machte. Bei einigen erschien es ihr auch logisch, denn unter vielen standen Kisten mit edlen Stoffen, die der Händler ganz billig ergattert hatte.

‘Nur noch das Regal.’

Voller Elan glitt der Besen unter das Regal und suchte mit seinen Borsten nach dem staubigen Unrat, der sich über Wochen darunter gesammelt hatte.

Doch weit kam der Besen nicht, denn recht früh stieß er gegen eine schwarze Kiste aus Holz.

‘Was zum…?’

Verwundert darüber, dass noch etwas unter dem Regal war, ging Erenya auf die Knie und zog die schwarze Holzkiste hervor.

‘Was hat Lhikan denn hier vergessen?’

Vorsichtig öffnete Erenya die schwarze Kiste und sah schließlich auf das Schwert, das auf lilafarbenen Samt gebettet lag.

“Ich hatte ganz vergessen, dass ich Mizus Schwert noch habe.”

Erschrocken wandte sich das Mädchen zu Lhikan um, der unbemerkt das Lager betreten hatte und nun hinter ihr stand.

“Mizus Schwert?”

Erst als Erenya realisierte, was Lhikan gesagt hatte, beruhigte sie sich wieder und sah auf die Waffe, die vor ihr ruhte.

“Nun ja, es ist nicht ganz ihr Schwert. Vielmehr ist es das ihres Vaters.”

Seufzend hockte sich Lhikan neben seine Angestellte und strich über die glänzende Klinge.

“Damals… mochte ich Mizu nicht. Und ich war nicht der Einzige. Vielleicht waren wir eifersüchtig, weil sie etwas hatte, das wir uns gewünscht haben.”

Fragend sah Erenya zu dem Händler, der sich an die Zeit zurückerinnerte, in der sie noch Kinder gewesen waren.
 

“Damals lebten Mizu und ich in einem kleinen Dorf. Sie war die Tochter eines Samurais, dessen Familie schon seit Generationen für die Ehre des Shoguns kämpfte. Sie war wohl das erste Mädchen, das in diese ehrvolle Samurai-Familie hineingeboren wurde, weswegen der Vater sie zu einen Jungen erzog. Sie hatte damals sogar ein richtig maskulines Aussehen. Kurze strubbelige Haare, Kratzer im Gesicht, an Armen und Beinen… Sie war ein richtiger Raufbold.”

Kurz lachte Lhikan auf, als er eine Mizu beschrieb, die Erenya nicht kennen konnte, weil diese schon lange mehr so aussah.

“Wir Kinder im Dorf haben sie gehasst. Sie spielte nie mit uns, und wenn wir mit ihr reden wollten, zeigte sie uns die kalte Schulter. Sie hatte Eltern, die sie liebten, sich um sie sorgten und ihr Wissen an sie weitergaben.

Doch… das änderte sich, als Mizus Vater im Kampf um das Dorf starb und ihre Mutter spurlos verschwand. Das Einzige, was ihr von ihren Eltern, oder vielmehr von ihrem Vater blieb, war dieses Schwert, das unserer kleinen Gruppe von Waisenkindern gute Dienste geleistet hat.”

Leise seufzte Lhikan, als er sich an die Zeit erinnerte, in der Mizu noch dieses Schwert geführt hatte.

“Sie hat einem Mädchen aus unserer Gruppe das Kämpfen beigebracht. Zusammen sind sie dann losgezogen und haben Geld und Essen besorgt. Es gab Tage, da waren ihre Sachen blutgetränkt, doch ich habe nie gefragt, was passiert war. Ich wollte nicht wissen, wie viele Leben vielleicht ausgelöscht worden waren, damit wir überleben konnten.”

Schweigend sah Lhikan auf das Schwert, dessen Klinge gut poliert und glänzend war. Das Bild der blutbeschmierten Mädchen hatte sich damals in sein Gehirn gebrannt und verfolgte ihn selbst heute noch in seine schlimmsten Träume.

“Was ist passiert? Warum ist das Schwert in deinem Lager und nicht bei Mizu?”

Lhikan sah zu dem Mädchen, das ihn mit ihrer Frage aus seinen Gedanken gerissen hatte.

Kurz musste der Händler nachdenken, wie genau das gewesen war.

“Als wir nach Kyoto kamen, hatte ich genug Geld angespart, um diesen Laden zu eröffnen. Ich wollte dadurch unserer Gruppe eine Chance geben, dass sie niemals wieder Falsches tun mussten, um zu überleben. Doch… Genau das hat unsere Gruppe gespalten. Und so blieb nur noch Mizu bei mir. Ich versprach ihr, alles zu tun, um ihr zu helfen, doch sie wollte das nicht. Stattdessen gab sie mir das Schwert und sagte, sie würde sich, wie ich, mit ehrlicher Arbeit ihr Leben verdienen. Seitdem habe ich das Schwert.”

Schweigend lauschte Erenya der Erzählung bis zum Schluss. Sie hatte bis jetzt nicht gewusst, wie viel wirklich in Mizu steckte. Erst durch Lhikan wurde ihr das richtig bewusst.

“Kann ich so werden wie Mizu? So stark?”

Fragend sah Erenya den Händler an, der verwundert über ihre Frage war. Sie wussten einfach zu wenig von dem Mädchen, um zu wissen, was sie meinte.

Doch er lächelte schließlich und legte eine Hand auf ihre rechte Schulter.

“Mizu und ich werden immer für dich da sein. Egal, um was es geht.”
 

Dunkelheit war bereits über Kyoto eingebrochen und verkündete das Ende des Tages. Schon jetzt entlockte die Dunkelheit der Nacht das Gesindel der Gesellschaft. Aus den Lokalen hörte man lautes Gelächter von betrunkenen Kriegern und trinktüchtigen Geschäftsmännern.

“Wirklich, ich wusste nicht, dass du ein geborener Samurai bist. Der Umgang mit diesen Raufbolden muss anstrengend sein.”

Zusammen mit Tonouchi verließ Okita ein Lokal, in dem sie zusammen getrunken und geredet hatten. Und scheinbar hatte Tonouchi nicht vor, das Gespräch trotz ihres Heimweges so schnell zu beenden. Nachdem er von Okitas Herkunft erfahren hatte, glaubte er, mit ihm einen treuen Verbündeten gefunden zu haben.

“Allerdings, das war es… Aber im Gespräch mit dir fiel mir wirklich ein Stein vom Herzen.”

Bedrohlich ruhig sprach Okita seine Worte aus, doch dem Samurai blieb der drohende Unterton verborgen. Er schien nicht einmal etwas zu ahnen, als Okita sich etwas zurückfallen ließ und langsamer lief.

“Komm für Ratschläge zu mir, wann immer du willst. Selbst nach Kondous Tod wäre ich froh, dir meinen Rat zu geben.”

Leicht verengte Okita die Augen, als Tonouchi den Namen Kondous aussprach und diesen in Verknüpfung mit dessen noch weit entfernten Tod brachte.

“Die Bedenken eines Samurais können nur von anderen Samurai verstanden werden.”

Tonouchi redete sich um Kopf und Kragen und bemerkte nicht einmal, wie Okita seine Hand auf den Griff seines Katanas legte.

“Tonouchi-san.”

Immer noch ruhig sprach der Junge den Namen seines Gegenübers aus, der sich fragend zu dem Krieger umdrehte und fragte, was er wollte. Er sah nur noch die Klinge aufblitzen, die in sein Fleisch schnitt und seinen roten Lebenssaft auf der Brücke und etwas auf Okita verteilte.
 

Fassungslos sah Mizu auf den toten Körper, der zu Boden fiel und ihr den Blick auf Okita freigab.

Stumm sah Mizu auf den Jungen vor sich, der noch in der angreifenden Bewegung verweilte und sie aus seinen grünen Augen heraus frech ansah.

“Heute ist wirklich nicht dein Tag, Mizu-chan. Am besten, du vergisst, was du hier gesehen hast. Geh nach Hause.”

Anders als Okita erwartete, wandte sich Mizu nicht von dem Anblick ab und verließ die Brücke. Sie lief auf ihn zu und blieb wenige Meter vor ihm und dem Leichnam stehen.

“Ich hoffe, dass dieser Serizawa es wirklich nur gut mit dir und der Roshigumi meint. Nicht dass er dich nur benutzt, um einen lästigen Krieger loszuwerden.”

Mizu machte deutlich, dass sie alles gesehen hatte, genauso wie sie Serizawa am Nachmittag reden hören hatte. Und nun war sich die Kriegerin gar nicht so sicher, ob der alte Mann der Roshigumi Okita nicht nur manipuliert hatte, um Hijikatas Einfluss zu schwächen.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, lief Mizu auf das Lokal zu, das Tonouchi vor wenigen Sekunden noch lebend verlassen hatte.

“Du kannst das nicht verstehen, Mizu-chan. Auch wenn du von einem Samurai abstammst, bist du nur eine Frau.”

Schlagartig blieb Mizu stehen und drehte sich zu Okita um, der gemütlich, als wäre nichts geschehen, die Brücke verließ. Sie hasste ihn für diese Worte, denn er war derjenige, der gar nichts verstand. Wie sollte er auch so verblendet merken, dass auch er nur eine Spielfigur des Todes war.
 

Schweigend starrte Erenya auf das Schwert, das in der Ecke stand, seit sie bei Mizu eingezogen war. Zu Anfang hatte sie geglaubt, dass dieses Schwert ihrer Mitbewohnerin oder Lhikan gehörte, doch mittlerweile, nach dem Gespräch mit dem Händler, wusste sie, dass dem nicht so war.

Wenn sie Lhikans Worten glauben konnte, hatte sie dieses Mordinstrument bei sich getragen. Doch sie konnte sich nicht daran erinnern.

“Wer ist dein Besitzer?”, fragte sie und sah das Schwert an, als erwartete sie, dass es ihr antworten würde.

Sie schwieg einige Zeit, seufzte dann aber und erhob sich von dem Platz, auf dem sie gesessen hatte, und lief auf das Schwert zu, um es sich aus nächster Nähe anzusehen.

“Du siehst aus wie ein normales Schwert. Aber Lhikan meinte, dass du verdammt schwer bist.”

Seufzend sah Erenya weiter auf die Waffe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Schwert so schwer war. Doch gleichzeitig machte es sie neugierig. Immerhin war sie es, die es bei sich getragen hatte, und sie war nicht gerade stark.

Vorsichtig streckte Erenya die Hand nach der Waffe aus und strich über das weiße Leder, das um den Griff gewickelt war.

‘Ich kann mich nicht erinnern, so ein Ding besessen zu haben.’

Weiterhin betrachtete sie das Ding. In ihrem Kopf ging sie die Ereignisse der letzten Tage durch.

‘Sie kam in mein Zimmer, nahm mich mit… Wir stürzten ab und dann…’

Irritiert und mit Schmerz verzogenem Gesicht hielt sich das Mädchen den Kopf. Ihre Erinnerungen waren unklar, fast verwischt.

‘Was ist dann passiert? Wie kam ich nach Kyoto?’

Die Schwarzhaarige wusste, dass ihr einige Stunden fehlten. Was war in diesen Stunden passiert? Und warum konnte sie sich nicht erinnern?

Angestrengt dachte Erenya darüber nach, während ihr Blick auf dem Schwert gebannt war.

“Ich habe das Schwert genommen…”

Langsam umschlossen die zierlichen Finger des Mädchens den Griff der Klinge, so wie sie es schon einmal getan hatten.

Doch anders als damals schleifte sie es nicht hinter sich her. Sie hob es hoch und betrachtete die Klinge, auf der noch immer kleine rostbraune Flecken zu sehen waren.

‘Ich… habe es dem Mädchen gestohlen…’

Immer klarer wurde der Gedanke, als sie sich erinnerte, wie sie auf dem grasbewachsenen Boden erwacht war und das Schwert neben sich ergriffen hatte.

‘Ich muss das Mädchen finden…’

Für Erenya war klar, dass die einzige Person, der das Schwert gehören konnte, nur das Mädchen sein konnte, dass sie aus ihrer Heimat entführt hatte. Es war klar, dass sie ihr das Schwert zurückgeben musste.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Miss-Tony-Prime
2012-11-09T18:55:10+00:00 09.11.2012 19:55
ENDLICH!!!! jetzt gehts endlich weiter *freu, freu,freu*
*dich knuddel* dankeeee

Mizu und Souji also.... hach das wird toll, vorallem da Souji, Mizu wircklich zu unterschätzen scheint. ich glaub das wird noch lustig.

und ich hab das gefühl als ab sich auch harada so ein wenig in eri verkucken tut. ohhh ich finde das sooo toll!!!
Von: abgemeldet
2012-11-09T10:33:29+00:00 09.11.2012 11:33
Ach wie schön wieder einmal was von dieser Geschichte zu lesen. Kapitel war wie immer spannend und nterhaltsam. Es freut mich das man ein bisschen mehr von Mizu erfahren hat und Erenya scheint von Kapitel zu Kapitel süßer und lieblicher zu werden ^^


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