Prolog
Paris 1865
Die Spannung des Tages hatte sich in einem Sommergewitter entladen. Hélène und Gérald waren fluchtartig ins Haus gelaufen, aber auch diese Eile hatte nicht mehr verhindern können, dass Hélènes Locken sich aufgelöst hatten. Noch ganz außer Atem stand sie im Kaminzimmer, dessen Türen zum Garten geöffnet waren und lachte. Nie war sie Gérald schöner vorgekommen als in diesem Augenblick. Die zarten Regentropfen ließen ihre Haut wie mit Edelsteinen besprenkelt wirken und schimmerten auf ihrer sich hebenden und senkenden Brust.
„Jetzt sind wir doch nass geworden“, rief sie heiter, noch immer außer Atem und ergriff das Taschentuch welches sie im Ärmel verborgen hatte, um sich das Gesicht und das Dekolleté damit abzutupfen. „Ich werde nie wieder auf dich und deinen Sinn für’s Wetter hören. Zum Glück sind weder Mama noch Papa hier, sonst würden sie mit uns schimpfen“, sprach sie heiter und bemerkte den Blick ihres siebzehnjährigen Bruders Gérald nicht.
Sie war ein Jahr älter und dennoch wirkte sie jünger als er, denn während Hélène ein frohes, heiteres Naturell hatte, wirkte Gérald stets verschlossen und streng.
„Gérald! Hörst du mir überhaupt zu?“ Hélènes Stimme ließ ihren Bruder endlich aus seiner Starre erwachen. „Ach Gérald! Du hörst mir ja nie zu, wenn ich dir etwas erzähle“, sagte sie und verzog das Gesicht, als würde sie schmollen wollen, was ihr jedoch nicht gelang, weil sie im nächsten Moment schon wieder lachen musste.
„Du bist ganz nass“, sagte sie sanfter, trat an ihn heran und begann ihm das Gesicht mit ihrem Spitzentaschentuch abzutupfen. Ihr blumiger Duft umfing Gérald, bis er an ihrer Hand griff und diese leicht drückte.
„Was ist, Gérald?“ fragte sie leise, ohne zu ahnen, sie sehr sie ihn damit quälte, indem sie seinen Namen wie eine Melode aussprach.
„Hélèn…“ Die Worte kamen einfach so von seinen Lippen und je länger er sie anblickte, ihr Hand hielt und ihren süßen Duft roch, desto einfach erschien es ihm. „Ich liebe dich.“ Endlich hatte er es gesagt, hatte das Geheimnis, dass er so lange mit sich schon trug. Er hatte sich ganz in ihre Hand begeben Hoffend, dass seine Traum nicht zerstört werden würde.
Hélène lächelte nur. „Aber ich liebe dich doch auch“, sagte sie so leicht dahin, ohne darauf vorbereitet zu sein, dass Gérald mit dem anderen Arm ihre Taille umschlingen und sie mit einem Ruck an sich ziehen würde.
Ihre Augen weiteten sich, als er seinen Mund auf den ihren presste und sie endlich begriff, dass er eine andere Art von Liebe meinte, als jene zwischen Geschwistern.
„Gérald!“ rief sie erschrocken aus, bog ihren Körper zurück und versuchte ihn von sich zu schieben, was angesichts seiner Kraft nicht möglich war. „Gérald! Lass mich los! Bitte!“ Doch anstatt Hélène los zu lassen, sank er zusammen mit ihr auf den Teppich de Kaminzimmers, einzig nur noch ihre Stimme hörend, die immer wieder seinen Namen rief.
„Gérald…“