Allerdings bereitete es Rufus keine Sorgen mehr, dass die endlose Dunkelheit ihn, seinen vermummten Retter von einem Schützen und das verfluchte Buch, das ihm erst all diesen Ärger eingebracht hatte, zu verschlucken drohte, als er schließlich zu Boden glitt und nur noch morastige Erde roch, bevor er vollends das Bewusstsein verlor.
Es dauerte einige Zeit bis Rufus wieder die Kraft hatte um seine Augen zu öffnen. Was ihm aber nichts brachte, denn er war umgeben von absoluter Dunkelheit.
Er spürte den kalten Boden unter sich, feucht und rau wie Stein mit ein paar erdigen Flecken.
In seinem Rücken war eine kalte Granitwand deren scharfkantige Unebenheiten sich schmerzhaft in seinen Rücken bohrten und dem Jungen ein gequältes Stöhnen entlockten. Der Laut hallte durch den Gang von unbekannter Größe und Länge und erinnerte ihn daran wo er sich befand.
Er saß auf dem Boden eines geheimen Tunnels und wurde von finsteren Gesellen heimgesucht.
Seine Hände tasteten an der Wand nach gutem Halt um sich hochzustemmen. Bei seinen vielen missglückten Versuchen aufrecht zu stehen zog er sich einige neue Schrammen zu, doch das war nebensächlich.
Was ihn jetzt mehr beschäftigte, war, dass er weder genau wusste wo er war noch wie er von hier wegkommen sollte.
Und wohin?
Wem konnte er trauen?
Und wo war sein vermummter Retter?
Letztere Frage wurde geklärt als eine kühle behandschuhte Hand auf seinem Arm landete und die feminine Stimme des Bogenschützen dicht bei seinem Kopf erklang.
„Kannst du laufen?“ fragte sie geradezu flüsternd und Rufus wurde sich immer sicherer dass er es mit einem weiblichen Wesen zu tun hatte. Wieder wartete sie nicht auf eine Antwort sondern zupfte kurz an seinem Arm und wies ihn an ihr zu folgen.
„Los komm.“ sagte sie aus der Finsternis.
Rufus blieb wo er war, an der Wand lehnend und in die Schwärze vor sich starrend.
„Und wo lang bitteschön? Ich kann absolut nichts sehen!“ brachte er mit rauer Stimme hervor und musste sich räuspern, seine Kehle war trocken und sein Magen meldete sich mit einem gut vernehmbaren Knurren.
Einen Moment lang herrschte Stille.
„Oh!“ machte sie schließlich und kicherte leise und verlegen.
Er konnte hören wie sie in der Dunkelheit die Arme bewegte, der Stoff ihrer Ärmel raschelte und die ledernen Handschuhe wurden abgezogen.
Sie schnippte mehrfach mit den Fingern und kleine Funken glühten in der Finsternis auf.
„Entschuldige, ich vergesse immer wieder dass ihr Menschen in der Dunkelheit so schlecht sehen könnt.“
...ihr Menschen...!? dachte Rufus nichts Gutes ahnend und zuckte heftig zurück als nach einem erneuten Fingerschnippen eine kleine helle Flamme auf der Handfläche des Schützen tanzte. Sie schwebte einen fingerbreit über der bloßen Haut und der Junge wich vor dem Schützen zurück.
Er hatte schon viele Gaukler und falsche Magier auf Festen gesehen, doch das hier war sicherlich kein Jahrmarktstrick.
Die Flamme war grün und warf ihren blassen Schein weit, erhellte einen Teil der Wände des grob in den Fels gehauenen Höhlenganges, verfärbte Rufus' geschundene Haut und die mitgenommenen Sachen und das nun nicht mehr so vermummte Gesicht seines Gegenübers.
Er hatte recht gehabt, es war eine Frau und keine unansehnliche.
Sie hatte die Tücher die ihr Gesicht verborgen hatten großteilig abgenommen und wie einen Gürtel um ihre Taille geschwungen. Die Handschuhe klemmten in dem improvisierten Gürtel und fielen zwischen den dunklen Stoffen nicht weiter auf.
Ihre weißen Haare umrahmten ihr rundliches Gesicht und schimmerten grünlich im Flammenschein.
Ein katzenhaftes Lächeln umspielte die Lippen der Frau und auch ihre Augen erinnerten ihn an die eines Stubentigers. Sie reflektierten das seltsame Licht und jagten Rufus einen kalten Schauer über den Rücken.
Die junge Frau legte den Kopf schief und sah ihn fragend an.
„Du bist noch nie einer wie mir begegnet.“
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Sie schnaubte belustigt und hielt ihm dann ihre freie Hand hin um ihn etwas zu stützen.
Im Schein des grünen Feuers konnte Rufus aufwendige Schnörkel auf den Rücken ihrer Fingerkuppen erkennen. Die Symbole erinnerten ihn an die auf dem Betrayal...
Das Buch! schoss es ihm in den Kopf und er sah sich hastig nach dem Lederband um. Doch er fand nur Erde unter seinen Füßen, Fels über und um sich.
Als er sich wieder zu ihr umdrehte und sie danach fragen wollte hielt die junge Frau ihm den Band bereits hin, was ihn doch etwas verwirrte.
„Sie wollen es nicht an sich reißen?“ fragte er und nahm es zögerlich entgegen.
Wieder trat dieses Katzengrinsen in ihr rundliches Gesicht.
„Bisher hast du gut darauf acht gegeben.“ antwortete sie und in ihrer Stimme schwang ein Hauch von Anerkennung mit.
„Es kann nicht schaden wenn zwei paar Augen darauf aufpassen, das Buch ist sehr wertvoll, selten... und gefährlich.“ sagte sie mit bedeutungsvollem Unterton, streckte den Zeigefinger aus und krümmte ihn.
„Nun komm. Wir haben einen weiten Weg vor uns.“
Etwas anderes, als ihr zu folgen, blieb Rufus nicht übrig.
Der Weg wurde, je weiter sie dem Gang folgten, immer klarer ausgearbeitet.
Aus den groben Felswänden wurden richtige, glatte Wände an denen Fackelhalter auftauchten und bald auch einfache Ornamente und schließlich schwere Holztüren hier und da.
Der Junge folgte brav seiner seltsamen Begleiterin durch das unterirdische Labyrinth und ließ es sich nicht nehmen ihr ein paar Fragen zu stellen. Zwar bekam er nicht immer eine Antwort aber er wurde zumindest ein bisschen schlauer.
Er erfuhr unter anderem dass er in einen regelrechten Krieg zwischen drei Gruppen geraten war und jede war scharf darauf sich das Buch anzueignen.
Seine Begleiterin, die sich ihm als Aerith vorstellte, gehörte zu dem Orden der Raben, einer alten Magiergilde die sich im Verborgenen hielt.
Aerith war eine Leibwächterin, zwar mit magischen Fähigkeiten aber keine offizielle Magierin, und wurde von ihrem Meister ausgesandt um das Buch von Rufus' Stiefvater zu holen der dafür eine beträchtliche Summe einstreichen wollte.
Der Schwertkämpfer mit der ungesunden Hautfarbe und den grün leuchtenden Augen und seine Gesellen arbeiteten für einen Fürst aus dem Ausland.
Die Dritten, auf der Jagd nach dem Buch, hatte der Junge noch nicht kennen gelernt und er hoffte ihnen auch nie zu begegnen.
Über sie wollte Aerith wehement nicht sprechen.
Waren sie denn so schreckliche Gegner?
Auch über das Buch schwieg sie.
Und auf seine Frage, was sie denn eigentlich für ein Wesen sei, bekam er auch keine klare Antwort.
Er blickte auf den Lederband in seinen Händen und fragte sich was wohl so wertvolles auf seinen Seiten stand. Trotzdem ihm dieses Buch schon einigen Ärger eingehandelt hatte wollte er darin lesen, es zog ihn magisch an. Er merkte nicht dass er stehn geblieben war, seine Hand strich über den Buchrücken und fand seinen Weg zu dem kleinen Schloss in dem noch immer der Schlüssel steckte.
Aus einem Impuls heraus drehte er den rostigen Schlüssel herum und nach dem leisen kratzen, das der Rost verursachte, ertönte ein kurzes Klicken.
Es war offen.
Seine Augen weiteten sich und sein Blick glitt hoch zu der Frau vor sich.
Sie war ebenfalls stehen geblieben und starrte ihn ohne zu blinzeln an. In ihrem Gesicht stritten sich Verwunderung und Besorgnis um die Vorherrschaft.
„Lass es zu.“ sagte sie schließlich mit zittriger Stimme und zeigte mit dem Finger auf das Buch.
Sie bewegte sich auf ihn zu aber bevor ihre Hand ihn oder das Betrayal berühren konnte hatte er schon den Buchdeckel aufgeklappt...