Zum Inhalt der Seite

Rainbow

Gebrochenes Licht
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Verwehte Memoiren

Meine Hände sind kalt.

Noch vor ein paar Tagen habe ich geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben. Das war nicht nur ein kleiner Irrtum.

Ich fühle mich wie in einer Glaskugel… Nein, falsch, ich selbst bin die Glaskugel.

Leer, durchsichtig, entblößt bis auf die Knochen… zerbrechlich.

Früher oder später werde ich zerspringen. Schon jetzt spüre ich die ersten Risse. Und es gibt niemanden, der mich dann wieder zusammensetzen wird.

Niemanden.

Aber noch bin ich heil und solange das so ist, werde ich kämpfen. Denn selbst ein zersplittertes Herz ist besser als ein verlorenes Herz.

Ein verlorenes Herz…

Ja, es gibt noch Dinge, für die ich kämpfen will, für die ich stark bleiben muss. Es gibt noch Menschen, die auf mich warten und Menschen, die mich vermissen.

Das weiß ich, aber mein Weg wird dadurch nicht leichter…

Meine Hände sind kalt.

Jäger der Dunkelheit

Aqua riss die Augen auf und schon war der Schwindel wieder da; wie giftiger Nebel wand er sich um ihr Bewusstsein und drohte sie erneut in die Tiefe zu ziehen.

„Könnte dir so passen“, knurrte sie, schüttelte mehrmals den Kopf hin und her und konzentrierte sich dann auf ihre Stiefelspitze. Fokus halten. Das war das Wichtigste, wenn man nicht das Gleichgewicht verlieren wollte. Und was das anging war sie von ihnen dreien immer die Beste gewesen. Ven war der derjenige, der oft seine Probleme damit gehabt hatte. Bei dem Gedanken war ihr nach einem Lächeln zumute, welches aber nicht weit genug über das Innere hinauskam, um sich auf ihrem Gesicht zu spiegeln. Sie hielt die Konzentration, bis der Schwindel allmählich abebbte und verschwand.

Seufzend lehnte sie sich gegen die kalte graue Rinde des Baumskeletts hinter ihr. Diese Welt – das Reich der Dunkelheit – war wie ein Friedhof. Ein Hort des Verfalls. Pflanzen wuchsen hier keine, nur diese spindeldürren hohlen Überreste. Jäh kam Aqua die Frage auf, ob es eine Zeit gegeben hatte, in der sie geblüht hatten.

„Nein, vermutlich nicht“, erwiderte sie sich selbst nachdenklich, vertieft in den Anblick der pulsierenden Lichter am Himmel. Wie ein Schlachtfeld aus Schatten und Farbe, ein Anblick, der verstörte und faszinierte zugleich.

Und der Boden? Unwillkürlich zeichnete sie mit einer Hand Muster in die puderige Substanz. Kühl wie Schnee, aber fein wie Staub.

„Nicht Staub“, berichtigte sie sich laut und schloss die Finger, sodass der Stoff mit einem seidig klammen Gefühl an ihrer Haut kleben blieb. „Eher Asche.“

Der Nachklang des erschöpften Schlafes, der sie noch vor wenigen Augeblicken gefangen gehalten hatte, blätterte endlich ganz von ihr ab. Aber mit ihm verschwand auch die Betäubung des Schmerzes und Aqua biss die Zähne zusammen, um nicht noch mal aufzustöhnen und damit womöglich wieder diese Monster anzulocken. Sie tastete mit größter Vorsicht ihre rechte Schulterpartie ab. Noch alles dran, aber ziemlich geschunden. Wenn das so weiterging, würde sie bald keine Kraft mehr haben, noch mehr einzustecken, als sie schon hatte.

Verfluchte Biester. Verfluchte Dunkelheit! Hier waren sie klar im Vorteil. Das war ihr Terrain. Und es wurde nach ihren Regeln gespielt. Aqua konnte nur ihr Bestes tun und zusehen, dass sie mit dem Leben davonkam; das eine ums andere Mal.

Aber was waren das überhaupt für Kreaturen? Mehr als unwahrscheinlich, dass es sich um Unversierte handelte. Sie waren viel aggressiver, gefährlicher und bei Weitem nicht so schnell besiegt. Hätte sie nicht das Schlüsselschwert ihres ehemaligen Meisters bei sich getragen – vor dem die Monster eine ihr unbegreifliche Angst zu besitzen schienen – wäre sie wohl längst zum unfreiwilligen Appetithäppchen geworden.

Der Meister… Der Gedanke an ihn nebelte sie mit Melancholie ein. Wie hatte es nur soweit kommen können? Warum hatte niemand das Unheil erkannt, bevor es zu spät war? Blind und taub hatten sie die Rollen gespielt, die Xehanort für sie vorgesehen hatte… Er hatte ihr aller Leben zerstört, aber das wäre ihm niemals gelungen, wenn sie nicht so willig in sein Netz gelaufen wären. Jetzt war es zu spät.

„Selbstmitleid kann ich mir ein anderes Mal schenken“, meinte sie stur und drängte die aufkommenden Tränen zurück. „Ich muss stark bleiben.“ Und so wie sie es oft tat, wenn ihr Wille zu erlöschen drohte, zog sie den Wegfinder aus der Tasche. Er mochte aufgehört haben zu leuchten, aber Aqua wusste, dass das Licht noch da war, wenn auch unsichtbar für ihre Augen. Und mit der Dunkelheit verhielt es sich nicht anders.

Genau. Sie musste sich zusammenreißen. Noch war die Hoffnung nicht restlos verloren. Aufgeben war nicht die letzte Option. Es war gar keine Option.
 

Etwas an diesem Ort stimmte nicht.

Und damit meinte Aqua nicht die offensichtlichen Differenzen zum Reich des Lichts. Dass die spürbare Dunkelheit sich auf jedem Weg Eintritt in ihr Herz zu verschaffen suchte, war ihr bewusst und sie ließ möglichst keine Lücke in ihrer Abwehr. Aber was sich daneben noch abspielte, ohne dass sie es sah, war etwas gänzlich anderes. Dagegen konnte sie keine Barriere errichten. Es umgab sie eher. Und alle anderen Lebewesen, die hier vorzufinden waren.

Es war die Zeit. So verrückt es klang, je weiter Aqua fortschritt, desto unstimmiger erschienen ihr die Gegebenheiten. Zuvor hatten die Farben am Himmel stets beständig wie Wellenmuster vor sich hingekreist, nun aber trat sie zwischen den Schattenranken hervor und gab einen leisen Laut der Überraschung von sich. Der Himmel schlingerte, schien beinahe zu verschwimmen. Dann flackerte es kurz und schon flossen Schatten und Farbe wieder gleichmäßig dahin. Aqua sah keine Veränderung an sich. Aber es war auch nicht sie, die alterte. Es war nur dieser Ort. Etwas im Reich des Lichts veränderte sich und das übte einen Einfluss auf das Gegenstück aus. So jedenfalls dachte sie es sich.

Und es fürchtete sie. Wenn die Zeit sich unabhängig voneinander entfaltete, wie lange fehlte sie dann schon im Reich des Lichts? Sie schätzte ihr Verweilen hier nun auf knapp einen Monat, viel mehr konnte es nicht sein. Was bedeutete ein Monat auf der anderen Seite?

„Das spielt keine Rolle“, wies sie sich unwirsch zurecht. Nein, das tat es wirklich nicht. Wenn die Zeit schneller verging, dann veränderte das nur eines: Sie musste eben noch schneller den Weg nach draußen finden.

Während sie weiterging galt ihr Blick dem Himmel. Damit hätte man das Wort „Chaos“ neu definieren können. Die roten und violetten Töne, mit den Dornenranken dazwischen… Rasch löste sie den Blick davon. Auch das war eine Falle, eine Verführung zur Dunkelheit. Die Versuchung, sich im Anblick der Farben zu verlieren war groß, vor allem, wenn man solange nichts anderes als Schwärze am Himmel gesehen hatte – ein Gefühl, als wäre man lebendig begraben. Dieser Teil des Reiches der Dunkelheit unterschied sich auffällig von dem, den Aqua hinter sich gelassen hatte. Alles wirkte noch viel irrealer, verdrehter und verschlungener.

Verschlungen. Ein sehr passendes Wort.

Die riesigen Schatten-Äste, die sich überall auftürmten, wurden feingliedriger, wanden sich vor dem Himmel umeinander. Auch der Weg war längst nicht mehr so geradlinig wie zuvor. Lauter kleine schwebende Inseln umgaben das Zentrum des Ortes. Aber was sich überhaupt nicht verändert hatte, war die hohe Anzahl der Schattenkreaturen, die aus dem Boden aufstiegen und über sie herfielen.

Das Zentrum… Etwas war dort. Aqua konnte nur eine düstere bläuliche Kuppel erkennen, die pulsierte und bebte wie ein eigenständiges Lebewesen. Teils aus Neugier, teils daraus, dass es kein Weiterkommen außer direkt durch die Mitte gab, sprang sie von Bruchstück zu Bruchstück näher auf den Kern zu.

Sie erreichte gerade die letzte Insel, als die Hülle zerplatzte und eine nicht gerade beruhigende Anzahl von Schattenmonstern zurückließ, die jedes Vorankommen verhinderten.

„Aus dem Weg“, versetzte Aqua genervt und hieb mit dem Schlüsselschwert ihres Meisters zu. Innerhalb weniger Sekunden wirbelte sie durch die Lüfte, als würde sie tanzen und keinen Kampf austragen. Die Klinge durchschnitt jede der Bestien, sodass nur transparenter Rauch zurückblieb. Die letzten fielen einem Feuerzauber zum Opfer. Sie ließ das Schwert verschwinden und ging zielstrebig weiter in den Farbenwirbel hinein.

Ins Zentrum des Chaos’… Was machte diese Gegend nur mit ihr? Immer wieder verfiel sie Träumereien, närrischen Gedanken und dem Wunsch, sich fallen zu lassen. Ihre Träume handelten nur davon, wenn es nicht gerade Albträume waren, wie sie sie vor allem in der ersten Zeit gequält hatten.

Sie hatte geträumt, Ven würde von einer Klippe stürzen und in tausend Scherben zerbersten, die von einem Schlüsselschwerttornado verweht wurden, sie hatte gesehen, wie Meister Eraqus sein eigenes Schwert in zwei Teile zerbrach, ihr vor die Füße warf und dann in der Finsternis verschwand. Und immer wieder hatte sie Terras Gesicht gesehen, das zwischen ihren Händen zerfloss wie heißes Wachs, und welches sie verzweifelt, aber vergebens, aufzufangen versuchte.

Doch inzwischen waren davon nur noch Fetzen übrig geblieben, die vereinzelt noch in ihren neuen Träumen auftauchten, sie wieder daran erinnerten, wie viel Angst sie hatte. Aber den größten Teil ihres Schlafes wurde sie von sanften düsteren Wiegenliedern begleitet, von wispernden Stimmen, die sie lockten, nie wieder aufzuwachen, von Nebeln aus eben solchen berückenden Farben und Schattenschlingen, die sich um sie drehten und tanzten… Vielleicht war es gut, dass hin und wieder noch Bruchstücke der Albträume diese entzweirissen; aber wie lange würde das noch so sein?

Aqua erreichte ein Plateau, das von dem gleichen Aschepuder bedeckt war wie jegliche Wege davor. Aber hier war es leicht aufgewirbelt, so als wäre kurz zuvor noch etwas darüber hinweggefegt. Gab es hier Sturmböen? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie in all der Zeit nicht mal einen Windhauch gespürt. Außerdem brach der Boden teilweise auf; wie die splitterartigen Kratzer in den Riesengewächsen, verzweigten sich auch hier schimmernde gezackte Adern. Ebenso in den Steinklumpen, die hier und dort verstreut lagen, konnte sie die leuchtenden Schlitze erkennen. Schwierig so etwas in Worte zu fassen… Es war, als wäre alles, was darüber lag – die Rinde auf den Zweigen, die Asche am Boden oder der Stein – nur eine Hülle für das, was darunter lag.

Aber jede noch so robuste Hülle bekam mit der Zeit Risse.

Um sie herum stand zudem eine Reihe von diesen fahlen Baumskeletten, an denen bleiche Rauchfahnen hingen, die sich in einem Wind wellten, der nicht vorhanden war. Dieser Bereich erweckte mehr noch als die anderen das Gefühl, durch einen Friedhof zu gehen.

Wie hätte Aqua auch wissen können, wie viel Wahrheit dieser Gedanke in sich trug.

Sie ahnte nichts von den Augen, die sie beobachteten, als sie über das Plateau schritt, nichts von den Lefzen, die sich, als Reaktion auf ihre Erscheinung, verzogen.

Sie erreichte gerade die Mitte des Terrains, als sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm und instinktiv stehen blieb. Sie drehte nur den Kopf, erkannte ein rot glühendes Paar Augen im Schatten hinter den Bäumen und beschwor augenblicklich das Schlüsselschwert. Aber was auch immer da lauerte, war ungewöhnlich schnell. Sie versuchte, ihm mit den Augen zu folgen, was kaum möglich war, da nur die zwei roten Punkte seinen Aufenthalt verrieten.

Plötzlich verschwanden sie. Aqua spannte sich an, ging tiefer in die Knie und schluckte das lähmende Gefühl von Panik hinunter. Sie spürte, dass ihr Gegner deutlich stärker war als die schwarzen Wesen, mit denen sie es bisher aufgenommen hatte. Und er konnte einfach überall sein. Sie wandte den Blick in alle Richtungen um. Wo steckte er nur?

Lautlos war die Bestie hinter sie geschlichen und mit einem gierigen Auffunkeln seiner roten Augen, sprang sie geschmeidig aus dem Schatten. Aqua bemerkte sie erst, als diese sie schon fast erreicht hatte. Ihr blieb nicht mehr genügend Zeit anzugreifen, nur herumzuwirbeln und reflexartig das Schwert zur Abwehr zu heben.

Der Schlag des Monsters traf sie so heftig, dass sie zurückgeworfen wurde und bäuchlings durch die feine Asche schlitterte. Ihr blieb die Luft weg, aber sie kämpfte sich ein Stück hoch und erkannte das dunkle Ungetüm – ein riesiger, vierbeiniger Schattenwolf mit Augen wie aus wild flackernder Glut. Er preschte bereits wieder auf sie zu. Hastig rappelte sie sich hoch, führte das Schwert herum und schleuderte der Bestie einen Feuerzauber entgegen, kurz bevor es erneut zuschlagen konnte. Es wich mit einem kraftvollen Sprung in die Luft aus, flog direkt über ihren Kopf hinweg, sodass sie dem schwarzen Leib mit den Augen folgen konnte. Nie zuvor hatte sie etwas so Entsetzliches gesehen.

Diese Kreatur ist kein Unversierter, ging es ihr durch den Kopf. Da landete es hinter ihr, machte einen weiteren Satz und verschmolz wieder mit dem Schatten. Aber nur für eine Sekunde, dann blitzten die Glutaugen wieder hervor und Aqua führte ihren Gedanken unbewusst zu Ende.

Das ist ein Resident des Reiches der Dunkelheit…
 

„Du behandelst mich immer wie ein Kind…!“

„Manchmal bist du echt so ein Mädchen.“

„Zusammen. Für immer.“
 

„Ich bitte euch, als Freunde… Bitte, bereitet mir ein Ende…“

„Du meinst, du hast mir nachspioniert. Hat er dir das aufgetragen? Sind das die Befehle des Meisters?“

„Er ist nicht so schwach, wie Ihr denkt.“
 

Die Augen der Bestie flimmerten, streiften sie ein letztes Mal mit einer unbestimmten Ahnung darin; vielleicht Wut? Schmerz? Gar Trauer? Dann erlosch ihr flackerndes Rot und mit ihm verging der Körper zu einer Rauchwolke, die vom nicht spürbaren Wind verweht wurde.

Das war der Moment, in dem Aqua sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Eine Hand auf den Bauch gepresst, sank sie auf die Knie und würgte einige Sekunden hilflos. Aber ihr Magen hatte nichts herzugeben, trotz den schrecklichen Krämpfen und der Übelkeit. Sie keuchte, schmeckte Blut, das unaufgehalten aus ihrem Mundwinkel tropfte und die staubige Erde tränkte. Die roten Flecken verschwammen ihr vor den Augen.

Wurde sie ohnmächtig? Nein! Nicht jetzt. Nicht hier. Hier war sie den Schatten schutzlos ausgeliefert. Es kostete sie mehr als nur Anstrengung, sich auf die Beine zu hieven und ein paar Schritte vorwärts zu taumeln.

Aber sie machte sich etwas vor. Die kalkfarbenen Bäume schienen zu vibrieren, sie spürte undeutlich, dass ihre Knie ebenso flatterten und am einen Oberschenkel…

Ein Schrei, kratzig und kehlig, schoss aus ihrer Kehle hervor und sie fiel, aller Kontrolle beraubt, erneut zu Boden. Das Monster… es hatte sie gebissen. Nur ein Augenblick der Unaufmerksamkeit hatte ausgereicht. Aqua wollte nachsehen, wie gravierend die Verletzung war, aber sie konnte sich nicht mehr rühren.

Und das Atmen fiel ihr ungewöhnlich schwer. Dazu dieser ziehende Schmerz im Bauch. Bitte, flehte sie stumm, da ihre Stimme nicht gehorchte, nicht die Rippen. Brüche konnte sie sich jetzt am wenigsten leisten, schon einer würde ihr zu schaffen machen. Hoffentlich war es nur eine Prellung.

Die schwarzen zuckenden Punkte sammelten, verdichteten, sich vor ihrem Blickfeld. An Ort und Stelle sackte sie noch weiter ins sich zusammen, ließ den Kopf widerstrebend in die Asche fallen und konnte nur mit größter Konzentration die Augen einen Spalt weit offen lassen.

Nur für einen Moment, dachte sie schwach… Nur kurz die Augen schließen, nur ganz kurz…

Das surreale Gebilde um sie herum verblasste. Mit jedem Herzschlag wurden ihre Lider schwerer und dann ließ sie los.

Wasserfarbene Erinnerungen

Zum ersten Mal, seit sie hier war, tat ihr Geist ihr den Gefallen und verdrängte all die Gedanken an diesen schrecklichen Ort in weite Ferne. Ließ sie treiben, zu schöneren Zeiten, zu anderen Orten, zu den Ereignissen lang vergangener Tage…
 

Es gab eine Welt, die genau auf der Grenze zwischen einem wärmeren Viertel des Weltraums und einem kühleren lag. Dieser Umstand verursachte, dass die Bewohner die eine Hälfte des Jahres nur die Sonne sahen und die andere nur den Regen. An den steten Wechsel dieser beiden Extreme waren sie so gewöhnt, dass es sie sehr beunruhigte, als in jenem Jahr, der erlösende Regen länger als sonst auf sich warten ließ.

Allmählich gingen die letzten Wasservorräte zur Neige und niemand konnte sich das Ausbleiben des Himmelselixiers erklären. Die Dürre wollte nicht enden und eine Frau, die bald ein Kind erwartete, wurde von Tag zu Tag schwächer. Zudem fürchtete sie um das Leben des Neugeborenen.

Doch dann, genau am Tag der Geburt, setzte der lang ersehnte Regen ein und überschüttete das Land mit all seiner Pracht und Hoffnung. Und das kleine Mädchen, das gesund zur Welt gekommen war, das Mädchen mit den Saphiraugen und dem regenblauen Haar, sie nannten sie „Aqua“ – das Wasser.
 

Seit alter Tradition wurde in ihrer Familie das Schlüsselschwert an den Nachfolger weitervererbt. Darum unterzog man sie an ihrem fünften Geburtstag der Zeremonie, in der die Fähigkeit, das magische Schwert zu führen, solange das Herz hell genug strahlte, ihr eigen wurde. Außerdem erhielt sie nach Vollendung ihres achten Lebensjahrs regelmäßig Kampftraining; während andere Mädchen ihres Alters mit Puppen spielten, wurde Aqua ein Holzschwert in die Hand gegeben, mit dem sie lernte, die Schwachpunkte eines Feindes zu treffen, während andere nur ihre guten Noten für die Schule im Kopf hatten, musste Aqua wissen, wie man drastischste Verletzungen verarztete, während andere ihren ersten Kuss bekamen, wurde Aqua von ihrem Schlüsselschwert – Regenfall – auserwählt.

Die Erwartungen ihrer Eltern waren hoch, vor allem da sie die einzige Nachfolgerin war. Ihre Mutter wurde nie wieder schwanger; dass Aqua lebte konnte mehr und mehr als ein Wunder bezeichnet werden. Doch wie ein Wunderkind war sie sich nie vorgekommen.

Sie mochte das Training, keine Frage. Sie genoss es, zu spüren, wie sich ihre Muskeln verselbstständigten, wie sie herumwirbelte, jede Bewegung fließend wie Wasser, das Surren, wenn ihr Schlüsselschwert durch die Luft schwirrte, der Klang, wenn sie es beschwor oder das Gefühl, es in der Hand zu halten… Sie liebte diese Momente. Aber sie hasste die Blicke, die ihr dabei zusahen. Das ständige Pochen in ihren Schläfen, vor Angst, nicht gut genug zu sein, die Erwartungen ihrer Eltern nicht zu erfüllen, ihrer Vorstellung von Perfektion nicht gerecht zu werden.

Nachdem das Schlüsselschwert sie erwählt hatte, wurde sie auch in die Geheimnisse eingeweiht, die ihre Familie allen anderen Bewohnern der Welt vorenthielt. Man erzählte ihr, dass neben dieser noch eine Großzahl von anderen Welten existierte. Und ihr, als Trägerin eines Schlüsselschwertes, war das Privileg gegeben, eines Tages durch die Pfade des Alls zu streifen und viele dieser fremden Welten vor jeglichem Unheil zu bewahren. Das waren ihre Aufgabe, ihr Glück und ihre Ehre.

Würdige es, Aqua. Enttäusche nicht die, denen diese Türen nicht offen stehen.

Sie musste schwören, dieses Wissen für sich zu behalten. Niemand in dieser oder anderen Welten durfte je davon erfahren. Aqua hatte es sich zu jener Zeit längst angewöhnt, keine Fragen zu stellen. Sie hatte gelernt: was ihre Eltern sagten, durfte nicht infrage gestellt werden. Also schwieg sie und gab weiterhin ihr Bestes.

Nur wenige Tage nach ihrem vierzehnten Geburtstag, dem Tag an dem das Schlüsselschwert zu ihr gekommen war, stand plötzlich ein fremder Mann vor ihrer Tür. Er stellte sich ihnen als Meister Eraqus vor. Ein Schlüsselschwertträger wie sie selbst, der jedoch nicht länger durch die Welten reiste, um die Bewohner vor Gefahren zu beschützen, sondern es sich zur Aufgabe gemacht hatte, junge Träger auszubilden. Ihre Eltern hatten viel von ihm gehört, sie bewunderten seine Fähigkeiten und Taten und natürlich konnte Aqua den Nachdruck in ihren Augen sehen, den unausgesprochenen Befehl.

Aber Eraqus bot nicht ihren Eltern an, sie in die Ausbildung zu nehmen, sondern ihr selbst. Sie erinnerte sich genau an diesen Tag. Wie er sich hinabgebeugt hatte, um mit ihr auf gleicher Augenhöhe zu sein. Die Sanftheit in seinem Blick und die Frage.

„Möchtest du, dass ich dich zur Meisterin ausbilde, Aqua?“

Eine Frage.

Nie hatte man sie gefragt. Das war ihr in jenem Moment klar geworden. Wo sollte denn Platz für eine Wahl bleiben, wenn es immer nur Aussagen gab? Dieser Mann hätte alles Mögliche sagen können. „Ich würde dich gern in die Ausbildung nehmen“ oder womöglich nur „Ich bilde dich zur Meisterin aus“. Aber er schenkte ihr dieses Gefühl, das ihre Eltern ihr in all den Jahren nie geschenkt hatten. Das Gefühl, eine Wahl zu haben. Selbst entscheiden zu können.

Und in den Jahren darauf sollte er ihr nie anders begegnen. Eraqus hatte sich immer auf ihre Augenhöhe begeben. Ganz gleich wie weit er über ihr stand.
 

Die Welt, in die er sie brachte, war mit ihrer kaum vergleichbar. Das „Land des Aufbruchs“, wie es nur genannt wurde, strahlte vor Leben, vor Abenteuern und vor Freiheit. Die reiche Vegetation, die Täler, Flüsse, Hügel – all das sollte Aqua in der darauf folgenden Zeit ihres Lebens ans Herz wachsen.

Eraqus gab ihr ein Zimmer im rechten Flügel des Schlosses, das eigens zur Unterkunft seiner Schüler und Besucher diente und ebenso ausreichend Platz für das Training bot. Er ließ Aqua allein, damit sie sich ungestört alles ansehen und ausruhen konnte.

Die wenigen Dinge, die sie mitgebracht hatte, waren schnell im Zimmer verteilt, dann streckte sie sich auf der weichen Matratze ihres neuen Bettes aus und schlief ein paar Stunden.

Und erwachte schließlich durch das Geräusch feiner Regentropfen, die gegen die Scheibe schlugen.

Der Regen hier ist anders, stellte sie verdutzt fest. Wenn in ihrer Heimat Regenzeit herrschte, stürmte es sozusagen Tag und Nacht. Entweder Wassermassen oder nur eine dicke dunkelgraue Wolkendecke. Selten war der Himmel so klar wie dieser hier, von dem nur ein zarter Schauer abfiel. Und ein seichtes Blau, wie die Wolken es hier annahmen, hatte sie auch nie zuvor gesehen; man hatte ihr nur erzählt, dass jenes „Regenblau“ am Tag ihrer Geburt zu sehen gewesen war, aber daran konnte sie sich leider nicht erinnern.

Wie ein kleines Kind sprang sie freudig vom Bett und lief zum Haupteingang hinaus in die klare Luft. Es schien zu schön, um wahr zu sein. Gleich einem Vogel, der jahrelang im Käfig gehalten wurde, streckte Aqua die Arme aus, ließ jede der gestutzten Federn im Wind tanzen, sog den Geruch des Schauers tief ein und ehe sie sich versah, lief sie tänzelnd über das Plateau vorm Schloss, Richtung Bergpfad. Eraqus hatte sie darauf hingewiesen, vorsichtig zu sein, da der gesamte Komplex auf einem hohen Berg erbaut worden war. Doch der Geschmack der Freiheit betäubte ihr die Sinne.

Die Arme noch immer ausgestreckt, flog sie förmlich den Weg entlang und entrann dabei nicht selten nur knapp einem Sturz in die Tiefe, aber das ängstigte sie nicht. Im Gegenteil, sie lachte über die Gefahr, lachte über sich selbst, wie ungeschickt sie sich anstellte. Was ihre Eltern wohl dazu gesagt hätten, wenn sie gesehen hätten, wie unvorsichtig sie sich benahm?

Bei dem Gedanken blieb sie abrupt stehen. Etwas wie Trotz brodelte in ihrem Inneren hoch, aber auch eine Schwermut, die ihre Schultern runterdrückte. Ihre Eltern… Die Schablone der Übertochter, die sie nachmalen hatte müssen, ohne zu verwackeln. Eine schräge Linie war nun mal nicht erwünscht. Wieso quälte sie der Gedanke immer noch? Sie war frei, endlich! Sie musste sich das Getue ihrer so genannten Familie nie mehr anhören.

Warum verblasste dann ihr Lächeln? Warum trottete sie, das Gesicht zum Boden, weiter?

Und da wusste sie es auf einmal.

Weil sie in den Augen ihrer Eltern nie gesehen hatte, dass ihre Bemühungen sich ausgezahlt hatten. Es hätte ein Blick gereicht, vielleicht der feste Druck einer Hand auf ihrer Schulter oder wenigstens die Worte: „Ich bin stolz auf dich, Aqua“.

Einmal nur.

Sie musste sich eingestehen, dass sie sich immer die Hoffnung auf eine Bestätigung bewahrt hatte. Auch jetzt noch. Es würde sie nicht loslassen. Niemals. Dieser Wunsch saß zu tief in ihrem Herzen, klammerte sich regelrecht an ihm fest.

Seufzend warf sie den Kopf zurück und ließ den kühlen Regen ihr Gesicht berühren. Und dann sah sie es zum ersten Mal.

Zart, transparent, wunderschön. Zwischen den schmalen Bergspitzen spannte sich eine runde Linie entlang. Wenn Aqua die Hand von sich streckte, war sie nicht dicker als ihr Zeigefinger und doch unbegreiflich auffallend. Sieben Farben konnte sie zählen, die gemeinsam einen weichen Bogen beschrieben. Oben angefangen bei rot, das sich in orange und dann gelb verwandelte. Obwohl die nächste Farbe grün war, schmolz sie ebenso nahtlos vom gelb ab, wurde dann hellblau, dunkelblau und schloss in violett.

„Was ist das?“, hauchte sie fasziniert und verengte die Augen. Von hier konnte sie es nicht so gut erkennen, aber vielleicht, wenn sie sich weiter oben befand…

Als sie geradeaus sah, um sich zu orientieren, blieb ihr kurz die Luft weg. Wie hatte ihr die Umgebung entgehen können? Sie war dem Hauptpfad gefolgt und damit direkt in diesen Garten, oder was auch immer es war, hineinspaziert. Wie verzaubert schritt sie über eine hübsch verzierte weiße Brücke, unter der ein Bach rauschte. Er wurde von einem Teich gespeist, der wiederum seinen Ursprung noch weiter oben hatte. Kleine Wasserfälle verbanden die einzelnen Abschnitte miteinander und auf der Oberfläche trieben kreisrunde Lotosblätter. Aqua gelang es kaum den Blick davon zu lösen und auch die Gerätschaften zu betrachten, die offenbar für das Training gedacht waren.

Als sie einen Pfad entdeckte, der scheinbar höher hinauf führte, entsann sie sich wieder dem Farbbogen, den sie gesehen hatte und folgte ihm erwartungsvoll.

Das erste, was sie sah, als sie den Gipfel erreichte, war das Schloss in der Ferne – sie hatte sich doch weiter davon entfernt, als angenommen. Das zweite war das runde Farbmuster, das sich nach wie vor am Himmel erstreckte. Und das dritte – sie wusste nicht wieso das letzte – war die Person, die genau in der Mitte des Platzes stand und die sie mit ihrem unangekündigten Auftreten wohl in ihrer Tätigkeit unterbrochen hatte. Bei der Tätigkeit handelte es sich um Trainieren und zwar mit einem Schwert, dessen Form ihr sehr gut bekannt war.

„Hallo“, rief sie nonchalant und lächelte dem Fremden entgegen. Es war ein Junge, der in ihrem Alter zu sein schien, auch wenn er mit dem ernsten Zug um den Mund einen viel älteren Eindruck machte.

Er erwiderte nichts, ließ nur sein Schlüsselschwert sinken und sah sie an. Zwar nicht feindselig, aber freundlich konnte man es auch nicht nennen. Aqua ließ sich nicht beirren und ging geradewegs auf ihn zu.

„Bist du auch ein Schüler von Meister Eraqus?“, fragte sie. Der Meister hatte auf dem Weg hierher irgendwas von einem zweiten Schüler erwähnt, aber sie war müde gewesen und aufgeregt, sodass nicht viel davon hängen geblieben war. Der Junge nickte und Aqua war nahe genug, um den dunkelblauen Ton zu erkennen von dem seine Augen waren. Das tiefbraune Haar stand wirr ab, er hatte es nur aus der Stirn gestrichen, damit seine Sicht unbeeinträchtigt blieb.

„Bist du immer so gesprächig?“ Sie legte den Kopf schief und zog eine Braue hoch. Da huschte eine Art halbes Grinsen über die Lippen des Jungen.

„Bist du immer so neugierig?“ Hm. Zugegeben, eine schöne Stimme hatte er – tief und warm, so ganz anders als es sein steinerner Blick vermuten ließ.

„Eigentlich nicht“, erwiderte sie grinsend. „Ich bin Aqua.“

„Terra“, stellte er sich knapp vor. Irgendwas an ihm erinnerte sie an den Meister. Nicht das Gesicht. Aber die Haltung, dieser Ausgleich von Mut und Sanftmut.

„Wie lange bist du schon in der Ausbildung?“ Sie wusste nicht, wieso sie ihm diese Fragen stellte. Vielleicht hatte sie es einfach satt, ihre Neugierde im Zaum zu halten, so wie bei allem, was ihre Eltern ihr erzählt hatten.

„Schon immer.“ Verwirrt sah sie zu ihm auf. Das war kein Scherz gewesen. „Der Meister hat mich gefunden und aufgezogen. Ich weiß nicht, wer meine Eltern waren oder ob sie noch leben.“

„Das tut mir leid“, schlüpfte es aus ihrem Mund, ehe sie etwas dagegen tun konnte. Aber Terra winkte nur ab, als sei das keine große Sache. Und da erkannte sie etwas von sich selbst in ihm wieder.

Stark sein. Nicht zeigen, dass man Angst hat, traurig ist oder dass es einen berührt. Augen geradeaus, Kinn hoch, nicht blinzeln. Den Schmerz ertragen.

Ihr wurde bewusst, wie unglaublich ernst ihr Körper es gemeint hatte, als die Worte „Tut mir leid“ entwischt waren.

„Ich nehme an, du bist das Mädchen, das der Meister erwähnt hat. Die neue Schülerin.“ Sie nickte und traf genau auf seinen direkten Blick.

„Hey“, meinte sie leise und schenkte ihm ein freches Lächeln. „Was hältst du von einem Kampf?“

Ihr spontaner Themawechsel schien ihn nicht zu überraschen. Aber als er diesmal lächelte, zeigte sich ein Hauch von Spott in seinen Mundwinkeln.

Er trat einen großen Schritt zurück und nahm Kampfhaltung an. Aqua tat es ihm gleich, beschwor ihr Schlüsselschwert und hob herausfordernd das Kinn.

„Aber untersteh dich, mich zu schonen, nur weil ich ein Mädchen bin!“ Für den Kommentar hatte er nur ein Grinsen übrig. Dann rannten sie, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, gleichzeitig los und schon trafen die Schwerter klirrend aufeinander.

Eine zeitlang war nur das Surren und Klingen zu hören und die schnellen Atemzüge der Kämpfenden. Noch immer rieselten vereinzelte Tropfen vom Himmel herab.

Der Junge, Terra, war gut. Sie hatte richtig mit der Vermutung gelegen, dass man ihn nicht unterschätzen sollte. Aber ihr wurde auch schnell klar, dass er nicht alles gab.

„Was soll das?“, knurrte sie, als die beiden Klingen wieder zusammenschlugen, sodass ihre Gesichter nur eine Armeslänge voneinander entfernt waren. „Du hältst dich zurück! Hör auf mit den Spielchen und zeig mir, was du drauf hast!“ Ihr barscher Tonfall schien ihn zu amüsieren.

„Ich wollte dir nur Zeit geben, warm zu werden.“ Konfus weitete sie die Augen. Richtig, bevor sie gekommen war, hatte er trainiert. Demnach war er bereits aufgewärmt. Sie schüttelte den Kopf – sie war es schlicht nicht gewohnt, dass man sich, wenn es ums Training ging, um sie sorgte.

Sie stießen sich wieder voneinander ab, blieben für wenige Sekunden stehen, dem jeweils anderen in die Augen sehend. Dann breitete sich gleichzeitig ein Lächelns auf ihrer beiden Lippen aus und sie stürzten erneut aufeinander zu. Jetzt hielt Terra sich keineswegs mehr zurück, aber Aqua war keine Anfängerin und wendiger als er, der mehr auf gezielte kraftvolle Schläge setzte. Sie wich geschickt aus und schlug einen Salto hinter ihn, sodass er ihren nächsten Hieb nur knapp parieren konnte.

„Du bist gar nicht mal schlecht!“, meinte er anerkennend zwischen zwei Attacken ihrerseits. Die Bedeutung seiner Worte schien durch ihr Verständnis direkt in die Muskeln zu fließen; schwungvoll wirbelte sie Regenfall herum und setzte mit noch mehr Elan nach. Sie hörte ihn einen Laut der Erschöpfung ausstoßen, was ihren Bewegungen zusätzlichen Antrieb verlieh.

Doch was dann geschah, würde sie nie wieder vergessen können.

In übermütigem Kampfrausch gefangen, holte sie weit aus und erkannte zu spät, dass Terra nicht vorhatte den Schlag zu blocken, sondern zur Seite auswich. Das schlüsselförmige Ende ihres Schwertes bohrte sich in die nasse Erde, Aqua strauchelte, verlor das Gleichgewicht und wäre rücklings im Matsch gelandet, hätte sich nicht in letzter Sekunde ein Arm unter ihre Taille geschoben und sie aufgefangen.

Noch bevor sich ihre übrigen Sinne einschalteten, nahm sie einen Duft wahr, der wie Wind über ihre Haut strich und die Härchen im Nacken aufwirbelte. Dieser Geruch nach frischer Erde, nach Wald und Sonnenlicht… Sie sog ihn unbewusst tief ein, bevor sie die Augen hob und genau auf seine traf, die kaum mehr als einen Hauch entfernt waren. Für kurze Zeit hatten nur drei Dinge Platz in ihrem Kopf, alles andere war unwichtig, unsichtbar, ausgelöscht. Der Duft, der von ihm ausging, die bodenlosen Tiefen seiner Augen und die Berührung, der Druck um ihre Taille, die Finger, die nur einmal flüchtig zuckten. Nur ein Zucken, wie ein Impuls, der unter ihre Haut bis zum Blut fühlbar schien.

Und dann war es vorbei.

Terra hob sie hoch, stellte sie wie eine Statue wieder auf die Beine und nahm ein paar Schritte Abstand. Aqua musste dem Drang widerstehen, ihre Hand auf die noch warme Stelle an ihrer Seite zu legen, wo seine Finger ihre Haut berührt hatten. Er räusperte sich.

„Ich denke, das war genug für einen Tag.“

…was? Sie schaute mit traumartig verhangener Sicht zu ihm auf. Dann fiel es ihr wieder ein; der Kampf, richtig! Sie erwartete, dass Terra noch irgendwas dazu sagen würde, immerhin hatte er streng genommen gewonnen. Doch er überraschte sie, indem er seinen Sieg nicht anpries, ja nicht mal ein Wort darüber verlor.

Endlich bröckelte auch der letzte Rest der Starre von ihr ab.

„Äh, ja, hast Recht“, erwiderte sie reichlich flapsig und zog Regenfall aus der Erde. Als sie wieder aufsah, fiel ihr Blick auf das Farbband am Himmel, das allmählich zu verblassen begann. „Weißt du, was das ist?“

„Ein Regenbogen“, antwortete Terra, ohne sie anzusehen. „Siehst du zum ersten Mal einen?“ Regenbogen… was für ein schönes Wort.

„Mhm“, machte sie unsicher. „Ich weiß nicht genau… Wie ist der entstanden?“ Terra streckte die Hand aus, die Hand mit der er sie noch vor wenigen Augenblicken berührt hatte, und ein paar feine Tropfen zersplitterten auf der Innenfläche.

„Das Sonnenlicht bricht sich in den Regentropfen. Das, was du siehst, ist die entstandene Reflektion.“

„Also ist der Regenbogen nur…“

„Ja, gebrochenes Licht. Im Prinzip schon.“ Er sah wieder zu ihr hinüber und lächelte sanft. „Das wolltest du doch sagen, oder, Aqua?“

Als er ihren Namen aussprach, verflüchtigte sich die Kontrolle über ihre Gesichtsmuskulatur vollständig und sie spürte den Druck seiner Hand nach, als hätte er ihn in ihre Haut geprägt.
 

Am Abend stand Aqua unter der Dusche, starrte auf ihre Hände, ohne sie anzusehen, während das heiße Wasser Schmutz, Schweiß und Spannung aus Haut und Haar schwemmte. Sie fuhr mit den Fingern über ihre linke Seite, fühlte noch einmal die Wärme von Terras Fingern. Sie war noch immer da.

Sie dachte darüber nach, dass das Wasser gerade sämtliche Spuren von ihr entfernte, berichtigte sich dann aber selbst. Den Duft konnte es nicht wegwaschen, die „Erinnerung“ konnte kein Wasser der Welt von ihrem Körper oder aus ihrem Herzen spülen.

Wie hätte sie da auch ahnen können, dass Terra den „Blitz“ ebenso wahrgenommen hatte. Dass auch er an diesem Abend auf seine Hände blickte und ihm der Duft von Regen und Tau und die glühenden Saphiraugen nicht mehr aus dem Kopf gingen.
 

__________________________________________________________________
 

Hallo!

Ich hoffe, es hat euch gefallen bis hierhin. Vergangenheitsszenen können manchmal schon ziemlich schlauchen. Ich hab überlegt, was ich der Guten für eine Kindheitsgeschichte andichten kann. Sie ist so eine starke Person und ich maße mir mal an, zu behaupten, dass jemand, dessen Kindheit sehr glücklich war, nicht solche Stärke entwickeln kann, zumindest nicht schon in dem Alter. Mir gefiel die Idee mit der „Bilderbuchtochter“. Aqua ist immerhin eine vernünftige, sehr verantwortungsbewusste Frau – das könnte ein Nachklang dieser ständigen inneren Kontrolle sein.

Ich empfand es als zu klischeehaft, dass Aqua den Kampf für sich entscheiden würde. Denn ja, sie ist nun mal unterlegen, weil Terra schon viel länger in der Ausbildung von Eraqus ist.
 

Tausend Dank fürs Lesen! Über Kommentare wäre ich sehr erfreut!

Rainblue

Unsichtbare Spuren

Aqua erwachte mit dem ekelhaften Geschmack von getrocknetem Blut im Mund. Außerdem tat so ziemlich jeder Muskel ihres Körpers weh wie nach einem Sturz von den Gebirgen im Land des Aufbruchs – auch wenn sie das nie erlebt hatte; ungefähr so musste es sich anfühlen.

Schwach zwängte sie die Augen auf und brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie nicht mehr auf dem Plateau lag, wo sie den rotäugigen Schattenwolf bezwungen hatte. Ein Blick zu beiden Seiten verriet ihr, dass sie sich in einer Art Höhlenblase befand – in einem der Riesenbäume. Wie war sie hergekommen?

„Ist da jemand…?“, wollte sie rufen, aber es kam nur ein kratziges Raunen hervor. Es blieb still und Aqua beschloss, sich erst einmal zu orientieren. Da sie auf dem Rücken lag, stützte sie die Ellbogen auf, um sich hochzudrücken und biss mit einem unterdrückten Keuchen die Zähne zusammen, als dabei ein greller Schmerz durch ihren Bauch schoss. Und nur wenig später auch im rechten Oberschenkel. Sie hievte sich umständlich gegen die Höhlenwand und wagte einen Blick an sich hinab.

Ihr wurde augenblicklich schlecht.

Eine Handbreit über ihrem Knie begann die Bisswunde, aber keine gewöhnliche wie sie von einem normalen Tier hätte verursacht werden können. Nein, das war das Werk eines Schattengeschöpfes. Als wären die von Blut verkrusteten Einstiche, worum die Haut in Fetzen hing, nicht genug, stieg ein feiner schwarzvioletter Rauch davon auf. Eine Verletzung mit Dunkelheit. Eine Substanz grässlicher als jedes Gift, aber nicht tödlich, zumindest vorerst nicht… Trotzdem würde es ihren Körper schwächen, ihre Sinne umwabern und sie anfälliger machen für die vielen Verführungen, sich den Schatten hinzugeben.

Und dann waren da natürlich noch die Rippen…

Das schien ein Akt der Unmöglichkeit. Ein paar Tage würde sie es mit diesen Verletzungen vielleicht noch machen, aber wenn sie dann keine angemessene Heilung bekam, wäre es vorbei.

In dem lautlosen Moment der Überlegung, vernahm sie ganz in der Nähe eine Art Plätschern. Plätschern? Was konnte das sein? Sie hatte bisher nichts Vergleichbares in dieser Welt gehört.

Obwohl jede Faser sich sträubte, kam Aqua wankend auf die Beine und humpelte aus der Höhle hinaus ins Freie. Über ihr spannte sich noch immer der rotviolette Chaoswirbel, aber nirgends war ein Anzeichen auf die Anwesenheit von Monstern zu entdecken, weshalb sie sich noch ein Stück weiterwagte.

Zu ihrer Rechten erhoben sich ein paar Stufen – die befremdliche Mischung aus Wildnis und Zivilisation, die hier galt – und dahinter…

„Ich glaube es nicht…!“, stieß sie hervor und taumelte, so schnell ihr geschundener Körper es zuließ, auf die Treppe zu. Geschützt von einem Felsbogen lag dort ein klarer See. Natürlich hatte Aqua immer mal wieder kleinere Quellen gefunden – andernfalls wäre sie ja verdurstet – aber der Anblick eines so großen Sees war die reinste Offenbarung.

Sie ließ sich nahe dem Wasser nieder, schöpfte mit den Händen und konnte ein erleichtertes Seufzen nicht zurückhalten, als die kühle Nässe ihre staubige Kehle hinunter rann. Als sie sich satt getrunken hatte, zog sie den rechten Schuh aus, streifte möglichst sacht den Kniestrumpf ab und machte sich daran, die Wunde zu säubern. Der Prozess war entsetzlich und erforderte mehrmals ein Fäuste ballen, aber es war besser als gar nichts. Unter den Blutschichten kamen die Furchen hervor, die die Fänge des Wolfes sauber in ihr Fleisch geschlagen hatten – ohne das Blut und den dunklen Rauch sah es gleich weniger schlimm aus. Aber entscheidend war leider nicht das Äußerliche, sondern das, was in ihrem Körper geschah. Seufzend riss sie einen Streifen von ihrem Ärmel und verband die Wunde notdürftig. Dann betastete sie achtsam ihren Bauch und zuckte zusammen. Doch ein Bruch? Gar mehr als einer?

„Durchhalten, Aqua…“, mahnte sie sich streng. Selbst wenn das Schlimmste der Fall war, sie konnte jetzt nicht einfach die Augen schließen und loslassen!

Matt warf sie einen Blick auf die weiße Steppe vor dem See. Wie im Namen aller Schlüsselschwertkrieger war sie hierher gekommen? Schlafwandelte sie neuerdings? Nein, ausgeschlossen. Irgendjemand musste in der Nähe sein, jemand, der wie sie war.

„Na ja“, sprach sie sich selbst gut zu, „irgendwann wird er wiederkommen, oder?“ Vorsichtig ließ sie sich auf den Rücken gleiten, betrachtete die wirren Farbschleifen am Himmel und dachte über den Traum nach. Dem üblichen Impuls folgend zog sie den Wegfinder aus der Tasche und hielt ihn so, dass die rotvioletten Töne durch das blaue Glas schimmerten. Die Ränder ihrer Gedanken wurden konturloser, bis sie sich ganz auflösten und den Tagträumereien nichts mehr im Weg stand. Diesmal flüsterte sie nicht die Namen ihrer beiden Freunde. Diesmal war es nur der des einen.

„Terra.“
 

Ein Jahr vor der Prüfung zum Meister, sah Aqua ihre Eltern ein letztes Mal wieder.

Der Besuch war die Hölle.

Ihre Eltern hatten keine Worte dafür übrig, wie sie gewachsen war, wie gut sie schon mit dem Schlüsselschwert umgehen konnte oder wie es ihr in ihrer neuen Heimat gefiel. Aber dafür besaßen sie einen ganzen Wasserfall von Worten für ihre Zukunft und was sie sich da für sie ausgedacht hatten. Zuerst einmal sollte sie die Meisterprüfung ablegen, dann neue Erfahrungen sammeln, indem sie durch die Welten reiste und ihre Pflicht erfüllte. Aber sobald sie zwanzig war, unverzüglich zurückkehren, um ihren Zukünftigen zu heiraten – ja, der Gemahl war bereits ausgesucht worden.

Am liebsten hätte Aqua sie angeschrieen. Ihnen all das um die Ohren geworfen, was sie ihr mit ihrer Sucht nach Perfektion angetan hatten und dass sie nicht länger das Bedürfnis verspürte, ihnen alles recht zu machen. Dass sie die Meisterprüfung nicht bestehen würde, weil sie es gern so haben wollten, sondern für sich selbst.

Das war ihr Leben. Egal, wie oft sie darin herumpfuschten.

Doch sie behielt es für sich. Lächelte ein wenig, hob das Kinn, Augen geradeaus, nicht blinzeln. Hörte sich alles an, was ihre Eltern zu sagen hatten. Erwiderte selbst aber nichts. Die Verlobung sollte erst nach der Prüfung stattfinden – sie müsse sich schließlich auf letzteres konzentrieren. Sie spürte, dass Eraqus etwas sagen wollte – mehrmals. Schüttelte aber jedes Mal den Kopf. Sie wollte nicht verteidigt werden. Wenn sie es selbst nicht konnte, dann sollte es wohl auch nicht so sein.

Auf dem Rückweg war sie still. Eraqus auch.

Sie war ihm dankbar, dass er sie allein ließ. Als spürte er, was sie brauchte und was sie wollte. Und jetzt war das Einsamkeit. Nur für ein paar Stunden allein mit den Gedanken sein.

Sie glaubte, das würde helfen. Weil es immer geholfen hatte… oder nicht?

Darum suchte sie ihren Lieblingsort auf; einen wunderschönen See, den sie schon vor Jahren entdeckt hatte, sank am Ufer nieder, vergrub das Gesicht in den Armen und ließ das eben Geschehene Revue passieren.

Sie hasste es. So sehr. Und sie verabscheute sich selbst für ihre Feigheit. Warum konnte sie nicht einfach den Mund aufmachen und sagen, was sie dachte? Würde es ihr danach nicht besser gehen? Konnte Wasser nicht erst frei fließen, wenn der Damm aufgebrochen war? Ja, aber Aqua traute sich nicht, Risse zuzulassen. Sie war das passive Wasser, das schön brav hinter der Absperrung blieb und nur davon träumte, Wellen zu schlagen…

Nach ein paar Minuten, in denen sie diesen Gedanken nachhing, ließen Schritte im Unterholz sie aufschauen. Zwischen den Farnen trat Terra hervor.

„Hey“, wollte sie gelassen sagen, erschrak dann aber, als ihre Stimme brach. Schnell räusperte sie sich. „Ich… wollte nur ein bisschen abschalten. Gedankenstau, du weißt schon.“ Was redete sie da für einen Stuss? Verlegen strich sie sich durchs Haar. „Wo ist Ven? Ich dachte, ihr trainiert zusammen?“

„Er wollte dich nicht ausschließen“, erwiderte Terra und sein Blick ruhte unverwandt auf ihr. „Und ich auch nicht.“ Wie er sie ansah… Nervös zog sie die Knie näher an den Körper. Bei diesem Blick kam sie sich furchtbar entblößt vor.

„Das ist lieb von euch. Aber ihr müsst nicht auf mich warten. Mir ist heute nicht danach…“ Sie setzte ein Lachen dahinter, absichtlich, und hörte selbst wie unnatürlich und deplatziert es klang.

Terra antwortete nicht. Er kam nur auf sie zu und ließ sich neben ihr ins Gras sinken. Seine Augen glitten zum Wasser. Keiner sagte ein Wort. Normalerweise machte Aqua das nichts aus, Schweigen zwischen Terra, Ven und ihr war wie Sprechen ohne Worte. Doch diesmal spürte sie, wie ihre Wangen rot wurden und begann fieberhaft nach etwas zu suchen, womit sie die Stille brechen konnte.

„Weißt du“, meinte Terra unvermittelt. Er klang nicht im Mindesten so, als wäre ihm die nicht vorhandene Unterhaltung peinlich. „Wir haben was gemeinsam.“

„Was?“, fiepte sie und widerstand dem Drang, sich die Hand auf den Mund zu schlagen.

„Wir beide kennen unsere Eltern nicht. Wir haben keine richtigen Eltern.“

Die Stille, die sich daraufhin ausbreitete, schien vervielfacht. Aqua konnte jedes kleinste Geräusch haargenau hören. Sie sah zu Terra hinüber, der ihren Blick offen erwiderte. Nicht wegsah. Vielleicht nicht mal blinzelte.

Mit der Zeit begannen sich ihre Gesichtsmuskeln anzuspannen, ihre Augen zu brennen. Die Tränen sammelten sich an, bis sie kaum noch etwas erkennen konnte und liefen mit einem unvermeidlichen Blinzeln über.

Und dann fing sie plötzlich an zu erzählen. Alles. Vom Anfang bis zum heutigen Tag. Sie schluchzte all die quälenden Fragen und wütenden Argumente hervor, die sie ihren Eltern so gern gegeben hätte. Wie ein unaufhaltsamer Sturzbach offenbarte sie ihm ihre Gefühle; die schreckliche Angst, zu versagen, die Wut auf sich selbst, rückratlos zu gehorchen, die bittere Erkenntnis, dass ihre Eltern sie offenbar nie als die Tochter gesehen hatten, die sie hatten sehen wollen… einfach alles.

Und Terra schwieg. Weil er genau wusste, dass sie kein Mitleid wollte. Keinen dieser tröstenden Sprüche von jemandem, der es sowieso nie nachvollziehen würde können.

Aber er hörte zu, die ganze Zeit. Er war da und lauschte ihr. Sie spürte nur den Druck seiner Hand, die ihre umschlossen hielt. Der warme Druck…
 

Die Erinnerung an jenen Tag. Eine so kostbare Erinnerung.

Denn das war der Tag, an dem sie sich in Terra verliebte.
 

Viel zu schnell flogen ihre Lider hoch und sie richtete sich halb auf, ehe der sengende Schmerz sie wieder in die Rückenlage zwang. Aqua hatte sich geschworen, nicht einzuschlafen, aber ihrem ausgelaugten Körper war nicht danach, Kompromisse zu schließen. Sie ließ den Kopf zur Seite fallen.

Niemand zu sehen. Weder Schattenmonster noch Mensch. Aber irgendjemand hatte ihr geholfen, hatte sie her gebracht, hier zu diesem See, der ebenso klar wie jener in ihrer Heimat war. Sie ließ eine Hand ins Wasser gleiten, strich gedankenverloren hindurch, während sie mit der anderen noch immer den Wegfinder ans Herz presste, den sie im Schlaf keinen einzigen Moment losgelassen hatte.

Dieser Ort war wie das düstere Spiegelbild ihrer Erinnerung. Wie sehr sie doch die Sonne vermisste… Sie konnte sich kaum noch an das Gefühl von Licht auf der Haut erinnern. Oder an das von Regen. Sie hatte den Regen im Land des Aufbruchs geliebt; war in Sommerschauern spazieren gegangen, war bei Gewittern aufgeblieben, um den Himmel zu beobachten. Sie gab es ungern zu, aber der Chaoswirbel über ihr erinnerte sie schwach an die Töne des Wetterleuchtens.

„Und die Regenbögen…“, formte sie mit den Lippen und schlang die Finger fester um den Glücksbringer. „Kann das denn alles Zufall sein…?“

Der See, der Himmel, die unsichtbaren Spuren eines Retters… Für ein paar Sekunden gab sie sich der Vorstellung hin, dass die Zusammenhänge wirklich waren und sich nicht nur in ihrer Fantasie zusammendichteten. Doch sie zerriss das schöne Trugbild mit einem harten, freudlosen Lachen, das im Bauch schmerzte. Was sie nicht kümmerte.

„Törichtes, naives Mädchen“, verspottete sie sich. Und zeitgleich damit hob sie die Hand aus dem Wasser und führte sie zum Hals. Tropfen benetzten ihr Kinn, auf einmal nicht mehr kühl, sondern stechend kalt.

Sie fuhr über die gesamte Kehle und drückte an den entsprechenden Stellen fester zu, konnte aber keinen Schmerz vernehmen. Natürlich nicht. Die blauen Flecken – seine Würgemale – waren längst verheilt und von ihrer Haut geschwunden.

Aber sie konnte jeden einzelnen nachfühlen. Und diese Panik, als jegliche Luft aus ihr getrieben zu werden schien… als wäre es eben erst passiert. Genauso wie bei Terras Berührungen.

Der unvergessene Druck… und unsichtbare Spuren.

Ein Geheimnis

Bleib am Leben. Bleib am Leben.

Wie eine Zauberformel wiederholte Aqua diesen Satz im Kopf, bis er sich von selbst aufsagte. Monoton und seiner Bedeutung entstellt, aber er sorgte dafür, dass sie weiterging. Immer weiterging, nur nicht aufhörte, zu laufen… Wenn sie fiel, würde sie vielleicht nicht mehr aufstehen können. Und dann hatten sie die Schattenbestien genau da, wo sie sie haben wollten.

Bleib am Leben.

Der Pfad schien endlos. Wie lange lief sie schon? Stunden? Tage? Wie es ihr gelang, noch immer alle Monster zu besiegen, die aus dem Boden krochen, konnte sie nicht sagen. Ihre Lungen brannten höllisch, ihr ganzer Rachen und der Bauch… ein Knoten aus Schmerz, mehr schien da nicht zu sein. Aber sie schleppte sich weiter, immer weiter, nur nicht aufhören, zu laufen…

Bleibamleben

Worauf hoffte sie eigentlich? Irgendwo anzukommen? Alles hier war „irgendwo“. Wenn es einen Ausgang gab, bei welchem Irgendwo musste sie dann suchen? Sie hielt den Blick zu Boden gerichtet.

Das war doch alles so sinnlos. Der Pfad führte in die Unendlichkeit. Früher oder später würde sie in der weißen Asche zusammenbrechen und nicht mehr aufstehen. Warum machte sie sich dann überhaupt noch die Mühe? Wäre sie doch nicht losgegangen. Wäre sie doch an diesem See liegen geblieben. Das wäre zumindest ein halbwegs schöner Ort zum sterben gewesen…

Bleibamleben

„Richtig…“, murmelte sie tonlos. Es wäre nur leichter, wenn sie einen Platz zum Ausruhen finden könnte. Aber der Weg unter ihren schlaffen Schritten nahm und nahm kein Ende.

Ihre traumhaft entrückte Sicht klärte sich ein wenig, als sie ein zartes Pulsieren in ihrer Tasche wahrnahm. Der Wegfinder. Sie wollte die Hand heben, um ihn herauszuholen, da fiel ihr auf, dass sie nicht länger über Ascheboden ging.

Wie lange war das schon so? Unter ihren Füßen befand sich weiche dunkle Erde, worauf ein paar kümmerliche Grasbüschel wuchsen. Es war unverändert dunkel, darum war ihr wohl entgangen, was für eine Gegend sie seit einigen Minuten durchwanderte.

Müde hob sie den Kopf und war mit einem Schlag wieder hellwach.

„Das ist…?“, stieß sie ungläubig hervor. Es genügte nicht, nur einmal hinzusehen, ehe Aqua das Schloss erkannte, das sich inmitten eines düster vernebelten Tals erhob. Der Grund dafür war einleuchtend. Jener Palast war in ihrer Erinnerung strahlend, von einer leuchtenden Stadt umgeben und wie ein Gebilde der Hoffnung. Es war der gleiche, daran zweifelte sie nicht. Aber seine Mauern waren von Dunkelheit umsponnen, der einst sternklare Himmel von finsteren Wolken bedeckt und alles wirkte tot und kalt.

Obschon Aqua ahnte, dass sie dort niemanden auffinden würde, zwang sie ihre tauben Beine voran, durchquerte die verlassenen Ruinen der Stadt, den in Trümmern liegenden Schlosspark und betrat schließlich die Halle, in der sie damals Terra getroffen hatte.

Sie seufzte, als sie an der Treppe stehen blieb, ihre Schritte so endgültig von den hohen Wänden widerhallend, und mit der Hand über das eingestaubte Geländer strich.

„Was ist hier geschehen?“ Sie flüsterte, weil sie das hohle Echo ihrer Stimme nicht hätte ertragen können. Wo waren die Bewohner? Und wieso überhaupt hatte es diese Welt ins Reich der Dunkelheit verschlagen?

Sie kniff die Augen kurze Zeit zusammen, um Fassung zu bewahren. Diese Stille, der Verfall und die Düsternis… Es war wie damals im Land des Aufbruchs. Sie hatte sich nicht erlaubt, zu weinen, weil sie dafür keine Zeit gehabt hatte.

Und jetzt? Ein Laut, halb Schluchzen, halb Lachen drang aus ihrer Kehle hervor. Nein, jetzt, wo sie es sich erlauben konnte, ging es nicht mehr. Als wäre es so viel, dass selbst Tränen dem nicht Luft machen konnten.

Sie erklomm mühselig Stufe für Stufe der Treppe, um dann durch die, von Spinnweben gesäumten, Gänge zu wandeln. Der „Palast der Träume“… nun war er nichts weiter als ein Geisterschloss.

In den oberen Stockwerken fand sie die Gemächer, schob die erstbeste Tür auf und ließ ein tiefes Seufzen frei. Das Bett, das nahe einem Balkon stand, war von Staub und noch mehr Spinnweben vereinnahmt, aber wie lange hatte Aqua schon nicht mehr auf einer Matratze gelegen? Hatte ein Kissen oder eine Decke am Leib gespürt? Sich sicher gefühlt, wenn sie die Augen geschlossen hatte?

Dankbar schlüpfte sie aus den Schuhen, fegte die gröbsten Staubschichten fort, kroch unter die schweren Daunendecken und schlief ein, noch ehe ihr Kopf das Kissen berührt hatte.

Bleibamleben… Bleibamleben…
 

Geheimnisse. Wer konnte schon von sich behaupten, keine zu haben? Sie waren zu süß, zu köstlich, um sie nicht zu haben. Und natürlich war Aqua nie eine Ausnahme gewesen.

Sie hatte viele Geheimnisse.

Aber nur eines davon teilte sie mit jemandem…

Einmal war es geschehen. Im Nachhinein haftete diesem einen Mal viel Unwirkliches an. Aber wenn Aqua sich einer Sache gewiss blieb, dann dass es kein Traum gewesen war.

Es war wirklich. Sie hätten sich noch ihr Leben lang darüber anschweigen können, das änderte nichts.

Nachdem es passiert war, waren sie gestelzt und übertrieben höflich miteinander umgegangen. Aber die letzten Vorbereitungen auf die Meisterprüfung hatten angestanden und im Stress des Intensivtrainings und diverser Vorprüfungen, hatte sich das mit der Zeit auch gegeben.

Dennoch bestand dieses Band, diese unsichtbare Verbindung, die sie geschaffen hatten. Sie hatten eine Grenze überschritten und so etwas geriet nicht in Vergessenheit.

Was Aqua sich nur schwer erklären konnte, war, warum sie nie wieder ein Wort darüber verloren hatten. Sie selbst hätte ihm schon gern gesagt, was dieser Moment ihr bedeutete, was ihr durch ihn erst vollkommen bewusst geworden war. Aber sie hatte geschwiegen. Und Terra auch.

Sie glaubte, dass sie gehofft hatte, er würde den Anfang machen, den ersten Schritt tun. Doch womöglich hatte er sich damals das gleiche auch von ihr erhofft. Und so waren sie zu Profis darin geworden, so zu tun, als hätte es jenen Tag nicht gegeben. Aber es hatte ihn gegeben und dieses „Geheimnis“ würden sie auf immer teilen.

Es war nur einmal geschehen, aber es war geschehen.
 

Nicht ganz einen Monat vor der Meisterprüfung gab es einen heftigen Sturm. Er wütete den gesamten Tag hindurch, sodass das Training nach drinnen verlegt werden musste. Aber nach jedem Gewitter ist der Himmel ungleich schöner, die Luft frischer, der Wind schmeckt nach Freiheit.

Den Morgen danach nutzte Aqua, um spazieren zu gehen und vor allem, um den Kopf frei zu bekommen. Der Gedanke an die bevorstehende Meisterprüfung verursachte ein ziemliches Durcheinander in ihrem Bewusstsein. Sie schlenderte in aller Seelenruhe Richtung See, beobachtete die winzigen Tausplitter, die auf den Blättern glitzerten, lauschte den Winden, die durch die Klüften des Tals pfiffen, streckte das Gesicht der warmen Sonne entgegen und entdeckte ihn dann. So groß, strahlend und rund wie eh und je.

Der Regenbogen. Das gebrochene Licht.

Sie kicherte – etwas, was sie eher selten tat – und schob ein paar Blätter beiseite, um auf den Felsabsatz zu treten, der über dem See lag. Wie es das hier überall gab, wurde auch dieser von einem Wasserfall gespeist, der weit oben im Berg begann.

Sie watete über das feuchte Gras auf den Rand zu, als sie plötzlich jemanden erkannte, der am See saß. Es war Terra. Das war an sich keine Überraschung. Sie hatten sich oft zufällig hier getroffen, geplaudert und die Aussicht genossen. Aber anders als sonst, war etwas an dem Bild recht ungewöhnlich. Für ihn jedenfalls.

Er saß dort, einen guten Meter entfernt vom Wasser, die Knie eng an den Körper gezogen, die Arme darauf verschränkt und das Kinn aufgestützt. Dann wurde ihr auch bewusst, wieso sich der Anblick so mit ihrer Erinnerung von Terra negierte. Weil die Haltung verletzlich wirkte. Sonst war er immer gerade aufgerichtet, fern jeder Angst oder Trauer. So hatte Aqua ihn zuvor nie gesehen und sie überkam die Vermutung, dass er wohl lieber allein sein wollte, weshalb sie sich wieder umdrehte.

„Du willst gehen?“, ließ seine raue Stimme sie innehalten. Abermals wandte sie sich um.

„Ich dachte, du möchtest vielleicht allein sein.“ Er lachte kurz auf.

„Oft. Aber heute hätte ich nichts dagegen, die Einsamkeit zu teilen.“ Es klang um ein Haar wie eine Beleidigung, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das nur Terras Art war, sich auszudrücken. Aber wie kratzig sich seine Stimme anhörte… Wie lange er hier wohl schon saß?

Sie schwang sich über den Vorsprung und nahm ein Stück abseits im Gras Platz, von dem der Geruch des Regens aufstieg. Terra streifte kurzzeitig ihren Blick, dann betrachtete er wieder die Blüten der Lotosblätter, als sehe er etwas, das sonst niemand sah. Und damit lag sie möglicherweise nicht mal falsch. Minuten des Schweigens verstrichen, aber es war nicht unangenehm, nur etwas ungewohnt an diesem Ort. Hier hatten sie sich so oft unterhalten, ohne Punkt und Komma über den Kampf diskutiert, gemeinsam davon geträumt, was sie tun würden, wenn sie in andere Welten reisen durften… Es hatte stets ein Thema gegeben.

Aber Aqua fühlte sich nicht verpflichtet, etwas zu sagen. Sie zog, ebenso wie er, die Knie an und beobachtete mit schräg gelegtem Kopf einen Sonnenstrahl, der durch das Blattwerk fiel und auf Terras Arm tanzte.

„Ich fürchte mich ein wenig vor der Prüfung…“, brach er unvermittelt das Schweigen.

„Wieso?“, fragte sie. Denn es hatte sich angehört, als spreche er nicht von der Aufregung, die auch sie heimsuchte, sondern von etwas anderem.

„Ich habe Angst, zu versagen… Du weißt schon… wegen der Dunkelheit in mir.“

„Oh.“ Mehr musste und würde sie dazu nicht sagen. Der Schatten, den Eraqus in Terra entdeckt hatte, war ein Tabuthema. Und sie wusste genau, dass Terra weder Mitleid noch sonst irgendwas haben wollte. Was sie nur zu gut nachvollziehen konnte, gerade sie. Wenn man mit etwas zu kämpfen hatte, das einen derart zerriss, dann konnte man die leeren Worte von jemandem, der sowieso keine Ahnung hatte, wie sich anfühlte, nicht hören.

„Ich will den Meister nicht enttäuschen“, fuhr er leise fort. „Er ist wie ein Vater für mich und ich will, dass er stolz sein kann.“

„Terra…“, sagte sie ebenso leise. „Meister Eraqus ist jetzt schon sehr stolz auf dich. Und er wird es nicht weniger sein, wenn die Prüfung vorbei ist, ganz egal wie es endet.“ Er sah auf. Da waren sie wieder, die kobaltfarbenen Augen, die langen Wimpern, die diesen durchdringenden Blick umgaben. Sicher war ihm nicht klar, wie tief dieser sie berührte.

„Mehr als dein Bestes geben… das kannst selbst du nicht, Terra.“ Er stieß ein Lachen aus und durch die minimale Bewegung, rutschte der Sonnenfleck auf seine Brust.

„Diese Worte kommen mir irgendwie bekannt vor.“ Jetzt grinste sie.

„Sie stammen ja auch von deiner härtesten Konkurrentin.“

„Ärgste Rivalen und beste Freunde“, kommentierte er trocken und beide brachen in Gelächter aus.

„Genau“, meinte sie erleichtert seufzend, als ihr Lachen langsam verklang. In der wieder entstandenen Stille war nur das beständige Plätschern des Sees zu hören und die Vögel in den Bäumen. Aquas Augen huschten zum Wasser und sie befand, dass eigentlich nichts dagegen sprach, die Füße ein wenig hineinzuhalten. Gedacht, getan. Sie streifte Stiefel und Kniestrümpfe ab, setzte sich ans Ufer und tauchte bis zu den Knien ins kühle Nass ein. Eine Wohltat war das!

Es dauerte seine Zeit, aber schließlich vernahm sie, wie sich auch Terra der Schuhe entledigte und zu ihr kam. Näher, als sie erwartet hatte, ließ er sich neben sie sinken und setzte die Füße ins Wasser. Schwach wehte sein Duft zu ihr hinüber und sie konnte nicht anders, als ihn tief einzuatmen.

Seine Hand, die er wie sie neben dem Körper abgestützt hatte, lag nur Zentimeter von ihrer entfernt. Aber gerade dieser winzige Abstand sorgte dafür, dass sie ein Kribbeln im Bauch spürte, das zu ihren Muskeln vordrang und für reichlich Anspannung sorgte. Hätte er sie berührt, hätte es sie wahrscheinlich auch nicht so aufgewühlt. Nur dadurch, dass sie seine Präsenz wahrnahm, ohne ihn anzufassen, fühlte sich ihr Geist ermutigt, sich – ohne ihr Einverständnis – vorzustellen, wie es wäre seine Hand zu nehmen… die geringe Distanz zwischen ihren Fingern zu überbrücken…

Sein Atem ging gleichmäßig und tief. Aus dem Augenwinkel sah sie das stete Spiel seiner Bauchmuskeln, wie sie sich hoben und senkten, hoben und senkten… Seine Nähe war ihr mehr als nur bewusst, bewusster als je zuvor. Das konnte nicht mit dem Kampf verglichen werden, der beizeiten auch viel Körperkontakt verlangte. In solchen Zeitpunkten hatte sie das Gefühl nur am Rande wahrgenommen, viel zu konzentriert auf das Gefecht. Aber nun, wo es keinen Kampf gab, wo er ihr so nahe kam, ohne es zu „müssen“…

Ihre Ohren brannten. Ob er das sah? Oder ob er ihren frenetischen Herzschlag hörte? Hoffentlich nicht.

Wenn sie doch nur den Finger heben könnte… nur den kleinen, wie im Reflex, als wäre es lediglich das Zucken eines Muskels gewesen. Nur um seine Hand zu berühren.

Was er dann wohl tun würde? Seine Hand zurückziehen? Oder so tun, als wäre nichts? Spürte er diese Spannung denn auch? Oder war es nur Aquas eigene Imagination, die ihr die Sinne vernebelte…?

Auf einmal spürte sie, dass er sie ansah. Nicht direkt, nur aus dem Augenwinkel. Aber manchmal konnte ein solcher Blick intensiver sein, als ein frontaler. Hätte er sie ganz angeschaut, wäre es ihr möglich gewesen, darin zu lesen. Auf diese Art behielt er nahezu jede Botschaft für sich und ließ zu viel Raum für ihre, ohnehin schon überreizte, Vorstellungskraft.

Sie traute sich nicht, ihn zu erwidern und sei es nur ebenso aus dem Augenwinkel. Stattdessen stierte sie hartnäckig auf das Wasser, wo sie unter der transparenten Oberfläche ihrer beiden Füße sehen konnte, die genauso wie ihre Hände nur durch eine Zenitmeter-Barrikade Zwischenraum getrennt waren. Und keiner war bereit, sie einzureißen. Noch nicht?

Sie hielt weiterhin die Augen gesenkt, tat alles, um ihre Atmung ruhig zu halten, ihm nicht zu zeigen, wie sehr ihr die Situation zusetzte. Sie waren Freunde. Nur Freunde… Terra sah – mit Aquas blinder Überzeugung – nicht das in ihr, was sie in ihm sah.

Nur Freunde…

Doch dann, urplötzlich, zerbrach der Bann in unzählige Scherben.

Sie hatte nur einen Blick riskiert. Einen Blinzelmoment die Augen gehoben, sie zur Seite geführt und seine getroffen. Einer ihrer rasanten Herzschläge hätte nicht kürzer sein können.

In selber Sekunde noch griffen sie gleichzeitig nach der Hand des anderen, ihre Fußspitzen stießen sacht aneinander und nur Bruchteile später – so kam es ihr vor – saß sie nicht mehr, sondern lag im nassen Gras, Terra über ihr, seine sonnenwarmen Lippen auf ihren.

Sie hatte keine Erinnerung mehr daran, wie lang die Verblüffung über die schlagartige Wendung anhielt, aber es konnte nicht viel Zeit gewesen sein, ehe ihr Mund bereitwillig in seinen floss, zuließ, dass der Kuss leidenschaftlicher wurde. Sie öffnete sich all den Gefühlen, die sich schon viel zu lange in ihr gestaut hatten und ließ sich entwaffnen.

Undeutlich nahm sie seine Hände wahr, eine in ihrem Haar versunken, die andere hielt ihr rechtes Handgelenk umschlossen. Es war nicht das erste Mal, dass Aqua geküsst wurde, aber es war das erste Mal, dass sie so geküsst wurde.

Irgendwo in Terras Rüstung war ein Riss entstanden, den sie so nie gesehen hatte. Darunter kam etwas Wildes, Zügelloses, hervor. Es war in seinem Körper, den sie sonst nur im Kampf mit vergleichbarer Hingabe erlebt hatte und der sich fordernd an sie drückte. Es war in seinen Händen, die das Schlüsselschwert fest und mit Ehre erfüllt hielten und die nun anfingen, ihren Körper zu erkunden. Die Linke verblieb in ihrem Haar, aber mit der anderen strich er über die Pulsadern, am Arm hinab, über die Schulter, das Schlüsselbein, dann zwischen ihren Brüsten hindurch und verharrte an der Taille. Sie erschauerte und nutzte die kurze Kusspause, die entstand, um zu Atem zu kommen, um ein Stöhnen auszustoßen.

Sie schlug die Lider auf und begegnete seinen funkelnden blauen Augen über ihr, die aus einem Schleier von Verlangen hervorblitzten. Da war kein Gedanke, der ihrer Handbewegung vorweg ging, als sie sein Gesicht berührte. Über die Züge strich, die sie so oft im Traum gesehen hatte. Sie zeichnete jedes Detail mit den Fingern nach; die markanten Wangenknochen, das leicht spitze Kinn, die vollen Lippen…

Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie das Begehren in ihm loderte, wie er sie allein mit seiner Gegenwart zu verschlingen schien. Endlich wusste sie es. Wusste, dass es ihm nie anders ergangen war, all die Zeit… Die gleiche Sehnsucht seit ihrem ersten Kampf, seit dem ersten Berühren.

Sie überließ sich vollkommen der Kontrolle ihrer Instinkte, schob ihren Verstand in weite Ferne, als sie eine Hand in seinen Nacken, die andere in sein Haar legte und ihn wieder heranzog. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, ihre Finger in diesen weichen Strähnen zu vergraben, zu fühlen, wie sie an ihrer Haut kitzelten.

Er war es doch, der sie und Ven immer wieder darauf hinwies; Du darfst nicht zu bemüht sein, deinen Körper zu bewegen. Du musst lernen, deinen Körper dich bewegen zu lassen. Das galt nicht nur im Kampf…

Als Terras Hand über ihren Oberschenkel glitt, reagierte nicht ihr Denken, sondern ihre Sinne, und sie schlang die Beine, die gespreizt vor seinen gelegen hatten, um seine Hüfte. Mit einem Aufbäumen presste sie sich und all ihre Reize an ihn, nahm wahr wie seine Brust unter ihrem Druck erbebte und hörte, wie er ihren Namen knurrte, als sich ihre Lippen erneut trennten. Seine linke Hand war nicht länger in ihrem Haar, sondern zupfte den Verschluss ihres Oberteils im Nacken auf. Sie sank zurück ins Gras, damit er mehr Platz für sein Vorhaben hatte. Kaum fiel der Stoff herab und entblößte ihre Brust, legte er die Lippen an ihre Kehle. Aqua schloss die Augen, warf den Kopf zur Seite und genoss das Gefühl, wie seine Kussspur vom Hals abwärts über die Schlüsselbeine und schließlich zu ihren Brüsten führte. Aus irgendeinem Grund schien er genau zu wissen, wo er sie berühren oder küssen musste, damit kein Platz für auch nur eine überflüssige Regung in ihrem Kopf blieb.

Als sie den Druck ihrer Beine verstärkte, keuchten sie gleichzeitig auf. Ihr Brustkorb bog sich noch einmal weit nach oben, da seine Hand jenen Punkt fand, das Zentrum ihrer Lust…

Von den Empfindungen gelenkt, ließ sie die Hände von seinem Nacken und dem Haar tiefer wandern, über all die harten Rückenmuskeln, bis sie den Saum seines Shirts fand, ihre Finger unter den Stoff grub und daran zog. Terra bemerkte ihre Absicht und richtete sich auf, damit sie es ihm über den Kopf ziehen und seinen Oberkörper enthüllen konnte. Auch jetzt war es ihr nicht möglich, der Versuchung zu widerstehen, ihre Hände darüber streichen zu lassen. Er wartete, während sie all die scharf geschnittenen Muskelwölbungen nachfuhr und sich fragte, wie es wohl wäre, jede einzelne davon zu küssen…

Er hatte die Hände neben ihr ins Gras gestützt und betrachtete ihr verträumtes Gesicht. Ihre ganze Erscheinung spiegelte die Aufgelöstheit im Inneren wieder. So war sie am schönsten. Pur und unkontrolliert. Unwillkürlich beugte er sich herab und gab ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. Als er sich zurückzog, um sie wieder ansehen zu können, erschien ein Lächeln auf ihren rot glühenden Lippen.

„Wie gut, dass du die Rüstung am Arm heute nicht trägst…“, flüsterte sie und war selbst überrascht, wie hemmungslos verführerisch ihre Stimme klang, als hätte sie etwas ganz anderes sagen wollen…

„Hm, irgendwie hatte ich heute Morgen das Gefühl, ich bräuchte sie nicht“, raunte er in ganz ähnlichem Tonfall und schon drehte ihr Magen wieder Schleifen.

Beinahe synchron griffen sie in das Haar des jeweils anderen und zogen sich erneut zu einem Kuss heran. Haut traf auf Haut, seine groben, festen Muskeln auf ihre zarte, samtene Brust. Diesmal war ihm das Warten unmöglich, weshalb seine Hand die Konturen ihres gesamten Körpers nachzeichnete, bei der Hüfte verweilte und dann mit den Fingerspitzen unter den Stoff ihrer Hose fuhr. Im gleichen Moment packte auch Aqua – von derselben Ungeduld befangen – den Saum seiner und zerrte daran…

Als wie aus dem Nichts das Leuten der Glocken vom Schloss in der Ferne widerhallte.

Abrupt lösten sie die Lippen. Lauschten erst, sahen einander dabei in die Augen, die eigenen Gefühle und Gedanken im Gesicht des anderen lesen könnend. Sie beide wussten genau, was diese Töne bedeuteten. Etwas war geschehen und dieses Signal forderte sie auf, unverzüglich zum Schloss zurückzukehren.

Noch immer waren sie ineinander verkeilt, sich mit aller Macht an die Intimität ihres gemeinsamen Moments klammernd. Aber sie wussten ebenso beide, dass sie ihn beenden mussten.

Jetzt.

Innerhalb von Sekunden brach der Zauber. Im selben Augenblick, in dem Terra nach seinem Shirt im Gras griff, zog Aqua ihr Oberteil wieder hoch und verhakte den Verschluss im Nacken als er in den grauen Stoff schlüpfte. Sie lockerte ihre Beine ganz und stützte sich mit den Ellbogen ab, während Terra aufstand und ihr die Hand reichte, die sie fast schüchtern ergriff und sich aufhelfen ließ.

Die Minuten, in denen sie ihre Kniestrümpfe und Stiefel überstreifte, gingen schweigend und mit einer Verwirrung vonstatten, die nicht nur ihr alle Ruhe nahm. Wie hatte sie sonst immer reagiert, wenn die Glocken ertönten? Besorgt, ja und auch etwas ängstlich darüber, was passiert sein könnte, aber nie so wie jetzt. Nicht so wirr, schwindelig und seltsam taub, wie als wäre sie aus einem Traum erwacht. Was war mit Terra? Er sah aus, als würde es ihm ähnlich gehen, doch er war ein Meister darin, dass Innere nicht nach außen dringen zu lassen. Spätestens beim Schloss würde man ihm nichts mehr anmerken können. Sie würde sich ebenfalls zusammenreißen müssen.

Schweigend verlief auch der Rückweg und mit mehr als der sonstigen Halber-Meter-Lücke beim Gehen. Aqua erinnerte sich, dass Terra ihr in diesen Situationen immer Mut gemacht, ihr versichert hatte, dass schon nichts Schlimmes geschehen war, dass sie sich nicht zu sorgen brauchte. Nur diesmal tat er es nicht.

Als sie das Schloss schon fast erreicht hatten, wurde Aqua gerade noch rechtzeitig der Zustand ihrer Haare bewusst. Zwar hatte sie auch Terras Frisur gehörig in Unordnung gebracht, aber bei ihm fiel es nicht so auf, außerdem schien er es bereits einigermaßen glatt gestrichen zu haben. Schnell fischte sie Grashalme und Blätter heraus und kämmte es sporadisch mit den Fingern zurrecht.

Keine Sekunde zu spät, denn da sah sie schon Ven, der mit seinem kindlichen Strahlen, über den Platz auf sie zugestürmt kam.

„Terra! Aqua! Da seid ihr ja endlich!“ Keuchend kam er vor ihnen zum Stehen; anscheinend war er mal wieder zu schnell für seine Ausdauer gelaufen. Kleiner, liebenswerter Junge.

„Der Meister hat Besuch!“, sprudelte es, kaum dass er halbwegs wieder bei Atem war, aus ihm heraus. „Von anderen Schlüsselschwertschülern! Die sehen alle wahnsinnig stark aus. Und sie haben gesagt, dass sie mit uns trainieren würden! Vor allem wegen eurer Prüfungen. Ich wollte eigentlich auf euch warten, aber ich konnte euch nicht finden und darum…“

„Ven“, sagte Terra lächelnd und verwuschelte seinem jungen Freund liebevoll die Haare. „Nicht so schnell. Lass uns erstmal reingehen und mit dem Meister sprechen.“

„Na gut“, erwiderte er leicht enttäuscht, als sein Blick plötzlich auf Aqua fiel. „Hä? Aqua, warum bist du denn so rot im Gesicht? Hast du Fieber? Und diese Flecken da an deinen Schultern…“

„Nichts!“, schnitt sie ihm, etwas zu schnell, das Wort ab. Mit halbem Auge konnte sie erkennen, dass auch Terra erst jetzt auffiel, welche Spuren seine Lippen hinterlassen hatten. „Ich bin vorhin im Wald beim Trainieren ausgerutscht und äh… und hab mich im Geäst eines kleinen Baumes verfangen. Aber das sind nur blaue Flecken, nichts Ernstes!“ Blaue Flecken… Ha.

Terra räusperte sich unauffällig.

„Echt?“, fragte Ven mit großen Augen. „Das muss aber wehgetan haben, oder? Die Flecken sind richtig rot! Willst du nicht doch lieber Eis drauflegen?“

„Nein, nein“, meinte sie und hob abwehrend die Hände. „Ist schon okay. Das sieht schlimmer aus als es ist.“ Bei der Zweideutigkeit ihrer Worte, die nur ihr und Terra bewusst sein konnte, errötete sie ungewollt wieder.

„Bist du sicher?“ Ven schien ernsthaft besorgt. „Der Meister würde es sicher verstehen, wenn…“

„Lass gut sein, Ven“, mischte sich da Terra ein. „Wenn Aqua sagt, es wäre okay, dann ist es das. Sie würde uns nicht anlügen, das weißt du doch.“ Seine Worte mochten Ven gelten, aber es war Aqua, die er dabei ansah. Und sie hörte deutlich, was er nicht aussprach.

In diesem Blick lag alles. Die Gewissheit, dass die Sache eben für ihn nicht „einfach so“ passiert war, sondern dass es ihm etwas bedeutete, dass es ihm vielleicht sogar mehr bedeutete, als er sagen konnte… oder zeigen. Und sie spiegelte diesen Ausdruck, ohne dass sie ihrem Gesicht den Befehl dazu geben musste.

Es war, als würden sie sich noch einmal küssen; im Geiste. Und das war das Einverständnis, die stumme Absprache, dieses Geheimnis zu bewahren.

Ven sah irritiert zwischen beiden hin und her.

„Wir sollten reingehen“, sagte Terra schließlich und löste die Verankerung ihrer Augen ineinander. Der noch immer verwirrt zu scheinende Ven folgte seinem Freund, als dieser sich abwandte und zum Eingang des Schlosses ging.

Aqua nahm sich nicht mehr als fünf Sekunden, in denen sie an Ort und Stelle verweilte, die Fingerspitzen auf ihre – fast schon wunden – Lippen legte und die Augen schloss.

Das ist ein Geheimnis. Unser Geheimnis. Das mir niemand je wegnehmen wird.

Sie schlug sie wieder auf und lief den beiden hinterher; dem Jungen, der ihr bester Freund war und dem Mann, der mehr als das war, schon immer.

Der Mann, den sie liebte…
 

_____________________________________________
 

So, jetzt ist es also passiert.

Ich weiß nicht, wem diese Situation bekannt ist; man teilt mit jemandem einen Moment dieser Art, welcher aber plötzlich unterbrochen wird und hinterher wird nie wieder ein Wort darüber gesprochen. Hoffend, dass der andere den Anfang macht, weil man selbst nicht den Mut aufbringt – besonders dann, wenn es ein einmaliges Ereignis war – aber auch mit Angst erfüllt, der andere würde nicht das gleiche darin sehen. Ich dachte, bei Terra und Aqua wäre so was durchaus möglich. Sie sind beide solche Kämpfertypen, dass Liebe – und vor allem Sex – sie ganz schön durcheinander bringen könnte.

Ich glaube, hätte es die Möglichkeit gegeben, dass sie sich noch mal allein am See getroffen und dann wirklich miteinander geschlafen hätten, wäre es einfacher gewesen, danach offen darüber zu reden. So ist es quasi zu „unvollendet“ für sie, womit die Sehnsucht nach Vollendung einhergeht.

Ich wollte in diesem Kapitel noch etwas „Bitteres“ für die Zukunft einbauen. Darum Aquas Gedanke, Terra auf seine Dunkelheit anzusprechen, wäre falsch. Ich glaube, sie könnte echt so gedacht haben, bis die Reise begann. In Bbs verurteilt sie Terra ja dann oft genug, dass er sich zu sehr der Dunkelheit aussetzen würde…

Übrigens hab ich hier, genau wie im Kapitel davor, einen winzig kleinen Perspektivensprung zu Terra gemacht. Jemandem aufgefallen, wo der ist?

Ich hoffe, ihr fandet das Kapitel „aufschlussreich“.
 

Tausend Dank fürs Lesen!

Rainblue

Was wäre wenn...

Hinter geschlossenen Lidern lauschte sie dem Gezwitscher der Vögel auf ihrer Fensterbank. Wenn sie sich bewegte, würde sie sie vertreiben, also regte sie sich nicht. Es war Morgen, die Sonne kitzelte sanft auf ihrer Nasenspitze. Wieder ein wundervoller Tag im Land des Aufbruchs. Vielleicht würde sich eine kleine Regenwolke zeigen? Nur ein ganz kurzer Schauer, der den Regenbogen hervorbrachte. Wenn es geschah, würde sie zum See gehen und sie würde solange warten, bis Terra kam. Und dann würde sie ihn endlich darauf ansprechen, was damals geschehen war… Ein schöner Gedanke.

Aber dann verzerrten sich die Eindrücke. Aus dem fröhlichen Gesang der Vögel wurde ein irrsinnig weit hallendes Tappen. Das, was sie für Sonne gehalten hatte, verwandelte sich in die langen dürren Beine einer Spinne, die über ihr Gesicht krabbelte…

Erschrocken schlug sie die Augen auf und fegte das mausgroße Ungetüm von der Nase. Keuchend sah sie zu, wie es rasch in eine der dunklen Ecken huschte, erst dann wurden ihr der brummende Schädel und die nach wie vor schmerzenden Wunden bewusst. Sie verzog das Gesicht, als sie sich gegen das Kopfteil des Bettes lehnte, eine Hand auf dem Bauch ruhend.

Es war unverändert dunkel draußen. Man sollte meinen, Aqua hätte sich bereits daran gewöhnt, hier nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden zu können, aber es bereitete ihr noch immer ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Apropos Magen… Aufgrund der Rippen war das zweite Elend in diesem Bereich in den Hintergrund getreten, aber jetzt war es stark genug geworden, um mit ersterem zu konkurrieren. Hunger.

Bei den Aschepfaden- und Steppen hatte sie knollenähnliche Pflanzen gefunden, sie neben den Baumskeletten unter der Asche hervor gegraben. Sie schmeckten im Prinzip nach gar nichts, was ihr nichts ausgemacht hätte, nur hielt sich auch ihr Potenzial an Sättigung und Kraftspende in Grenzen. Mal davon abgesehen, dass sie seit – seit wann? – keine mehr zu sich genommen hatte.

Während die Gedanken sehnsuchtsvolle Schleifen um die Äpfel oder Erdbeeren im Land des Aufbruchs zogen, streiften ihre Augen die Stelle, wo die Spinne lang getippelt war und mit einem Satz war sie aus den Decken gesprungen. Was sie nachteilig etwas bereute, aber das gab sich im Nu.

Wieso war ihr das vorhin nicht aufgefallen? Oder wie hatte sie den Geruch nicht wahrnehmen können?

Knapp vor dem Bett lag ein großer Laib Brot und eine Flasche mit klarem Wasser stand genau daneben. Und dann noch eine schlanke Phiole, deren Erscheinung ihr irgendwie bekannt vorkam. Aber dafür hatte sie keine Konzentration übrig, weil ihre Hände bereits nach dem Brot griffen und ein Stück herausrissen.

Man hätte ihr Gift hinstellen können, sie hätte nicht anders reagiert. Geistesgegenwärtig zügelte sie sich jedoch, aß so langsam wie möglich, um ihren Magen nicht zu überfordern und stoppte sich, als die Hälfte des Brotes verspeist war. Während sie das Wasser an die Lippen führte und versuchte, nicht zu gierig zu trinken, betrachtete sie die Phiole.

Eine grünlich schimmernde Flüssigkeit war zu erkennen und als Aqua auf die goldenen Sprenkel und das schwache Glitzern aufmerksam wurde, erfasste ihr Verstand, um was es sich dabei handelte. Ein Elixier – der beste Heiltrank überhaupt.

Wo war das hergekommen? Sie schob den Gedanken beiseite, nahm die Phiole zur Hand und trank Schluck für Schluck – um festzustellen, dass es sogar ein Final Elixier war; der Zaubertrank in seiner vollendeten Form. Sehr schwierig herzustellen und dementsprechend schwer zu bekommen.

Kaum hatte sie den letzten Tropfen auf die Zunge geträufelt, konnte sie ein Prickeln an ihrem Bein fühlen, als beginne ihr Blut zu köcheln. Elixiere waren dafür bekannt, dass sie die Gerinnung und den damit einhergehenden Selbstheilungsprozess auf die fünffache Geschwindigkeit erhöhten. Der Nachteil war nur, dass einem davon speiübel wurde und man in besagtem Zeitabschnitt unter Kopfschmerzinfernos litt. Aber nicht so bei einem Final Elixier. Die Nebenwirkung hier beschränkte sich auf einen Schwindel, der im Gegensatz zu denen, die Aqua in den letzten Tagen erlebt hatte, kaum der Rede wert war und einem zarten Pochen an den wunden Stellen.

Sie musste nicht länger als ein paar Minuten stillsitzen, dann schwoll beides ab und ließ nur bleierne Müdigkeit zurück. Sie schloss wohlig die Augen, von allen Schmerzen im Körper befreit… jetzt noch ein bisschen schlafen, ja das war gut. Und vielleicht wieder von Terra träumen? Besser.

Ihre Wange berührte bereits das Kissen, als sie wie elektrisiert Mund und Augen aufriss.

„Schritte!“, kam es wie eine Beschwörungsformel hervor. Richtig! Vorhin, als sie geglaubt hatte, Vögel zu hören… dabei hatte es sich um ein Widerhallen von etwas gehandelt. Eine erstaunlich hohle Resonanz, wie in…

„Die Halle!“ Ohne die Schuhe auch nur eines Blickes zu würdigen, raste sie zur Tür des Zimmers hinaus, durch die Gänge des Schlosses und stieß kopflos gegen das Geländer im Foyer.

„Hallo?“, rief sie so laut wie möglich und zuckte zusammen, weil von überall Echos zurückkamen. „Ist da jemand?“

Keine Antwort. Nur ihre eigene Stimme, die sich geisterhaft in Stille verlor.

Aber die Schritte! Das Brot, die Wasserflasche und besonders das Elixier! Das hatte doch nie und nimmer allein seinen Weg zu ihr gefunden. Jemand war hier, folgte ihr, kümmerte sich um sie, sorgte dafür, dass sie am leben blieb. Wenn auch nur das. Es schien als wollte der oder die Fremde nur sicherstellen, dass Aqua weiteratmete, mehr nicht.

Sie legte die Stirn an das kalte Holz des Geländers.

„Warum zeigst du dich nicht…?“ Aus einem unbestimmten Grund war sie gewiss, dass ihr Retter nicht mehr in der Nähe war. Genauso wie beim See. Und doch wäre sie am liebsten in den Park hinausgelaufen und hätte ihn gesucht.

Die Einsamkeit fraß sie auf. Das Elixier hatte die körperlichen Verletzungen verschwinden lassen, aber die Kratzer und Risse in ihrem Inneren klafften noch immer.

Früher oder später werde ich zerspringen.

Es überraschte sie selbst, als ihre Faust wütend auf das Geländer niederfuhr und der Knall im ganzen Schloss zu schallen schien. Sie zwang sich dazu, über ihre eigene Rage zu lachen, andernfalls hätte sie womöglich noch Lust bekommen, die Halle in Schutt und Asche zu legen und dabei den Verstand zu verlieren.

Mutlos zog sie die Stirn weg und schlurfte zurück in ihr Zimmer. Sie wollte nur noch schlafen, nur noch vergessen… Ha, bei ihrem Glück würde sie wahrscheinlich wieder Albträume bekommen. Einen weiteren schönen Erinnerungs-Traum konnte sie sich wohl aus dem Kopf schlagen.

Sie erreichte das Bett, ließ sich darauf fallen, blieb aber in der Haltung und starrte gedankenverloren aus dem Fenster, anstatt sich schlafen zu legen.

Der Traum, das Geheimnis… Wann hatte sie zuletzt darüber nachgedacht? Da wusste sie es und ohne ihr Zutun schlossen sich ihre Finger um die eigene Kehle, drückten noch einmal die verblassten Würgeflecken.

Als sie ihn damals angesehen hatte, halb erstickend, als die goldenen glanzlosen Augen ihr Gesicht berührt hatten… da hatte sie sich gewünscht, die Zeit zurückzudrehen. Sie hatte sich davor nie erlaubt so zu denken, weil Wünsche zu hoffnungslosen Träumereien führten. Es hatte keinen Sinn, Vergangenes zu bedauern. Es war geschehen, unabänderlich. Auch wenn sie sich oft gefragt hatte, wie sie es hätte verhindern können, niemals hatte sie das Verbot gebrochen, sich zu wünschen, es wäre anders gekommen.

Bis zu jenem Moment.

Sie seufzte und strich sich das strähnige Haar aus der Stirn. Ihre Gedanken tasteten sich wieder zu dem Traum vor und sie seufzte noch einmal, ließ es aber zu. Es tat ganz gut etwas zu haben, womit sie ihre Umgebung ausblenden konnte. Nach alledem war ein wenig Luxus doch erlaubt, oder?

Sie ging die Szene vor ihrem geistigen Auge noch einmal durch, hielt hin und wieder an, um Terras Gesicht bis ins letzte Detail hervorzurufen. Und blieb an dem Blick hängen, den er ihr am Ende zugeworfen hatte. Lange Zeit.

Bis sich plötzlich eine beinahe lautlose Stimme in ihrem Unterbewusstsein, die sie sonst immer ignorierte, zu Wort meldete.

Was, wenn…?

Mit einem Mal schien alle Luft aus dem Raum gewichen und Aqua musste eine Hand am Bettpfosten abstützen, an der sie auch sah, wie blass sie wurde.

Was, wenn es nur Wunschdenken gewesen war?

Sie musste zugeben, dass sie wütend gewesen war und verletzt, auch wenn sie das nie gesagt hatte. Wütend darüber, dass er kein Wort über das Geschehnis am See verloren hatte, obwohl es doch mehr als genug Zeitpunkte dafür gegeben hatte. Und was, wenn es stimmte? Wenn ihm dieser Moment nicht das gleiche bedeutete wie ihr? Wenn er darin lediglich sein Amüsement gesehen hatte? Nein, so einer war Terra nicht… oder? Woher nahm sie die Erkenntnis, das zu wissen? Sie hatte ihn nie in einer vergleichbaren Situation erlebt.

Und seine Küsse? Seine Blicke?

Aqua stieß ein dumpfes Gelächter aus. Natürlich, es hatte die Blicke gegeben, aber gesagt hatte er nichts. Und das machte den Unterschied aus. Zwischen dem, was jemand sagte und dem, was man gern von jemandem hören würde… oder sehen.

Eigentlich wusste sie gar nichts.

„Du bist so dumm“, raunte sie in die Dunkelheit des Zimmers. Warum war sie auch zu feige gewesen, mit offenen Karten zu spielen? Warum war sie nicht zu ihm gegangen und hatte ihre Gefühle offenbart? Es schien sich nichts geändert zu haben; sie war noch immer das stille Wasser hinter dem Damm…

Aber selbst wenn Terra sie abgewiesen hätte, dann hätte sie das eben ertragen müssen. Damit leben müssen. Aber dafür würde jetzt nicht die Ungewissheit an ihr nagen und ihr auch den letzten Rest Verstand, den dieser Ort übrig gelassen hatte, rauben.

Sie blickte bewegungslos in die Dunkelheit. Dann schüttelte sie langsam den Kopf hin und her.

„Von wegen…“

Eine Abweisung von Terra hätte sie eben nicht ertragen und das war der Punkt. Sie hätte nicht damit leben können. Sie hätte nicht nur ein gebrochenes Herz davongetragen, ihr Herz hätte aufgehört zu schlagen.

Fast liebkosend, als wollte sie ihr Gesicht streicheln, rann eine Träne an ihrer Wange hinab, verweilte am Kinn, löste sich und zersplitterte auf der Oberfläche des Wegfinders, den sie aus der Tasche geholt hatte.

Das war der wirkliche Grund gewesen. Die Furcht, Terra für immer zu verlieren. Denn wenn er ihre Liebe abgelehnt hätte, hätte er auch ihre Freundschaft abgelehnt. Nach so einem Ereignis konnte man einen Menschen nicht mehr so wie vorher behandeln. Also hatte sie geschwiegen, die ganze Zeit, bis es zu spät war…

Schluchzend vergrub sie das Gesicht in den Händen, der Glücksbringer hinterließ einen Abdruck auf ihrer Wange, aber das interessierte sie nicht. Wie lange hatte sie nicht mehr geweint? Es entweder nicht gekonnt oder sich nicht erlaubt? Es schien Jahre her zu sein.

Sie fiel in die Kissen, klammerte sich an dem Stoff fest, bis ihre Hände krampften. Irgendwann sank sie unter all der Erschöpfung ihres Geistes in einen weiteren Schlaf. Aber diesmal sollte ein Traum ganz anderer Art zu ihr kommen…
 

Ein Geräusch drang an ihre Ohren. Ruhig, gleichmäßig. Wie Wind, der durch die Blätter strich. Aber das war kein Wind. Dafür war es zu kontinuierlich. Es glich eher einem Wiegen; hin und her und hin und her… Nahezu sehnsuchtsvoll.

Unter den Handflächen spürte sie etwas Raues und doch Feines. Sie grub die Finger hinein. Sand. Das war kühler, grobkörniger Sand. Wenn das so war, musste dieses Geräusch das Rauschen von Wellen darstellen. Was hieß, sie war am Meer.

Aber es war ein eigenartiges Meer. In ihrer Erinnerung war ein Strand warm, auch in der Nacht, die Wellen klangen geborgen und nicht so herzzerreißend wie diese hier, der Wind schmeckte salzigsüß, nicht bitter und kalt.

Und doch kam sie nicht umhin, dass dieser Strand mit all seiner düsteren Schönheit eine Anziehungskraft auf sie ausübte, weshalb sie die Augen öffnete und sich aufsetzte. Merkwürdig. Das hier war ein Traum, daran bestand kein Zweifel. Aber wieso kam es ihr dann so vor, als wäre sie an zwei Orten gleichzeitig? Sie konnte durch eine dünne Grenze ihren Körper spüren, der im Schloss lag und ruhte. Außerdem hatte sie einen leichten Handlungsfreiraum. Sie wusste, wenn sie jetzt zum Wasser gehen wollte, könnte sie ihr Traum-Ich dazu bewegen. Alles war jedoch auch nicht möglich.

Als wäre sie die Puppe an den Fäden ihres Traumes, zog dieser ihren Kopf zur Seite, damit sie auf die Wellen blickte. Das Wasser war dunkel, fast schwarz und wehmütig strich die Brandung über den Sand. Ein paar der Schattenbäume wuchsen am Ufer, streckten ihre gebogenen Äste zum Meer hinaus und formten eine Art Bogen um einen Lichtfleck am Horizont. Lichtfleck? Nein, dachte sie. Licht schimmerte nicht so seltsam kalt.

Der Traum zog einen weiteren Faden, der sie auf die Beine brachte und noch einen, der ihren Blick nach rechts manövrierte.

Ihr Körper zuckte im Schlaf, aber das Traum-Ich zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von der Gestalt, die nur wenige Schritte von ihr entfernt auf einem Steinbrocken saß. Der muskulöse Körperbau ließ darauf schließen, dass es sich um einen Mann handelte. Aber die weite Kapuze des schwarzen Ledermantels an seinem Leib, verbarg das Gesicht.

Wer bist du, wollte sie fragen, konnte es aber nicht. Als würde ihr Unterbewusstsein sich sträuben, diese Frage zu stellen. Stattdessen wählte es eine andere aus.

„Warum bist du hier?“

Der Fremde rührte sich nicht.

„Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen könntest.“ Im Schloss erschauerte Aqua. Das Traum-Ich blieb neutral.

Seine Stimme war tief, autoritär und mit einem unterschwelligen Klang, den sie nur als „gefährlich“ bezeichnen konnte. Auch wenn man wirklich genau hinhören musste, um ihn wahrzunehmen.

„Du hast mir geholfen.“ Das hätte sie gefragt, ihr Unterbewusstsein jedoch stellte es fest.

Er lachte; leise und süffisant. Aber der Spott schien nicht ihr zu gelten. Er galt ihm selbst.

„Warum?“ Ihr Körper spannte sich an. Der Mann nahm sich viel Zeit, bevor er antwortete. Dabei hob er die Hand und zupfte am Rand seiner Kapuze, als befürchte er, sie könne ihm jeden Moment vom Kopf rutschen. Ein silbrige Strähne, die Aqua nur sah, weil sie ihn so durchdringend musterte, blitzte am Hals hervor.

„Sag du es mir.“

In der Stille, die darauf folgte, schien sich das Rauschen der Wellen allmählich in ein Flattern und schließlich in ein Dröhnen zu verwandeln. Aber ihr Traum-Ich und der Fremde blieben davon unberührt. Die Misstöne drangen wie durch Glas zu ihnen vor. Als befänden sie sich in einer Luftblase inmitten dieser kaputten, abgestorbenen Welt.

„Sieh mich an“, sagte sie plötzlich. Er schwieg, zog nur noch etwas fester am Kapuzensaum. „Zeig mir dein Gesicht!“ Sie hatte geschrieen und ihr Körper im Schloss bäumte sich auf, als würde eine unsichtbare Kraft daran zerren.

Das Dröhnen wurde lauter und Aqua konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass die Traumwelt um sie herum verwischte, zersprang, in sich zusammenstürzte.

Mit der Anmut und Gelassenheit eines Panters erhob sich der Mann und drehte sich zeitlupenartig zu ihr herum. Ihr Körper hielt die Luft an. Das Traum-Ich gefror.

„Wieso willst du es sehen, wenn du doch genau weißt, was dich erwartet?“, fragte er und es klang… sanft? Vertraut und verstörend sanft.

„Wer bist du?“, flüsterte sie jetzt doch, in dem Moment als Körper und Geist wieder eins wurden. Seine Antwort wurde mit dem Sturm davon gerissen, aber Aqua hörte sie. Begriff jedes einzelne Wort. Und hielt sie so fest wie möglich, als der Traum zerstäubte.

„Ich bin, was du liebst. Und ich bin, was du hasst.“

Gebrochenes Licht

„Terra!“

Sie stieß es so laut hervor, dass sich ihre Stimme überschlug. Noch während sie die Decke beiseite riss, tastete sie nach den Schuhen, fand sie, quetschte hektisch die Füße hinein.

Und dabei kreisten noch immer die Worte des Fremden in ihrem Kopf. Der Tonfall, in dem er sie gesagt hatte… sein weiches Flüstern. Sie warf den halben Brotlaib und die Wasserflasche unter die Decke und eilte dann so schnell wie nur möglich aus dem Schloss.

Im Park herrschte Grabesstille; noch gespenstiger als vorher, wenn es denn zu übertreffen war. Ihre Schritte polterten auf dem Weg, im Gleichschlag mit ihrem Herzen; unrhythmisch, stotternd.

„Terra“, murmelte sie immer wieder zwischen den gehetzten Atemzügen. „Terra.“

Etwas stimmte an der ganzen Sache nicht, aber sie wusste, dass es er es gewesen war – im ersten Teil des Satzes. Der Fremde hatte ihn gesprochen, als würden zwei Personen darin leben. Aqua versuchte, nicht mehr darüber nachzudenken, sondern sich nur noch auf das Laufen zu konzentrieren. Noch schneller. Sie strauchelte, stolperte einige Male auch, raffte sich wieder auf. Tief hängende Äste zogen an ihr, schnitten ihr ins Fleisch… Egal.

Ziellos trieb sie sich zu noch mehr Eile an, spürte nur eine unbestimmte Ahnung in sich aufkeimen, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, ihm näher zu kommen.

Terra.

Auf einmal schoss Übelkeit in ihren Magen und sie lehnte sich – ungern – an den Stamm eines Baumes, holte zittrig Luft, hielt sich den Bauch und wartete, dass etwas passierte. Schließlich spuckte sie nur Galle ins Gras; zum Glück. Aber warum verkrampfte sich überhaupt alles so in ihr? Was war hier los? Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und blickte zur Lichtung hinüber. Schwarze, unkontrolliert zuckende, Fühler drangen aus den Schattenflecken am Boden, dann ein runder Kopf und ein Rumpf mit unförmigen Gliedmaßen. Sie unterdrückte ein Stöhnen, beschwor das Schlüsselschwert ihres Meisters und griff blitzschnell aus dem Hinterhalt an.

Als nur noch Dunst über die Lichtung verteilt wurde, hob sie schwer den Kopf und warf ihn in den Nacken. Kein Mond. Keine Sterne. Lichtloses Nichts.

Lebendig begraben…

„Bitte…“, presste sie hervor. „Hör auf, dich vor mir zu verstecken.“ Nichts geschah und sie glaubte schon, er würde sie wieder im Stich lassen, als eine Silhouette in ihrem Augenwinkel erschien. So langsam ihre Beherrschung es zuließ, drehte sie sich um. Zwischen den Bäumen stand eine schwarz gewandete Gestalt, verwischend wie ein Zerrbild. Aqua rührte keinen Finger, aus Angst, er würde erneut fliehen.

Sie musste sein Gesicht nicht sehen, vielmehr konnte sie seiner Haltung entnehmen, was in ihm vorging. Sie kannte diese aufrechte unerschütterliche Würde im Oberkörper, das Neigen des Kinns, die geballten Fäuste, alles… Sie biss sich auf die rissige Unterlippe und die Düsternis unter der Kapuze neigte sich nur leicht zur Seite, als könne er ihren Anblick nicht ertragen. Und in erschreckender Plötzlichkeit bildete sich hinter ihm eine zischende schwarze Wolke. Aqua dachte fieberhaft nach, wo sie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Denn das hatte sie zweifellos.

Der Fremde schritt rückwärts, bis sein Körper vollständig darin eingetaucht war und blieb. Sie ließ das Schwert verschwinden und trat zögernd näher.

Die wabernde Masse vor ihr verströmte eine unangenehme Kälte – wie entseelt. Aber wenn sie ihm nicht folgte, kehrte er vielleicht nie mehr zurück. Etwas an ihr entwaffnete ihn und dass dieser Umstand nicht seiner Idee entsprach, konnte selbst ein Blinder erkennen. Aber er hatte ihr diese Tür aufgeschoben. Was bezweckte er bloß mit alledem?

Sie streckte eine Hand aus und zuckte zurück, als die Schattenzungen des Portals darüber strichen. Wie Nadelstiche, eiskalt, sogar im Blut noch fühlbar. Sie atmete tief durch, nahm allen Mut zusammen und stürmte hinein.

Nach einigen Schritten wurde es heller, aber Aqua hielt die Augen geschlossen. Zu unerträglich waren die frostklirrenden Winde, die ihre nackte Haut peitschten, zu laut die Stimmen der dunklen Verführung, zu allmächtig der bittersüße Duft der Finsternis. Die alten Traumfetzen brachen unter ihrer Hülle hervor, strömten ungehindert in ihr Bewusstsein ein.

Ven, fallend aus einer Untiefe, der Körper von Eiskristallen gesprenkelt. Sie konnte ihn nicht auffangen, ehe er am Boden aufkam und in schillernden Regen explodierte, den der Sturm verteilte.

In alle Winde verstreut. Unauffindbar.

Eraqus, den toten Blick auf das Schlüsselschwert gerichtet, es entzweibrach und ohne ein Wort zu Boden warf. Sie konnte ihn nicht aufhalten, ehe er sich abwandte und in den Abgrund der ewigen Nacht desertierte.

Für immer verloren. Unverabschiedet.

Und Terra, der Blick von Qual gezeichnet, ihre Hände, die sich an seine Wangen schmiegten, als er anfing zu flackern. Sie konnte ihn nicht festhalten, ehe er zwischen ihren Fingern schmolz, zerrann und im Boden endgültig versickerte.

Lebendig begraben. Unerreichbar.

Das letzte, was sie wahrnahm war eine weitere schwarze Wolke direkt vor ihr. So nah, aber nicht nah genug. Die Augen hatten sich geöffnet, um sie zu sehen, und sich nun wieder zu schließen… unabänderlich.
 

Terra, bitte sag mir. Was wird aus uns?
 

„Du kannst den Schmerz schlucken so oft du willst. Er häuft sich unweigerlich in deinem Herzen an und verschwindet nie. Bis irgendwann kein Platz mehr ist.“

Der Übergang von schwarz zu weiß war so nahtlos, dass Aqua nicht wusste, ob sie wirklich ohnmächtig geworden war oder nur in einer Art Halbschlaf die Wolke erreicht hatte. Die schreckliche Atmosphäre war jedenfalls abgeklungen.

Unter ihr breitete sich makellos glatter, kühler Boden aus; weißer als frischer Schnee. So rein, dass es in den Augen wehtat. Sie erlaubte sich ein Stöhnen, bevor sie sich aufsetzte und fragend umsah.

Ein Zimmer. Komplett in diesem penetranten Weiß gestrichen. Außer einem unbequem wirkenden Bett befand sich nichts weiter darin. Es war so unpersönlich, steril und nichts sagend wie nur möglich, aber warum wurde Aqua dann nicht das Gefühl los, jemand würde hier wohnen? Vorsichtig kam sie auf die Beine, durchmaß den Raum mit wenigen Schritten und blieb an der Fensterfront stehen, hinter der sich ihr eine ähnlich triste Schwärze wie im Reich der Dunkelheit darbot. Und trotzdem… konnte es sein, dass sie sich nicht mehr dort befand? Allein die Vorstellung hätte sie in Tränen ausbrechen lassen können. Sie berührte mit den Fingerspitzen das Glas. Da unten war eine Stadt zu sehen. Übervoll mit künstlichen Lichtquellen, als hätte jemand einen verzweifelten Ersatz für die Abwesenheit von echtem Licht schaffen wollen.

Was für ein abstrakter Ort.

Eine schwache Erinnerung drang zu ihr durch. Hatte vorhin, als sie geglaubt hatte, bewusstlos zu sein, nicht jemand etwas zu ihr gesagt? Gleichzeitig mit der Erkenntnis, wurde sie sich dem Blick im Rücken gewahr und wirbelte herum.

Offenbar hatte er schon die ganze Zeit dort gestanden. Wieso nur war ihr das entgangen? Lag es daran, dass dieser Mann keine greifbare Aura besaß? So als… ja, so als würde er nicht wirklich existieren… Aqua schauderte.

Er sah sie lange an und es gelang ihr nicht, etwas zu sagen, geschweige denn zu bewegen. Als ließe der Blick, den sie nicht mal sah, sie versteinern.

Nach der schieren Unendlichkeit ihres Schweigens, kam er unvermittelt auf sie zu. Widerspruchslos, steif, ließ sie geschehen, dass er ihre Schultern packte und sie rückwärts schob. Gerade als ihr linker Hacken gegen die Wand tippte, verstärkte er plötzlich den Druck und stieß sie hart dagegen.

Die unerwartete Vehemenz rüttelte sie wach, befreite sie aus dem Bann, in den seine Ausstrahlung sie gewoben hatte. Sie nutzte die Gunst der Stunde, dass er direkt vor ihr stand und streifte ihm rasch die Kapuze vom Kopf.

Silbernes Haar wurde entblößt, ein nahezu desinteressierter Zug um den Mund und ein Paar – auf beängstigende Art – wunderschöne, goldene Augen. Sie hatte vorgehabt, sich von ihm loszumachen, aber jetzt verwandelte sie sich erneut in eine starre Marionette und war unfähig, sich selbst zum Schweigen zu bringen. Das Wort sprang ungehindert, und von Fassungslosigkeit befallen, aus ihrem Mund.

„Terra!“ Bei dem Namen zuckte es kaum merklich in seinem Mundwinkel. Er behielt die Hand an ihrer rechten Schulter, aber mit der anderen packte er ihr Kinn und zwang es unsanft höher, damit sie ihn nicht länger ansehen konnte.

„Wage es nicht, mich noch einmal mit diesem Namen anzusprechen.“ Obgleich seine Stimme ruhig und gedämpft blieb, schnitt ihr die Schärfe darin glasklar ins Bewusstsein. Es lief ihr kalt den Rücken runter. „Erst nimmst du dir die Impertinenz heraus, dich in meine Träume zu schleichen und jetzt dringst du ungebeten hier ein.“ Ungebeten?

„Du“, bekam sie hervor und wand sich in seinem Griff, bis sie ihn wegstoßen konnte. „Du hast mich doch hergebracht!“ Er musterte sie mit regungsloser Abschätzigkeit. Das machte sie krank. Dieses Gesicht so zu sehen; gleichgültig, arrogant, herablassend.

„Wer bist du?“, knurrte sie. Der Mann neigte das Kinn noch tiefer und lächelte auf eine Art, die ihr das blanke Grauen einflößte.

„Du glaubst ernsthaft, das würde ich dir verraten?“ Sie hasste es, aber seine schneidend verächtlichen Worte rammten ihr einen eiskalten Stachel ins Herz. Sie biss so fest auf die Unterlippe, dass ein Blutstropfen die Spitze ihres Eckzahns umfloss, zwang sich aber, ihn weiter anzusehen.

Diese Augen. Es war Terras Gesicht, aber nicht seine Augen und das war der entscheidende Fehler daran. Nur warum fühlte sie dann dieses dunkle, ruchlose Verlangen in ihrem Inneren? Warum zuckten ihre Finger, als sich kurz die Vorstellung, ihn noch mal zu berühren, in ihren Kopf stahl?

Ein Bild tauchte vor ihr auf. Das Gesicht jenes Mannes, den Terras Körper und Xehanorts Herz darin, geschaffen hatten. Aber der Mann vor ihr war nicht derselbe. Oder? Irgendetwas war verkehrt, widersprüchlich. Aber was?

„Wenn du mich als lästig ansiehst“, begann sie leise und beobachte genau, wie ihre Worte sich auf seine Züge auswirkten, „warum hast du dann sichergestellt, dass ich überlebe?“

Er war ein hervorragender Verbergungskünstler, aber eine Reaktion gewann sie ihm doch ab. Ein schnaubendes Lachen, von Spott verzogen für einen Außenstehenden, für sie mit einem Zwischenton namens Verzweiflung bemalt. Er konnte sie nicht täuschen.

„Das habe ich nie getan.“ Und anlügen auch nicht.

Ihre nächsten Worte wählte sie mit Bedacht, um ihn noch weiter aus der Reserve zu locken.

„Und wie bin ich dann hergekommen? Du müsstest wissen, dass jeder, der auch nur halbwegs bei Trost ist, jegliche andere Welt dem Reich der Dunkelheit vorziehen würde.“

Ihr war bewusst, dass ihr Eindringen ihn provozierte. Aber was wollte er schon tun? Ihr mit bloßen Händen den Hals umdrehen? Das sollte er erstmal versuchen. Sie hatte ihn schon einmal besiegt. „Wenn du mich also tot sehen willst, hättest du mich auch einfach dort allein lassen können.“

Sie hörte, wie seine Zähne knirschend aufeinander trafen und schluckte, um die aufkommende Furcht zu vertreiben. Wie machte er das nur, dass sie sich in seiner Gegenwart so unbedeutend und klein vorkam? Doch mit jedem ihrer Worte hatte seine Maske weitere Furchen bekommen. Es fehlte nicht mehr viel, bis sie ganz abfallen würde.

Beherzt ging sie das nächste Risiko ein und kam nach wenigen Schritten direkt vor ihm zu stehen, sodass sie die Dunkelheit, die ihn umgab, riechen konnte. Dieser grauenhaft köstliche Duft, wie süßer Rauch, der im Rachen kratzt, aber auch so unwiderstehlich schmeckt. Und darunter, kaum wahrnehmbar, die feine Note von Erde…

Jemand, der nicht genau verfolgt hatte, was während Aquas Sätzen in seinem Gesicht geschehen war, würde sagen, er sah noch immer gleichgültig aus. Aber sie erkannte die gut versteckten Hinweise auf das, was er dachte.

„Ich weiß, dass du da drin bist…“, flüsterte sie und legte behutsam eine Hand an seine Wange. Er wich nicht aus, aber sie registrierte das Beben, das durch seinen Körper ging. „…Terra.“

Ihr blieb nur noch so viel Zeit, zu sehen, wie seine Augen erst in unkontrollierbarer Wut aufblitzen und dann – für weniger als den Bruchteil einer Sekunde – blau wurden. Dann packte er das Gelenk der Hand, die an seiner Wange ruhte, so fest, dass sie vor Schmerz aufkeuchte. Ein Arm schloss sie um ihre Taille und mühelos hob er sie hoch, drehte ihren Rücken zur Wand und stieß sie grob dagegen.

Aqua versuchte sich zu befreien, aber der Mann war unfassbar stark. Er griff auch nach dem anderen Handgelenk, zerrte ihre Arme über den Kopf und näherte sich ihr, bis nur noch ein Blatt zwischen ihre Lippen gepasst hätte. Ausweichen befand sich nicht mehr im Bereich des Möglichen. Die goldfarbenen Augen bohrten sich in ihre.

Terra…“, wisperte er drohend und der Name klang wie ein Schimpfwort, „wird dir jetzt nicht mehr helfen können.“ Ehe sie die Botschaft verstanden hatte, presste er seine Lippen auf ihre. Sie wand sich, biss ihn, kämpfte wie eine Besessene, aber das schien ihn nur noch mehr zu reizen. Sie schmeckte Blut, als er ihre Lippen aufzwang; sein Blut, das durch ihre Zähne hervorgerufen worden war.

Und obwohl sich alles in ihr dagegen warf, gab es einen schändlichen Fleck auf ihrem Herzen, der nach mehr verlangte. Der sich ihm und seiner rauen Leidenschaft hingeben wollte, der mehr von seinem Blut kosten, mehr von seinem Körper fühlen wollte…

Nein!, schrie es in ihr, aber der Protest wurde von einem Schauer verdrängt, als seine freie Hand ihren Oberschenkel packte und das Bein um seine Hüfte schlang, während er sich verboten eng an sie schmiegte.

Sie bekam kaum mit, dass sich Tränen in ihre Augenwinkel gestohlen hatten. Aber eine davon rann knapp neben ihrer Nase hinunter, mitten in den brutalen Kuss hinein. Und ließ ihn innehalten. Jäh löste er sich von ihr, die Lippen ein Spiegelbild dessen, wie sich ihre eigenen anfühlten; flammend rot von Blut und dem Gefecht ihrer Münder.

Ausgelaugt von dem inneren und äußeren Kampf sank ihr Hinterkopf gegen die Wand, während sie ihn kraftlos ansah. War das, was sie glaubte zu erkennen, echt? Oder spielte das ermattete Bewusstsein ihr einen Streich? Es machte den Anschein, der Mann würde mit sich ringen; nicht fassen können, was er gerade getan hatte und gleichzeitig nicht den Funken von Reue dafür empfinden.

Für einen Moment traute sie der Hoffnung, aber dann gewann das zweite Gesicht, das das nicht Terra gehörte, die Oberhand und zeichnete sacht die Kontur ihrer Halsbeuge nach. Man hätte es als zärtliche Geste deuten können, doch das boshafte Lächeln, das dabei auf seine Züge glitt, jagte ihr pulsierendes Entsetzen in die Knochen.

„Ich werde dir etwas verraten, meine Schöne…“, raunte er und nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen die Finger. „Um den letzten Widerstand dieses törichten Jungen zu vernichten, wäre mir jedes Mittel recht. Und Folter soll bekanntlich am verwundbarsten machen…“

Sie verstand nicht, als er plötzlich den Verschluss in ihrem Nacken löste, sie wieder hochhob und auf das Bett warf. Er beugte sich über sie, legte erneut die Lippen auf ihre, während seine Hände, sein Körper, jede Berührung fordernder und resoluter wurde.

Da begriff sie und nahm alle Kraft zusammen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Sie kratzte, schlug, trat, biss immer wieder, sodass sie auch sich selbst in Mitleidenschaft zog. Aber es hatte keinen Sinn. Er war so viel stärker als sie. All die Tage im Reich der Dunkelheit verlangten doch ihren Preis…

Er würde sie vergewaltigen, um ihm wehzutun. Er schreckte vor nichts zurück, um das, was von Terra noch in ihm lebte – und kämpfte – auszumerzen. Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste etwas unternehmen! Und plötzlich hatte sie auch eine Idee.

Sie ließ sich unter ihm erschlaffen, als hätte die Gegenwehr ihre Grenzen erreicht, wartete, dass er unvorsichtig wurde. Er schmunzelte an ihren Lippen und seine Berührungen verloren etwas an Gewalt. Als er ihren Hals zu küssen begann, so zärtlich, genauso wie Terra, konnte sie die neuen Tränen nicht aufhalten. Er hatte sich dem Mantel entledigt und durch die verschwommene Sicht betrachtete sie das Spiel seiner Arm- und Schultermuskeln. Behutsam ließ sie die Hand in ihre Tasche gleiten, griff zu und zog die Faust wieder hervor, als er gerade dabei war, ihr Korsett aufzuschnüren.

„Terra, bitte!“, rief sie und öffnete die Faust. Wie erhofft fing der Wegfinder an zu leuchten und der Mann wich zurück, krampfte sich zusammen, als würde ihn etwas von innen heraus verbrennen. Aqua wollte den Augenblick nutzen, um unter ihm durchzuschlüpfen und die Flucht zu ergreifen, aber er hielt sie zurück, versuchte ihr den Glücksbringer zu entreißen.

Noch einmal biss sie die Zähne zusammen und holte alles, was an Energie noch übrig war, aus ihren Ressourcen heraus.

Bei ihrem Gerangel fuhr ihre Hand über seine Brust und sie spürte mehr, als sie sah, dass die scharfe Kante ihres Wegfinders seine Haut aufschnitt. Augenblicklich ließ er von ihr ab. Taumelte rückwärts, eine Hand auf die Wunde gedrückt, als würde der kleine Kratzer ihm Höllenqualen bereiten. Und Aqua ahnte, wieso.

Immer wieder lohte Blau statt Gold in seinen Augen auf. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, in der sie nur da kauerte und zusah, wie sich vor ihr ein Akt der inneren Rebellion abspielte. Aber als es vorüber war, stand er mit tief geneigtem Kopf da, eine Hand auf die Augen gelegt, sodass sie nicht wusste, wer die Auseinandersetzung für sich entschieden hatte. Bis er unvermittelt einen Arm ausstreckte und neben der Tür wieder eine dieser schwarzen Wolken entstand. Erschrocken kroch Aqua rückwärts, nicht mehr Herr über ihren Körper, der vor Angst fast verrückt wurde.

Indes war er wieder näher getreten, den gefühllosen Goldblick auf sie geheftet, umfasste mit eisernem Griff ihren Arm und zog sie schroff auf die Beine.

„Du hattest Recht, ich hätte ich dich dort verrecken lassen sollen. Aber es ist nie zu spät, einen Fehltritt auszugleichen.“ Mit diesen Worten beugte er sich ein letztes Mal herab um ihr einen harten Kuss aufzudrücken und die verbliebenen Blutspuren von ihren Lippen zu lecken. Dann wurde sie heftig zur Seite, in die Wolke hinein, gestoßen.

„Terra!“, schrie sie mit Tränen erstickter Stimme, sah aber nur noch den Rücken und das silberfarbene Haar des Fremden, das allmählich schwand, als sich die Finsternis davor schob.

Es wurde still. Aqua wusste, dass sie sich zusammenreißen musste. In diesem Zustand war sie besonders anfällig für die Dunkelheit, aber… aber…

„Wieso?“, schluchzte sie, den Wegfinder an die nasse Wange gelegt. „Wieso nur?!“

Zu spät. Es gab keine Möglichkeit mehr, es aufzuhalten. Die Risse waren zu tief. Alles bebte.

Sie sank vornüber, vergaß, was eben geschehen war, vergaß alles davor, ihr Leben, ihre Aufgabe, jedes Wort und… zersprang.

Das wahre Licht

„Ich könnte es nicht ertragen, einen von euch an die Dunkelheit zu verlieren.“

„Natürlich. Ich würde nie zulassen, dass so etwas mit ihm geschieht.“
 

„Er ist nicht so schwach, wie Ihr denkt.“
 

„Dass er deinen Meister beerdigt hat, geht dir doch wohl gegen den Strich, oder?“

„Terra wird dir beweisen, dass er stark genug ist!“
 

„Ihm wird nichts passieren. Er wird der Dunkelheit nicht erliegen.“
 

„Terras Herz wurde ausgelöscht. Ausradiert von der Dunkelheit in ihm.“

„Die Dunkelheit darf dich nicht bekommen!“
 

„Vielleicht sollte es ja auch hier enden, hier in der Dunkelheit…“
 

So fühlte es sich also an.

Wenn die Finsternis ihren Zugang bekommen hatte und ins Herz hineinströmte. Wie ein Virus, der in kürzester Zeit alles befiel.

So also war es Terra ergangen…

Aqua rührte sich nicht. Warum auch? Es machte keinen Unterschied mehr, ob sie lief oder liegen blieb.

Was war geschehen? Sie wollte sich erinnern, aber jedes Mal, wenn die Bilder in greifbare Nähe rückten, sorgte ein Stechen im Kopf dafür, dass sie wieder entglitten. Konnte die Dunkelheit tatsächlich Erinnerungen wegwaschen? Oder war es ihr eigener Geist, der ihr verbot, sich den Ereignissen zu entsinnen? Aus Angst vor irgendetwas?

Sie schloss die Faust um den Wegfinder, der in ihrer Hand lag. An einer der spitzen Ecken klebte etwas, wie fest getrockneter Schmutz. Erneut tastete sie in ihrem wirren Gedächtnis nach einem Hinweis darauf, wie es dort hingekommen war. Aber die schrillen Blitze, die sie durchzuckten, vertrieben alles, was sich zu materialisieren begann.

Das hatte keinen Sinn. Also hob sie möglichst schonend die schweren Lider und musste alle Konzentration aufbringen, um die Bäume, den Erdboden und den schwarzen Himmel zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Sie war wieder beim Palast.

Wieder? War sie denn weg gewesen?

„Au“, wimmerte sie und die Erinnerungen lösten sich von neuem auf. Zwecklos. Sie musste sich wohl oder übel mit dem zufrieden geben, was sie noch wusste.

Ein bizarrer Traum, eine Gestalt in schwarzem Mantel und… Terra?

„Terra…“ Sie legte den Wegfinder auf ihr Herz, unvorstellbar erleichtert, dass es ihr gelang, sein Gesicht komplett hervorzurufen. Nur alles, was nach dem Traum geschehen sein musste, hatte sich unzusammensetzbar zergliedert.

Sonderbar. Sie hatte geglaubt, die Dunkelheit würde sie verschlingen… Aber es schien noch immer ein kleiner Rest Licht in ihrem Herzen zu glimmen. Vielleicht war das kein Zufall und sie hatte die Erinnerungen wie als Effekt eines Schutzmechanismus verloren. Um diesen schwachen Funken zu bewahren… Und wenn es so war? Konnte das dann ein Zeichen dafür sein, dass jemand sie dazu aufforderte, weiterzumachen? Verdammt noch mal nicht aufzugeben? Weil sie dem Ziel näher kam…

Wie zur Bestätigung schimmerte der Glückbringer zart auf.

„Genau…“, murmelte sie mit einem halben Lächeln und dachte an die Worte zurück, die sie damals an jenem See in die Asche geschrieben und die der unspürbare Wind sicher längst verweht hatte.

Es gibt noch Menschen, die auf mich warten und Menschen, die mich vermissen.

Wieso war ihr das nicht früher klar geworden?

Sie war nicht allein. Das war sie niemals gewesen. All jene, die sie liebte, waren diesen Weg mit ihr gegangen und würden es auch weiterhin tun.

Sie erhob sich, hielt den blauen Talisman hoch und konnte durch das Glas sehen, wie die Wolken am Himmel ein klein wenig aufbrachen und Farbstiche durchscheinen ließen. Es war nicht vorbei. Noch lange nicht.

Und auch wenn sie zersprang, es gab sehr wohl jemanden, der sie dann wieder zusammensetzen würde. So oft es nur nötig war.

Sie selbst.
 

Wenn alles

um dich herum

in den Schatten versinkt,

öffne die Augen

und fürchte dich nicht.

Denn erst

in der tiefsten

Dunkelheit

findest du

das wahre Licht.
 

Die Tage zogen dahin. Jahre verstrichen in einem Blinzeln, Sekunden nach tausenden Schritten. Und alles wirbelte ineinander.

Seit Aqua im Reich der Dunkelheit war, kam es ihr so vor als balanciere sie auf einem Drahtseil. Unter ihr kein Netz, sondern der schwarze Nebel der Finsternis, in den sie ohne Wiederkehr versank, würde sie fallen. Nur einen falschen Schritt tat.

Die Arme ausgestreckt, hatte sie zitternd einen Fuß vor den anderen gesetzt und sich nicht erlaubt, hinunter zu sehen, aus Angst das Gleichgewicht zu verlieren. Das Ende war zu weit entfernt gewesen, um es zu erkennen.

Und sie hatte fest geglaubt, nur den Abschluss des Seils erreichen zu müssen, damit alles wieder gut wurde. Aber nur durch den Sturz war ihr klar geworden, dass das Ziel nicht dort gelegen hatte. Wahrheit ist nur selten sichtbar, weil sie sich hinter dem Offensichtlichen versteckt hält.

Sie hatte erst fallen müssen, um sich ihrer starken Flügel bewusst zu werden. Nun konnte sie fliegen und musste nicht länger mutlos und erschöpft versuchen, die Balance halten.

Das würde sie nicht noch einmal vergessen.

Und eines Tages, es schien kein besonderer zu sein, ging sie über eine Steppe aus schwarzem Sand, auf der überall verstreut Felsen lagen, als ein leises Geräusch an ihre Ohren drang.

Eine seltsame Vertrautheit lag darin, sodass sie ihre Schritte beschleunigte. Die wehmütige Melodie wurde lauter, bekam festere Umrisse, bis Aqua sich sicher war, sie zu erkennen.

Es war das Rauschen von Wellen.

Sie blieb vor einer Steinbarrikade stehen, die zu hoch aufragte, um das dahinter liegende sehen zu können. Aber das Säuseln der Brandung war jetzt so nah, dass ihr Herz mehrere Sprünge machte. Sie eilte am Wall entlang, bis sie schließlich eine Lücke fand, die breit genug war und schob sich hindurch.

Auf der anderen Seite schlug ihr der kühle Küstenwind entgegen. Am Horizont flimmerte noch immer der Lichtpunkt, der keiner war. Alles war unverändert, als hätte die irreale Zeit an diesem Ort hier stillgestanden.

Es war das gleiche Ufer. Der gleiche traurige Küstenstrich, den sie damals in ihrem Traum gesehen hatte und…

Sie hielt den Atem an. Auf dem Stein – genau demselben Stein – saß eine Gestalt, verhüllt von einem schwarzen Ledermantel, und sah zum Meer hinaus. Aqua schloss die Augen, fühlte deutlich den Druck des Wegfinders in der Tasche und öffnete sie dann entschlossen wieder.

Sie straffte sich – hob das Kinn, Augen geradeaus, nicht blinzeln – und ging auf den Mann, der einsam am Strand saß, zu.

Eingebrannte Memoiren

Er verließ sein Zimmer mit einem Seufzen.

Das tat er selten, wenn er allein war und noch seltener – nein, nie – in Gesellschaft anderer. Gedankenverloren strich er über seine Arme und Schultern, wo die Kratzspuren des Mädchens prangten und allein der Gedanke an diese Narben, erfüllte ihn mit einer undefinierbaren Gier nach mehr von ihrem Temperament. Auch wenn er wusste, dass es nicht sein eigenes Bewusstsein war, das danach begehrte, oder das so oft im Schlaf ihren Namen hauchte.

Er hatte geglaubt, die Frau, die dieser Schwächling so närrisch liebte, zu beschmutzen, würde ihn – beziehungsweise was noch von ihm übrig war – derart wahnsinnig und dadurch angreifbar genug machen, um ihn endlich ganz zu vernichten. Aber er hatte sich getäuscht. Hatte erneut den Fehler begangen, den Jungen zu unterschätzen. Seine Wut war nicht mehr die gleiche wie früher. Sie war kontrollierter geworden, verzehrte nicht länger nur sich selbst, sondern schlug Ziel gerichtet Löcher in die Käfigwände.

Aber das spielte keine Rolle. Er hatte ihn wieder in sein dunkles Verlies zurückgeworfen und würde sich ein andermal um seine endgültige Hinrichtung kümmern.

Eine Bewegung im Schatten zu seiner Rechten ließ ihn anhalten. Er musste nicht hinsehen, um seinen Beobachter zu identifizieren, tat es aber trotzdem.

Geschmeidig glitt die Nummer II der Organisation aus dem Dunkel, das Gesicht wie üblich eine Fassade aus Hohn und Sarkasmus. Dieser Mann konnte nach außen hin als gefährlich, aber keinesfalls als so intelligent, wie er eigentlich war, erkannt werden. Xemnas hatte jedoch nie zu jenen gehört, die sich davon täuschen ließen. Trotzdem blieb er in Xigbars Anwesenheit stets auf der Hut; sie umkreisten aneinander schon so lange und zugegebenermaßen blieben sie dabei immer auf selber Augenhöhe, auch wenn ihm das missfiel.

„Damit wäre das Rätsel also gelöst“, lachte er und hob in typisch provokanter Geste das Kinn. „Wobei mir schleierhaft ist, dass du sie immer einen Freund nanntest.“ Sein Grinsen wurde anzüglich. „Die Bezeichnung ‚Freund’ scheint mir nämlich untertrieben.“

Xemnas antwortete nicht, war sich aber dem Blick bewusst, den Xigbar auf seine Brust abschoss, wo knapp über dem Ausschnitt des Mantels der Schnitt zu sehen war. Selbstverständlich. Einem Scharfschützen entging so etwas nicht. Ihm entging im Prinzip gar nichts und viele gaben sich dem großen Irrtum hin, ihn diesbezüglich unterzubewerten.

„Es ist ihre Schuld, nicht wahr?“, fragte er betont salopp. Xemnas warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihn natürlich nicht einschüchterte. Damit war er in jeder Hinsicht eine Ausnahme in der Organisation. „Dass wir den Raum des Erwachens nicht finden können. Aufgrund des Mechanismus im Schloss. Du könntest ihn nur finden, wenn du eine Erinnerung daran hättest. Aber die gehört einzig und allein dem süßen kleinen Schmutzfink, ist es nicht so?“ Seine Fragen waren lediglich die gut getarnten Varianten von Feststellungen.

Er schwieg und wandte sich zum Gehen, aber Xigbar trat ihm unbefangen in den Weg.

„Ich bevorzuge es ja, selbst die Teile zusammenzusuchen und lasse mich eher selten dazu herab, nachzufragen. Aber hinsichtlich dessen überraschst du mich. Sie ist der Schlüssel zu jenem Raum, den wir so lange gesucht haben. Warum hast du sie gehen lassen?“

Zorn flammte in den Augen des Superiors auf und erst da trat der Schütze den Rückzug an, wich mit erhobenen Armen zur Seite. Aber das selbstgewisse Lächeln wischte es nicht von seinen Lippen.

„Das geht dich nichts an.“ Es war unmissverständlich, dass dies das letzte war, was Xemnas dazu sagen würde. Er ließ Xigbar stehen und verschwand in den Tiefen des Schlosses, zu Orten, die außer ihm kein anderes Mitglied kannte.

„Als ob“, flüsterte der Einäugige amüsiert und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die weiße Wand hinter sich. „Dann hatte ich mich wohl getäuscht. Du bist tatsächlich nicht Terra…“
 

Was er jedoch nicht wusste und nie erfahren würde, war, dass Xemnas nach einer Weile noch einmal stehen blieb. In einem dunklen Seitengang des Schlosses, wo selten jemand hinkam.

Dass er die Handschuhe von den Händen streifte und sie im schwachen Licht betrachtete, die Wärme von Aquas Haut noch daran haften fühlte und doch nur eines dachte:

Meine Hände sind kalt.
 

~ Ende ~



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (35)
[1] [2] [3] [4]
/ 4

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  KleinerKolibri
2013-04-25T04:38:57+00:00 25.04.2013 06:38
Alter...
Wie du ihre Gefühle und die Umgebung beschreibst.
Ich respektiere es ebenso, wie du es schaffst, mit einem Charakter so ekndrucksvoll und auch viel zu schreiben.
Es ließ sich schön lesen und lud auch zum mitfühlen ein.
Hoffentlich kann Aqua der Dunkelheit entmommen :/

Von:  KleinerKolibri
2013-04-25T04:20:55+00:00 25.04.2013 06:20
Da ich eine bin, die, wenn sie denn mal eine FF ließt, auch jexes Kapitel kommentieren muss, werd ich das bei dir aucb mal machen xD

Also der Prolog ist schön geschrieben.
Ein süßer Vorgeschmack auf das was kommt x3
Von:  Xaris
2012-10-27T14:03:40+00:00 27.10.2012 16:03
Q.Q *Herzinfakt* Hab schon auf was neues gehofft <3 aber schön, dass dir deine beendeten Storys immernoch am Herzen liegen. <3
Von:  Jull
2012-06-29T20:25:28+00:00 29.06.2012 22:25
Oh mein Gott. Ja ähm - ich liebe dich, ganz ehrlich. Ich konnt mich gar nicht mehr losreißen von deiner Geschichte.
Ich bin immer sehr verzweifelt auf der Suche nach TerraxAqua Fanfictions (neuerdings Deutsche, Englische hab ich auch schon einige durchforstet hehe), und ich glaube ich hab sowas wie ein Masterpiece gefunden! Ich danke dir vielmals für die neuen Kopfkino-Szenen du du mir verpassen konntest und hoffe sehr, dass du diese Fanfic niemals niemals nie löschst! ;__;
Du hast einen ganz wunderbaren, sehr flüssig lesbaren Schreibstil und überraschst (sehr positiv!) doch mit so manch faszinierenden Umschreibungen.
Was ich sehr toll finde ist dass du nah am Geschehen der richtigen Geschichte bleibst und dabei viel eigenes mit eingebracht hast, das gefällt mir sehr. Ich lese häufig Geschichten wo einfach die Charaktere übernommen werden und auf den Rest, auf gut Deutsch - hust geschissen hust - wird. Und bei dir war alles stimmig, jeder einzelner Charakterzug war so passend und, huff, einfach toll!
Nochmals danke dafür. ;Ä;!
Von:  Gen-chan
2012-04-10T18:20:03+00:00 10.04.2012 20:20
soooo ich hab jetzt alles durch. Also ich muss sagen ich bin momentan seid Tagen auf TerraxAqua tripp und da kommt diese FF zur richtigen Zeit xD
Ich mag deine schreibweise sehr, konnte mir richtig die Szenen vorstellen, vor allem beim Xemnas, als er sein Kopf so gesenkt hatte und sie so finster anlächelte...perfektes Bild im Kopf!
Ich finds schön wie die Gefühle, zwiespalt beschrieben sind, Handlungsgründe sind auch nachvollziahbar und vor allem das es in den Secret Endings mündet ist auch schön(herje sie ist da schon seid knapp 11 Jahren q,q)
und das higlight im Epilog: Xigbar der kein Blatt vor den Mund nehmt...nein spaß bei seite das eigentliche Highlight des Kapitels für mich war als Xemnas den Handschuh auszog und das gleiche denk und spürte was Aqua am Anfang und auch in der Erinnerungsszene tat.

soo, wäre mal fertig X3

mfg Gen-chan
Von:  Escria
2011-12-05T17:56:56+00:00 05.12.2011 18:56
Ich weiß gar net was du hast ist doch n tolles Ending *Q* zumal (denke ich) bei einer darkfic kein happy end sein muss obwohl ich ja eindeutig für happy ends bin aber ich denke es hätte nicht hineingepasst =_=

leider leider muss sie weiter im reich der dunkelheit rumgammeln... ( boah die worte sind gemein aber es stimmt doch /D ) gott sei dank ist sie noch rechtzeitig entkommen bevor er es irgendwie aus sie herausquetschen konnte, wo sich der raum befindet in dem ven schläft. ich denke sonst wäre die x-klinge ein weiteres mal erschienen... das wäre ungut X_X
shit jetzt bin ich abgeschweift... ich kann nur hoffen, dass in KH III aqua befreit wird, von sora oder sonst wem T_T sie soll nicht dazu verdammt sein ewig in der dunkelheit rumzuwandern, das hat sie nicht verdient.

ansonsten ein gebührender abschluss für diese tolle FF Ich werd mich auf jeden fall noch mit der terra version beschäftigen - fall colors (ist es richtig geschrieben?? ach keine ahnung /D)

ich hoffe ich kann rainbow so zeichnen wie's die FF verdient hat und geb einfach mein bestes ^__^
Von:  Escria
2011-12-05T17:25:43+00:00 05.12.2011 18:25
ich glaub ich muss gleich weinen Q_Q aqua ist so unglaublich stark... wunderschön geschrieben finde ich (eigentlich wie immer /D) es ist alles nachvollziehbar ^^

Von:  Escria
2011-12-05T14:58:39+00:00 05.12.2011 15:58
ho ho ho ho >D ich liebe es weil ich eine sadistin bin aber sie tut mir auch wirklich leid TT^TT
wir haben etwas gemeinsam :D wir quälen gerne die hauptcharas lol
aber gott sei dank ist es noch nicht soweit gekommen dass er sie wirklich... äääh ja du weißt was ich meine ^^°

und jetzt wieder im reich der dunkelheit =_=
Von:  Escria
2011-11-18T02:26:00+00:00 18.11.2011 03:26
Verdacht: Es war Xemnas!
gott ich liebe seine stimme °//A//°
das ist doch der strand an dem sich roxas und xemnas begegnet sind und roxas fragt wer er ist und er antwortet nur "alles was übrig ist oder vielleicht gab es nie mehr..." oder so ähnlich wahr das doch? O.o
gott ich hab im ersten moment gedacht du beschreibst das secret ending mit aqua und dem komischen kaputzenfatzke ich vermute mal es war ansem der weiSe :/
aber dann ist sie doch (verdacht) xemnas begegnet huhuuuuuuuuu

der letzte satzt war so...... *schnüff* QAQ
Von:  Escria
2011-11-18T01:33:04+00:00 18.11.2011 02:33
omgomgomgomgomgomgomgomgomgomgomgomgomgOMG!!!!!
°////////////°
das is zu geil für die welt :'D
etoooooooooooooo
das mit der szene am see, war einfach nur lust X3 ich hab mir jedes klitzekleine detail vorstellen können und es hat mir gefallen 8D

aber ich hatte echt hoffnungen dass sies miteinander tun und dann hat diese bekloppte glocke geläutet und ich bin halb ausgerastet QAQ DUMME DÄMLICHE GLOCKE *Glocke kick*

*räusper* öhöm UoU nun ja.... uhm und bei kleinen details musste ich lachen, da dachte ich nur "einfach putzig!" z.b als ven so arg um aqua wegen den flecken besorgt war und terra sich räuspern musst XD ich hatte das bild richtig im schädel XDDDD

ha ha /D und jetzt werd ich noch weiterlesen

chu~


Zurück