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Ausgerechnet Er...

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, hier der Epilog.
Ich hoffe, mir ist runder Abschluss gelungen. :)
Viel Spaß! Komplett anzeigen

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Über den Durst

„Warum ausgerechnet er?“, fragte der Mann. Seine Stimme war weder zu hoch, noch zu tief, aber es fehlte ihr an jeglicher Sanftheit, was ihn trotz seiner gewöhnlichen Stimmlage auf eine unglaublich bösartige Weise sprechen ließ.

„Ich denke, dass er kompetent ist: Er war früher bei der Polizei“, erwiderte die Frau „und außerdem hat er Beziehungen in der Szene…“

Ihr Gesprächspartner schwieg einige Sekunden lang und zog noch einmal an seiner Zigarette, die zusammen mit dem flirrenden Licht des Computermonitors die einzige Lichtquelle des Raums darstellte. Schließlich kam die Antwort.

„Er ist ‘n verdammter Säufer!“, knurrte er „Warum kannst du den Scheißkerl nicht selbst suchen?“

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu etwas, dass mit etwas Kreativität als süffisantes Lächeln erkannt werden konnte: „Ich bin Wissenschaftlerin – Es ist nicht meine Aufgabe mit einem Staubmantel in irgendeiner dreckigen Gasse auf irgendeinen – vermutlich nicht weniger dreckigen – Kerl zu warten. Und solange du diese Aufgabe nicht übernehmen willst, brauchen wir Hilfe. Jemanden, der klug genug ist, den Auftrag auszuführen und arm genug, ihn nicht zu hinterfragen. Ich kann ja auch nichts dafür, dass du unseren Spürhund abknallen musstest…“

Ihr Gegenüber stieß einen verächtlichen Laut aus. Dann durchbohrte es sie für eine Weile mit seinen kalten Augen, wobei seine Aufmerksamkeit nicht ihrem Gesicht galt. Die Frau lächelte – an seine Blicke hatte sie sich mittlerweile gewöhnt.

Endlich öffnete er den Mund.

„Dann also wirklich Kogoro Mori?“

„Ja“, ihr Lächeln wurde um ein Minimum breiter „Mori.“
 

Die Gestalt, die sich über das Sofa wälzte, war auf den ersten Blick nicht als menschlich zu erkennen. Erst bei näherem Hinsehen wurde erkennbar, dass es sich um einen Mann handelte, der wenige Stunden zuvor getrunken und kurz darauf erbrochen haben musste. Der Raum war vollkommen verwahrlost, der Boden war mit Zigarettenstummeln übersät und sämtliche Möbel – mit Ausnahme des kleinen Tisches – waren umgekippt. Aufgrund der nicht vorhandenen Sauberkeit hätte sie ohnehin niemand benutzt. Auf dem Tisch standen Whiskygläser, die als Aschenbecher missbraucht worden waren, neben Aschenbechern, die als Whiskygläser genutzt worden waren. In der Tischmitte lag die zerknitterte Aufnahme einer attraktiven Frau mit Brille.

„Eeeriii!“ grunzte Kogoro Mori im Halbschlaf und drehte sich auf die andere Seite – zumindest hätte er das getan, wenn er über ein Sofa mit der nötigen Größe verfügt hätte. Der Versuch endete mit einem Aufschlagen auf den Boden der Detektei, wo Mori, nachdem er ein wenig gesabbert hatte, weiterschlief.
 

Das erbarmungslose und viel zu laute Klingeln des Telefons holte ihn erneut in die Realität zurück. Er hatte migräneartige Kopfschmerzen und stöhnte laut auf, während er bemerkte, dass sein Mageninhalt im Begriff war, ihn durch die falsche Körperöffnung zu verlassen. Als das Telefon zum achten Mal klingelte , befand sich sein Kopf bereits über der Toilettenschüssel, die im einzigen sauberen Raum des Hauses ihren festen Platz hatte. Glücklicherweise klingelte das Telefon noch, als der Detektiv das Badezimmer verließ. Er hechtete zu dem Hörer und hob ab.
 

„Spreche ich mit Kogoro Mori?“, fragte eine Frauenstimme.
 

„Ja...“, murmelte Mori unwirsch „Was wollen sie?“
 

„Mein Name ist Yami Hoshino...“, antwortete die Frau:
 

„Und?!“
 

„...und ich hätte möglicherweise einen Fall für sie...“

Tempel der Dekadenz

Der Mann atmete schwer, ein sicheres Zeichen, dass die Krämpfe bald wieder einsetzen würden. Was hatten sie ihm da bloß angetan?! Er würde zur Polizei gehen, ganz sicher sogar, aber zuerst musste er etwas erledigen. Er musste es holen. Als er den Gedanken beendet hatte, setzten die Krämpfe ein...
 

Währenddessen grub sich die Rasierklinge in das Fleisch von Kogoro Moris Gesicht.

„Verdammt!“, fluchte der Privatdetektiv, während er sich die Wunde mit etwas Toilettenpapier abtupfte. Er hatte sich seit Wochen nicht mehr rasiert. Aber Frau Hoshino hatte sich unmissverständlich ausgedrückt.

„Wir treffen uns um 19 Uhr. Kommen sie nicht zu spät. Und sorgen sie dafür, das man ihnen nicht ansieht, wie sie sich fühlen.“

Eine verständliche Bitte, wenn man bedachte, dass sie sich in einem der edelsten Stadtviertel Tokios verabredet hatten. Seit zwei Stunden versuchte Mori nun schon verzweifelt, das Leben, dass er in den letzten acht Wochen geführt hatte, zu verbergen.

Ein Pflaster im Gesicht war dabei nicht besonders hilfreich. Aber auch sonst waren billiger Deodorant und der einzige einigermaßen saubere Anzug, den er noch besaß, selbst als Notlösungen fragwürdig. Etwas Extravaganteres hätte sein Budget gesprengt, welches durch seine generelle Auftragsflaute und die Bezahlung für den Skiausflug seiner Tochter Ran ohnehin äußerst knapp bemessen war.

„Es wird besser werden!“, murmelte er zu sich selbst „Mit diesem Auftrag wird alles besser werden.“
 

Der Mund des Detektivs ließ sich nur durch eine enorme Kraftanstrengung seinerseits wieder schließen. Er wusste, dass sie sich in einer edlen Gegend verabredet hatten. Dennoch ließ das riesige Hotel, vor dem er stand, ihn vor Ehrfurcht erstarren. Selbst in seinen besten Zeiten hätte ihn ein Monat Übernachtung in diesem Gebäude zweieinhalb Jahresgehälter gekostet. Starr vor Erstaunen bemerkte der Detektiv nicht, dass eine Person hinter ihm stand.

„Ich habe sie erwartet.“, begrüßte sie ihn.

Er fuhr herum. Obwohl die Frau asiatische Gesichtszüge hatte, wirkte sie nicht japanisch. Ihr ungefärbtes Haar war rotblond und sie war etwas größer als eine durchschnittliche Japanerin.

„Frau Hoshino?“, fragte Mori, nachdem er die Überraschung überwunden hatte.

Für einen Sekundenbruchteil wirkte die Frau überrascht.

„Ja.“, erwiderte sie dann.

„Sie sagten, sie hätten einen Auftrag für mich?“

Sie lächelte: „Kommen sie doch erst einmal mit in meine Suite.“
 

Der Kontrast zu seinem normalen Umfeld wurde Kogoro Mori einmal mehr bewusst, als sie das Palasthotel betreten hatten. Seine Detektei und das darunter befindliche Café hätten problemlos fünfmal in die Eingangshalle gepasst. Der Boden, die Tresen und die Treppen waren komplett aus Marmor. Die Treppengeländer waren mit Blattgold überzogen und es roch nach einem vermutlich sehr teuren Parfum. Erst als Frau Hoshino mehrere Meter vorausgegangen war, traute sich der Privatdetektiv seinen ersten Schritt in diesem Tempel der Dekadenz zu, woraufhin prompt zwei Conscierges auf ihn aufmerksam wurden.

Seine Auftraggeberin drehte sich um und lächelte die beiden Männer an: „Keine Sorge, er gehört zu mir.“

Der Linke antwortete: „Wenn sie das sagen, Frau Hoshino. Raten sie ihrem...“ er schätzte ab, welche Bezeichnung am ehesten auf Mori passen würde „...Freund das nächste Mal zu einer angemesseneren Kleidung.“

Sie bedachten den Detektiven noch eines letzten abschätzigen Blickes und wandten sich dann einem älteren Herrn zu, der sich über irgendeine Belanglosigkeit beschweren wollte.

„Hätten wir uns nicht woanders treffen können?“, fragte Mori unwirsch.

„Keine Sorge, ich verspreche ihnen, es wird sich lohnen.“

Er schnaubte: „Daran zweifle ich keine Sekunde. Sie werden hier ja wie ein Stammgast behandelt. Wohnen sie schon lange in diesem Hotel?“

Yami Hoshino lächelte: „Im Dezember wird es ein Jahr...“
 

Sie waren endlich im sechsten Stock angekommen und befanden sich vor Frau Hoshinos Suite.

„Es ist ein schmutziger Ort, aber bitte treten sie ein.“ sagte seine Auftraggeberin.

Mori musste lächeln. Sie haben keine Ahnung davon, was ein schmutziger Ort ist, dachte er. Und beim Betreten meiner Detektei bekämen sie vermutlich sogar dann einen Herzinfarkt, wenn Ran im Augenblick zu Hause wäre.
 

Sie betraten den Raum und der Privatdetektiv war erleichtert, dass ihm ein weiterer Schock erspart blieb. Der westlich eingerichtete Raum hatte zwar allen Komfort, den man erwarten konnte, war aber nicht annähernd so pompös eingerichtet wie die Eingangshalle.

Die Frauenstimme riss ihn aus den Gedanken: „Setzen sie sich. Wollen sie einen Drink?“ Etwas in seinem Inneren bejahte heftigst, doch in einem kurzen Moment der Vernunft lehnte er ab.

„Ich verstehe – sie wollen noch arbeiten.“, höhnte Frau Hoshino ironisch, während sie sich ein Glas Sherry eingoss. Mori ignorierte sie.

„Was wollen sie von mir?“, fragte er und setzte sich an einen kleinen Tisch.

„Warten sie...“ wurde er gebeten, während sie mit einem Glas in der Hand zu ihm kam.

Sie stellte das Glas ab und holte ihr Portemonnaie aus einer Jackentasche.

Die junge Frau öffnete es und zog eine Fotografie hervor. „...sie sollen diesen Mann finden.“ Ihr Gegenüber zuckte zusammen.

„Das ist doch Uragiri! Yosuteru Uragiri!“

„Ich weiß.“

„Wir haben zusammen studiert. Wir waren eine Zeit lang sehr gute Freunde!“

„Ich weiß.“

„Was hat Yosuteru – ääh, ich meine, warum suchen sie Herrn Uragiri?“

„Er hat der Firma, die ich vertrete, einige schmerzliche Verluste gebracht.“
 

Das Erbrochene klatschte auf den Asphalt. Uragiri war erleichtert. Die Krämpfe waren vorerst vorüber.
 

„Ist er noch bei dir?“, fragte die kalte Stimme.

„Ja, wir müssen noch einige Details besprechen.“

„Beeil' dich lieber, sonst -“

Bevor ihr Gesprächspartner den Rest sagen konnte, hatte Yami Hoshino bereits wortlos aufgelegt. Sie steckte das Handy in ihre rechte Jackentasche und ging zurück zu ihrem Gast, der gerade die Minibar beobachtete und mit seinen Fingern spielte. Ihr Räuspern ließ ihn aufschrecken.

„Nun, Herr Mori, was denken sie über den Auftrag?“

„Ich weiß immer noch nicht was ihnen Uragiri eigentlich getan hat...“

Das Handyklingeln hatte ihr Gespräch unterbrochen.

„Er hat Firmengelder unterschlagen. Nähere Details würden zu tief in Geheimnisse der Firma gehen, die ich vertrete.“

Er schaute etwas verwundert: „Warum wenden sie sich nicht an die Polizei?“

Wieder einmal zeigte sie ein geheimnisvolles Lächeln: „Die Polizei würde unserem Fall keine angemessene Priorität einräumen.“

Die Verwunderung war immer noch nicht aus seinem Gesicht verschwunden: „Warum ausgerechnet ich? Es gibt Hunderte Privatdetektive in Tokio und Tausende, die sie mit ihrem Budget hierher holen könnten!“

„Es gibt einige Gründe: Sie waren früher bei der Polizei und bringen sicherlich Berufserfahrung mit ein. Sie sind mit den Kreisen, in denen Herr Uragiri verkehrt, vertraut. Außerdem glauben wir an zweite Chancen. Herr Uragiri dürfte ihnen vertrauen – wir hoffen, dass sie uns helfen können, eine friedliche Lösung für diese Angelegenheit zu finden, die einem langjährigen und loyalen Mitarbeiter das Gefängnis erspart. Aber ehrlich gesagt – das sind nicht die ausschlaggebenden Gründe.“

„Was ist der ausschlaggebende Grund?“

„Sie sind kein schwieriger Verhandlungspartner...“
 

„Ich verstehe...“, sagte Mori und setzte eine eigenartige Miene auf.

„Verstehen sie mich nicht falsch,“, erwiderte sie „wir halten sie für kompetent. Aber ihre momentane finanzielle Situation erlaubt uns einen schnellen Deal. Und Schnelligkeit ist genau das, was wir brauchen.“

Der Detektiv seufzte: „Wie sieht ihr Deal aus?“

Hoshino setzte das Lächeln eines Anglers auf, der gerade einen besonders großen Fisch gefangen hatte: „Sie erhalten zehn Millionen Yen, eine davon als Vorschuss. Sie haben keinerlei Bedenkzeit – bevor sie dieses Hotel verlassen, will ich eine Antwort von ihnen haben. Ihr Ziel ist es, Uragiris Aufenthaltsort herauszufinden. Sobald Sie diesen haben, übermitteln Sie ihn an uns. Sie erhalten dann weitere Anweisungen. Keine Kontaktaufnahme ohne Genehmigung – und auch sonst ist absolutes Stillschweigen zu bewahren. In spätestens zwei Tagen wollen wir wissen, wo Uragiri ist, sonst ist unser Deal ungültig.“

Er rieb sich das Kinn: „Werde ich einen Vertrag unterzeichnen?“

„Nein. Aber Sie werden dieses Hotel mit einem Vorschuss von einer Million Yen verlassen. Selbst wenn wir uns nicht an die Vereinbarung halten würden, hätten Sie immer noch einen Gewinn gemacht.“
 

„Nehmen sie an oder nicht?!“

Die Sache stinkt schlimmer als meine Detektei. Aber das Geld. Ich muss doch für Ran sorgen. Ran braucht es. Er bemerkte, dass er anfing, sich etwas vorzulügen. Ich brauche es. Was ist schon dabei, sich ein schöneres Leben zu wünschen? Es ist ja nur ein Auftrag. Sie wollen ihn ja nicht einmal anzeigen.

„Ich nehme an.“ Die Frau lächelte, auch wenn sie plötzlich nicht mehr übermäßig erfreut wirkte.

„Das ist gut. Nehmen sie dieses Handy. Es ist eine Spezialanfertigung, mit der sie mit uns Kontakt aufnehmen können, sobald sie Uragiri gefunden haben. Benutzen sie es erst dann, ist das klar?!“

Das wenig formschöne Gerät hatte nur einen Knopf mit einem roten und einen mit einem grünen Hörer. Keine weiteren Tasten. Kein Bildschirm.

So ein Telefon hätte Eri mir mal schenken müssen. Dann hätte ich definitiv weniger Frauenbekanntschaften gehabt, dachte Kogoro ironisch, während Frau Hoshino das Bild von Yosuteru Uragiri zurück in ihr Portemonnaie steckte. Plötzlich ertönte das laute Geräusch einer Krähe. Die rotblonde Frau erschrak und ließ das Portemonnaie auf den Boden fallen. Moris blick fiel auf den Pass, der herausgerutscht war und ausgeklappt auf dem Boden lag. Seine Auftraggeberin bemerkte seinen Blick, erschrak und hob ihn dann hastig auf.

„Du heißt nicht Yami Hoshino!“ Die Frau sagte nichts.

„Und du bist erst...“

Endlich reagierte sie.

„Diese Details vergessen Sie besser. Sie haben keinerlei Einfluss auf ihren Auftrag.“, sagte sie, während ihre Gelassenheit einer Art ängstlichen Wut wich.

Yami Hoshino hob ihr Portemonnaie auf, zählte ein großes Bündel an Scheinen ab und gab es ihm.

„Das ist ihr Vorschuss. Ich erwarte weiterhin von ihnen, dass Sie die Sache ernst nehmen. Ich muss Sie bitten, das Hotel jetzt zu verlassen.“
 

Als eine Million Yen und der sehr verwirrte Kogoro Mori die Suite verlassen hatten, brach das Mädchen in Tränen aus. Warum hatte sie nur ihren Pass mitgenommen? Und warum hatte sie zugelassen, dass er ihn sieht?!
 

„Ist er mit im Boot?“

„Ja, er hat angenommen.“

„Du hörst dich komisch an... Gibt es irgendetwas, dass ich wissen sollte?“

Er hat meinen Pass gesehen. Meinen echten Pass.

Sie lächelte auf eine zynische Weise. Wenn sie das sagen würde, wäre Kogoro Mori zum Tode verurteilt. Und auch ihre Position in der Nahrungskette dieser Organisation war nicht vorteilhaft für ein Versagen dieser Art.

„Nein. Gibt es nicht.“

Er seufzte: „Dann ist's ja gut.“ Sein Tonfall verheimlichte nicht, dass er ihr immer noch misstraute.

Sie atmete erleichtert auf: „Dann auf wiederh-“

Bevor das Mädchen in der Lage war, den Satz zu vollenden, wurde es unterbrochen: „Eins noch, Shiho: Leg nie wieder auf, wenn ich mit dir spreche!“

Ehe eine Antwort folgen konnte, war die Leitung tot.
 

Kogoro Mori stöhnte. Sie hatte um so vieles älter ausgesehen. Konnte er so einen Auftrag überhaupt ernst nehmen? Die Million, die er zusammen mit dem Handy in seiner Tasche hatte, schien ihm förmlich ein Ja entgegenzubrüllen. Aber trotzdem. So jung...

Vermutlich hat mir der Alkohol die ganzen Gehirnzellen weggebrannt. Früher hätte ich gewusst, was zu tun ist, resignierte er, während er den fünften Block des Sosekiviertels entlanglief.

Als sein Blick auf eine Telefonzelle fiel, erinnerte sich der ehemalige Meisterdetektiv an sein Vorhaben, seine Tochter heute noch anzurufen. Er brauchte einige Zeit, um sich zu ihr durchzutelefonieren und als er sie endlich erreicht hatte, war seine Telefonkarte bereits zur Hälfte aufgebraucht.

„Hallo, Mausebein. Macht das Skifahren Spaß?“

„Paps! Ja, hier ist es fantastisch! Und man trifft lauter berühmte Leute! Sie wollen hier einen Film drehen! Ich hab' sogar Shohei Minowa gesehen.“

„Das ist schön zu hören.“

„Paps... Was ist mit dir? Du klingst so bedrückt...“

„Es ist nur... Ich habe jetzt wieder einen Fall.“

„Das ist doch toll! Herzlichen Glückwunsch!“

„Ja, das denke ich auch. Hör mal, ist bei dir wirklich alles in Ordnung. Sind die Skilehrer alle nett?“

„Ja, die sind alle in Ordnung. Es nervt nur, dass sie uns manchmal wie Kleinkinder behandeln. Sie nehmen uns Minderjährige überhaupt nicht ernst.“

„Ach, mach dir darüber keinen Kopf. Sie wollen doch nur, dass euch nichts passiert – damit wir Eltern uns nachher nicht aufregen.“

Sein Blick fiel auf die Anzeige der Telefonzelle: „Meine Telefonkarte ist gleich alle. Ich muss Schluss machen. Mausebein, ich hab dich li-“

Klack. Das Gespräch wurde unterbrochen. Die Karte war leer. Mori gab dem Apparat noch einen wütenden Hieb, den eine wartende Frau mittleren Alters mit Stirnrunzeln quittierte. Dann verließ er die Zelle.
 

Der schwarze Wagen hielt im fünften Block des Sosekiviertels.

Sein Beifahrer sprach in ein Funkgerät: „Wir haben Mori gefunden – der Sender funktioniert.“

Die Frau am anderen Ende lachte kurz auf: „Dann kann die Jagd ja losgehen...“

Ein alter Freund

Das ist doch toll! Sie nehmen uns Minderjährige überhaupt nicht ernst. Mit diesen beiden Aussagen war doch eigentlich alles gesagt. Er würde diesen Auftrag ausführen, und er wusste auch, wo er anzufangen hatte...
 

„Hey! Wasch scholl das, hein?! Schbinn doch noch gar nisch so beschoffn. Da je-“ Er rülpste: „jeht noch was. Eeehrlich.“

Ein erneuter Rülpser. „Ihr scheid fascht jenauscho schlimme Langweiler wie di-diescha

Kerl da.“

Der betrunkene Jugendliche deutete auf Mori, während die beiden Mädchen, die ihn begleiteten entschuldigende Verbeugungen machten und weiterhin versuchten, ihren Freund aus dem Club Paradise zu schleifen.

„Es tut uns sehr Leid!“, riefen sie ihm zu „Er hat nur ein wenig zu viel getrunken.“

Der Junge schaute verärgert: „Wasch e-enschuldischt ihr eusch bei dem Keerl. De-der isch doch voll komisch. Ste-Steht da schon seit vier Stunden und be-beobachtet die Bar. Aber reinkommen tuta nisch.“

Endlich hatten die beiden Mädchen es geschafft, den Schreihals loszueisen, der ihnen nun widerwillig hinterher torkelte, es sich aber nicht nehmen ließ, dem Privatdetektiv noch ein paar Beschimpfungen an den Kopf zu werfen.
 

Kogoro Mori ärgerte sich. Weniger über die Beleidigungen, als vielmehr darüber, dass er aufgefallen war.

Früher konnte ich das doch besser. Ich war doch immer gut im unauffälligen Beobachten. Habe immer alle Kleinigkeiten beachtet, schimpfte er mit sich selbst.

Er konnte nur hoffen, dass Yosuteru nichts von dem Krawall mitbekommen hatte, falls er tatsächlich in der Bar sein sollte. Aber wenn Uragiri tatsächlich Firmengelder gestohlen hatte, dann würde er irgendwann hierherkommen. Zumindest hätte er das früher gemacht. Und es gab einige plausible Gründe für ihn, es wieder zu tun. Das Gebiet um den Club Paradise war quasi ein rechtsfreier Raum. Bis hierher war der Arm der Gesetzes noch nie gedrungen. Daher konnte Mori sich durchaus glücklich schätzen, nur einem pöbelnden Teenager begegnet zu sein. Dass die Mädchen sich entschuldigt hatten, grenzte sogar an ein achtes Weltwunder – vermutlich hatten sie ihn in dem Anzug für ein Mitglied der Yakuza gehalten und sicherheitshalber ein positives Bild hinterlassen wollen. Doch der Hauptgrund für Mori, Uragiri ausgerechnet an diesem Ort zu suchen, war nicht die fragwürdige Sicherheit vor der Polizei gewesen, die seinen Studienfreund hätte locken können. Vielmehr war es Nakamura gewesen. Big N, wie sich der eigentlich eher kleine und auch sonst äußerlich nicht übermäßig beeindruckende Mann gerne nennen ließ, hatte nahezu alles getan, was nach japanischem Gesetz in irgendeiner Form strafbar war. Sein Mundwerk stand seinem Vorstrafenregister zwar in Größe um nichts nach, was insbesondere die 24 Morde, die er begangen haben wollte, in ein anderes Licht rückte, doch trotzdem konnte man ihm eine enorme Erfahrung in Dingen, die mit der Polizei zu tun haben nicht absprechen. Außerdem war Yosuteru mit Big N sogar noch enger als mit Mori befreundet gewesen.
 

Der schwarzgekleidete Mann wirkte verärgert und etwas verängstigt.

„Wir haben ihn verloren. Er ist in eine Seitengasse gelaufen, wo wir ihm mit dem Auto nicht hin folgen konnten. Wir haben die Verfolgung zu Fuß fortgesetzt und ihn dann leider verloren. Der Sender ist zwar noch aktiv, aber wir finden keinen passenden Weg.“

Die Frau antworte mit einer hochnäsigen Stimme: „Das ist vollkommen inakzeptabel. Auch wenn Uragiri nur ein kleiner Fisch sein mag, so müssen wir trotzdem jede Gefahr für die Organisation im Keim ersticken. Finden sie Mori wieder, sonst kann ich für nichts garantieren!“

Die beiden Männer schluckten.
 

Der Lichtschein, der aus der geöffneten Tür trat, riss Mori aus den Gedanken. Sechs oder sieben Personen kamen aus dem Club. Der Neonschriftzug über der Tür und das flackernde Licht aus dem Inneren der Diskothek blendeten Mori zunächst. Doch dann erkannte er die hünenhafte Gestalt, die aus der Gruppe herausragte.

„Yosuteru!“, schoss es ihm durch den Kopf. Hastig griff er in in seine Jackentasche und holte das Mobiltelefon. Er drehte sich etwas nach links, um die Tasten besser erkennen zu können.

Plötzlich bemerkte er es. Er war weg! In seinem Kopf machte sich Verwirrung breit: Habe ich mir das nur eingebildet? Dann lachte er in Gedanken: Habe ich mir meinen alten Freund so sehr herbeigesehnt?

Mori bemerkte die Schritte hinter sich zu spät. Als er sich endlich umdrehte, hatte der Baseballschläger ihm bereits das Nasenbein zertrümmert.
 

Mit ernster Miene ging die Frau den Schrank entlang. Sie hatte eine kleines Röhrchen in der Hand, das mit einer transparenten Flüssigkeit gefüllt und mit einem weißen Etikett beklebt war. Als sie den freien Platz entdeckte, den die gesucht hatte, beschriftete sie es und stellte es in den Reagenzglasständer. Gerade als sie sich abwenden wollte, schweifte ihr Blick zufällig die darunterliegende Ebene des Schranks. Dort war auch ein freier Platz. Aber dieser hätte belegt sein müssen. In ihrem Schock hätte Shiho Miyano beinahe einen großen Teil der Proben aus dem Schrank gefegt. Er fehlte. Prototyp 11-G fehlte. Wie hatte das passieren können?
 

Kogoro Mori blinzelte. Wirre Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Seine Nase schmerzte. Er hätte sie berührt, doch seine Hände weigerten sich, dem Befehl Folge zu leisten. Nachdem er seinem Bewusstsein einige Sekunden Zeit zum Wachwerden gelassen hatte, erkannte der Privatdetektiv, dass er gefesselt war. Plötzlich leuchtete ihm ein heller Lichtschein in die Augen. Er schloss sie und öffnete sie erst wieder, als die Lichtquelle ihre Richtung geändert hatte.

Jemand spuckte auf den Boden: „Hallo, Mori.“ Der Angesprochene war zunächst nicht in der Lage, den Sprecher zu orten und wand sich auf dem schmutzigen Fußboden. Dann entdeckte er die Beine seines alten Studienfreundes jedoch.

„Yo-Yosuteru...“, stöhnte er.

Der Hüne richtete die Taschenlampe wieder direkt auf die Augen seines Gefangenen. Schließlich hockte er sich auf den Boden und funkelte ihn wütend an. Kogoro Mori, dessen Augen wegen des Lichtstrahls nur zu einem schmalen Spalt geöffnet waren, blickte ängstlich zurück.

„Du enttäuschst mich, Kogoro...“, seufzte Uragiri und bewegte die Taschenlampe in seiner Hand etwas nach rechts. „ich hätte mir wirklich gewünscht, dass wir uns unter anderen Umständen wiedersehen.“

Langsam gelang es Mori, etwas mehr von seiner Umgebung zu erfassen. Er befand sich in einem kleinen Raum, der aber eine relativ hohe Decke hatte und so Platz vortäuschte. Es gab keinerlei Möbel, wenn man von einem kleinen Stuhl absah, der aber nicht so wirkte, als wenn er der Last eines erwachsenen Mannes standhalten könnte. Allerdings war sich Mori mit seiner Einschätzung nicht hundertprozentig sicher, da die Deckenlampe des Raums sehr schwach war und ihn nicht besonders viel erkennen ließ, während Uragiris Taschenlampe nutzlos auf den Boden strahlte.
 

Doch auch an seinem Körper erfasste Mori neue Details. Seine Nase war scheinbar gebrochen und später von Uragiri verbunden worden. Der Klotz in seinem Gesicht fühlte sich unter dem Verband unangenehm warm an.

„Was ist mit meiner Nase passiert?!“, stöhnte er.

Auf Uragiris Gesicht schien sich eine Art Lächeln anzubahnen: „Das ist eine Strafe. Dafür...“, er ging auf Kogoro zu und gab ihm einen harten Tritt in die Seite. „...dass du eine Freund verraten hast! Und dafür...“ - ein weiterer Tritt - „...DASS DU WICHSER MIT DIESEN SCHEISSKERLEN GEMEINSAME SACHE MACHST!“ Uragiri war, soweit erkennbar, zornesrot angelaufen.

„Was soll das?!“, schimpfte Mori „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

Uragiri wirkte für einen kurzen Moment überrascht, antwortete dann aber in einer höhnischen Stimmlage: „Nein, natürlich nicht. Du doch nicht. Und ihr gottverdammtes Spezialhandy hast du bestimmt auf der Straße gefunden.“
 

Mit einem Handy ebendieser Bauart sprachen die beiden Männer in diesem Moment mit der Frau.

„Wir schaffen's einfach nicht. Kommen einfach nich' an ihn ran. Sie kriegen seine Position doch sicher auch gesendet. Können sie nicht mal 'nen Heli darüber schicken? Der hilft uns vielleicht den Weg zu finden.“

Der Ton der Antwort ihrer Vorgesetzten war an Hochnäsigkeit kaum zu überbieten: „Ich denke darüber nach. Wie lange ist es überhaupt her, dass sie Mori verloren haben?“

Die Männer zuckten zusammen: „Ääh... Eine Stunde.“

In Wahrheit hatten sie Mori vor knapp fünf Stunden verloren.

Als das Gespräch beendet war, stöhnte der kleinere der Beiden: „Wir hätten's ihr doch gleich sagen sollen...“

Der andere seufzte: „Ja. Aber jetzt ist es zu spät. Hoffentlich kommen 'se uns nicht auf die Schliche...“
 

„Was hast du denn für ein Problem? Wo ist das Problem, wenn ich einen Auftrag von denen annehme. Du hast ja schließlich auch mal für sie gearbeitet.“

Uragiri kniff die Augen zusammen: „Für sie gearbeitet?“

Er keuchte laut und atmete schwer: „Ich?“

Mori reagierte überrascht: „Sie sagten, du hättest Firmengelder unterschlagen. Stimmt das etwa nicht?“

Die Antwort des Hünen verheimlichte seine Verärgerung nicht: „Ich glaub dir kein Wort, Mori. Tu nicht so, als hättest du nicht genau gewusst, dass -“ Ein Zucken fuhr durch Uragiris ganzen Körper und mehrere Speichelfäden tropften aus seinem Mund „- dass ich - WAS ZUR HÖLLE?!“

Er stürzte auf den Boden, während seine Hand vollkommen unkontrolliert loszuckte. Plötzlich schob sich der Zeigefinger zurück in die Hand, sodass er nur noch ein kleiner Stummel war. Dann erlitten der Mittel- und der Ringfinger das gleiche Schicksal. Die Hand begann noch schneller zu zucken, während Uragiri in ein animalisches Geschreie verfiel. Kogoro Moris Augen weiteten sich beim Anschauen der schrecklichen Szene. Plötzlich schwieg Uragiri und seufzte erleichtert auf. Der Schmerz schien aufgehört zu haben.

Dann platzte die Hand. Während sich Bluttropfen und Knochenstückchen im ganzen Raum verteilten, starrten die beiden Männer entsetzt auf Uragiris blutigen Armstumpf.
 

Die Kaffeemaschine hatte ihre Arbeit getan. Shiho Miyano seufzte, während sie sich das heiße Getränk eingoss. Was sollte sie tun? Ihr war klar, dass sie es bemerken würden. Und wenn sie es dann bemerkt hatte, würden sie Fragen stellen. Warum sie es nicht gemerkt hatte. Und dann würden Köpfe rollen. Ihrer. Oder der ihrer Schwester. Doch wenn sie es meldete, was würde dann passieren? Würde diese Organisation sie einfach in Ruhe lassen? Sie lachte kurz und humorlos auf. Natürlich würde es nicht einfach vergeben und vergessen werden. Irgendjemand würde bluten müssen. Und sie würde alles tun, damit es nicht sie war. Oder ihre Schwester.
 

Das Scheinwerferlicht des Helikopters bewegte sich langsam über Beton und Asphalt. Dann entdeckten die Piloten etwas.

„Hier muss es sein! SPIRIT 1 an Basis: Wir haben ihn!“
 

Sie hatte sich entschieden. Sie würde den Verlust melden. Langsam ging sie am lieblos eingerichteten Tisch des Pausenraums ihres Labors vorbei und griff nach dem schnurlosen Telefon, dass dort in einer Ladestation stand. Wie alle Geräte, die von der Schwarzen Organisation zwecks interner Kommunikation verwendet wurden, handelte es sich um eine Spezialanfertigung. Als solche verfügte es über alle Ver- und Entschlüsselungmechanismen, die nötig waren, um einen Zugriff auf das interne Kommunikationsnetz des Verbrechersyndikats zu erlangen und war selbstverständlich abhörsicher. Miyano drückte einige Tasten. Nachdem sie die Nummer eingegeben hatte, schwebte ihr Finger einige Zeit über dem grünen Hörer.

Soll ich das wirklich tun?, fragte sie sie sich selbst. Dann entschied sie sich, die Frage zu bejahen. Ihr Finger drückte auf die Taste, die ein elektrisches Signal versandte und somit eine Verbindung zu ihm herstellte. Zu Gin.

Der langhaarige Mann ließ sein Mobiltelefon sechsmal klingeln, bevor er sich dazu herabließ, den Anruf anzunehmen.

„Was gibt’s, Sherry?“

„Ich...Wir haben ein Problem!“

Gins Stimme, die selbst in einer normalen Gesprächssituation bösartig klang, wechselte abrupt in eine weitaus gefährlicher klingende Stimmlage: „Welcher Art?!“

„Einer der Prototypen f-für das APTX ist...weg. Ich vermute, U-Uragiri hat ihn...“

„WAS?! Seit wann?!“

„Ich habe es vor – ähhh - vor einer halben Stunde be-bemerkt.“

Die Gefahr, die seine Antwort verströmte, schien in ihrem Ohr widerzuhallen: „Dann kommt dein Anruf eine halbe Stunde zu spät. Diese Misere verändert die ganze Situation grundlegend.“

Bisher war der Fall Uragiri eine Bagatelle gewesen. Zwar hatte man ihm eine gewisse Menge des APTX-Prototypen verabreicht, doch der Wirkstoff wäre bei einer medizinischen Untersuchung nicht nachweisbar gewesen. Selbstverständlich lag der Fall ganz anders, wenn Uragiri ihm Besitz eines derartig belastenden Beweismittels war. Das war auch der Grund, wieso Gins nächste Äußerung Miyano überraschte. Sie hatte wüste Drohungen erwartet, keine pragmatischen Fragen.

„Hast du die Überwachungskameras kontrolliert?“

Der Gedanke war ihr gar nicht in den Sinn gekommen: „Nein.“

„Ich bin gleich im Labor. Bis dahin fasst du nichts an, ist das klar?!“

„Ja!“

„Übrigens...“, seine Stimmlage bekam eine gehässige Note „...mit dieser Entwicklung dürfte noch etwas klar sein.“

Sie erschrak: „Was?!“

„Dass dieser Fall definitiv eine Nummer zu groß für Kogoro Mori geworden ist...“ Gin verfiel in ein boshaftes Lachen.

Blei und Blut

„Seid ihr jetzt in seiner Nähe?“
 

„Ja, der Heli hat uns zu ihm geführt. Uragiri ist bei ihm. Sie befinden sich in so 'nem Gebäude. Da drin...“ - der schwarzgekleidete Mann schluckte - „...Da drin scheint irgendwas Seltsames abzugehen. Na ja, is' auch egal. Wir werden gleich mit dem Zugriff beginnen.“
 

Gin lachte kurz auf: „Ach übrigens, es gibt noch eine kleine Modifikation für euren Arbeitsauftrag.“
 

„Welche?“
 

„Sind bei euch irgendwelche Polizisten in der Nähe?“
 

„Ne, und ich bezweifle irgendwie auch, dass die sich oft hierher verirren.“
 

„Gut, dann wird das schon mal kein Problem sein.“
 

„Wär's doch sowieso nich' geworden. Wir sollten Uragiri doch bloß einsacken und dann irgendwo heimlich erledigen...“
 

„Es hat sich was geändert: Kogoro Mori. Sorgt dafür, dass er den Schauplatz nicht lebend verlässt. Macht ihn und Uragiri am besten auf der Stelle kalt!“
 

„Also können wir uns die Heimlichtuerei sparen?“
 

„Ja... Ich habe sogar noch ein paar Männer Verstärkung geschickt. SPIRIT 1 wird sie zu euch führen.“
 

„Verstanden!“, rief der kleine Mann in Schwarz, auch wenn sich ihm der Sinn einer Verstärkung gegen zwei vermutlich unbewaffnete und definitiv überraschte Männer nicht ganz erschloss. Er wartete, bis Gin aufgelegt hatte, um das Funktelefon schließlich wegzustecken. Dass Gin sie wegen eines Auftrags anrief, war bisher noch nie vorgekommen, normalerweise kommunizierten sie über solche Dinge bloß mit ihr.
 

Der Privatdetektiv konnte das schreckliche Spektakel immer noch nicht fassen, dass ihm in diesem Moment dargeboten wurde. Sein Freund aus Studienzeiten hatte soeben seine Hand verloren und füllte den Raum nun mit markerschütternden Schreien, während er, offenbar ahnungslos was er tun sollte, ziellos durch den Raum rannte und dabei eine rote Spur hinter sich her zog.

Der erste vernünftige Gedanke, der Mori in den Kopf schoss, betraf die Fesseln: Ich muss sie loswerden.

Das Klebeband, dass sich sowohl an seinen beiden Armen, als auch seinen beiden Beinen befand, musste weg. Er wälzte sich ein wenig auf dem Boden herum, bis er schließlich etwas entdeckte, dass ihm weiterhelfen konnte. Aus einem Grund, den er sich nicht näher erklären konnte, ragte ein rostiger alter Nagel aus der Wand. Es gelang ihm, sich in eine Sitzposition zu bringen, aus der er sich mit dem Rücken zum Nagel hin bewegte. Zu Moris Glück handelte es sich um Klebeband minderer Qualität, sodass es, nachdem er es mithilfe des Nagels strapaziert hatte, riss. Erleichtert begann er, seine Fußfesseln unter Zuhilfenahme seiner Hände zu lösen, als er die Stimmen außerhalb des Gebäudes wahrnahm.
 

„Hey, wir sind die Verstärkung.“, meinte eine Frauenstimme.

Eine Männerstimme antwortete: „Das wurde aber auch langsam mal Zeit.“

Sie ignorierte den Affront: „Ist er da drin?!“

„Ja.“, grunzte der Mann.

„Dann kann's ja losgehen.“

Sie lächelte: „Drei – Zwei – Eins – Zugriff!“
 

Die erste Kugel der schallgedämpften Pistole durchschlug das vernagelte Fenster. Die Zweite, die kurze Zeit später folgte, durchschlug das normale, noch mit Glas versehene Fenster, welches Mori bisher noch nicht aufgefallen war, weil es kaum Licht durchgelassen hatte.

Ein weiteres Detail des Raumes, das dem Detektiven bisher noch nicht aufgefallen war, war die verschlossene Tür, gegen die jetzt Männerstiefel traten.

Uragiri, der immer noch zu keinem klaren Gedanken fähig war, zuckte zusammen, als die Tür aus ihren Angeln brach.

Mori schaltete etwas schneller.

Als die beiden mit Automatikwaffen ausgerüsteten Gestalten den Raum betraten, warf er sich gegen die Linke. Es gelang ihm, den vollkommen überraschten Mann mit einem Judogriff zu überwältigen und auf seinen Begleiter zu werfen. Die Waffen segelten in entgegengesetzten Richtungen über den Boden. Uragiri, der sich inzwischen etwas gefasst hatte, stoppte eine der beiden mit seinem Fuß und hob sie mit der ihm verbleibenden Hand auf.
 

Als erneut einige Kugeln durch die Fenster flogen, hechtete Mori geduckt los und rannte auf die zweite Pistole zu, die aus dem Gebäude herausgerutscht war. Gerade, als er sie aufheben wollte, sah er Bluttropfen rechts neben seinem Kopf aufsteigen. Wenige Momente später stellte sich der Schmerz ein und ihm wurde bewusst, dass ihn eine der Kugeln in die Schulter getroffen haben musste. Er jaulte auf, fiel hin und rollte einige Meter seitlich von der Pistole weg. Die Frau, der Mori den Schultertreffer wohl zu verdanken hatte, drehte sich in seine Richtung und legte an, doch Uragiri drückte zuerst ab.
 

Das Hemd des weiblichen Organisationsmitglieds platzte. Es gab noch ein seltsames Krächzen zu hören, dann fiel die Frau nach hinten und starb. Uragiri, der aufgrund des Rückstoßes kurzzeitig mit der Balance zu kämpfen gehabt hatte, lief nun mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Mori zu. Sein Gang war allerdings durch die fehlende Hand beeinträchtigt, sodass sich Mori an ein Humpeln erinnert fühlte.
 

„Mori, ich scheine mich in dir getäuscht zu haben, die Kerle wollen dir genauso sehr ans Leder wie mir.“ Der Detektiv stöhnte.

„Du... Du hast... sie getötet.“, stammelte er.

Uragiri seufzte, auch wenn es eher wie ein Stöhnen klang: „Besser sie als wir, oder?! Ich frag' mich sowieso, wie die uns gefunden haben...“

Mori runzelte die Stirn: „Das Handy... Ha-Hast du das zerstört?!“

Uragiri lächelte müde: „Ach so. D-das war's also...“ Er riss einige Fetzen seines T-Shirts ab und verband sich damit notdürftig die traurigen Reste seines rechten Arms.

„Mori, ich muss“ - er keuchte - „dringend ins Krankenhaus. Nimm diesen Schlüssel. Er ist f-für e-ein Schl...“ - er unterdrückte einen Schmerzensschrei - „f-f-für ein Schließfach. Du fin-findest selbst raus, w-was es damit auf s-sich h-hat...“

Kogoro betrachtete den kleinen dunkelblauen Schlüssel in seiner Hand, als Uragiri wieder zu sprechen begann: „I-ich gehe jetzt. M-mach dir übrigens keine S-Sorgen we-wegen deiner Schulter. Sieht mir nach 'nem St-Streifschuss aus“ Der Privatdetektiv wusste nicht, worüber er schockierter sein sollte. Über die Tatsache, dass Uragiri seine Hand verloren hatte, darüber, dass er ohne mit der Wimper zu zucken einen Menschen getötet hatte, oder darüber, dass er mit dieser Verletzung alleine davonmarschieren wollte.

„Ich komme mit! Bei dem Blutverlust könntest du ohne Probleme zusammenbrechen.“

Uragiri lachte, es hätte aber auch ein Gurgeln sein können: „V-Von mir aus...“
 

Kaum hatte Uragiri den Satz beendet, schlug die Kugel neben Kogoro Moris Fuß ein. Der Detektiv, der mittlerweile aufgestanden war, verlor vor Schreck beinahe das Gleichgewicht, konnte sich aber im letzten Moment halten.

„Da sind ja noch mehr!“

Zwei bewaffnete Männer rannten in ihre Richtung. Uragiri fing an zu rennen, doch die Erschöpfung reduzierte seine Geschwindigkeit auf ein Minimum. Nichts hinderte den schwarzgekleideten Mann daran, einen souveränen Kopfschuss zu setzen.

„YOSUTERU!“, brüllte Kogoro, war aber vernünftig genug, nicht zu seinem Studienfreund zu rennen, der zu Boden ging.

Stattdessen hechtete er zu dem Gebäude, in dem Uragiri ihn gefangen gehalten hatte. Als er über die eingetretene Tür und die dort liegenden Männer sprang, bemerkte er die kleinen Blutrinnsale, die über ihre Stirnen ronnen. Uragiri hatte also nicht nur einmal getötet. Doch darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Er warf sich an die Wand rechts neben dem Türrahmen und schielte in Richtung Fenster. Recht schnell erkannte er, dass sie als Fluchtweg aufgrund ihrer geringen Größe nicht in Frage kamen. Ihm blieb nur eine Chance – er musste seine Verfolger beim Betreten des Gebäudes überwältigen...

Erinnerungen und Rum

Der dickliche kleine Mann warf noch einen letzten Blick nach draußen. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Straße des Vororts von Tokio, in dem er lebte. Sein Kopf wanderte zuerst nach links, dann nach rechts und schlussendlich in die Ausgangsposition zurück. Die Laternen erleuchteten den Nachthimmel, während sich ihr Licht im vom Wintergewitter nassen Asphalt spiegelte. Irgendwo in der Ferne war ein Hund zu hören, der schon den ganzen Tag lang seinen Unmut über zu wenig Auslauf in die Welt hinausbellte.  Ein paar Krähen zankten sich mit einer Katze um den Müll des Nachbarn, doch das Gesamtbild war friedlich.
 

Mit einem Seufzer schloss der Mann die Tür.

„Die Luft da draußen ist so rein wie das Gewissen eines Neugeborenen.“, zischte er dem Hünen zu. Dieser hatte immer noch Sorgenfalten im Gesicht.

„Bist du dir da sicher? Absolut sicher?!“

Big N zeigte ein Grinsen, welches seine ablehnende Haltung Mundhygiene gegenüber mit einer weitgehenden Zahnlosigkeit untermauerte: „Ich verwette das Leben meiner Großmutter darauf. Also das von der, die mir nicht immer den Hintern versohlt hat.“

Er lachte, doch Uragiris Mundwinkel zeigten keinerlei Regung.

„Ach, komm schon. Was ist denn mit dir los?!“, fragte Nakamura verwundert.

Der hünenhafte Mann gab zunächst nur ein Stöhnen von sich, bis er einige Sekunden später doch anfing zu sprechen: „Ich habe ein Problem, okay?!“

Der Gesichtsausdruck des kleinen Mannes verfinsterte sich: „Tja, dann hoffe ich mal, dass dein Problem verdammt nochmal 'ne vernünftige Erklärung bereithält, warum du hier einfach bei mir zuhause aufkreuzt, wo ich dir doch extra gesagt hab', dass 'de mich nur im Club treffen sollst. Da draußen hab' ich 'nen paar Feinde und die sollen sicher nich' rausfinden, wo ich wohne. Ich hab doch Kinder, Herrgott!“

Uragiris Antwort war überraschend ruhig: „Dann überrascht's mich, dass du mir deine Adresse überhaupt gegeben hast...“

Big N verdrehte die Augen: „So war das nich' gemeint. Wir sind doch immer noch alte Kumpels...“

Endlich konnte sich auch der Hüne zu einem Lächeln durchringen: „Schön zu hören! Denn im Augenblick steckt dein alter Kumpel tief in der Scheiße. Wirklich tief in der Scheiße...“ Und dann erzählte der große Mann dem kleinen Mann alles, was ihm in letzter Zeit widerfahren war...
 

„Und du verarschst mich nicht?! Das ist dein Ernst?!“, fragte Nakamura, auch wenn er wusste, dass es müßig war.

Auch wenn sie sich lange nicht gesehen hatten, so kannte er seinen alten Freund doch genug, um nach einem Blick in seinen Augen die Wahrheit zu erkennen, die durch die Pupillen schimmerte.

„Und ich soll das hier für dich aufbewahren?“ Er hielt das Röhrchen gegen das Licht und begutachtete die transparente Flüssigkeit, die es enthielt.

„Ja, das ist unglaublich wichtig. Wenn diese Mistkerle mich kriegen, dann kannst du sie damit immer noch fertigmachen. Bitte versteck' es an einem sicheren Ort.“

Der kleine Mann legte hatte zuerst Mühe, doch schließlich erreichte er die Schulter des Riesen und legte seine Hand darauf: „Keine Sorge, Ich weiß einen Platz, der absolut sicher is' . Ich werde dieses Zeug hüten wie meinen Augapfel, das schwöre ich.“

Uragiri blickte ihn mit freundlicher Miene an: „Danke. Für Alles. Ich verschwinde – vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder?“

Bevor ein „Ich hoffe es!“ folgen konnte, war der hünenhafte Mann verschwunden.
 

Die kalte Luft im Eingangsraum war noch nicht vollständig erwärmt worden, als das kleine Mädchen den Raum betrat und Nakamura mit großen Augen ansah: „Papa, ich weiß, es ist schon spät, aber können ich und Akira noch eine Folge Kamen Yaiba gucken?“

Der alleinerziehende Familienvater lächelte: „Nein, mein Engel, ihr beide gehört dringend ins Bett.“

Yoshie Nakamura setzte einen Schmollmund auf.

„Na gut...“, murmelte sie und ging zurück ins Wohnzimmer, um ihren Zwillingsbruder von der unerfreulichen Nachricht in Kenntnis zu setzen.

Ihr Vater schickte ihr noch einige liebevolle Blicke hinterher, bevor er das Röhrchen ein letztes Mal im Licht betrachtete. Man konnte vieles über Hiroki Nakamura sagen, – bei den Schilderungen seiner Straftaten legte er den Begriff der Wahrheit sehr frei aus – aber sein Wort würde er immer halten.
 

Zurück in der Gegenwart war Kogoro Mori gerade damit beschäftigt, einen Ausweg zu suchen. Einen Ausweg aus dieser misslichen Lage. Er betrachtete den Innenraum des Gebäudes sorgfältig, in der Hoffnung, noch irgendetwas Hilfreiches zu entdecken. Doch es hatte sich nichts daran geändert, dass der Raum trostlos und leer war. Immer noch war der klapprige Stuhl in der Mitte des Raums. Außerdem war der Boden übersät mit Betonkrümeln, die entweder von der Schießerei oder von einer gewissen Schlampigkeit beim Bau des Gebäudes herrühren mussten. Alles nutzlos. Doch dann entdeckte Mori etwas – unter dem Stuhl lag ein Baseballschläger. Er hastete zu dem Stuhl, hob den Sportgegenstand auf und positionierte sich dann wieder rechts neben dem Türrahmen. Nun betrachtete er seine neugewonnene Waffe, an der immer noch das Blut seiner Nase klebte. Jetzt hatte er eine Idee.
 

Die beiden Organisationsmitglieder erreichten das Haus.

„Da ist er eben rein gerannt!“, zischte einer der Beiden.

„Gut! Du bewachst das Fenster.“

Der andere wirkte etwas verwirrt: „Wozu?! Sieht mir nicht danach aus, als wenn da einer durchpassen würde.“

„Trotzdem – sicher ist sicher. Wir wollen doch nicht, dass er uns nochmal abhaut. Außerdem kannst du ihn vielleicht durch das Fenster erledigen, wenn er sich zum Beispiel in meinem toten Winkel versteckt.“

„Na schön...“, grunzte der Mann und bog ihn die Seitengasse rechts neben dem Haus ein, in deren Richtung das Fenster des kleinen Gebäudes zeigte. Sein Partner stellte sich vor die eingetretene Tür und blickte in das Haus.
 

„Herr Mori. Sie verstecken sich neben der Tür!“, rief er „Sie wollen mich wohl beim Reinkommen überraschen. Ich kann ihnen verraten, dass ihnen das nicht gelingen wird.“

Er lächelte: „Mein Partner wird sie nämlich gleich durch das Fenster erschießen.“ In diesem Moment warf ihm Mori die kleinen Betonstücke ins Gesicht.

„WAS?!“, war das letzte, was der vollkommen überraschte Mann in schwarz rufen konnte, bevor Mori ihm den Baseballschläger mit voller Wucht seitlich gegen den Kopf schlug.

Dann fiel er bewusstlos auf den harten Untergrund. Während der Privatdetektiv sich nach der Pistole bückte, hetzte der Komplize des soeben Niedergeschlagenen aus der Seitengasse heraus. Mori schnappte sich die Waffe und rannte auf die linke Seite des Gebäudes zu, wo sich ebenfalls ein Seitenweg befand. Sein Verfolger drückte zwar ab, doch die Kugel riss lediglich Teile des Straßenteers auf. Kogoro rannte etwas weiter in die Gasse hinein, doch der Mann hinter ihm wandte sich ohnehin seinem ohnmächtigen Kollegen zu. Erst als er sich versichert hatte, dass die Verletzung nicht lebensbedrohlich sein würde, folgte er Mori.

Die Schulter des Privatdetektivs brannte. Seine Nase pochte unentwegt. Und erst diese Kopfschmerzen.

Doch trotz seiner beeinträchtigten Aufmerksamkeit fiel ihm etwas auf. Die Hochhäuser, an denen er vorbei rannte, kamen ihm bekannt vor. Und der Platz, in den die Gasse mündete, auch. Und dann sah er ihn. Der grelle Neonschriftzug des Club Paradise leuchtete vor seinen Augen auf. Uragiri hatte ihn nur wenige hundert Meter vom Club entfernt gefangen gehalten. Ein Schuss zischte knapp über seinen Kopf hinweg.

„Verdammt, wieso hat der Kerl meinen Vorsprung so schnell aufgeholt?!“, fluchte Mori in Gedanken, während er auf den Nachtclub zusteuerte. Hastig riss er die Tür des hell erleuchteten Gebäudes auf, in dem alle fröhlich feierten. „FEUER!“, brüllte er so laut er konnte.

Sofort war die festliche Stimmung zerstört. Niemand schien besonders große Lust zu haben, den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu prüfen. Der ganze Raum war binnen weniger Sekunden von einer hellen Aufregung erfüllt. Chaotisch rannten die Menschenmassen hin und her, bis eben noch flirtende Pärchen stürmten in entgegengesetzten Richtungen voneinander weg. Nachdem alle ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammengerafft hatten, kannte die Masse nur noch ein Ziel: Den Ausgang.
 

Kaum hatte der schwarzgekleidete Mann das Gebäude erreicht, in dem Mori soeben verschwunden war, kam ihm eine enorme Menge angsterfüllter Menschen entgegen. Junge und alte, bekleidete und weniger bekleidete. Jede Hoffnung, den Überblick zu behalten, war innerhalb einiger kurzer Momente im Keim erstickt. Resigniert griff das Organisationsmitglied zu seinem Handy.
 

Die Frau nahm das Gespräch sofort entgegen: „Was ist?!“
 

„Ich - äähhh.... - Wir haben ihn verloren...“
 

„WAS?! Wie konnte das passieren?!“
 

„Es gab – ähm – Es gab Komplikationen...“
 

„Das wird ein Nachspiel haben! Sie sind den Fall los. Ich werde ihn Rum übertragen.“
 

„Rum?! Sind sie sicher, dass sie so schwere Geschütze auffahren wollen?“
 

„Das scheint ja offensichtlich nötig zu sein...“, antwortete sie mit vorwurfsvoller Stimme...

Waidmannsheil

Kapitel 5: Waidmannsheil
 

Yoko Murata klappte die Kofferraumtür ihres Oldtimers zu und fischte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche. Plötzlich hörte sie einige Schreie hinter sich. Erschrocken fuhr sie herum, erkannte aber erleichtert, dass die Geräusche vom Streit zweier Betrunkener kamen, die über den Gewinner ihres allabendlichen Kampftrinkens diskutierten. Sie wandte sich wieder dem Kofferraum zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Dann versicherte Murata sich noch ein letztes Mal der Abgeschlossenheit der Tür und wollte auf ihr Haus zulaufen. Plötzlich spürte sie kaltes Metall auf der Stirn. Der langhaarige Mann stand direkt vor ihr.

„Hallo, Yoko.“, begrüßte er sie in einem hämischen Tonfall.

„W-was willst du, Gin?!“, keuchte sie.

Er fixierte sie mit seinen eiskalten Augen, während ein Lächeln seine Lippen umspielte: „Ganz einfach. Sagt dir der Name Uragiri was?“

„E-er ist abgehauen... W-was soll das?!“

Gin ignorierte die Frage: „Genau, abgehauen. Aber das war nicht dein  Fehler. Allerdings ist es ihm gelungen eine Probe des APTX mitgehen zu lassen. Und jetzt rate mal, wer an diesem Tag für das Abschließen des Schranks verantwortlich war. Und wem ich auf der Überwachungskamera dabei zusehen durfte, wie er, oder besser sie, genau das NICHT getan hat!“

Muratas Augen platzten fast aus ihren Höhlen heraus.

„D-das war k-keine Absicht. I-ich würde d-die Organisation niemals verraten. Nie!“, flehte sie.

„Weißt du was? Ich glaube dir! Aber, so leid es mir tut,“ - sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass es ihm überhaupt nicht leidtat - „ein Versagen dieser Art kann in unserer Organisation nicht geduldet werden. Das wäre geschäftsschädigend.“

Und dann drückte er ab und richtete sie hin, noch während ihr Mann und ihre drei Kinder wenige hundert Meter entfernt auf ihr Heimkommen warteten.
 

Das quietschende Geräusch des Schalldämpfers ließ Sherry, die abseits an einem Baum lehnte, zusammenzucken, sodass sich Dosenkaffee über ihren Laborkittel ergoss. Während sie versuchte, der Entstehung von Kaffeflecken vorzubeugen, durchflutete sie für eine kurze Zeit schlechtes Gewissen. Aber eins war ihr klar: Sie hatte Mitleid mit Yoko Murata und ihrer Familie, doch um nichts in der Welt wollte sie mit dieser Frau tauschen, die jetzt mit einem Loch im Kopf vor ihrer rostigen Drecksschleuder lag. Niemals.
 

Mit einem wehleidigen Ächzen erhob der Mann sich aus dem Bett. „Verdammtes Drecksteil.“, schimpfte er leise, während er in sein Arbeitszimmer schlurfte, um dem nervtötenden Telefonklingeln, welches ihn rüde aus dem Schlaf gerissen hatte, ein Ende zu bereiten. Niemand hätte bei seinem langsamen Gang vermutet, dass es sich bei ihm um ein Raubtier handelte. Eines der Gefährlichsten seiner Art.

Endlich war er bei dem alten Tischfernsprecher angekommen, nahm aber zunächst nicht ab, sondern betrachtete das Gerät argwöhnisch. Das Gerät hatte keinerlei Anbindungen an die herkömmliche Telefoninfrastruktur Japans, was nur bedeuten konnte, dass sie etwas von ihm wollten. Doch was? Ein weiteres herausforderndes Telefonklingeln. Dann noch eines. Schließlich stieß Rum einen Seufzer aus und zog den Hörer an seinen Kopf.

„Rum hier.“
 

„Hallo, Rum, wie geht’s dir?“, fragte Wermut mit einer Mischung aus gespielter Freundlichkeit und echter Arroganz.

Rum ignorierte die Frage: „Was willst du?! Wir haben abgemacht, dass ihr mich nach dem Job von vor zwei Wochen für sechs Monate in Ruhe lasst!“

„Es“, sie zögerte „hat sich was geändert. Wir haben ein Problem und brauchen deine Dienste jetzt.“

„Das interessiert mich nicht!“, fuhr er sie an „Ich hab Weißgott wichtigeres zu tun, als eure beschissene Drecksarbeit zu erledigen.“

Ihre Stimme bekam einen traurigen Klang, der überraschenderweise nicht gespielt wirkte: „Schade. Ich hatte wirklich gehofft, wir könnten zu einer friedlichen Lösung gelangen. Dann werden wir die Geräte wohl abstellen müssen...“

Ein Schweißtropfen perlte von seiner Nase. „Nein!“, rief er verzweifelt „Das wagt ihr nicht. Wir hatten doch eine Abmachung...“

„Es tut mir Leid. Und ich will unsere Abmachung auch nicht brechen, aber ich befolge auch nur Befehle. Und glaub mir, es ist gesünder, ein gutes Verhältnis zur Organisation zu haben. Für alle Beteiligten. Auch für sie...“

Der Mann schien in wenigen Sekunden um Jahre gealtert. „Was“, fragte er „was wollt ihr von mir?“

Kaum hatte er den Satz beendet, fühlte er sich so, als könne er ihr hämisches Lächeln durch den Hörer wahrnehmen.

„Im Grunde“, sie machte ein Pause „ist es ganz einfach...“ Jegliche Traurigkeit war aus ihrer Stimme verschwunden.
 

Nachdem Wermut ihm seinen Auftrag erteilt und sich spöttelnd von ihm verabschiedet hatte, ließ sich Rum in seinen Ledersessel fallen. Er verhakte die Hände ineinander, streckte die Daumen in die Höhe, stützte sein Kinn auf ihnen ab und beugte sich dann nach vorne, sodass sich seine Ellbogen auf seinen Knien befanden. Er befand sich immer in dieser Pose, wenn er sich hinsetzte. „Ich kann dann besser denken.“, lautete seine Standardbegründung, wenn ihn jemand darauf ansprach, was allerdings nicht besonders häufig vorkam. Er hatte nicht viele Freunde. Strenggenommen hatte er gar keine. In seinem Leben war ihm nur eine Person wichtig. Er setzte ein sanftes Lächeln auf und holte ihr Bild aus der Schreibtischschublade. Für einen kurzen Moment betrachtete Rum es wehmütig. „Ich hätte es wissen müssen,“, dachte er traurig „doch nun ist es zu spät. Ich weiß, was ich zu tun habe.“ Das Raubtier legte das Bild zurück in die Schublade und schob schob sie zu.
 

Der Porsche 356A, der jetzt vorfuhr, konnte nichts Gutes bedeuten. Der Handlanger zuckten unwillkürlich zusammen, als er das schwarze Automobil erblickte. „Das ist doch Gins Wagen! Was will der denn hier?!“, erkundigte er sich bei den Pflegern, die seinen verletzten Partner gerade auf einer Bahre zum Krankenwagen brachten. Um im Falle von Verletzten aus den eigenen Reihen über die nötige Privatsphäre zu verfügen, besaß die Organisation ein eigenes medizinisches Versorgungssystem mit Ärzten, medizinischen Apparaturen, Medikamenten und zum Transport Verletzter geeigneten Fahrzeugen. Das Pflegepersonal beantwortete die Frage nicht, sondern beobachtete stattdessen den Krankentransporter, in dem ihr Kollege gerade ins Funkgerät sprach.
 

„Verstanden.“, bestätigte der Fahrer des Krankenwagens den Befehl. Er beendete die Funkverbindung und hüpfte aus dem Transporter. „Es hat sich was geändert.“, rief er seinen Kameraden zu „Keine Versorgung für den Kerl.“

Der Handlanger erschrak: „Was soll das heißen? Keine Versorgung?! Ihr könnt ihn doch nicht im Stich lassen!“

„Direkte Order von Gin.“ erwiderte der Fahrer knapp und vollkommen ungerührt, woraufhin die beiden Pfleger die Trage fallen ließen und in das Fahrzeug einstiegen. Das bewusstlose Organisationsmitglied rollte nach dem harten Aufschlagen von der Bahre und blieb dort regungslos liegen.

„Hey! Das könnt ihr nicht machen! DAS KÖNNT IHR DOCH NICHT MACHEN!“, brüllte sein Partner und riss an allen Türen des Fahrzeugs. Doch seine verzweifelte Hoffnung, dass sie nachgeben und ihn einlassen würden, erfüllte sich nicht. Dann hörte er das Zuklappen einer Autotür. Erschrocken fuhr er herum. Eine langhaarige Gestalt hatte den Porsche verlassen und bewegte sich auf ihn zu.
 

Rum stellte das Auto auf dem Parkplatz ab. Wie bei jedem seiner Aufträge, so galt es auch bei diesem zunächst Informationen über das Ziel zu sammeln. Eine Akte konnte diesbezüglich durchaus nützlich sein. Rum marschierte schnurstracks durch die marmorne Eingangshalle, bis er schließlich bei dem Aufzug ankam. Als er ihn betreten hatte, wählte er die Taste mit der zwei – das Archiv, welches ein Stockwerk über Sherrys Labor lag. Akten gab es dort jede Menge. Tatsächlich gab es dort zu fast jeder Person, die in irgendeiner Weise mit der Organisation zu tun hatte, einen eigenen Ordner, der alles von der Schuhgröße bis hin zur Lieblingszahnpastamarke beinhaltete. Die meisten durfte Rum aufgrund seiner niedrigen Sicherheitsstufe zwar nicht einsehen, doch Wermut hatte vorgesorgt.

Der Killer verließ den Fahrstuhl, drehte sich kurz nach rechts und links und durchschritt dann die wenige Meter entfernte Glastür, auf der Archiv eingraviert war. Er lief bis ans Ende des Raumes, wo einige Stühle neben einem runden Tisch standen

„Du findest die fragliche Akte auf dem Tisch.“, hatte diese unmögliche Frau ihm in ihrem Telefongespräch mitgeteilt. Und dort lag sie auch. Ein dunkelbraunes Dossier, das Etikett mit Kogoro Mori beschriftet. Rum grinste und öffnete die Akte.
 

Langsam bewegte sich Gin auf den Mann und seinen bewusstlosen Freund zu. Er hatte seine Pistole zwar noch nicht hervorgeholt, aber seine Augen räumten keinerlei Platz für Zweifel an seiner Absicht ein. Der Handlanger blieb kurz starr stehen und rutschte beim Versuch, einen Schritt nach hinten zu machen, aus.

„G-Gin. T-tu das n-nicht. B-bitte.“, flehte er, doch Gin wirkte nicht, als ob ihn das übermäßig interessieren würde.

„Tja... War echt kein schöner Tag heute, oder?“, fragte der langhaarige Mann auf eine seltsam-ironische Weise „Drei Mitglieder verloren. Und Kogoro Mori ist entkommen...“

„M-Mori wird uns sicher k-keine Probleme machen.“, rief der Mann panisch „Er weiß wahrscheinlich überhaupt nichts. Und selbst wenn doch, anhaben k-kann er uns ohnehin nichts. Wir haben alle Spuren beseitigt. Die Leichen, die Kugeln – alles weg! Und die Polizei w-wird hier s-sicher eh nie irgendwas suchen. Au-Außerdem haben wir Uragiri doch gekriegt.“

„Bist du nicht schon lange genug in dieser Organisation, um zu wissen,“ Gin griff seine Jacke und holte die schwarze Schusswaffe hervor. „dass Versagen nicht geduldet wird? Und einen Auftrag nur zur Hälfte zu erfüllen nennt man versagen.“

Der Schweiß floss in Strömen über die Stirn des am Boden Liegenden. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Warum nur war er nicht misstrauisch geworden, als der Pfleger ihm vorhin seine Waffe abgenommen hatte? Gin entsicherte seine Beretta und richtete sie auf ihn.

„B-Bitte...“, ächzte der Handlanger mit einer gebrochen Stimme, während sich Schweiß und Tränen auf seinem Gesicht vermischten.

Als er die Finger zum Abzug wandern sah, zuckten seine Hände instinktiv vor sein Gesicht und erwartete mit geschlossenen Augen den Tod. Plötzlich klingelte ein Mobiltelefon. Aus Gewöhnung  an ein Dasein als Befehlsempfänger fasste er in seine Hosentasche, erkannte nach Öffnung seiner Augen aber, dass nicht er, sondern Gin angerufen worden war, der sich jetzt, die Waffe immer noch auf ihn gerichtet, verärgert mit seinem Gesprächspartner unterhielt.

„Rum? Was soll das?“

Am anderen Ende der Leitung war ein kurzes Auflachen zu hören: „Tag, Gin. Störe ich?“

„Hat das alte Luder dich doch tatsächlich überzeugen können.“, auch von Gin gab es jetzt ein trockenes Lachen zu hören „Und ja, du störst“, beantwortete er Rums Frage ebenso knapp wie unhöflich.

„Was machst du denn gerade Wichtiges?“

„Ich... entsorge nur den Müll.“

„Verstehe. Aber könntest du damit nicht noch etwas warten? Ich möchte Kogoro Mori so gut wie möglich kennen wenn ich ihn jage. Ich bin sicher, dass dein „Müll“ mir etwas Interessantes erzählen kann.“

„Wermut wollte dir doch seine Akte geben lassen. Reicht das nicht?“, grunzte Gin unzufrieden.

„Sicher, eine Akte verrät eine Menge – wenn man wissen will, wie eine Person sich im Alltag verhält. Wenn alles um sie herum normal ist. In einer solchen Situation werde ich Kogoro Mori aber wohl kaum begegnen.“ Er seufzte: „In einer lebensgefährlichen Situation ist man am Ehesten der Mensch, der man in Innersten ist. Man gibt alle Rollen auf, die man spielt. Wenn ich also wissen will, wie sich Mori verhalten wird, wenn ich ihm mit einer geladenen Waffe gegenüberstehe, dann ist dein „Müll“ weitaus wertvoller als das Zeug von Wermut, das hier gerade vor mir liegt.“

Gin gab sich geschlagen: „Tss, Verstehe. Ich bring den Kerl zum HQ. Brauchste seinen bewusstlosen Kumpel auch?“

„Spar' dir die Fahrt. Ich hab Wermut dein Handy orten lassen und bin gleich da. Dann können wir das an Ort und Stelle erledigen.“

„Von mir aus...“, schnaubte Gin verächtlich.

„Gut, dann wäre das geklärt.“

Plötzlich verzogen sich Gins Mundwinkel zu einem Grinsen: „Ach, übrigens, Rum, ich wollte dich noch etwas fragen.“

„Was?“

„Bist du immer noch undicht?“

Aus dem Handy kam nur noch ein Piepen. Rum hatte aufgelegt.
 

Die Straße war beinahe ausgestorben, was um etwas vor drei Uhr morgens auch nicht weiter verwunderlich war. Die wenigen noch aktiven Fahrzeuge waren hauptsächlich Taxis , welche Nachzüglern, die ihren letzten Zug verpasst hatten, mit überhöhten Nachttarifen das frisch verdiente Geld abzunehmen gedachten. Doch bereits diese geringfügigen Motorgeräusche reichten aus, um unangenehme Stiche zum Kopf des Privatdetektivs zu senden, die sich auf eine makabere Weise mit den Impulsen, die von seiner Nase und seiner Schulter ausgingen, zu ergänzen schienen. Bis vor Kurzem hatte ihn das Adrenalin vor dem Gröbsten bewahrt, doch als er das Gewirr aus Seitenstraßen verlassen und die erste Leuchtreklame erblickt hatte, überkam es ihn. Mit einem Mal holte ihn alles ein. Der Tod vierer Menschen. Drei wildfremd, einer sein Freund. Die Gefahr in der geschwebt hatte. Kugeln waren wenige Zentimeter über seinen Kopf hinweggeflogen, eine hatte ihn getroffen. Die Bilder rasten an seinem inneren Auge vorbei und wurden dabei immer schneller. Ein unaufhörlicher Sog, der ihn immer tiefer hineinzog. Schließlich raste seine Kopf auf den gepflasterten Fußweg zu. Für einige Sekunden war alles schwarz.

Als der Detektiv aus seiner kurzen Ohnmacht erwachte, wusste er nur, dass er sehr dringend eine Zigarette benötigte.

Idiot mit Glückssträhne

Polizeimeister Megure ließ sich in seinen bequemen Bürostuhl fallen und schloss die Augen. Alles, was er sich in diesem Moment wünschte, war etwas Ruhe. Einige Minuten Ruhe an diesem unangenehm unruhigen Tag, der noch keine vier Stunden alt war. Doch irgendwie musste der Kriminalist die zahllosen Götter des Shintoismus erzürnt haben. Seinen Wunsch erfüllten sie jedenfalls nicht.

Der junge Polizeianwärter stürmte herein und gab mit seiner lauten Stimme die Träumereien seines Vorgesetzten der Lächerlichkeit preis: „Herr Polizeimeister! Her Polizeimeister! Ich hab' hier eine gewisse Naomi Kato. Sie sagt, sie wollte grad' eine Freundin ihrer Tochter nach Hause bringen,

aber -“

„Um diese Zeit?! Es ist bald halb vier Uhr morgens!“, unterbrach Megure ihn.

„Sie ist wohl eingeschlafen und die Mädchen haben beim Spielen die Zeit vergessen. Außerdem stand sie unter Schock und hat es eine halbe Stunde lang nicht mal fertiggebracht, hier anzurufen. Als sie nämlich bei dem Haus ankam, lagen der Hausherr und der Bruder des Mädchens im Eingangsraum. Tot.“

Der Polizeimeister machte sich bereit zum Aufstehen, allerdings nicht, ohne nicht noch den letzten Hoffnungsschimmer auszuloten, über den er verfügte: „Unfall ausgeschlossen?“

„Tja, die Frau war völlig mit den Nerven fertig und hat viel zusammenhangloses Zeug gebrabbelt. Viel mehr konnte ich nicht rausfinden.“, antwortete er. „Tut mir leid, aber sie sollten wirklich besser, na ja, hinfahren...“

Als Megure aufstand, ächzte der Stuhl erleichtertet auf, konnte aber damit nicht den genervten Seufzer des Polizeimeisters überdecken: „Na schön. Wo müssen wir hin?“
 

Endlich fand eine gewisse Ruhe ihren Weg in das Gemüt des Privatdetektivs. Und das war auch gut so, denn mittlerweile hatte er die frisch gekaufte Packung Zigaretten komplett aufgebraucht.  

Jetzt brauchte er einen Plan. Musste sich sein weiteres Vorgehen überlegen. Wie ging man denn normalerweise vor, wenn man beinahe erschossen worden war? In einem billigen Krimi hätte der Held die Situation jetzt vielleicht durchschaut. Ein müdes Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Wenn das hie wirklich ein Kriminalroman gewesen wäre, hätte ein Autor wohl kaum ausgerechnet ihn als Helden ausgewählt. Zumindest nicht, wenn er über einen gewissen Funken Verstand verfügte. Nein, wie ein Held konnte er sich nicht verhalten. Er würde sich wie das normale Opfer eines Verbrechens verhalten. Die ganze Sache einem Freund und Helfer übertragen.
 

„Bitte was?! Seine Hand soll geplatzt sein?!“, fragte der Polizeibeamte mit einer bissigen Stimme.  

Kogoro ließ seinen Blick noch einmal durch das Polizeirevier, welches für lange Zeit sein Arbeitsplatz gewesen war, schweifen, bis er schließlich antwortete: „Wenn ich es ihnen doch sage! Lassen sie mich bitte mit Megure sprechen.“

„Polizeimeister Megure ist derzeit nicht anwesend. Und selbst wenn, für sie hätte er wohl kaum Zeit für sie.“, erwiderte der junge Mann schnippisch, während er voller Sehnsucht die Uhr betrachtete. Niemand mochte Nachtschichten.

Mori stöhnte. Ausgerechnet einen Neuling vorzufinden, der ihn nicht von früher kannte, war Pech. Oder doch Glück? Immerhin entfielen so die Hinweise auf seine unrühmliche Vorgeschichte. Andererseits hätte man ihm sonst möglicherweise eher Glauben geschenkt. Er startete noch einen letzten verzweifelten Versuch, doch der Polizist hatte weder Lust, an platzende Hände zu glauben, noch weitere Minuten Lebenszeit an den Detektiven zu verschwenden.

„Verschwinden sie! Sie haben offensichtlich 'n paar Gläser zu viel intus. Gehen sie nach Hause und schlafen sie sich aus.“, befahl ihm der junge Beamte.

Mori machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu und murmelte noch einige wüste Schimpfwörter, in der Hoffnung, nicht gehört worden zu sein.

Aber er war gehört worden.

„Es tut mir ja auch leid,“, grinste der Mann „aber auch sie müssen verstehen, dass wir Polizisten uns zuerst um den Großangriff der Marsmenschen kümmern müssen, bevor wir uns ihren platzenden Händen zuwenden können. Ich hoffe wirklich inständig, dass sie dafür etwas Verständnis aufbringen.“

Wortlos warf Mori die Tür des Polizeireviers zu.
 

Rum starrte den angsterfüllten Mann an und lächelte.

„Vielen Dank!“, sagte er „Du hast mir sehr geholfen.“

„So?! Und was war an dem Gesabbel jetzt nützlich?!“, spottete Gin, der etwas abseits an einer Mauer lehnte.

„Och, da war durchaus einiges Nützliches dabei. Zum Beispiel war Mori wohl unbewaffnet, als er auf die Suche nach Uragiri gegangen ist. Und obwohl er im weiteren Verlauf an eine Waffe gelangt ist, hat er sie zu keinem Zeitpunkt benutzt. Laut seiner Akte ist er zwar ein exzellenter Schütze, aber er dürfte gleichwohl nicht in der Lage sein, jemanden zu töten. Überhaupt – nichts von dem, was passiert ist, lässt darauf schließen, dass Mori jemals Herr der Lage war oder besondere Fähigkeiten ihm eine Flucht ermöglicht hätten. Der Kerl ist bloß ein Idiot mit Glückssträhne.“

Gin spuckte auf den Boden: „Was du dir alles aus den Fingern saugst.“

„Wie du meinst. Aber es wird schon einen Grund haben, dass die Organisation mich mit diesem Fall betraut hat.“

Die einzige Antwort war ein verächtliches Zischen.

„Ich bin hier dann fertig.“, ergriff Rum wieder das Wort „Walte deines Amtes, Gin.“

Das war Musik in den Ohren des langhaarigen Mannes...
 

Nachdem der Besuch bei der Polizei sich als Reinfall erwiesen hatte, war Mori wieder vor die gleiche Ausgangssituation gestellt worden, jedoch mit dem Problem, dass sich nun auch die Müdigkeit offen bemerkbar machte. Er brauchte dringend Schlaf. Aber sein Instinkt riet ihm, sich nicht nach Hause zu begeben. Die Personen, die heute versucht hatten, ihn zu töten, waren ohne Frage äußerst mächtig und gefährlich. Und an seiner Detektei würden sie ihm sicher zuerst auflauern.

„Vielleicht könnte mich einer meiner Mahjongg-Kumpels aufnehmen. Mal überlegen, bei wem habe ich noch keine Schulden? Kouda? Okano? Murata? Hmm, Murata wohnt nicht weit von hier und er hat ein tolles Haus.“ Doch dieses Gedanken lösten ein seltsames Gefühl in ihm aus, ein dreckiges Gefühl, als wäre er ein Schmarotzer. Konnte er um diese Uhrzeit überhaupt auf Muratas Hilfe zählen? Sollte er ihn wirklich um diese Zeit stören?

„Vielleicht sollte ich mich doch eher zu den Kartonmenschen im Bahnhof gesellen.“, überlegte er kurz, verwarf den Gedanken dann aber schnell.

„So tief bin ich nun doch noch nicht gesunken.“, dachte der Privatdetektiv „Da schmarotze ich lieber.“

Damit war dann alles entschieden.

Murata.
 

Wenige Minuten später drückte Mori den Klingelknopf des prachtvollen Bauwerks, in dem Daisuke Murata lebte. Auch nachdem er die Villa erblickt hatte, hatte Mori noch gezögert, ob er tatsächlich klingen und den armen Kerl um diese Zeit mit seinen Problemen behelligen sollte. Doch das Haus war noch hell erleuchtet, aus dem Schlaf gerissen hätte er also niemanden – eine enorme Entscheidungshilfe.

Wenige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen

„Yoko?!“, rief der Mann, der im Flur stand, mit hoffnungsvollen Miene, die sich allzu bald in eine überraschte verwandelte.

„Mori? Was machst du denn hier? Und um diese Zeit...“

Der Angesprochene setzte zu einer Erklärung an, entschied sich dann jedoch um. Murata würde ihm auch nicht mehr Glauben schenken, als es die Polizisten getan hatten.

„Das ist - ääh – eine, na ja, eine lange Geschichte.“, begann Mori zögerlich „Wäre es zu viel verlangt, wenn du deinen alten Mahjongg-Kumpel für eine Nacht bei dir pennen ließest?“

Falten bildeten sich auf Muratas Stirn, doch schließlich sagte er zu: „Von mir aus. Ich brauche im Augenblick eh ein Bisschen Gesellschaft.“

„Na ja,“ erwiderte Mori „eigentlich wollte ich mich gleich in die Falle hauen. Wie kommt es überhaupt, dass du um diese Zeit noch wach bist?

„E-es ist wegen Yoko. Heute ist unser Hochzeitstag und wir wollten eigentlich essen gehen. Aber leider hatte sie unaufschiebbare dienstliche Pflichten bis spät in die Nacht und dann haben wir abgemacht, dass ich und die Kinder auf sie warten und wir dann Zuhause ein festliches Nachtmahl zu uns nehmen. Zusammen mit den Kindern, die hätten dann halt einen Tag die Schule geschwänzt.“, er zögerte kurz, sprach dann aber weiter „Aber sie ist bisher noch nicht aufgetaucht. Tja, die Kinder sind inzwischen doch ins Bett gegangen, aber ich mache mir ernsthaft Sorgen. Ich hab ihr doch letztes Jahr ein Mobiltelefon gekauft, da hätte sich mich ja wohl angerufen, wenn sie später käme. An so einem wichtigen Tag.“

„Verstehe,“, gähnte Kogoro „aber mach dir mal keine Sorgen. Sie wird schon wieder auftauchen. Habt ihr ein Gästesofa?“
 

Der Krankenwagen war äußerlich nicht von einem offiziellen Modell zu unterscheiden. Lediglich die Fahrer hätten bei näherem Hinsehen Verdacht erregen können, waren sie doch komplett in schwarz gekleidet. Glücklicherweise waren die Gläser aber getönt und somit für Blicke von außen undurchdringbar. Auch Polizisten stellten keine Gefahr dar, denn wer würde einen Krankentransporter mit Blaulicht anhalten?

„Wo willst du die Kollegen hinten verscharren?“, fragte Rum, der den Beifahrersitz belegte.

„Irgendwo in den Bergen.“

„Verstehe. Lässt du mich vorher noch bei mir bei mir zuhause raus?“

„Sonst niemand mehr, den du heute befragen willst?“, fragte Gin hämisch.

„Ich bin auch nur ein Mensch und brauche meinen Schlaf. Und solange unsere Leute vor der Detektei Mori nichts melden, haben wir sowieso keine Spur, die wir verfolgen könnten. Da können wir ruhig noch ein paar Stunden verstreichen lassen, Mori wird sich schon noch zeigen.“

„Was, wenn er aus Tokio abhaut?“

„Dafür ist er nicht der Typ. Er hat seine Existenz zwar verpfuscht, aufgeben wird er sie aber sicherlich nicht. Er hat schließlich noch eine Tochter, die morgen aus dem Skiurlaub zurückkommen wird.“

Gin lachte trocken.

„Was ich allerdings noch nicht ganz verstehe ist, wieso Mori sterben muss. Das heißt, wieso er sterben muss, weiß ich schon, kleinstes Risiko ausmerzen und so, aber wieso braucht ihr dafür jemanden von meinem Kaliber? Was macht Mori so wichtig, dass ihr mich dafür sogar mit meiner Schwester erpresst? Wermut hat mir das am Telefon nicht sagen wollen.“

Rums Stimme hatte einen verbitterten Klang angenommen.

„Ganz einfach.“, raunzte Gin „Das Mittel, mit dem wir unsere Träume erfüllen wollen. Uragiri hat einen Prototypen davon entwendet. Doch weder Uragiri, noch der Kerl, den er vorgestern aufgesucht hat, hatte das Mittel bei sich. Also ist die Wahrscheinlichkeit hoch,...“

„...dass Mori es hat.“, vollendete Rum den Satz.

„Genau. Niemand darf unseren Zielen so nahe kommen. Damit hat Mori das Potenzial, unsere Organisation zu zerstören.“
 

Wenige Momente später sabberte der Mann mit dem Potenzial, die Organisation zu zerstören in das Kissen des Gästesofas, während ihn unruhige Träume quälten.

Auf zur Detektei Mori

Das Blut tropfte auf den Boden und erzeugte einen rhythmischen Klang. Plitsch. Platsch. Plitsch. Nakamuras Hand bewegte sich quälend langsam nach oben. Der kleine Mann keuchte und stöhnte erleichtert auf, als er es endlich geschafft hatte, sie auf dem kleinen Tisch zu platzieren. Er wandte seine ganze Kraft auf, um sich hochzuziehen. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei, der nun stattdessen als jämmerliches Fiepen seinen Mund verließ. Endlich hatte er es geschafft, sich aufzurichten. Er stützte sich mit seinen Ellenbogen auf dem Tischchen ab und ergriff den Telefonhörer. Zunächst wollte er eine Notrufnummer wählen, entschied sich dann aber um. Er würde ohnehin sterben. Sein Sohn war bereits tot. Er brauchte keine Hilfe. Er brauchte jemanden, der ihn rächte. Unter Schmerzen wählte er die Nummer, die Uragiri ihm gegeben hatte. Er hatte den Zettel, den Uragiri ihm wortlos in den Hausflur geworfen hatte, erst später bemerkt. Einen Zettel, auf dem Uragiri die Nummer eines gestohlenen Handys notiert hatte. Eine glückliche Fügung hatte dafür gesorgt, dass die Kerle ihn nicht entdeckt hatten. Und eine ebenso glückliche Fügung hatte Nakamura mit einem guten Gedächtnis für Zahlen ausgestattet. Ohne diese Fügungen wäre es wohl niemals zu der telefonischen Verbindung gekommen, die jetzt zwischen den beiden Männern bestand.

„Nakamura?“

„Ura – arrgh – iri“

„Was ist passiert, Nakamura?!“, schallte Uragiris Stimme panisch durch den Hörer.

„D-diese Schweine haben m-mich erwischt! Sie h-haben“, fügte Nakamura mit tränennassen Augen und gebrochener Stimme hinzu „M-MEINEN JUNGEN GETÖTET!“ Der kleine Mann verfiel in eine Mischung aus Schluchzen und Japsen.

„WAS?!“

„Du m-musst s-sie fertigmachen. Mach' diese miesen Hu-hurensöhne fertig! Du k-kannst das, r-richtig? M-mit diesem Zeug, d-dass ich v-verstecken sollte. E-es ist einem Schließfach im To-Toriya-Viertel. Du f-findest die genaue Adresse im Keller. Im Keller v-von“ - ihm blieb kurz die Luft weg - „v-von unserem alten C-club. Mach die Schei-Scheißkerle f-fertig!“

Ein lauter Schmerzensschrei. Dann Stille. Big N fiel rücklings auf den Boden und starb, die glasigen Augen auf die Leichen seiner wenige Meter entfernt liegenden Kinder gerichtet.
 

Ein lautes Krähen zerriss die Stille. Der verantwortliche Hahn warf einen auffordernden Blick in das Esszimmer, bis er schließlich von der Schwärze des ausgeschalteten Fernsehbildschirms geschluckt wurde. Murata legte die Fernbedienung auf den Esstisch und wandte sich wieder genervt seiner Misosuppe zu.

„Dass die nach den Morgennachrichten immer dieses bescheuerte Hahnen-Weckprogramm bringen müssen!“, schimpfte er.

Mori, dem klar war, dass weniger das schlechte Morgenprogramm als vielmehr die durchwachte Nacht für Muratas gereizte Stimmung verantwortlich war, erwiderte nichts. Auch er fühlte sich alles andere als taufrisch, war aber trotzdem froh, nicht mehr im Bett zu liegen. Wenn er alltägliche Dinge tat, wie zum Beispiel frühstücken, konnte er es unterdrücken. Doch sobald sein Körper Ruhe fand, sah er plötzlich wieder alles vor sich: geplatzte Hände, geplatzte Hemden und Blut. Die zwei Stunden Schlaf, in deren „Genuss“ er bisher gekommen war, waren die Hölle gewesen. Lieber wach und todmüde als schlafend und in Todesangst.

Während Kogoro Misosuppe schlürfte und sich derlei düsteren Gedanken hingab, zuckte Murata unentwegt nervös hin und her. Sein Blick wanderte von der Wanduhr zur Tür und wieder zurück zur Wanduhr. Yoko hatte immer noch nichts von sich hören lassen.  

„Die Suppe ist ziemlich gut.“, versuchte Kogoro die angespannte Situation etwas aufzulockern „irgendein besonderes Rezept?“

„Tütensuppe.“

Kogoro lächelte verlegen, gab aber seine Bemühungen, ein halbwegs nettes Gespräch bei Tisch zu führen, noch nicht auf.

„Deine Kinder schickst du heute nicht in die Schule?“

„Nein... Ach Mori, lass das! Ich bin nicht in der Stimmung zu plaudern. Das einzige, abgesehen von der Frage wo zur Hölle meine Frau im Augenblick ist, was mich vielleicht ein klitzekleines Bisschen interessiert, ist, was du auf einmal hier willst. Versteh' mich nicht falsch, aber irgendwie wundere ich mich schon, wenn du total runtergekommen und mit gebrochener Nase hier ankommst. Hast du vielleicht Geldprobleme? Schlimmere als sonst, meine ich.“

Mori hatte mit der Frage gerechnet, sie sogar befürchtet, denn sie war unglaublich schwer zu beantworten. Sagte man die Wahrheit, wurde man nicht ernst genommen. Log man, hatte man neben Gewissensbissen auch das Problem, sich eine glaubwürdige Geschichte auszudenken. Schließlich erinnerte er sich der Erfahrungen mit dem Polizisten und entschied sich für die Lüge.
 

Gin führte solche Gespräche nicht häufig. Gespräche mit ihm, dem großen Ganzen, das alle Fäden in der Hand hielt und als graue Eminenz alles und jeden zu kontrollieren ersuchte. Seine verzerrte Stimme tönte blechern aus den großen Lautsprechern, die an der Wand angebracht waren, und erfüllte den Raum mit einem unfassbaren Gefühl von Omnipräsenz. Selbst Gin, einer der kaltblütigsten Menschen dieser Erde, bemerkte, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Körper bildete, als es begann, zu ihm zu sprechen.

„Mir gefällt nicht, wie du diese Operation bisher gehandhabt hast.“

„Das ist nicht meine Schuld.“, erwiderte Gin, dem einmal mehr bewusst wurde, dass er es hasste, Rechenschaft ablegen zu müssen „Das ganze ist auf die Inkompetenz dieser Idioten zurückzuführen. Mit Rum als Ermittler werde ich das Kind schon schaukeln.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob deine Führung nicht ebenfalls zu den unbefriedigenden Ergebnissen beigetragen hat. Außerdem gefällt mir nicht, dass du so gnadenlose Strafen für einige meiner Untergebenen gewählt hast. Für Versager ist bei uns kein Platz, aber ich verlange, dass solch folgenreiche Entscheidungen mit mir abgesprochen werden!“ Es sprach ruhig, nahezu monoton, aber dennoch ließ die Stimme Gin das Blut in den Adern gefrieren.

„Ich habe zu keinem Zeitpunkt unangemessen gehandelt.“

„Dennoch habe ich beschlossen, dass dir die Befehlsgewalt in dieser Angelegenheit zu entziehen ist.“

„W-wer soll es dann tun?“

„Wermut übernimmt weiterhin die Koordination. Und -“ Eine Pause. „- Rum erhält die volle Befehlsgewalt.“

„Was?! Rum ist kein echtes Mitglied. Ohne unser Druckmittel würde er nichts für uns tun. Er ist illoyal!“

Der Einwurf wurde überhört. „Rum ist bereits über die neue Situation informiert. Für dich habe ich andere Aufgaben. Du findest morgen eine Missionsbeschreibung in deinem Handschuhfach.“

Ein quietschendes Geräusch, dann Stille. Die Audienz war beendet. Zorn funkelte wild aus Gins kalten Augen. Er hasste es, Befehle zu bekommen. Und wie er es hasste.
 

Rum betrachtete sein Spiegelbild. Er musste grinsen, denn es sah scheußlich aus. Ein alter Mann, der zu wenig Schlaf und zu viel Stress gehabt zu haben schien, grinste zurück. Aber Rum fühlte sich besser als er aussah. Berücksichtigte man die Umstände, konnte man dies sogar als außergewöhnlich guten Tag bezeichnen. Ein nasser Fleck bildete sich auf Rums Hose und wurde immer größer. Nun ja, so gut war der Tag wohl doch nicht.

„Immer noch inkontinent, hm?“, fragte Wermut die bis eben vor dem Zimmer gewartet hatte „Ich dachte, du nimmst jetzt diese Tabletten.“

„Tabletten sind Gift für den Körper.“, erwiderte er „Könntest du bitte wieder rausgehen, ich würde gerne die Hose wechseln.“

As you wish.“, antwortete sie mit ironischem Unterton und verließ das Zimmer.

Wenige Minuten später öffnete Rum die Tür und wurde von Wermut mit einem „Na endlich!“ begrüßt.

Vor dem Haus wartete ein knallroter Sportwagen.

„Ginge es nicht ein wenig unauffälliger?“, erkundigte er sich mürrisch.

„Was willst du? Es ist schön, schnell und genau geeignet für unsere Mission.“

„Unsere Mission? Das hört sich ja an, als ob ich freiwillig bei euch Dreckskerlen mitmachen würde.“

„Ach, so unterschiedlich sind wir beide nicht. Jeder von uns wird durch ein Blatt Papier angetrieben, nur dass es bei mir der Gehaltsscheck ist, und bei dir diese Patientenverfügung.“

„Diese verdammte Patientenverfügung.“, grummelte Rum.

„Wie auch immer,“ Wermut öffnete die Beifahrertür. „jetzt sollten wir beide was aus dieser Situation machen. Du fährst.“

„Ich fahre?“

„Du hast die volle Befehlsgewalt – du fährst.“

„Wohin?“

„Das musst du wissen.“

Rum überlegte kurz: „Gut, dann auf zur Detektei Mori.“

Er ließ den Motor an.
 

Der Wagen bog nach rechts ab. Rum gab einen nachdenklichen Seufzer von sich.

„Was ist?“, fragte seine Beifahrerin ihn.

„Moris Detektei wird doch immer noch von unseren Leuten bewacht?“

„Ja.“

„Ich will, dass wir sie abziehen. Wenn Mori tatsächlich in die Nähe der Detektei kommt, sollte er besser niemanden Verdächtiges entdecken. Gib deinen Leuten den Befehl weiter, dass sie sie sich etwa zwei Kilometer entfernt von Detektei einen hohen Beobachtungsposten suchen sollen. Beobachtung, wohlgemerkt. Sie sollen nicht ohne Befehl eingreifen.“

„Aber -“

„Habe ich die volle Befehlsgewalt, oder habe ich sie nicht?“

Widerwillig griff Wermut zu ihrem Mobiltelefon.

Als sie das Gespräch beendet hatte, begann Rum wieder, zu sprechen.

„Außerdem wäre aufgrund der Brisanz der Angelegenheit ein guter Scharfschütze von Vorteil. Ich will einen der drei Besten. Chianti, Korn oder Calvados.“

„Die drei sind im Augenblick allesamt damit beschäftigt, die Regierung eines Dritte-Welt-Landes zu stürzen.“

Rum zog eine Augenbraue hoch. „Dann will ich Rye.“

„Rye?“

„Ja, er ist zwar kein offizieller Scharfschütze, aber soweit ich weiß, ist er dennoch außergewöhnlich begabt in dieser Hinsicht. Kontaktiere ihn.“

Wermut verdrehte die Augen und wählte die Nummer.

„Gut. Sorg' dafür, dass er unsere Leute an den Beobachtungsposten schnellstmöglich ablöst. Wir sind fast da, ich steig hier aus. Fahr du zurück zum HQ und erledige die Koordinationsarbeit.“, befahl Rum und hielt am Straßenrand.

Er stieg aus, lief zum Kofferraum, holte einen alten deutschen RIMOWA-Koffer daraus hervor und stapfte los.
 

Nachdem sich Kogoro Mori eine Geschichte voller Wasserrohrbrüche, Wohnungsbrände und ähnlicher Problemchen aus den Fingern gesaugt hatte, sah Murata ihn stirnrunzelnd an.

„Wenn du mir nicht die Wahrheit sagen willst, ist das in Ordnung, Kogoro. Du musst dir deshalb nicht gleich so einen Quatsch ausdenken.“

Bevor der Detektiv zu einer Antwort ansetzen konnte, klingelte das Telefon. Sekundenbruchteile später war Murate bereits aufgestanden und hatte das Gespräch angenommen.

„Yoko?! Bist du's?“

Für einen kurzen Moment sagte er nichts, dann blickte er irritiert in Moris Richtung.

„Mori. Es ist für dich.“

Kogoro erwidert den Blick vollkommen verdattert.

„Wer?!“

„Deine Frau.“

„Aber woher kennt sie...?“

„Komm einfach her!“

Mori folgte der Anweisung und nahm Murata den Hörer aus der Hand.

„Eri?!“

„Kogoro, ihr habt noch den Staubsauger, den ich Ran geliehen hab. Könntest du ihn bitte bei mir vorbeibringen?“

„Nein, das geht jetzt nicht!“

„Schon klar, du Schluckspecht! Bist zu sehr damit beschäftigt mit deinem Kumpel Mahjongg zu spielen, stimmt's? Dann hole ich ihn mir eben selbst, ich habe den Schlüssel ja.“

„Nein! Eri! Lass das!“

„Hat man da noch Töne? Wie redest du denn bitteschön mit mir?!“

„Nein! Die Detektei ist...“

„...der reinste Saustall, ich weiß.“, entgegnete sie schnippisch und legte auf.

„NEIN! VEDAMMTE SCHEISSE!“, brüllte Kogoro mit verzweifelter und knallte den Hörer auf die Gabel.

„Was ist denn los?“, wunderte sich Murata.

„Ich muss weg! Gib mir dein Auto!“, befahl Kogoro panisch und rannte auf die Glastür zu.

„Das geht nicht. Das hat Yoko.“, antwortete sein Kumpel, dessen Verwunderung immer weiter anwuchs. „Ich brauche doch keins mehr, seit wegen dieser Verletzung nicht mehr arbeiten kann.“

„Dreck! Dann eben zu Fuß.“, rief Kogoro noch und entschwand durch die Tür...

Die Verfügung

Grell drang das Scheinwerferlicht durch die Windschutzscheibe und riss die Fahrerin des Wagens aus ihrem Sekundenschlaf. Sie benötigte einige Momente um die Gefahr, in der sie schwebte, zu realisieren. Als sie begriff, stieß sie einen panischen Schrei aus, ergriff das Lenkrad und riss es herum. Doch es war zu spät. Ihr Mund war noch immer zum Schrei geöffnet, als der Kleinbus ihren Wagen mit bestialischer Wucht traf. In wenigen Momenten wirkten die Fronten der beiden Fahrzeuge, als ob sie aus einer schlecht funktionierenden Müllpresse gekommen wären. Das Fahrzeugblech war zerknautscht, während die Kühlerflüssigkeit beider Wagen fröhlich in die Nachtluft sprudelte. Aber das Horrorszenario war noch nicht zu seinem Ende gekommen.

Der Kleinbus überschlug sich und riss das Dach ihres Wagens auf. Mit einem kreischenden Geräusch wurden Glas-, Plastik- und Metallstücke in die Luft geschleudert. Auch die Fahrerin blieb nicht verschont. Als ihr linkes Auge von dem Glassplitter getroffen wurde, klang es wie das Zertreten eines Käfers.

Schließlich rutschte der Mitsubishi von dem zerstörten Dach hinunter und blieb seitlich auf dem schwarzen Teer liegen. Sein Fahrer, der vor zwanzig Minuten noch lachend telefoniert und anzügliche Witze gerissen hatte, tat seinen letzten Atemzug. Der Wagen der Frau raste unterdessen ungebremst auf die Leitplanke zu und kollidierte unter ohrenbetäubendem Lärm mit dieser, was nun auch ihn zum Stehen brachte. Die Fahrerin war ohnmächtig, von Schürfwunden, Schnitten und Quetschungen gezeichnet und nichts deutete darauf hin, dass sie noch lebte. Doch etwas schlummerte in ihr. Ein Hauch, ein winziger Funke Leben. Und selbst dieser kleine Funke, der noch in ihrem geschundenen Körper verweilte, reichte, eine Verkettung der Ereignisse auszulösen, deren Ergebnis niemand auch nur zu erahnen gewagt hätte.
 

„Es steht schlecht um sie.“, seufzte der Arzt und zog seine Stirn kraus. „Sicher, ihr Zustand ist mittlerweile stabil, aber sie ist weiterhin komatös. Es sind nun zwei Jahre seit dem Unfall ins Land gegangen. Ich will ehrlich sein, Herr Mohuku, ich bezweifle ernsthaft, dass ihre Schwester, nun ja, lassen sie es mich so sagen: Die Chance, dass ihre Schwester, dass sie, na ja, das Bewusstsein je wiedererlangen wird, ist verschwindend gering bis nicht vorhanden.“

Mit jedem Wort des Doktors hatte das Gesicht seines Gegenübers etwas mehr an Fassung und Farbe verloren.

Als er den Satz vollendet hatte, vergrub der Mann das Gesicht in seinen Händen und presste seine Antwort schluchzend hervor: „D-das, das kann doch n-nicht sein! Sie m-müssen doch e-etwas t-tun können. Sie müssen das doch können! Sie sind doch Arzt, verdammte Scheiße!“

Der Mediziner, ein fit wirkender Mittdreißiger, setzte eine verständnisvolle Miene auf. Er hatte diese Reaktion erwartet.

„Wir Ärzte, wir sind auch nicht allmächtig. Es ist offengestanden bereits ein Wunder, dass ihre Schwester diesen Unfall überhaupt überlebt hat. Ich denke, sie sollten akzeptieren, dass sie ihren Frieden gefunden hat, Herr Mohuku.“, versuchte er ihn zu beruhigen und legte seine Hand auf die Schulter des verzweifelten Bruders. Dieser schüttelte sie jedoch zornig ab.

„Sie sagen das so, als wenn sie sie bereits aufgegeben hätten! Als wenn sie schon tot wäre!“, begann er, wobei die Wandlung von nackter Verzweiflung zu Wut sich deutlich in seinem Gesicht abzeichnete. „Aber das ist sie nicht! Ihre beschissenen Geräte zeigen es doch auch an: Ihr gottverdammtes Herz schlägt noch!“

„Ich verstehe sie. Aber das ist nichts als ein einfaches Signal. Wir Menschen verknüpfen das Herz gerne mit Emotionen, mit Gedanken, mit dem Charakter. Aber die Wahrheit ist leider viel profaner.“ Er blickte ihn traurig an. „Glauben sie mir, es gibt für mich keinerlei logischen Grund, davon auszugehen, dass sie je wieder erwachen wird.“

Eine Pause. Eine qualvolle, lange Pause.

„Ich weiß, das ist hart und traurig, doch ich denke, sie sollten loslassen.“, ergänzte der Mediziner.

Plötzlich blitzten Funken in Mohukus Augen auf. Wut, blanke Wut.

„Loslassen?! Was soll das heißen?! Sie sind ein Arzt, wenn auch ein verdammt beschissener, und es ist ihre Scheißpflicht, sie am Leben zu erhalten.“

Der Doktor steckte die Beleidigungen mit der gleichen, ruhigen Miene weg, die er sich über den gesamten Gesprächsverlauf bewahrt hatte, doch für einen kurzen Moment zeigte sich in seinem Gesicht eine entsetzlich geschmacklose Regung des Triumphs.

„Nun, als Arzt ist es meine Pflicht, den Willen meiner Patienten zu erfüllen.“, begann er zögerlich, wurde jedoch sofort unterbrochen.

„Und woher wollen sie ihren Willen kennen?! Sie kennen sie überhaupt nicht! Sie würde diese Welt nicht verlassen wollen. Sie würde am Leben bleiben wollen!“, schimpfte Mohuku, während die zorntriefenden roten Flecken in seinem Gesicht immer deutlicher wurden.

„Wir … befinden uns in der glücklichen Lage, ihren Willen mit absoluter Bestimmtheit zu kennen. Sie hat eine Verfügung erstellt – eine Patientenverfügung – und sie bei einem Notar hinterlegt.“ Wieder legte der Doktor eine Kunstpause ein. „Und sie hat verfügt, dass, wenn sie zwei Jahre oder länger von lebenserhaltenden Geräten abhängig sein sollte, dass diese Geräte dann, tja, dass wir, dass diese Geräte dann abzuschalten sind.“

Das Wort Entsetzen wurde der Miene des Bruders nicht einmal ansatzweise gerecht. Sein gesamter Körper begann zu zittern. Sein Mund blieb offen stehen. Er schlug die Hände vors Gesicht, nur um sie dann, unschlüssig, was er mit ihnen anfangen sollte, wieder sinken zu lassen. Plötzlich verfiel er in ein manisches Gejaule, nur um einen Moment später wieder zu verstummen. Das Zittern seiner Knie wurde immer stärker, bis er sein Gleichgewicht schließlich verlor und zu Boden fiel.

Dort blieb er für wenigen Sekunden liegen, hob dann den Kopf und stammelte fassungslos einige Worte: „D-das, d-das können sie d-doch u-unmöglich m-machen? S-sie k-können das d-doch nicht er-ernst nehmen?!“

Der Arzt, immer noch vollkommen perplex wegen des plötzlichen emotionalen Ausbruchs, musste sich erst kurz sammeln, bis er realisierte, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.

„Selbstverständlich nicht.“, setzte er an, woraufhin Mohuku sofort um einiges hoffnungsvoller wirkte. „Es gibt zusätzlich zu den Verfügungen immer einen Bevollmächtigten, der bestätigt, dass es der Wille des Patienten gewesen wäre. Im Falle Ihrer Schwester wäre das ihr Mann.“ Erneut machte der Arzt von einer seiner üblichen Pausen Gebrauch. „Ich habe gestern mit ihm telefoniert. Er hat den Willen ihrer Schwester bestätigt.“

Mohuku klappte die Kinnlade herunter: „Hiroki hat WAS?! Wie... Wie kann er das tun?!“

Der Mediziner zuckte mit den Schultern: „Ich schlage vor, dass sie das in einem persönlichen Gespräch selbst klären.“

Sein Gegenüber drehte sich mit einem Mal um und steuerte auf den Ausgang zu.

„Das werde ich.“

Wäre der Arzt weniger überrumpelt und verwirrt gewesen, hätte er die plötzliche Änderung in Mohukus Verhalten vielleicht als seltsam eingestuft. Hätte seinen grimmigen Tonfall bemerkt und eine Katastrophe verhindern können. Doch er ließ den Mann, auf dessen Hose sich im Verlauf des Gesprächs ein dunkler Fleck gebildet hatte, unbehelligt von dannen ziehen.
 

Die Krankenhaustür wurde durch einen wütenden Hieb aufgestoßen. Mit schnellen Schritten stapfte Mohuku über die abgenutzten grauen Pflastersteine des Fußgängerwegs. Er versuchte, seine Gedanken und Emotionen zu sortieren, wie er es immer getan hatte, wenn ihn ein Schicksalsschlag getroffen hatte, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Zu groß war der Schleier aus Wut, Angst und Trauer. Zu dicht war er, um eine rationale Denkweise zu erlauben. Gedankenfetzen flogen in seinem Gehirn hin und her, riefen ihn dazu auf, sich von einer Brücke zu stürzen. Oder zurück in das Gebäude zu stürmen und diesem schleimigen Mistkerl den Hals umzudrehen. Oder sich mit einer ausreichenden Alkoholmenge in seinem Haus zu verbarrikadieren. Oder sich eine Person zu suchen, die seinen emotionalen Wirrwar teilte.

Der letzte Gedanke war aberwitzig. Gab es eine solche Person überhaupt?

Mit Schrecken wurde ihm klar, dass die Person, von der der gesunde Menschenverstand eine solche Geisteshaltung erwarten würde, es überhaupt erst zu dieser Misere hatte kommen lassen. Der liebende Ehemann. Hiroki. Er hatte sein Einverständnis gegeben. Er hatte ihrer Ermordung zugestimmt. Mit einem Mal ordnete sich seine Gefühlswelt. An seiner Trauer war er Schuld. An seiner Angst war er Schuld. Und seine gesamte Wut konzentrierte sich nun auf ihn.

Hiroki.

Er musste sterben.
 

Unweit von Mohuku nuschelte ein Mann in schwarzem Anzug Antworten in sein Fungerät.

„Habe Mohuku gesichtet, ist gerade aus der Haido-Zentralklinik gekommen.“

Die Antwort war unverständlich, weshalb der stämmige Mann den Hörer enger an sein Ohr presste und um eine Wiederholung bat.

„In was für einer Verfassung befindet er sich?“

„Er wirkt, als wäre er fertig mit sich und der Welt. Total aufgewühlt.“, gab das Organisationsmitglied zurück.

„Hast du eine Idee, wieso, Wodka?“ Gins befehlender Ton drang kalt an sein Ohr.

„Nein. Keine Ahnung, was in dem Krankenhaus vorgefallen ist.“

„Dann finde es heraus.“

„Zu Befehl.“, sagte der Lakai und legte ohne ein weiteres Wort auf.
 

Mohukus ganzer Körper war immer noch zum Zerreißen gespannt, als er endlich in seiner geschmackvoll westlich eingerichteten Villa angekommen war. Üblicherweise hätte er zuerst seinen Anrufbeantworter abgehört, um seinen Kollegen von der Polizei zuzuhören, die angewiesen waren, ihn auch in seinen Urlaubswochen stets auf dem Laufenden zu halten. Danach hätte er sich etwas Hochprozentiges eingeschenkt und Filmklassiker angesehen. Er war ein Gewohnheitstier, doch diesmal tat er nichts von alldem.

Statt sich ruhig hinzusetzen, schritt er nervös im Flur auf und ab. Schritt auf und ab und schmiedete Pläne. Pläne, die ihm zum Verhängnis werden konnten.

Früher waren er und Hiroki immer miteinander ausgekommen. Zwar waren ihre Konversationen immer ein wenig förmlich gewesen, doch so sprach Mohuku mit jedem, der nicht seine Schwester war. Auf jeden Fall würde niemand ihn dafür des Mordes verdächtigen.

Das einzige, was ihn später bei den Ermittlungen in schlechtes Licht rücken konnte, war sein Streit mit diesem schleimigen Doktor.

Sollte er ihn deshalb auch aus dem Weg räumen?

Nein, entschied er sich mit einem Mal. Ich weiß nicht, wer alles unseren Streit mitbekommen hat. Wenn der Doktor auf einmal stirbt, könnte der Verdacht auf mich fallen. Es wird nichts bringen, ihn dafür zu bestrafen. Das ist Hirokis Schuld. Er ist auch der einzige, der bezahlen sollte.

Der Handel

So, dieses Kapitel schließt jetzt den Rückblenden-Arc ab und serviert die letzten Puzzlestücke für das Finale, das in den nächsten beiden Kapiteln eintreten wird, natürlich viel zu spät. D:
 

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Kapitel 16: Der Handel
 

Mohuku atmete tief ein, dann wieder aus. Seine mit blutbesprenkelten Handschuhen bekleidete Hand zitterte und schaffte es dabei eigenartigerweise, den Takt der flackernden Straßenlaterne zu treffen. Mit stummem Entsetzen blickte er noch einmal zu der Tür, die zu einem Spalt geöffnet war. Wieder durchzuckten ihn die Bilder. Hiroki, wie er um Gnade winselte. Wie er um Entschuldigung bat, während sich das Messer hob und senkte, sich die Edelstahlklinge jedes Mal tiefer in seinen Körper grub, bis sie schließlich komplett die Farbe seines Lebenssaftes angenommen hatte. Mohuku hielt inne. Hatte er wirklich getan, was er eben gesehen hatte? Fast war er versucht, nachzusehen, doch er entschied sich in dem Moment um, in dem die Klarheit seinen Geist einholte. Er war sich jetzt sicher, dass er Hiroki getötet hatte. Obwohl, besann er sich schließlich, getötet hört sich so sehr nach Verbrechen an. Ich habe ihn bestraft. Bestraft dafür, dass er meine Schwester ermordet hat. Ein zufriedenes Grinsen fand zwischen den Falten seinen Platz auf Mohukus Mund. Er hatte es wirklich getan. Er hatte geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Er fühlte sich wunderbar.

Das Gefühl hielt an, bis ihm ein weiterer Gedanke in den Sinn kam. Mit einem hastigen Zucken seines Kopfes sah er sich um. Niemand war auf der einsamen Straße, keine Licht erhellte die Fenster der Nachbarhäuser. Niemand hatte ihn gesehen. Er atmete erleichtert aus und hastete dann davon, da er nicht vorhatte, diesen Umstand noch nachträglich zu ändern. Ein Tuch verdeckte große Teile seines Gesichts, um eine Identifikation unmöglich zu machen. Sein Gerechtigkeitssinn sollte seine Existenz nicht zerstören, und er war sich sicher, dass das nicht passieren würde. Er war schließlich nicht umsonst Kommissar Mohuku, der rechtschaffene Polizist, dem es in Ausübung seines Amtes sicherlich gelingen würde, die Ermittlungen in die richtige Bahn zu lenken.

Er beendete seinen kurzen Sprint, als er schließlich vor seinem grauen Wagen angekommen war. Er hatte genau auf die naheliegenden Häuser geachtet, nach verdächtig wackelnden Vorhängen gesucht, doch nichts entdecken können. Und seine Fähigkeit, Details zu berücksichtigen war schon immer eine seiner Stärken gewesen. Lässig zog er sich die Handschuhe von seinen Händen und warf sie über die nahegelegen Brücke zusammen mit dem Messer in den Fluss. Mit einem immer breiteren Grinsen schloss er seinen Wagen auf, den er im Schatten geparkt hatte, damit niemand beiläufig das Kennzeichen mitbekommen konnte.

Als die Wagentür ins Schloss gefallen war, ließ sich Mohuku abermals die komplette Szenerie durch den Kopf gehen und suchte nach potenziellen Schwachpunkten. Doch es gab keine. Mordwaffe und Fingerabdrücke waren entsorgt. Zeugen gab es keine. Und was auch immer möglicherweise an Kleidungsfasern zurückgeblieben sein mochte, würde allzu bald vernichtet werden. Eine dämonische Fratze bildete sich auf Mohukus Gesicht, als er die wankenden Schatten der durch den Wind bewegten Baumkronen betrachtete. Seine Tat war wie dieser Schatten, einmal ans Licht gezerrt würde keine Spur zurückbleiben. Es war das perfekte Verbrechen. Er ließ den Wagen an.
 

Mohuku wusste nicht, dass es doch Zeugen gegeben hatte. Zeugen, die sich noch besser in Schatten zu verstecken vermochten, als irgendeine ihm bekannte Person, er selbst eingeschlossen. Zu seinem Glück war das Interesse dieser Zeugen an seiner Tat rein professioneller Natur.

Der Porsche 356A fuhr erst los, als Mohukus Wagen außer Sichtweite war. Gin grinste und warf seiner Beifahrerin einen Blick zu, der in gleichem Maße angsteinflößend wie zufrieden war.

„Diesen Mann will ich, Wermut,“, er fuhr los. „Diesen Mann brauchen wir.“
 

Mehrere Wochen waren nun vergangen und jedes Detail von Mohukus Plan war zu seiner Erfüllung gelangt. Zu keinem Zeitpunkt war er in der unglückseligen Angelegenheit des Todes von dem Ehemann seiner Schwester je zu den Verdächtigen gezählt worden. Sorgfältig und systematisch war es ihm gelungen, jedes potenzielle Beweisstück zunächst auf Verfänglichkeit zu untersuchen, bevor es einer polizeilichen Analyse unterzogen werden konnte. Auch seinen Ausbruch im Krankenhaus hatte er sorgfältig den wachsamen Polizistengeistern vorenthalten. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten.

Das hatte er zumindest gedacht. Viele Kalenderblätter hatten seit seinem Mord an Hiroki den Weg von seiner Wand zu seinem Mülleimer gefunden, als der Anruf eintraf.

In Mohukus Gedächtnis, seit jeher bemerkenswert und leistungsstark, hatte sich jener Abend mit einer besonderen Intensität eingebrannt, ihn gebrandmarkt. Jener Abend, der ihn vom bösen Menschen zum Monster gemacht hatte.

[align type="left"]

Sein altertümlicher Fernsprecher klingelte mahnend zum dritten Mal, ein unangenehm penetrantes Geräusch. Wie üblich ließ sich Mohuku Zeit mit dem Entgegennehmen seiner Anrufe, niemand sollte glauben, ihm für Eile wichtig genug zu sein.[/align]

„Hier Mohuku.“, ließ er dann endlich eine schroffe Begrüßung verklingen. Am anderen Ende war eine Frau, die Frau, die sein Leben ebenso schnell erobern sollte, wie sie in es getreten war.

„Das war beeindruckend.“ Ein spöttischer Klang, der ihn stets verfolgen sollte. „Wie Sie mit dem Ehemann ihrer Schwester verfahren sind.“

Der Schock, der Mohuku in diesem Moment durch all seine Glieder, jede Faser seines Körpers zuckte, war unbeschreiblich. Seine Perfektion, sein perfektes Verbrechen, auf einmal zerfielen sie zu Staub, vernichtet durch einen einzigen, kurzen Satz.

Nach einer viel zu langen Pause erhob er die Stimme endlich wieder.

„Wovon reden Sie bitte?“ In dem Satz steckte noch zu viel seines Entsetzens, auch, wenn er sein bestes gab, überrascht, aber nicht verstört zu klingen. Mit einer billigen Suggestion sollte ihn keiner hereinlegen.

„Sie wissen genau, wovon ich rede. Wie Sie mit dem Messer aus dem Haus gerannt sind. Eilig, und doch sorgsam. Eine wunderbare Darbietung.“

War diese Frau eine Ermittlerin? War er doch ins Radar geraten? Mohuku wählte seine Worte sorgfältig, um einem Verdacht keinen Nährboden zu geben.

„Wovon reden Sie bitte? Was sind das für Unterstellungen?“

„Ein Kampfmesser. Eine wunderbare Wahl. Wer hätte gedacht, dass ein führender Kommissar wie Sie so etwas besitzt?“

Als er ihre Aussage zu der Art des Messers hörte, stutze er. Woher wusste sie das? Hatte es doch Zeugen gegeben? Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln verwarf er den Gedanken. Sicher hatte sie es aus der Form der Einstichwunden geschlossen. Diese Frau war bestimmt eine Ermittlerin, die ihn dazu bringen wollte, sich selbst zu überführen. Doch so leicht fiel er nicht auf Fallen herein, die er selbst so oft gestellt hatte.

„Ich habe immer noch keine Ahnung, wovon Sie reden. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, tun Sie es jetzt, sonst lege ich auf.“ Ein wenig störte ihn seine Wortwahl. „Wenn sie mir etwas zu sagen haben“, klang verdächtig, aber wenn es doch eine Zeugin war, musste er erfahren, was sie wusste. Und direkt belastet wurde er durch seine Aussage auch nicht, noch war er auf der sicheren Seite.

„Ich denke, dass Sie genau wissen, wovon ich rede.“

„Dann lege ich jetzt - “

„Wollen Sie mich treffen? Oh, was rede ich, natürlich wollen Sie das. Es nagt an Ihnen, nicht wahr? Wie kann das sein? Niemand hat mich gesehen. Das denken Sie doch? Aber irgendwo, tief in Ihnen, da ist sie dann doch, die keimende Saat des Zweifels. Sie werden nicht auflegen.“

Er schluckte. Diese Frau machte ihm Angst, zum ersten Mal wirkliche Angst. In ihrem beiläufigen Tonfall seine Gedankengänge erklärt zu bekommen, macht ihn verrückt. Man durfte ihn nicht durchschauen. Niemand durfte das.

„Das ist... Wenn... Also, wenn ich Sie tatsächlich treffen wollte, wo fände ich Sie dann?“ Er fluchte innerlich. Wenn sie jetzt eine Ermittlerin war und eine Aufnahme dieses Gesprächs vor Gericht abspielte, würde das schlechte Licht in seiner schönsten Form auf ihn strahlen. Nein, überlegte er dann, ich werde einfach sagen, dass ich einer möglichen Spur nachgehen wollte. Schließlich scheint die Frau ganz offensichtlich was gesehen zu haben, da würde ich als leitender Kommissar doch natürlich einlenken? Ja, das wird gehen. Er lächelte zufrieden. Ihre Falle würde ihn nicht fangen.

Der Hörer knackte.

„Wo ich bin? Nun,“ Sie lachte leise. „direkt vor Ihrer Tür.“

Die Türklingel läutete.
 

„Wer sind Sie?“ Seine Reaktion auf die platinblonde Frau in seiner Haustür war konventionell, fast schon klischeehaft. Wenn er sich je für Filme interessiert hätte, wäre ihm das Gesicht der Schauspielerin vielleicht bekannt vorgekommen, doch so wusste er nur eines: Bei der Polizei hatte er sie nie gesehen.

„Mein Name ist vorläufig irrelevant, viel wichtiger ist doch mein Angebot.“ Wieder schien sie amüsiert. „Wollen Sie mich nicht ins Haus bitten?“

„Natürlich...“ Mühsam seine Verwunderung im Zaum haltend begab er sich ins Innere des Hauses und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Ihre Augen funkelten und begutachteten sein Haus mit Interesse. Ihr Auge blieb an seiner Funkausrüstung hängen.

„Oh, Sie sind Amateurfunker? Das stand nicht in unserer Akte.“

„Ja, ich habe früher gerne falsch SOS gefunkt.“ Viel lieber hätte er sich erkundigt, welche Akte zur Hölle sie meinte, doch er wollte in der folgenden Konversation die Oberhand behalten, und überraschte Neugier schien ihm wie Schwäche.

„Ist das nicht strafbar?“

„Ich wurde nie erwischt.“
 

Sie kamen in dem rustikal, aber gemütlich eingerichteten Wohnzimmer an, wo sich die Frau ohne Nachfrage auf einen Stuhl fallen ließ. Er tat es ihr gleich.

„Ihr Angebot?“, begann er das Gespräch ohne überflüssige Höflichkeiten.

„Selbstverständlich.“ Sie atmete seufzend aus und steckte sich – wieder ohne Nachfrage – eine Zigarette an. „Ich vertrete eine Interessengemeinschaft, die sich jenseits Legalen bewegt.“

Er grunzte, um seine Abneigung ihren Euphemismen gegenüber zum Ausdruck zu bringen.

„Yakuza?“

„Mehr als das.“

„So? Und was wollen Sie von mir?“

„Wir sind an einer Zusammenarbeit mit Ihnen interessiert.“

„Mit mir?“ Er lachte trocken. „Ich bin Kriminalkommissar. Ihr ärgster Feind.“

„Ich bitte Sie. Wir haben Sie bereits einmal ein Verbrechen begehen sehen, wie eingangs erwähnt.“

„Hören Sie nie mit diesem Schwachsinn auf?“

Sie überging den Kommentar.

„Und was die Zusammenarbeit angeht, so glauben wir, dass es nur eine Frage der Verhandlungsargumente ist.“

Ein flaues Gefühl besetzte seinen Magen. Skeptisch sah er sie an.

„Argumente?“

„Ist Ihnen bewusst, dass die Patientenverfügung Ihrer Schwester immer noch greift?“

Seine Augen weiteten sich. Angst und Wut schienen sie zu verbrennen.

„Was soll das heißen?“

„Trotz Ihres beachtenswerten Mordes werden die lebenserhaltenden Geräte, an die ihre Schwester angeschlossen ist, bald abgeschaltet werden.“

Mohuku zuckte hoch, als hätte ihn ein giftiges Insekt gestochen.

„Was?!“

„Nur die Ruhe,“ Seine mysteriöse Gesprächspartnerin grinste abermals und begann, in ihrer Schlangenlederhandtasche herum zu wühlen, bis sie schließlich einen kleinen Fernseher hervorzog. „Sehen Sie.“

Auf der verschwommenen Anzeige war zu erkennen, wie zwei schwarze Gestalten sich an einem Krankenbett zu schaffen machten. Trotz der schlechten Bildqualität erkannte Mohuku sofort, wer in dem Bett lag.

„Was tun Sie da? Was hat das zu bedeuten? Was machen diese Kerle bei meiner Schwester?“

Zornig und mit rotem Gesicht ließ er seine Faust durch die Luft kreisen.

„Nur die Ruhe. Das sind Mitarbeiter von mir, die soeben Ihre Schwester aus dem Krankenhaus entführen.“

Mohuku war außer sich.

„ENTFÜHREN?! WOHIN ENTFÜHREN? WAS HABEN SIE MIT IHR VOR?!“

„Die Interessengruppe, die ich vertrete, besitzt beeindruckende medizinische Kapazitäten.“

Mit einem Mal schwieg Mohuku. Er ahnte jetzt, wohin das Gespräch führte. Es führte zu einer Möglichkeit, die er sich zu keinem Zeitpunkt je erhofft oder erträumt hatte.

„Wir bieten Ihnen an, ihre Schwester bei uns am Leben zu erhalten, wenn sie kooperieren. Bis sie aufwacht.“

Manchen mochte Mohukus Sinneswandel seltsam erscheinen, doch er war nie Mann langsamer Gedankengänge gewesen. Ein Grinsen zeichnete sein Gesicht.

„Dieses Gespräch ist soeben viel interessanter geworden. Wollen Sie etwas trinken?“

Auch sie lachte, von dem Erfolg offensichtlich erfreut.

„Ich nehme, was Sie nehmen.“

„Das wäre dann Rum.“

Crescendo

Der Klang von Eri Kisakis Absätzen hallte von der Straße wider, und aus den resultierenden Stampfgeräuschen hätte selbst jemand, der Eris zorngerötetes Gesicht nicht sah, eine Ahnung ihrer Wut erlangen können. Wie hatte sie dieser Flegel nur so behandeln können? Dieser Mann, in den sie sich vor einer Zeit, die ihr endlos weit zurück schien, verliebt hatte? Sie wusste nicht genau, was sie im momentan eigentlich dermaßen aufregte. Die Dreistigkeit Kogoros, mit der er ihr den Staubsauger, den immerhin sie ihm geliehen hatte, nicht zurückgeben wollte, war keinesfalls der ausschlaggebende Grund. Sicher, es störte sie, aber über eine derartige Banalität hätte sie sich normalerweise nicht aufgeregt. Nein, es war etwas anderes. Sein Tonfall, als er sie gebeten hatte, der Detektei fernzubleiben. Normalerweise eher eine gespielte Genervtheit war es ihr diesmal so vorgekommen, als wenn ihr Mann tatsächlich ihr Fernbleiben gewünscht hatte. Die ernsthafte Dringlichkeit seiner Stimme, die so gar nicht zu seinen üblichen Ausreden passte. Als wenn diesmal wirklich etwas Wichtigeres als ihr Besuch in seinem Kopf war. Als wenn er sich nicht mehr insgeheim freute, ihre Stimme zu hören. Sie schluckte, als eine Träne aus ihrem linken Auge ihre Wange hinunterlief. Das war es, was sie verletzte hatte. Diesmal waren es nicht die üblichen Geplänkel gewesen. Diesmal hatte er es ernst gemeint.

Schlagartig blieb sie stehen. Die Wohnung dieses Mannes wollte sie tatsächlich aufsuchen? Diese Wohnung, in der es nach Bier und Zigarettenqualm stank? In der er sie offenbar keinesfalls haben wollte? Mit einem Mal verflog ihre Entschlossenheit und sie blieb stehen. Wen interessiert schon der lächerliche Staubsauger? Wenn der feine Herr etwas Besseres zu tun hat und mich um keinen Preis in seiner Wohnung haben will, dann soll er mich dort auch nicht haben.

Weitere Tränen flossen aus ihren Augen und verwischten die sorgfältig aufgetragene Schminke, die sich dort – heute waren weder Geschäfts-, noch Gerichtstermine, noch hegte sie Ausgehpläne – scheinbar ohne jeden Grund finden ließ. Mit einem traurigen Schnauben machte Kisaki auf dem Absatz kehrt.
 

Auch Moris Keuchen hätte jedem, dem es zu Ohren kam, viel über seine momentane Lage verraten. Die ihm ins Gesicht geschriebene Panik transportierte es nur allzu gut. Offensichtlich hörbar hatte er alles Menschenmögliche aus seinem Körper herausgeholt und seiner Raucherlunge schier abnorme Dinge zugemutet.

Als er schließlich vor der Detektei Mori angekommen war, ließ er seinen Blick fahrig umherschweifen. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen, was ihn einerseits erleichterte, andererseits ängstigte. Dass keiner der mysteriösen Verbrecher, die Uragiri getötet hatten, zu sehen war, war oberflächlich betrachtet gut, doch andererseits traute er diesen Kerlen absolut zu, sich zu verstecken und ein Sichtkontakt hätte die nervöse, an einen Horrorfilm erinnernde Spannung genommen.

Dies war der letzte klare Gedanke, den Mori noch fassen konnte, bevor er die Tür erblickte, durch die man zur Detektei gelangen konnte. Sie wirkte auf den ersten Blick verschlossen, war jedoch tatsächlich leicht angewinkelt.

Moris ohnehin hoher Herzschlag explodierte in einem Maß, das ihn glauben ließ, sein Herz würde sich jeden Moment aus seinem Körper katapultieren, während sein Atem stockte.

War Eri bereits vor ihm angekommen? Hatte sie bereits die Detektei betreten?

Ohne noch eine weitere Sekunde zu zögern, zog Mori die Waffe, die er dem Ganoven abgenommen hatte, und stürmte auf die Tür zu. Statt sie vorsichtig beiseite zu schieben, trat er sie rücksichtslos auf und stürmte hinein. Eindrücke aus seiner Umwelt nahm der bewaffnete Privatdetektiv nur noch stark eingeschränkt wahr, sonst hätte er dem Wegen Krankheit geschlossen-Schild, welches auf dem Fenster des Cafés unter der Detektei klebte, wohl mehr Beachtung beigemessen. Doch so interessierte ihn nur eins.

Eri. Mit eiligen Sätzen preschte Kogoro die Treppenstufen hinauf, nahm teilweise zwei, teilweise drei der Stufen auf einmal, bis er schließlich vor der braunen Tür angekommen war. Der kurze Moment, den er zum Verschnaufen brauchte, genügte, um das leise Wimmern an sein Ohr zu tragen, das aus der Detektei drang. Hastig wollte er die Tür aufreißen, doch sie war verschlossen. Seinen Hausschlüssel zu benutzen, kam ihm nicht in den Sinn, für Logik war in seinem jetzigen Geisteszustand kein Platz. In einem energischen Wurf schleuderte er sich gegen die Tür, die seiner geballten Kraft jedoch standhielt. Ohne dem Schmerz in seinem Rücken Beachtung zu schenken, warf der Privatdetektiv sich ein zweites Mal und drittes Mal gegen die Barriere, bis das Schloss schließlich brach.

Der Inhaber des Café Poirot hatte ebenso ironisches wie außerordentliches Glück, dass seine Grippe ihn genau an dem Tag überfiel und ans Bett fesselte, an dem sein Lokal zum Hinterhalt einer Verbrecherorganisation erwählt worden war. Andernfalls hätte der Mann, der nun in seinem Café stand und in ein Mobiltelefon flüsterte, ihm wohl etwas weitaus Tödlicheres als eine vorübergehende Krankheit verpasst.

„Bestätigen Sie Sichtkontakt mit Mori?“

„Ja, er ist hier eben wie von der Hummel gestochen vorbei gerannt.“

„Er hat Sie nicht gesehen?“

[align type="left"] „Nein, ich habe mich hinter dem Tresen versteckt.“

„Gut, wo ist Mori jetzt?“[/align]

„Er wird in seine Detektei gehen. Da erledigt Rum ihn dann.“

„Was? Dann braucht ihr Rye ja gar nicht?“

„Ja, Rum hat ihn in letzte Minute abziehen lassen und zum HQ geschickt, er müsste gleich bei Ihnen eintreffen.“

„Dieser Verrück – “

Mit einem Mal zerfetzte es die Luft. Die ohrenbetäubende Detonation der Kofferbombe ließ selbst im Café das Geschirr erbeben. Einzelne Teller und Tassen stürzten auf den Boden und zerbrachen.

Der Handlanger fuhr zusammen. Für Momente war in seinen Ohren nichts als schrilles Fiepen, dann erst gelangte die Frage seiner Gesprächspartnerin an sein Ohr.

„Was zur Hölle war das?“

„ICH WEISS ES N– “

Rums Kugel traf ihn genau im Hinterkopf. Das Blut, das zwischen die Tellerscherben spritzte, erinnerten den alten Mann makabererweise an eine heruntergefallene Schale Dip. Was brachte ihn bloß ihn auf solche Assoziationen? Er seufzte und beeilte sich dann, die Treppe hoch zu rennen. Er hatte nicht viel Zeit.

Kogoro wusste nicht, was ihm am Meisten wehtat, als er das Bewusstsein wiedererlangte und sich verkrümmt vor dem Eingang seiner Detektei fand. Seine gebrochene Nase, die einen weiteren Schlag erhalten hatte, seiner Glieder, mit Brandflecken und Splittern übersät, oder der Anblick seiner Detektei, der sich ihm durch die zerstörte Tür bot. Sicherlich war sie bereits vorher alles andere als ordentlich gewesen, doch jetzt hatte die buchstäbliche Bombe tatsächlich eingeschlagen. Alles war vollkommen verkohlt, der kleine Tisch in der Mitte des Raumes existierte nicht mehr und das Sofa, von dem er vor kurzer Zeit noch in friedlichen Träumen gefallen war, stand nun in Flammen da. Die Fotografie von Eri flatterte langsam zu ihm herunter, doch auch sie war von den Flammen zerfressen worden und zeigte bloß noch die Haarpracht der Frau. Tränen bildeten sich in den Augen des Privatdetektivs, doch er war sich nicht sicher, ob sie von dieser Entdeckung oder dem beißenden Rauch der verbrennenden Sofapolster herrührten. Er schluckte, als er zusah, wie der letzte Rest des Fotos ebenfalls verbrannte. Vielleicht war Eri in dieser Flammenwolke gewesen. Vielleicht auch nicht. Es macht jetzt keinen Unterschied mehr, er konnte ihr jetzt nichts mehr sagen. Ihr nichts erklären. Sich nicht entschuldigen. Und Ran. War dieses Telefonat mit den klischeehaften Elternratschlägen, die er ihr gegeben hatte, nun das letzte gewesen, was sie von ihm hören sollte? Nicht einmal Ich hab dich lieb hatte er ihr vollständig zu sagen vermocht. Ich bin wohl doch ein schlechter Vater gewesen.

Er war sich in nichts mehr sicher. Was für ein spärliches Konzept er bis eben gehabt haben mochte, die Sprengung seiner Detektei, hatte ihn auch aus diesem gebracht. Wer auch immer dafür verantwortlich war, wem auch immer die Schritte, die jetzt von der Treppe her erklangen, zuzuordnen waren, diese Person hatte ihn besiegt. Diese Person hatte vielleicht soeben seine Frau in die Luft gesprengt, oder seine Frau war nie hier gewesen, wer wusste das schon? Ganz sicher würde diese Person ihn gleich töten, seiner unglückseligen Existenz ein Ende setzen.

Natürlich, resignierte Kogoro. Ich bin vermutlich der einzige Detektiv, der er schafft, bei seinem ersten großen Auftrag von wahnsinnigen Verbrechern ermordet zu werden. Vermutlich ist das auch ein Rekord. Memento Mori. Haha.

Als Rum bei ihm angekommen war, waren die einzigen von Moris Muskeln, die noch taten, was er wollte, in seinem Gesicht. Um also nicht untätig zu sein, lächelte Mori.

Immerhin sind es nicht die Zigaretten, die mich umbringen.

Milde Überraschung zeigte sich in seinem Gesicht, als der alte Mann über ihm nicht die erwartete Pistole, sondern ein Tuch hervorzog und es ihm ins Gesicht drückte. Kurz roch Mori den beißenden Gestank des Chloroforms noch, dann versank er in einen traumlosen Schlaf.
 

Wermuts Fluchen passte gar nicht zu ihrer sonst gefasst-arroganten Persönlichkeit. Doch seit der Kontakt zu Rums Mitarbeiter abgebrochen war, schien ihr die Sache außer Kontrolle. Was war da los, woher war diese enorme Lärm gekommen? Explosionen? Pistolenschüsse? Beides? Am Liebsten wäre sie selbst sofort vom Hauptquartier aus losgefahren, doch falls bei der Detektei das befürchtete Drama eingetreten war, würde sich das Gesicht einer berühmten Schauspielerin in der Nähe nicht gut machen. Also hatte sie ein Team vorbereitet, welches sich in diesem Moment auf den Weg machen sollte. Ihr Handy klingelte. Das Display zeigte Piscos Nummer an, den sie zur Leitung der Truppe ausgewählt hatte.

„Hier Wermut.“

„Sie sollten mal aus dem Fenster sehen.“

Was?

Hastig eilte sie zu dem großen Glasfenster und zuckte zusammen. Ihr roter Sportwagen stand in Flammen und vollkommen zerfetzt auf dem Parkplatz. Wie nach einer Explosion. Aber wer könnte das...? In dem Wagen war ich doch zuletzt mit... Sie erschrak plötzlich. Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf. Ohne weitere Worte drückte sie den Anruf weg und begann, eine SMS zu tippen.
 

AN: Anokata
 

Boss, haben Sie einen Befehl für Gins Entbindung von der Mission Mori gegeben?
 

Die Antwort kam wesentlich früher als üblich. Kein gutes Zeichen.

Nervös öffnete sie die SMS, in aller Hoffnung, nicht ihren Verdacht bestätigt zu bekommen. Ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt.
 

AN: Wermut
 

Nein. Begründung der Frage?
 

Sie ließ ihr Handy fallen, sodass es unsanft auf dem Teppichboden aufschlug.

Ich habe früher oft falsch SOS gefunkt. Ich wurde nie erwischt.“ Ein kalter Schauer lief ihr angesichts dieser Erinnerung über den Rücken. Wie konnte ich so einen Fehler machen? Und noch viel wichtiger, wie kann ich ihn wiedergutmachen? Schnell ließ sie sich die Situation durch den Kopf gehen, versuchte, sie so gut es ging zu analysieren. Den Kontakt zu Rums Mitarbeiter habe ich sicher verloren, weil er ihn umgebracht hat. Also...
 

Ihr Gedankenfluss wurde von einem erneuten Handyklingeln unterbrochen, wieder war es Pisco.

„Sie haben einfach aufgelegt. Was ist los?“

„Rum hat uns hintergangen, das ist los!“

„WAS?!“ Piscos überraschtes Gebrüll klang ihr unangenehm in den Ohren, was die Lage nicht besser machte. „Ich fahre sofort zur Detektei Mori.“

„Nein!“, befahl Wermut energisch. „Schlimmstenfalls lauft ihr nur der Polizei in die Arme. Rum hat das alles genau geplant, er hat dafür gesorgt, dass keine Mitglieder unserer Organisation sich in seiner Nähe befinden. Zu mir sagte er, ich solle ins HQ fahren. Aber wenn ich das nicht getan hätte, sondern in der Nähe geblieben wäre und im Auto gewartet hätte, hätte mich wohl die Bombe erledigt. Gin hat er mit einem gefälschten Funkspruch von der Mission abgezogen. Und Rye hat er sich wohl auch nur zuteilen lassen, um eines unserer besten Mitglieder irgendwohin wegschicken zu können. Was auch immer er vorhat, er hat es gut geplant. Und wenn er wollte, dass ich beim HQ bleibe, bedeutet das, dass wir ihm vom HQ aus nichts anhaben können. Rum macht da keine Fehler, das ist nicht sein Stil.“

„Was tun wir dann?“

„Ich habe keine Ahnung.“
 

Rum hatte seinen Wagen gerade noch rechtzeitig um die Ecke biegen lassen, um den penetranten Sirenen der Feuerwehrautos entkommen zu können. Er grinste und blickte auf die Rückbank, auf der Kogoro Mori ohnmächtig und zusammengesackt saß. Bis jetzt läuft alles nach Plan. Er lächelte. Zeit für den Anruf. Mit einem Lächeln auf den Lippen wählte er Wermuts Nummer. Sie nahm sofort ab.

„Rum, was hast du vor?!“

„Erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen?“

Sie antwortete nicht, also machte er einfach weiter.

„Damals hast du mir einen Handel vorgeschlagen, jetzt will ich dir einen vorschlagen.“

Sie klang skeptisch.

„Einen Handel?“

„Ja,“ Er drehte seinen Kopf nach hinten und sah sich nach Kogoro um. „ich will euch etwas verkaufen. Aber wenn ihr es nicht kauft, werdet ihr daran ersticken. Und ich verkaufe nur zu einem Preis.“

„Welcher Preis?“

„Meine Schwester.“

Endspiel

Stille.

Schwärze.

Als der Detektiv wieder zu sich kam, waren dies die ersten Dinge, die er wahrnahm.

Dann kam Schmerz hinzu.

Ein stechender, beißender Schmerz.

Ein Schmerz, der wie ein Messer in Kogoro Moris dröhnenden Schädel stach.

Er wollte sich an den Kopf fassen, doch konnte seine Hände nicht bewegen. Raue Fasern drückten sie in ihren Platz. Schon wieder wachte er gefesselt auf.

Das passiert mir definitiv zu oft.

Außerdem spürte er einen Druck auf seinen Armen, ein Gewicht, das, wie er schließlich erkannte, sein eigener Körper war. Unter seinen Händen spürte er Leder, was nur bedeuten konnte, dass er nicht mehr am Boden vor seiner Detektei lag. Aber wo war er dann?

Wirklich, das passiert mir zu oft, seufzte er gedanklich, als die Stille sich langsam in ein gleichmäßiges Brummen verwandelte, die Schwärze einem verschwommen Gemisch der Farben wich und schließlich auch der Schmerz zu einer sanften Taubheit wurde. Er erkannte jetzt, dass er auf der Rückbank eines Autos lag.

Der Versuch Moris, sich aufzurichten scheiterte an weiteren Fesseln, die jegliche Bewegung unmöglich machten. Unfähig, einen Blick auf den Fahrer zu werfen, schöpfte Kogoro seine letzte Option aus: Er schrie ihn an.

„Hey! Wer zur Hölle sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

Ein Augenpaar erschien im Rückspiegel. Musterte ihn, ruhig, kalkulierend.

„Oh, Sie sind wach, Herr Mori.“

Die Stimme bildete einen merkwürdigen Kontrast aus Sanftheit und Härte, aus einer kontrollierten Wortwahl und einem gefährlichen Klang.

Der Detektiv wiederholte seine Frage noch einmal, etwas eingeschüchterter. Für einen kurzen Moment herrschte Stille und er bezweifelte, dass die Stimme gewillt war, ihm zu antworten, weswegen es ihn überraschte, als sie es schließlich doch tat.

„Nun, ich kann Sie beruhigen, ich beabsichtige nicht, Ihnen etwas anzutun. Nichtsdestotrotz möchte ich Sie warnen. Ich plane einen Handel, in dem Sie von entscheidender Rolle sind. Dieser Handel ist für mich sehr wichtig, also empfehle ich Ihnen, keine Umstände zu machen.“

Die Stimme war weiterhin gelassen, doch der bedrohliche Klang intensivierte sich in den letzten Sätzen und war genug, um Mori vorläufig zum Schweigen zu bringen.

Ein Handel? Wovon redet der? Fragen drängten sich in seinen Kopf, Fragen, die relativ schnell über die Suche nach Erklärungsversuchen für seinen momentanen Verbleib hinausgingen. Was ist mit Eri? Da, da war doch ein Wimmern in der Detektei. Und dann, unwillkürlich spannten sich die Muskeln seines Körpers gegen die Fesseln, dieser Lichtblitz. Die Detektei. Sie ist explodiert. Oh mein Gott!

„OH MEIN GOTT!“, entfuhr es ihm.

„Was?“

„Was ist mit der Detektei passiert?“, brüllte Kogoro. „Sie ist in die Luft geflogen. Wer hat das getan? Und ist sie wohlauf?“

Im Rückspiegel erschien ein Lächeln.

„Ich habe das getan, Herr Mori.“

Jeglicher Rest an Fassung war nun von Mori gewichen.

„Dann... Dann haben Sie sie...?!“

„Aber mitnichten“, Jetzt hatte die Stimme etwas Besänftigendes. „ich kann Ihnen versichern, in der Detektei war keine Menschenseele.“

„Was?“ Konnte es sein, dass dieser Mann die Wahrheit sagte? Kogoros Gedanken überschlugen sich. Einerseits beherrschte ihn die Hoffnung, doch andererseits stellte ihm sich auch die Frage, inwieweit den Worten dieses Mannes zu vertrauen war. „Aber ich habe ein Wimmern gehört.“

Wieder zeigte das Grinsen sich im Spiegel.

„Natürlich haben Sie das. Sonst hätten Sie vermutlich wohl kaum so stürmisch die Tür aufgestoßen. Dass Sie das tun war für das Auslösen der Sprengfalle aber notwendig, also habe ich ein Abspielgerät mit einer entsprechenden Aufnahme dort platziert.“

Die Enthüllung ordnete seine wirren Gedanken nicht, doch immerhin fand der Detektiv etwas mehr Hoffnung, an die er sich klammern konnte.

„Das heißt also -“

„Genau. Die Bombe hat bis auf Ihre paar Kratzer niemanden zu Schaden kommen lassen.“

Kogoro wusste nicht, wie er die Aussagen dieses Mannes einzuordnen hatte. Es waren die Worte eines Mannes, der unverfroren zugegeben hatte, seine Detektei gesprengt zu haben und der ihn gefesselt in der Gegend herumfuhr. Doch er war dieser Person absolut ausgeliefert – welchen Grund hatte sie, ihn anzulügen?

„Eine Sache würde mich übrigens noch interessieren, Herr Mori. Welche Person haben Sie denn genau in der Detektei erwartet?“

„Was?“

„Ursprünglich hatte ich geplant, Ihre Tochter als Lockmittel zu benutzen. Sie wäre ja meinen Informationen zufolge heute Abend um 18:00 aus ihrem Skiurlaub zurückgekommen und von ihrem Bus in der Nähe der Detektei abgesetzt worden. Ich musste mich an dieser Stelle natürlich ein wenig auf mein Glück verlassen, und hoffen, dass Sie Ihre Tochter nicht mehr anrufen, bevor Sie in den Bus steigt. Aber Sie wurden beim Benutzen einer Telefonzelle gesehen, also konnte ich den Besitz eines Mobiltelefons ausschließen, was die Anzahl der möglichen Gelegenheiten immerhin verringerte. Ansonsten musste ich mich einfach darauf verlassen, dass der unmittelbare Stress der Verfolgung Ihren Kopf anderweitig beschäftigt hält.“

Rans Erwähnung ließ Kogoro etwas erschaudern.

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Nun, ich hoffte, dass ihre Tochter Ihnen erst einfallen würde, wenn sie im Bus und somit unerreichbar wäre. Dann hatte ich vor, sie nach Ankunft bei der Detektei abfangen zu lassen. Dies hätte sie gezwungen, um 18 Uhr herum bei Ihrer Detektei zu erscheinen. Da Ran nicht aufgetaucht wäre, hätten Sie selbstverständlich im Gebäude nachgesehen -“

„- und Ihre Aufnahme gehört.“

„Genau. Doch Sie sind viel früher gekommen. Wieso das?“

„Ich, äh, habe mir nichts dabei gedacht.“ Es ist wohl klüger, Eri nicht zu erwähnen. Wer weiß schon, was dieser Typ dann tun würde?

Die Augen, die jetzt im Rückspiegel auftauchten, signalisierten Unglauben.

„Wie auch immer“, meinte die Stimme desinteressiert. „Auf jeden Fall sind wir jetzt da.“

Kogoro hatte aus seiner liegenden Position heraus Mühe, etwas durch die Scheiben zu erkennen, weswegen diese Aussage für ihn zunächst nutzlos war. Dennoch arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren, versuchte die Geschehnisse in einen Kontext zu bringen und einen Ausweg zu finden. Er glaubte seinem Entführer, dass er nichts von Eri gewusst hatte und sie unbeschadet war, und dieser Gedanke gab ihm ebenso Auftrieb, wie die Tatsache, dass sein Eingreifen den Plan des fremden Mannes offenbar so verändert hatte, dass Ran keine Rolle mehr darin spielte. Jetzt muss ich es nur noch selbst schaffen, aus dieser Sache rauszukommen.

Die linke Seitentür wurde geöffnet und erlaubt Mori zum ersten Mal einen kompletten Blick auf den Besitzer der Stimme. Er war, milde ausgedrückt, überrascht. Die Dunkelheit des Wagens hatte dem Mann geschmeichelt, ihm Härte und Gefährlichkeit verliehen. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Tiefe Falten und Runzeln zogen sich durch das Gesicht des Mannes und verbargen beinahe das jetzt traurig wirkende Augenpaar, welches ihn musterte.

So ein alter Knacker hat mich entführt?! Wenn ich diese Geschichte je meinen Enkelkindern erzählen kann, werde ich den Typen aber ein wenig bedrohlicher machen.

Der „Knacker“ beugte sich nach vorne und durchtrennte die Seile, die Mori am Sitz befestigt hatten. Instinktiv rieb der Detektiv sich die schmerzenden Handgelenke, unterbrach dies aber schlagartig, als er den schwarzen Lauf der Waffe erblickte, die gefährlich glänzte.

„Steigen Sie aus.“, zischte der Mann. „Aber langsam.“

Na ja, vielleicht ist er auch so bedrohlich genug für meine Enkelkinder.

Langsam, wie ihm geheißen, befolgte Mori die Anweisung und richtete sich auf. Die Strahlen, die durch die getönten Fensterscheiben nicht halb so scharf gewesen waren, blendeten ihn zunächst und er war er erleichtert, jetzt schützend seine Hände verwenden zu können.

Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, sah Mori sich um, doch es gab nicht viel zu entdecken. Sie befanden sich als einzige auf einem großen Parkplatz, was er als Indiz deutete, dass sie das überfüllte Tokio verlassen hatten.

„Folgen Sie mir.“, sagte der Mann und lief langsam rückwärts auf den Eingang von etwas zu, das wie eine verlassene Lagerhalle aussah. Beim Öffnen der Gebäudetür ertönte ein beängstigendes Quietschen, das Mori unwillkürlich an ein Verlies erinnerte. Die Halle war nur spärlich durch ein kleines Dachfenster beleuchtet, das bis auf die kleine Fläche direkt unter ihm die Halle komplett im Schatten beließ.

Ein muffiger Geruch kam dem Detektiv entgegen und kurz glaubte er, den Schatten einer Ratte entdeckt zu haben, die sich in die Finsternis davonstahl.

Wie gemütlich.

„Gut“, Der alte Mann zückte ein Paar Handschellen. „setzen Sie sich hin.“

Kurz erwog Mori, Widerstand zu leisten, doch ein Blick auf den weiterhin auf ihn gerichteten Lauf der Waffe genügte, damit er sich abermals ohne Gegenwehr an den Händen und, zu seinem Leidwesen, auch den Füßen fesseln ließ. Nachdem die Arbeit getan war, zauberte der Entführer ein Mobiltelefon aus seiner Manteltasche.

„Das hätten wir, dann kann ich jetzt wohl meinen Anruf machen.“

Oh man, seufzte Mori gedanklich, warum musste ausgerechnet ich in so etwas reingeraten?

Schweiß und verwischte Schminke hatten Wermuts sonst ausnehmend präsentables Gesicht in eine groteske Maske verwandelt. Nervös kaute sie auf ihren lackierten Fingernägeln herum. Sie war eine brillante Schauspielerin, der es normalerweise nur zu leicht fiel, ihren Stress zu verbergen, ihn hinter einem Pokerface zu verschleiern, wie es ihr einst ein weiser Mann beigebracht hatte. Doch jetzt war sie allein und hatte keinen Nerv dafür, die Scharade nur für sich selbst aufrecht zu erhalten. Ihre wenigen Minuten der Ruhe vor dem Sturm würden ohnehin bald vorbei sein.

Ihr Mobiltelefon fing an, zu piepen. Ohne Zögern nahm sie ab.

„Da bin ich wieder.“

Es war Rums Stimme.

„Wie schön.“, stellte sie lakonisch fest. Keine Schwäche zeigen.

„Ich bin jetzt mit Mori an einem Ort. Welcher das ist, sollte herauszufinden dir ja nicht schwerfallen – ich bleibe auch brav in der Leitung. Wie steht es um meine Schwester?“

„Wir haben sie in einem unserer Krankenwagen platziert, wie“, Sie schluckte. „wie angeordnet.“

„Gut, schickt den Wagen zu meinem Aufenthaltsort.“

„Und dann?“

„Steigt der Fahrer aus und macht sich vom Acker. Sobald ich sicher bin, dass ihr alle fair spielt, verrate ich euch Moris Aufenthaltsort und ihr könnt ihn erledigen. Solltet ihr allerdings irgendwelche krummen Tricks versuchen, riskiert ihr bloß, dass Mori entkommt. Ich werde ihn so verwahren, dass er es schaffen kann, innerhalb von 15 Minuten zu fliehen, daher habt ihr ein sehr kleines Zeitfenster.“

Wermut schluckte. Rums Plan schien wasserdicht. Vorläufig würde ihr keine andere Wahl bleiben, als mitzuspielen. Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm, der ihr anzeigte, dass Rum aufgespürt war.

„Wir haben den Ort jetzt.“

„Dann beeilt euch mit dem Wagen. Es sei denn ihr wollt, dass ich ungeduldig werde und Mori freilasse, damit er der Welt eure dreckigen Geheimnisse erzählt.“
 

Ein leichter Stich durchzuckte Ryes Nacken. Er grinste, denn er kannte dieses Gefühl, diesen Moment. Es war Instinkt. Der Schmerz signalisierte, dass bald etwas Interessantes passieren würde – und er täuschte sich nie. Wie zur Bestätigung klingelte sein Telefon.

„Ja?“

Am anderen Ende war Wermuts Stimme.

„Rye, bist du noch unterwegs zum Hauptquartier?“

Die Frage überraschte ihn ein wenig.

„Ja.“

„Gut, fahr, wenn du da bist, direkt zur medizinischen Abteilung. Ich brauche dich für das Steuer eines Krankenwagens.“

„Wieso?“

„Rum hat uns hintergangen. Er hat Mori entführt und benutzt ihn nun, um uns zu erpressen.“

„Wie das?“

„Mori ist vermutlich im Besitz eines Prototypen unserer Forschungsabteilung, der strengster Geheimhaltung unterliegt.“

„Ich verstehe. Was will Rum im Austausch?“

„Rum kooperierte nur mit uns, weil wir seine Schwester gegen ihren Willen am Leben erhalten. Er will, dass wir sie ihm aushändigen, damit wir ihn künftig nicht mehr erpressen können. Wenn wir das tun, übergibt er uns Mori. Wenn nicht, so sagt er, ist Mori so verwahrt, dass er nach 15 Minuten geflohen sein wird.“

„Machen wir da mit?“

„Das kann ich noch nicht sagen, Rye. Aber ich will dich vor Ort, damit im Zweifelsfall der Schuss auf Mori sitzt.“
 

„Wo ist es?“

Die Frage seine Entführers hallte an den schwarzen Wänden der Halle wieder und füllte den Raum mit einem schaurigen Echo.

„Wovon reden Sie?“

„Das Mittel, das sie von Uragiri bekommen haben.“

Kogoros Augen weiteten sich in Verwunderung.

„Uragiri hat mir kein Mittel gegeben.“

„Nicht?“ Rum zog eine Augenbraue hoch und wedelte mit seiner Waffe. „Herr Mori, ich rate Ihnen davon ab, mich anzulügen. Uragiri hat Ihnen etwas gegeben. Wo ist es?“

„Ja, er hat mir etwas gegeben – aber es war kein Mittel.“ Innerlich verfluchte Kogoro sich dafür, dass er Rum diese Information vollkommen unnötigerweise gegeben hatte.

„Was dann?“

Na gut, jetzt bringt leugnen wohl auch nichts mehr.

„Einen Schlüssel für ein Schließfach. Er hat mir nicht gesagt, was sich darin befindet und das Schließfach habe ich auch noch nicht ausfindig gemacht.“

„Haben Sie den Schlüssel bei sich? Wo ist er?“, drängte Rum und ergänzte, als der Detektiv einen Moment zu lange für seine Antwort brauchte. „Oder soll ich Sie einer Leibesvisitation unterziehen?“

Mori schnaubte.

„Darauf kann ich verzichten. Er ist in meiner rechten Hosentasche.“

Sein Entführer beugte sich zu ihm herunter und zog den kleinen Schlüssel hervor.

Plötzlich ertönte draußen ein Motorengeräusch.

„Rum“ Eine harte Männerstimme hallte über den Platz. „Ich bin da.“

„Das war früher als erwartet.“, murmelte Rum, mehr zu sich selbst als zu jemandem anders. Er zückte eine kleine Fernbedienung und drückte einen Knopf, der Kogoros Fußfesseln aufschnappen ließ.

„Stehen Sie auf.“, befahl Rum harsch. „Und kommen sie mit. Rye darf Sie nicht sehen. Er würde Sie töten.“

„Wo gehen wir hin?“

„An einen sicheren Ort.“

Ach, was sagte Eri früher so schön über mich? „Er ist ein Trottel und bringt sich ständig in Schwierigkeiten.“

Vielleicht hatte sie Recht.

Wie ein Raubtier strich Rye über den Parkplatz, nachdem er aus dem Krankenwagen ausgestiegen war. Wermuts Computer hatte diesen Ort angezeigt, doch das Gelände war groß und es war unmöglich zu sagen, wo Rum sich genau befand. Das hat er mit Absicht gemacht. Wir sollten Mori nicht schnell finden können. Wo könnte er sich verstecken? Mehrere Lagerhallen grenzten an den Parkplatz. Seinen Informationen zufolge war dies ein verlassenes Industriegebiet. Das ideale Versteck. Er unternahm noch einige Schritte, doch ihm war klar, dass er letzten Endes keine andere Wahl hatte, als auf Rum zu warten. Den Krankenwagen unbewacht zu lassen stand schließlich außer Frage.

Mürrisch kehrte er zum Wagen zurück, stieg ein und steckte sich eine Zigarette an. Qualm stieg ihm in die Nase und verbreitete sofort eine wohltuende, wärmende Ruhe in seinem ganzen Körper. Nikotin war wirklich ein Helfer in allen Lebenslagen, Geiselübergaben eingeschlossen. Ein verschlagenes Grinsen zierte sein Gesicht, als er sein Mobiltelefon zückte, um Bericht zu erstatten.

„Hier ist Rye. Ich bin am Treffpunkt. Bisher noch keine Spur von Rum.“

„Was treibt der nur?“ Wermuts Stimme nach hätte auch ihr eine Zigarette gut getan. „Sei bloß vorsichtig, Rye. Wer weiß, was dieser Kerl noch plant.“

„Keine Sorge, das bin ich. Der Krankenwagen ist ja kugelsicher, also kann er mich schon einmal nicht hinterrücks erschießen. Und“, er warf einen Blick nach hinten, zu der Frau, die dort auf einer Trage lag und aussah, als träume sie einen friedlichen Schlummer. Sie war blass und mit einem Nachthemd unvorteilhaft bekleidet, doch auf eine gewisse Weise strahlte sie eine freundliche Aura aus. Rye hatte diese Person vor ihrem Unfall nie getroffen, aber doch verstand er aus irgendeinem Grund, wieso Rum so weit ging, um sie zurückzugewinnen. „solange wir etwas haben, das er will, wird sich Rum schon nach unseren Erwartungen verhalten.“

„Ich schätze es wirklich, Rye, dass du diese Operation übernommen hast. Und wenn du die Interessen der Organisation gebührend vertrittst und ein optimales Ergebnis erzielst, können wir auch noch einmal über deinen Antrag auf Zusammenarbeit mit Gin sprechen.“

„Das wiederum schätze ich sehr. Und ich habe auch bereits eine Idee, wie ich das optimale Ergebnis erziele.“

„Dir ist klar, was das bedeutet, oder?“

„Natürlich. Rums Tod.“

„Und Moris Tod.“

„Und Moris Tod, verstanden.“
 

Die Fußfesseln, die Rum eben zur Erleichterung des Detektiven gelöst hatte, schnappten jetzt wieder zu und verbanden die Beine des in der Hocke befindlichen Moris miteinander.

„Sehr gut, Herr Mori, Sie sind nur noch wenige Schritte von ihrer Freiheit entfernt.“ Rum lächelte ihn an, während er eine seiner Hände an einen verrosteten Heizkörper fesselte.

Mori schenkte seinen Fesseln einen skeptischen Blick.

„Ich habe das Gefühl, dass Ihre Worte sich nicht ganz mit Ihren Taten decken.“

„Ich verstehe, dass Sie vielleicht etwas verwirrt sind. Vermutlich brauchen Sie Hilfe? Wie wäre es mit einem Freund und Helfer?“

Kogoros Blick zeigte unmissverständlich, dass er nicht wusste, worauf Rum hinaus wollte, sodass es vollkommen überraschend für ihn kam, als Rum seiner ungefesselten Hand einen kleinen Kasten reichte, den er bei näherem Hinsehen als Mobiltelefon erkannte.

„W-was soll das?“

„Kommen Sie schon. Rufen Sie die Polizei, Herr Mori. Die brauchen etwa 15 Minuten bis hierher. Ich werde Ihnen in der Zeit sicherlich nichts tun. Machen Sie schon.“

Der Detektiv untersuchte das Gerät so gut es ging, wog es vorsichtig in seiner Hand, als hätte er Angst, es könne sofort in die Luft gehen, wenn er es nur falsch ansah.

„Ich traue Ihnen nicht.“

Rum zog eine Augenbraue hoch und richtete den glänzenden Lauf seiner Waffe auf ihn.

„Wenn ich Sie töten wollte, warum sollte ich das nicht hiermit tun?“ Er ging auf die schwere Metalltür zu, durch die die beiden ins Gebäude gekommen waren. „Ich werde jetzt gehen. Tun Sie, was immer Sie für richtig halten.“

Als er gegangen war, wählte Mori die Nummer.
 

Ihre lackierten Fingernägel waren bereits abgenagt, als Wermut die Tür zum Archiv öffnete. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, das Warten auf eine Rückmeldung von Rye schien ihr unerträglich. Sie kannte diese Art der Anspannung – sie erinnerte an ein Gefühl, das sie ganz am Anfang ihrer Karriere gehabt hatte: Lampenfieber. Damals hatte sie dieses Gefühl abgestreift, indem sie noch einmal ihre Szene aus dem Drehbuch gelesen hatte. Jetzt hatte sie kein Drehbuch, doch etwas ganz ähnliches.

Sorgfältig durchsuchte sie das Regal, bis sie schließlich bei dem schmutzig-braunen Umschlag gelandet war, den sie in den letzten Tagen oft gesehen hatte.

Kogoro Moris Akte.

Natürlich war es absurd, im Endspiel noch Informationen erlangen zu wollen, aber Lesen beruhigte die Nerven. Sie schlug den Umschlag auf und blätterte durch die Seiten. Alles Dinge, die ihr bekannt waren. Dinge, die bereits Wochen vor der Erteilung des Auftrags gesammelt worden waren, für den Fall, dass man sie brauchen würde. Kogoro Moris Alter, Blutgruppe, Krankheitsgeschichte, Hobbys, sein üblicher Tagesablauf, seine Familie.

Sie stockte, als sie etwas entdeckte, dass ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Eine kleine Ecke ragte zwischen den Seiten hervor. Neugierig zog sie daran, holte ein Foto hervor.

Unter dem Bild stand ein Name, doch sie wusste auch so sofort, um wen es sich handelte.

Das kann doch nicht...

Angel!

Sie betrachtete das Bild, noch immer fassungslos.

Dann überlegte sie einen langen Moment.

Dann verfasste sie eine SMS an Anokata.

Die letzte Asche der Zigarette löste sich und segelte als feines Pulver in den Aschenbecher. Rye holte tief Luft, ließ seine listig funkelnden Augen über den Parkplatz wandern, suchte nach der Quelle der Schritte, die er vor wenigen Sekunden gehört hatte. Sollte Rum genau in dem Moment gekommen sein, in dem seine Zigarette verlöscht war? Die Dramatik wäre faszinierend.

Zu faszinierend vielleicht, um realistisch sein.

Zumindest sah er nichts außer Staub, Dreck und Gebäuden, die staubig und dreckig waren.

Er wollte seinen Blick gerade von dem Platz abwenden, als Rums Waffe gegen die Scheibe schlug.

„Rye!“

Rye erschrak, ließ es sich jedoch nicht anmerken.

Er öffnete das Fenster einen Spalt, um gehört werden zu können: „Rum. Du bist wirklich ein Meister des Anschleichens. Deinem Ruf wirst du gerecht.“

Der alte Mann grinste.

„Du auch. Zumindest giltst du als extrem misstrauisch. Oder magst du einfach nur keine kalte Luft? Keine Angst, steig ruhig aus. Ich werde dich schon nicht erschießen. Du hast mein Wort.“

„Und was gibt es Vertrauenswürdigeres als das Wort eines Verräters?“

„Also gut“,, grunzte Rum, sicherte seine Waffe, und schleuderte sie davon. „Dann machen wir es eben so. Du wirst mich sowieso nicht erschießen, schließlich willst du erfahren, wo Kogoro Mori ist.“

Ein kurzes Grinsen huschte über Ryes markantes Gesicht, dann öffnete er die Tür.

„Schon besser.“

„Öffne die Hintertüren.“ Rums Stimme nahm einen befehlenden Ton an. „Ich will sicherstellen, dass du meine Schwester wirklich dabeihast und dass es ihr gut geht.“

Bedächtig, aber nicht langsam ging Rye auf die Türen zu und zog den Schlüssel hervor.

„Sag mal, Rum, warum das alles? Warum auf einmal dieser Verrat?“ Er drehte den Schlüssel um. „Willst du nicht lieber einfach weiter für die Organisation arbeiten? Das Leben von dir und von deiner Schwester gesichert wissen?“

„Keine Chance.“, schnaubte Rum. „Die Organisation hat mich lange genug wie eine Marionette gespielt. Es ist an der Zeit, die Fäden durchzuschneiden.“

„Nur“, Rye öffnete die beiden Hintertüren. „Wenn man einer Marionette die Fäden durchschneidet, fällt sie und bleibt leblos am Boden liegen.“

Rum ignorierte ihn und kletterte in den Wagen, gefolgt von Rye. Bevor er weit ins Innere kletterte, holte der Mann zuerst einen schwarzen Kasten aus seiner Tasche und legte ihn ab.

„Was ist das?“, erkundigte Rye sich argwöhnisch.

„Ein Störsender. Falls ihr das Ding per Fernzündung in die Luft jagen wollt, sobald ich losgefahren bin, oder ihr einen Peilsender installiert habt.“

„Und mich nennst du misstrauisch.“

„Wie auch immer.“ Rum schüttelte den Kopf. „Jetzt muss ich sehen, ob ihr euch an die Vereinbarung gehalten habt.“

Er kletterte tiefer in den Wagen, auf die Trage zu.

Als der alte Mann bei seiner Schwester angekommen war, kniete er sich hin und ergriff ihre Hand. Sanft strich er ihr ein Haar aus dem Gesicht. Tränen rollten über seine Wangen.

„Schwesterherz.“ Rum schluckte, dann lachte er. „Du schläfst jetzt aber lange. Erinnerst du dich? Das hast du mir i-immer gesagt, früher, als ich noch klein war. Und, und dann, als ich endlich aufgestanden bin, d-dann“ Immer zahlreicher wurden jetzt die kleinen, glänzenden Perlen, die an der rauen Haut des Mannes nach unten glitten. „d-dann sind wir immer spielen gegangen und h-hatten S-Spaß. Ich werde jetzt auch warten, b-bis du aufwachst und dann w-werden wir S-Spaß haben.“

Er vergrub sein Gesicht in seinen Armen und zuckte erst hoch, als Rye ihn an der Schulter berührte.

„Wir haben nicht ewig Zeit.“

Rum funkelte ihn an.

„Stimmt. Warum bist du also noch hier? Den Aufenthaltsort von Mori bekommst du nach unserer Vereinbarung erst, wenn ich hier weg bin.“

„In der Tat, das hatten wir vereinbart. Und augenscheinlich hast du auch alles bedacht. Mori hast du sicher versteckt. Den Krankenwagen mit einem Störsender ausgestattet. Eine Zeitbegrenzung eingerichtet. Und zusätzlich noch etwas, mit dem du die Organisation auf lange Sicht erpressen kannst. Aber du hast etwas was vergessen.“

Der letzte Satz traf. Rum versuchte es zu verbergen und Selbstsicherheit auszustrahlen, doch Rye sah ihm an, dass seine grauen Zellen auf Hochtouren arbeiteten und eine grauenvolle Runde „Finde den Fehler“ spielten.

„So? Was denn bitte?!“

„Du hast alles getan, um dein Druckmittel korrekt auszuspielen. Doch du hast übersehen, wie wir unseres ausspielen können.“

Die Luft um Rum schien zu gefrieren, als Rum klar wurde, worauf Rye anspielte.

„Nein.“

Ryes Augen leuchteten listig auf, als er seine Waffe auf den Körper von Hiromi Mohuku richtete.

„Der Punkt, an dem deine Ratio der Emotio unterliegt, der dich angreifbar macht.“ Obwohl die Waffe entsichert war, ließ Rye sie bedrohlich klicken. „Sag mir, wo Kogoro Mori ist, sonst ist sie tot!“

Rums Augen öffneten sich in Fassungslosigkeit, seine Hände wedelten durch die Luft, griffen an seine Tasche, als wollten sie etwas finden, das nicht da war.

„Suchst du deine Waffe? Die hast du leider weggeworfen, weil du dir deiner Macht zu sicher warst. Wie ich es erwartet hatte, übrigens.“

Rum schwieg betreten. Rye hatte Recht. In der Erwartung der Nähe seiner Schwester hatte er einen Fehler gemacht. Er war im letzten Moment leichtfertig geworden.

„Sag mir jetzt wo Mori ist.“

„Nein! Ich sagte doch, keine Spielchen, Dai. In knapp zehn Minuten ist die Polizei hier, dann hast auch du ein Problem. Verlass den Wagen und ich sag dir, wo Mori ist.“

„Die Polizei? Das war deine Zeitschaltuhr für Moris Befreiung?“ Der Agent nickte anerkennend. „Brillant. Ich habe mich schon gefragt, wie du das bewerkstelligen würdest.“

„Auch ein Meisterschütze wie du wird nicht mit so vielen Polizisten fertig. Also solltest du jetzt den Wagen verlassen, mit meiner Information Mori töten und abhauen.“

Rye schüttelte den Kopf.

„Ich habe eine bessere Idee. Die Polizei kommt in zehn Minuten?“ Er richtete seine Waffe auf das Bei der Frau, die immer noch reglos auf der Trage lag und drückte ab. Noch während der ohrenbetäubende Lärm verhallte, färbte sich die weiße Decke in tiefem Rot. „Sie verblutet in fünf.“

Rum hatte keine Ahnung, ob die medizinische Information, die ihm der Agent gegeben hatte, korrekt war. Er hatte von nichts mehr eine Ahnung. In dem Moment, in dem er das Blut seiner Schwester fließen sah, herrschten in seinem Kopf nur noch Leere und Rauschen. Er verstand nichts mehr, nahm nichts mehr wahr, tat nichts mehr. Fern und weit schien ihm die Stimme des Schützen und er brauchte einige Momente, bis er sie wahrnahm.

„Hier ist genug Verbandszeug, um ihr Leben zu retten. Aber das wird nur geschehen, wenn du mir jetzt sofort Moris Aufenthaltsort sagst.“

Im Gesicht des alten Mannes vermischten sich Rotz und Tränen, seine Hose färbte sich dunkel.

„E-er ist i-im ehemaligen L-labor g-ganz im Westen d-des Geländes.“, schluchzte er. „B-bitte keine weiteren Schüsse.“

„Nur noch zwei.“

Schnipp, Schnapp.
 

Der erste Schuss traf Katsunari Mohuku in der Brust, zerfetzte Stoff und Fleisch, bis er schließlich eine Rippe traf, die er zerbrach. Er tötete Mohuku nicht, doch die Marionette taumelte.
 

Schnipp, Schnapp.
 

Der zweite Schuss war es, der Mohuku den Tod brachte. Die Kugel traf seinen Kopf, brach durch den Schädel, durchdrang das Gehirn und schoss schließlich am anderen Ende wieder heraus. Der letzte Faden der Marionette hatte sich jetzt gelöst, sie kam auf dem Boden auf.

Der letzte, auf ewig dort gefangene, Ausdruck auf Katsunari Mohukus Gesicht war ein vorwurfsvoller: Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seinem Mörder hinterher, als dieser den Krankenwagen verließ.
 

Sechs Minuten nachdem er die Polizei gerufen hatte wurde die schwere Eisentür vor Moris Augen erneut geöffnet. Ein großer Mann mit langem schwarzen Haar starrte ihn an.

„Wer sind Sie?“, rief Mori laut, doch bekam keine Antwort.

Der Mann zog eine Waffe und richtete sie auf seinen Kopf.

„Nein! Tun Sie das nicht!“, brüllte Mori, doch er machte sich keine Hoffnungen. Zwar hatte er in den Augen des Mannes für einen kurzen Moment Reue gesehen, doch etwas anderes war in viel stärkerem Maße vorhanden gewesen.

Entschlossenheit.

Der Mann entsicherte seine Waffe.

Ein Trottel, der sich ständig in Schwierigkeiten bringt?

Ganz sicher hatte sie Recht.

Engel

Epilog: Engel
 

„Scheißversicherungen“, stellte Kogoro missmutig fest und zerknüllte den Bescheid, in dem dieselben ihm mitgeteilt hatten, dass sie nur einen Bruchteil der Reparaturkosten für die zerstörte Detektei übernehmen wollten. „Diese dämlichen Frackträger sind echt zu gar nichts nutze.“

Er seufzte und starrte in die Luft. Trotz seines Ärgers musste er den schönen Tag anerkennen, schließlich war der Himmel weitestgehend blau und nur vereinzelt mit aufmüpfigen Wolken bedeckt. Die Sonne strahlte angenehm und verlieh selbst den grauen Betonbauten eine warme Aura. Fast konnte der gebeutelte Privatdetektiv an einem Tag wie diesem die entsetzlichen Ereignisse von vor ein paar Wochen vergessen.

Fast.

Doch alle Sonne konnte nicht dagegen helfen, dass er, wenn die Augen schloss, immer noch Uragiris blutigen Armstumpf vor sich sah. Oder das platzende Hemd der Attentäterin. Oder die Angst, die er gehabt hatte, als aus seiner Detektei das gekommen war, was er für die Geräusche seiner Exfrau gehalten hatte. Und ganz sicher würde er nicht die kalten Augen des Organisationsschergen vergessen, der so kurz davor gestanden hatte, all diese Erinnerungen mit einer Bleikugel in blutigen Gehirnbrei auf dem Asphalt zu verwandeln. Und ebenso wenig würde er die Rettung in letzter Sekunde vergessen, die er bis heute nicht verstanden hatte.

Der Mann hatte seine Waffe entsichert, bereit, Moris Leben ein Ende zu setzen. Doch Sekundenbruchteile bevor es dazu gekommen war, hatte auf einmal das Handy des Mannes geklingelt und er hatte den Anruf entgegen genommen. Der Privatdetektiv hatte nur eine Seite des Gesprächs gehört, doch von dem, was er mitbekommen hatte, war jedes Wort tief in sein Gedächtnis eingebrannt.

Ja, er lebt noch.“ Tief. Rau. Die Stimme seines Mörders war wirklich zum Fürchten

Eine Pause. Offenbar antwortete sein Gesprächspartner gerade.

Sind Sie sicher, dass sie das wollen?“

Noch eine Pause.

Ich verstehe, dann verschwinde ich besser gleich, bevor die Polizei hier ist.“

Und so hatte er es getan. Einfach den Raum verlassen, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.

Kurze Zeit später hatte sich die Polizei Moris angenommen, doch hatten seine Entführungsgeschichte nur zu bald zu den Akten gelegt und zur Spinnerei eines verzweifelten Trinkers erklärt.

Wenige Tage später hatten Angestellte seiner Versicherung die Explosion in seiner Detektei als selbstverschuldetes Gasleck dargestellt und eine volle Entschädigung aus diesem Grund ausgeschlossen. Und wenn Mori ehrlich war, wenn er wirklich ganz ehrlich zu sich war, wusste er, obwohl die Versicherungsleute verfluchte, nicht, ob sie nicht vielleicht doch Recht gehabt hatten. Ob all dies vielleicht Ergebnis eines Rauschzustands gewesen war, und er die Geschichte um Uragiri nur geträumt hatte.

Ran jedenfalls glaubte das, und war dementsprechend schlecht auf ihn zu sprechen. Im Augenblick übernachtete sie bei ihrer Mutter, während Mori selbst sein Bestes gab, sich von seiner Tochter fernzuhalten.

Denn falls das alles nur ein Traum gewesen war, falls er tatsächlich einfach nur im Rausch den Gashahn aufgedreht und dann durch Tokio gerast war, war er gefährlich für Ran. Ein Gedanke, der ihn schmerzte, aber der nicht von der Hand zu weisen war.

Wenn es doch nur irgendwas gäbe, mit dem ich Gewissheit bekommen könnte.

Er seufzte und tat ein paar Schritte durch den Flur von Muratas Haus, in dem sein Freund ihn noch immer großzügigerweise nächtigen ließ, was wohl auch teilweise damit zu tun hatte, dass Murata und seine Familie ihre ganz eigene persönliche Tragödie durchmachten: Muratas Frau Yoko war erschossen aufgefunden worden, offenbar ein Raubmord. Seit sie dies erfahren hatten, verließen die Mitglieder der Familie Murata kaum noch ihre Zimmer, und wenn sie es doch taten, gab Mori sein bestes, ihnen ein offenes Ohr zu schenken.

Mori war in der Küche angekommen und füllte eine Schüssel mit der Misosuppe, die er zum Frühstück gemacht hatte. Sie war nicht angerührt worden, denn gegessen wurde in dieser Familie kaum noch.

Wenn ich nur irgendwie Gewissheit bekommen könnte, überlegte er schlürfend. Angenommen, ich habe das alles wirklich erlebt und diese Leute, diese Organisation, sie verwischen alle Spuren... Gäbe es irgendetwas, was sie nicht verwischen könnten? Einen schmutzigen Fleck, der übrig geblieben ist?

Die Eingebung kam so überraschend, dass er die Schüssel fallen ließ, die klirrend zerschellte.

Aber ja.

Er machte sich nicht die Mühe, die Suppe aufzuwischen, sondern hastete sofort durch die Tür.

Nun, Wochen, nachdem er es erstmalig besucht hatte, wirkte das Palasthotel nicht einmal mehr annähernd so beeindruckend. Tatsächlich schaffte es Mori, achtlos durch die Tür zu stürmen, hinter der er auch sofort fand, was er gesucht hatte.

Die beiden bulligen Conscierges reagierten genauso schnell wie beim ersten Mal.

„Haben Sie irgendein besonderes Anliegen in diesem Etablissement?“, grunzte der Linke und ließ seine Muskeln spielen.

Mori war etwas eingeschüchtert, aber immer noch zielstrebig: „Ja, habe ich. Sie kennen mich, oder?“

Die beiden Fleischberge musterten ihn abschätzig, zuerst seinen Dreitagebart, dann seinen billigen Anzug und schließlich die Schuhe, die einen leichten Misosuppengeruch versprühten.

„Wir pflegen üblicherweise, in anderen Kreisen zu verkehren.“

„Stimmt!“, rief Kogoro. „Sie haben mir geraten, mir einen angemesseneren Anzug zuzulegen.“

„Dann hören Sie nicht gerne auf den Rat anderer, oder?“

„Darum geht es doch gar nicht!“, blaffte Kogoro. „Sie haben doch einen Gast hier? Eine Frau. Yami Hoshino.“

„Gästeinformationen sind vertraulich.“

Kogoro stand kurz vor der Verzweiflung.

„Und Sie wollen mir wirklich sagen, dass Sie mich nicht kennen?“

„Nein, wir wollen Ihnen sagen, dass wir Sie glücklicherweise nicht kennen und wir keinerlei Interesse daran haben, diesen Umstand zu ändern. Bitte gehen Sie jetzt.“

Wieder drohten die beiden mit ihren Muskeln, doch Kogoro reagierte freiwillig und stürmte aus dem Hotel.

Als er draußen angekommen war, schlug er seine Faust wütend gegen das nächstbeste Betongebilde. Der Schmerz interessierte ihn nicht. Wenigstens war er real.

Anders als alles andere, offenbar.

Ich habe meine Detektei gesprengt.

Ich habe mir alles eingebildet.

Mori war den Tränen nahe.

Was bin ich nur für ein Mensch?

Was bin ich nur für ein Mensch?!

„Ich bin überrascht, Sie hier zuerst zu treffen.“

Diese Stimme. Er kannte sie. Konnte es wahr sein? Konnte das jetzt wirklich war sein?

„Ich hatte extra Wachen am Club Paradise aufgestellt, und dann kommen Sie zuerst hierher? Ich muss wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.“

Mori drehte sich hastig um und starrte in das Gesicht des rotblonden Mädchens.

„Es gibt Sie also wirklich? Meine fünfzehnjährige Auftraggeberin? Shiho Miyano?“

Die Frau warf ihm ob seiner Gesprächslautstärke einen tadelnden Blick zu.

„Wenn Sie noch lauter schreien, überlegt sich Wermut ihren Gnadenspruch womöglich noch einmal.“

„Wermut? Was meinen Sie mit Wermut?“, fragte Kogoro jetzt etwas leiser.

Ich dachte mir ja schon, dass Alkohol mit dieser Geschichte etwas zu tun hat, aber was soll das jetzt heißen?

„Nicht wichtig. Wissen Sie, Herr Mori, ich wollte Sie etwas fragen.“

„Und ich Sie.“

„Gut. Beantworten Sie meine, dann beantworte ich Ihre. Quid pro quo.“

Mori schluckte. Vielleicht, ganz vielleicht, konnte dieses Gespräch endlich Licht in die Angelegenheit bringen. Ihm endlich sagen, was wirklich passiert war

„Einverstanden.“

Wieder schluckte er. Wenn das, was ich erlebt habe, die Wahrheit ist, dann gehört diese Frau zu den Leuten, die mich tot sehen wollten. Was könnte Sie mich fragen?

„Inwiefern sind Sie der Vater des Engels?“

„Was? Was soll das heißen?“

„Als ich fragte, warum man Sie am Leben lässt, sagte Wermut mir, sie wären Der Vater des Engels.

„Wer ist Wer-“

„Nicht wichtig. Beantworten Sie die Frage.“

„Ich habe keine Ahnung. Ich bin nur Vater meiner Tochter.“ Der Detektiv zuckte zusammen. „Hat sie etwas damit zu tun?“

Miyano wirkte nachdenklich.

„Nein. Vermutlich nicht. Ihre Frage bitte.“

Auf diese Aussage hin brach es nur so aus Mori heraus. Jeder Gedanke, der ihn die letzten Wochen gequält hatte, schoss durch seinen Kopf in seinen Mund und aus diesem heraus in das Gesicht seiner Gesprächspartnerin.

„Habe ich diesen Auftrag wirklich bekommen? Habe ich diese Dinge wirklich erlebt? Was ist mit meiner Entführung? Wer war dieser alte Mann? Wieso wollten Sie mich umbringen? Was ist mit Uragiri passiert? Wieso ist seine Hand geplatzt?“

Die Frau zeigte ein schmales Lächeln.

„Besonders gut zählen können Sie nicht, oder?“

„Scheiße! Erzähl mir, was ich wissen will!“, brüllte Mori, woraufhin einige Leute sich in ihre Richtung umdrehten.

„Nun gut, sofern Sie leiser sprechen. Sie spielen hier mit unseren Leben.“

Sie sah ihn beschwörend an, und Mori hatte sich in einem Moment beruhigt.

„Okay.“, sagte er schließlich sanfter. „Erste Frage: Habe ich das alles wirklich erlebt?“

„Ja.“

Das war es also. Kein Rausch. Kein Alkohol. Nur die nackte Wahrheit. Und er sprach mit der Person, die dafür zu verantworten war.

„Wieso wurde ich beauftragt? Wieso haben diese Leute versucht, mich umzubringen?“

„Sie kannten Uragiri, deshalb waren Sie für den Fall geeignet. Aber diese Auffassung hat sich geändert.“

Mori war zu schockiert, um nachzuhaken. Stattdessen platzte gleich die nächste Frage aus ihm heraus.

„Uragiri. Was ist mit ihm passiert? Und mit seiner Hand?“

„Das versuche ich selbst noch zu rekonstruieren. Als Augenzeuge könnten Sie sogar nützlich sein. Was ist passiert, bevor Uragiris Hand, nun ja, geplatzt ist?“

„S-seine Hand hat gezuckt, wie verrückt. Und die Finger wurden kleiner. Sie wurden wie die eines Kindes!“

Als er die letzten Worte ausgesprochen hatte, zeigte sich auf Miyanos geschminkten Lippen ein wissendes Lächeln.

„Danke, Herr Mori. Sie haben mir gegeben, was ich brauchte. Es wird Zeit, das Gespräch zu beenden.“

„Aber -“

„Nehmen Sie das“, murmelte Miyano und reichte ihm einen Koffer, der Mori bisher gar nicht aufgefallen war.

„Was ist das?“, fragte Mori argwöhnisch. Der letzte Koffer dieser Art war vor seinen Augen in seiner Detektei explodiert.

„Neun Millionen Yen. Ihr restliches Honorar, schließlich haben Sie Uragiri ja gefunden, nicht wahr?“

Auch hier hätte Mori nachhaken können, doch als das Mädchen ihm den Rücken zuwandte und begann, sich zu entfernen, fiel ihm nur eins ein.

„Eine letzte Frage: Werde ich Sie und Ihre Organisation je wieder sehen?“

Sie drehte sich um und schenkte ihm einen Blick, wie er ihn noch nie gesehen hatte.

Gleichzeitig furchterregend und angsterfüllt.

Gleichzeitig warnend und flehend.

Gleichzeitig stolz und verletzt.

„Sie sollten beten, dass das nie passiert.“

Mit diesen Worten ging sie endgültig. Mori versuchte nicht, sie aufzuhalten. Er stand nur stumm da und zitterte.

Das ist das gruseligste Mädchen, das ich je getroffen habe.

Natürlich war es Mori nicht leicht gefallen, sein Honorar auszugeben, schließlich hatten die Ermittlungen, für die er es bekommen hatte, zu Uragiris Tod geführt. Doch schließlich brauchte er eine neue Detektei, und die Summe war hierbei eine erhebliche Unterstützung. Und wenn ihn doch sein Gewissen plagte, griff er zum Alkohol, der die schmerzhaften Erinnerungen in harmlose Schemen verwandelte. Er wusste, dass es keinen Sinn ergab, der Sache weiter nachzugehen, und er, wenn überhaupt, nur sein Leben gefährdete, und womöglich das seiner Tochter.

Eines Abends, er war so nüchtern, wie er es in der letzten Zeit zu sein vermochte, klingelte sein Telefon, aus dem er dann die Stimme seiner Exfrau hörte.

„Kogoro“, sagte sie, „ich will mit dir über etwas reden.“

„Und was?“, erwiderte er missmutig, schließlich hatten sie seit gefühlten Ewigkeiten kein Wort gewechselt und es herrschte eisigste Stimmung.

„Vor ein paar Wochen, als du sagtest, ich solle nicht in die Detektei kommen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Deine Stimme war nicht betrunken, sie war ängstlich. Kogoro, du hast immer gesagt, dass es keine Gasexplosion war. Kogoro, erzähl mir, was wirklich war.“

Mori zuckte zusammen. Vor ein paar Wochen hätte er diesen Anruf genutzt, um seine Geschichte einem Ohr zu erzählen, das zuhören wollte. Doch jetzt lagen die Dinge anders.

„Na ja, Eri, weißt du, ich hab auch nachgedacht, es war doch eine Gasexplosion.“

„Aber deine Stimme...“

Sie klang enttäuscht. Eri.

„Die hab ich verstellt, damit du es nicht merkst.“ Mori kniff die Augen zusammen. Warum musste er sie anlügen? Warum nur musste er sie anlügen? „Ich kann das wirklich gut. Manche Leute sagen, ich wirke von einer Sekunde zur anderen nüchtern.“

„Ich... Ich glaube dir kein Wort.“

„Es ist aber wirklich wahr. Es tut mir leid.“

Jetzt war sie wütend.

„So? Tut es das? Sollte es auch! Stell dir vor, was passiert wäre, wenn Ran früher nach Hause gekommen wäre. Am besten wohnt sie ab jetzt bei mir.“

„Stimmt, damit du sie mit deinem Essen vergiften kannst.“

„Was? WAS SOLL DAS DENN HEISSEN?“

Eris Schimpftirade ging noch eine Weile, doch der Detektiv wusste, dass es enden würde, genau wie sie immer noch wusste, dass er ihr nicht die Wahrheit sagte.

Etwas traurig sah er aus dem Fenster seiner renovierten Detektei.

Er dachte an das Foto, dass den Flammen zum Opfer gefallen war.

Verdammt, ich muss mir ein neues besorgen.

Er bohrte mit seinem Finger im mittlerweile halbtauben Ohr.

Aber wie soll ich das bloß anstellen?

Doch obwohl es momentan so hoffnungslos aussah, wusste er, dass er es schaffen würde.

Schließlich hatte diese wunderbare Frau ausgerechnet ihn einst zu ihrem Mann gewählt.

Und wenn er das geschafft hatte, konnte er alles schaffen. Es würde alles wieder gut werden.

Das wusste er.



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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Nugua
2013-07-31T11:42:14+00:00 31.07.2013 13:42
Tolle Geschichte, hat echt Spaß gemacht, sie zu lesen. ^^
Mir gefällt besonders, dass du bei den Charaktere keine Schwarz-Weiß-Malerei betrieben hast.

Im Epilog hast du einmal versehentlich Kudo statt Mori geschrieben! ;D
Antwort von:  Corab
02.08.2013 21:57
Danke für den Kommentar. :D

Und für den Hinweis.
Wird ausgebessert. :|
Von:  Dragoonkira
2013-04-29T20:26:21+00:00 29.04.2013 22:26
Richtig schöne FF. Danke
Antwort von:  Corab
02.05.2013 21:27
Gleichfalls danke. :D
Von:  TeuflischGuterOtaku
2013-04-23T04:54:52+00:00 23.04.2013 06:54
Ich finde, dass dir das Ende gut gelungen ist :D Danke für die Zeit, die du mich unterhalten konntest :3
Antwort von:  Corab
02.05.2013 21:26
Danke für das Lob und den Kommentar. :D
Von: abgemeldet
2013-03-16T21:58:23+00:00 16.03.2013 22:58
Hiho,

ich bin eher zufällig über deine FF hier gestolpert und habe spontan einfach mal beschlossen, reinzuschnuppern ;)
Also der Prolog gefällt mir, er ist gut geschrieben und macht Lust auf mehr. Ich bin mal gespannt, was der Rest noch so mit sich bringt.

Viele Grüße

Takeru_Takaishi_1989
Antwort von:  Corab
17.03.2013 01:21
Danke für den Kommentar!

Ich hoffe, der Rest der Geschichte wird dir auch gefallen. :D
Antwort von: abgemeldet
17.03.2013 01:25
Ich arbeite mich gerade durch, aber ich bin sehr angetan von der Story selbt ;) Die Kapitel werde ich dann zwischendurch auch mal kommentieren ;)
Antwort von:  loire
31.03.2013 14:47
Hi,
ich bin auch gerade über deine FF gestolpert und kann mich der schon geäußerten Meinung nur anschließen.
Von: abgemeldet
2013-03-08T20:11:31+00:00 08.03.2013 21:11
*-*
weiterschreiben!!!
Da sist ein Befehl!!!!
Antwort von:  Corab
13.03.2013 22:20
Befehl wird befolgt. ;D
Das Ende wird noch im März erscheinen. :D
Von:  TeuflischGuterOtaku
2013-03-06T14:02:28+00:00 06.03.2013 15:02
Oooh... Ich warte Sehnsüchtig auf Kapitel 12 :D

Ich hoffe, dass sich das mit Eri klärt :D
Antwort von:  Corab
13.03.2013 22:21
Das 12.te Kapitel - beziehungsweise der Epilog - wird noch in diesem Monat erscheinen und auch hoffentlich alle Fragen erschöpfend beantworten. :DD
Von:  TeuflischGuterOtaku
2013-03-04T15:49:36+00:00 04.03.2013 16:49
Der Name dieses Kapitels gefällt mir besonders :D
Antwort von:  Corab
13.03.2013 22:20
Ja, ich mag ihn auch. :)
Von:  TeuflischGuterOtaku
2013-03-04T15:29:43+00:00 04.03.2013 16:29
Mich spricht dein proffessioneler Schreibstil sehr an, du hast gute Arbeit geleistet. Auch stimmen Rechtschreibung und Zeichensetzung.

Kleine Anmerkung: du schriebst: “Mori reagierte überascht:“Sie sagten, du hättest du hättest Firmengelder unterschlagen [...]”

Lässt sich ja noch überarbeiten ^_^
Antwort von:  TeuflischGuterOtaku
04.03.2013 16:40
Ach verdammt T^T Sorry fürs dreifach posten. Ich hab die Fanfic mit meiner PSP gelesen, und da gibt es hin und wieder mal Probleme... (Wie) kann man Kommentare löschen?
Antwort von:  Corab
13.03.2013 22:19
Vielen Dank für das Lob. :D
Der Fehler wird natürlich verbessert und die Mehrfachkommentare habe ich gelöscht. :)
Von:  jenny
2013-03-01T18:46:47+00:00 01.03.2013 19:46
warum haben die YUAL-Fanfiction immer die wenigsten kommis? versteh ich nicht die FF is doch genial und spannend also weiter so ;)
Antwort von:  Corab
03.03.2013 21:41
Ja, bei den Kommentaren hatte ich hier in Mexx bisher nicht so das Glück. ^^
Umso mehr freu ich mich natürlich über deinen - vielen Dank für das Lob. :DD


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