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Das Buch der Königin

von

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II.

Das Jahr 637 der Herrschaft Minastîrs, 738. Hochkönig der Elfen, in den kaum besiedelten Ostgebieten.
 

Das Schicksal ereilte mich, als ich gerade einmal vierzehn war. Es war Herbst und die kräftigen Regenschauer hatten das Brennholz unbrauchbar gemacht. Die Wege waren matschig und an einigen Stellen regnete es in die Behausungen. Niemand hatte damit gerechnet, dass noch jemand in den späten Abendstunden an die Tür jenes Holzhauses klopfen würde, welches Théodor mit seiner Frau bewohnte. Noch unerwarteter war es – besonders für Caleb und mich – dass es einer der anderen Bauern war, die Einlass erbaten, sondern ein Fremder.

„Aranél Wissenshüter ist mein Name“, stellte sich der Fremdling mit einem seltsamen Akzent vor, der an einen kalten, bedrohlichen Gesang erinnerte. Er hatte sein gesicht unter der Kapuze seines mit Gold und Purpur bestickten Umhangs verborgen. Nur einige wenige Strähnen seines weiß-blonden Haares wallten sich über seiner Brust zu sanften Wellen, die einen scharfen Kontrast zur sonst schwarzen Kleidung bot.

Bei dem Namen des Fremden zog der Bauer eine missmutige, aber wissende Miene, während Mairéad schickte uns sofort in unsere Betten, damit wir der Unterhaltung nicht lauschen konnten. Doch von Dachboden aus, wo Caleb und ich bis dahin auf Stroh und Laken geschlafen hatten, war nahezu jedes einzelne Wort zu verstehen.

„Ihr kennt den Handel“, zischte die Stimme des Fremden.

„Ihr könnt sie nicht mit euch nehmen, sie ist nur ein Kind!“

„Ich verweigere Euch mein eigenes Kind!“

„Sie ist nicht euer Kind, nur das Kind, das Ihr als das Eure angenommen habt.“

„Und was soll aus dem Jungen werden? Wollt Ihr sie etwa trennen?“, konnte ich Mairéad entsetzt fragen hören.

„Mich interessiert nur das Mädchen. Für den Jungen habe ich keine Verwendung.“

„Und woher wollt Ihr wissen, dass es nur das Mädchen ist?“

„Das Auge hat es mir gezeigt. Und ich spüre es… „

„Das ist uns gleich. Entweder nehmt Ihr sie beide oder Ihr macht, dass Ihr unser Haus verlasst!“

„Ihr könnt mir nicht die Türe weisen“, erklang wieder die Stimme des Fremden, „Vergesst nicht, dass Ihr mir etwas schuldet, oder wollt Ihr euch nicht an unsere Vereinbarung halten?“

Die ganze Nacht über hörte ich sie so streiten und in meinem kindlichen Unverstehen und meiner Angst vor dem Fremden fiel ich in einen unruhigen Schlaf, der mir die unheimlichsten Bedeutungen dessen, was meine Zieheltern mit diesem Aranél besprochen hatten, aufzeigte.
 

Der nächste Tag hielt eine weitere Überraschung für mich bereit. Als ich früh am Morgen die Leiter zu den Wohnräumlichkeiten hinab stieg und mich auf den Weg zur Küche machte, hoffte ich, dass die Erlebnisse von vergangener Nacht nur Einbildung gewesen wären, doch diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als ich die Küche betrat, wo mir ein Paar rötlich-violetter Augen umrahmt von weiß-blonden Haaren entgegenstarten. Von Schrecken ergriffen wollte ich davon laufen, doch meine Beine versagten ihren Dienst, sodass ich nur wie gebannt dastand und den Dunkelelfen ansah. Erst die Worte meiner Ziehmutter riefen mich wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Celenwyn, bitte setz dich, wir haben etwas zu besprechen…“

Als ich eintrat und mich widerwillig an den kleinen Holztisch setzte, konnte ich erkennen, dass auch Mairéad nur unfreiwillig handelte und den Fremdling am liebsten zur Türe hinausgeworfen hätte. Doch sie tat es nicht.

„Celenwyn ist also dein Name…“, sprach der Dunkelelf, der mich noch immer nicht aus den Augen gelassen hatte. In den bis dahin verstrichenen vierzehn Jahren meines Lebens war ich nur wenigen Leuten begegnet und nur einmal einer anderen Elfe, doch da dieses Gehöft noch innerhalb jener Zone lag, die zum Kriegsgebiet gehörte, war auch einem Kind wie mir bewusst, wie ein Dunkelelf aussah. Zuerst hatte ich es nicht bemerkt, denn auch Menschen konnten helle Haare haben, doch die Augen hatten diesen Aranél letztendlich entlarvt. Solche Augen konnte nur ein Dunkelelf besitzen. „Ich hoffe, wir werden uns gut verstehen, immerhin werden wir eine längere Reise antreten.“

Entsetzt blickte ich Mairéad an. „Soll das heißen, ihr schickt mich weg?“

„Es tut mir Leid“, erwiderte die Bäuerin und wich meinem Blick aus, „Ich habe keine Wahl, es ist zu deinem Besten.“

„Aber…“, wollte ich aufbegehren, aber mein Ziehvater unterbrach mich.

„Hier erwartet dich nichts als harte Arbeit und eine ungewisse Zukunft, dort, wo du hingehen wirst, wird es dir besser ergehen.“ Er sprach es mit solch einer Zuversicht, dass ich es ihm beinahe geglaubt hätte, wäre da nicht er betrübte Gesichtsausdruck gewesen. „Und u deinen Bruder brachst du dich nicht zu sorgen. Dort, wo du hingehst, wird er nicht glücklich werden können. Sein Weg wird ihn woanders hinführen.“

Dieserlei Trostsprüche und Aufmunterungen hielten noch eine ganze Weile an, zuletzt aber nickte ich nur. Meine Zieheltern hatten deutlich gemacht, dass sie mich dem Fremden nicht verweigern würden. Ich wurde angewiesen, leise meine Sachen zu packen und noch vor dem Mittag das Haus verlassen zu haben, zu Caleb aber durfte ich kein Wort sprachen.

Ich tat, wie mir geheißen, und sammelte das wenige, das ich besaß zusammen: etwas Kleidung, ein Buch mit gepressten Blumen und Zeichnungen von allen Tieren, die ich in diesen kurzen Jahren zu Gesicht bekommen hatte, sowie ein einfaches Schnitzmesser, mit dem ich einst unter Baumrinden gebohrt hatte, um zu sehen, was dort für Käfer hausten. Es dauerte nicht einmal eine Stunde, bis ich reisefertig vor der Türe stand und mit einem unguten Gefühl auf das Unabänderliche wartete.

Der Dunkelelf selbst kam nut wenige Augenblicke später. Er führte zwei Pferde, von denen das eine eindeutig von unserem Hof stammte. Er wies mich an, aufzusitzen und ihm zu folgen, wobei ich mich noch einmal zu Mairéad und Theodor wandte, die schweigend mit düsteren Mienen uns zusahen. Ich spürte, sie waren froh, den unliebsamen Gast losgeworden zu sein, doch das Gegenteil galt für mich. Und noch viel schlimmer traf es mich, als Caleb schließlich aus dem Hause trat.

Er wirkte gehetzt, so als wäre er eben erst erwacht und habe von meiner Abreise erfahren. Laut und deutlich konnte ich seine Protestrufe hören und meine Zieheltern hatten alle Mühe damit, meinen Bruder zurückzuhalten, damit er sich nicht vor Aranéls Pferd warf. Dieser Anblick hat sich bis heute in meine Erinnerungen eingebrannt. Ich selbst aber saß nur da auf meinem noch etwas zu großen Pferd und weinte. Das einzige, was ich über meine Lippen brachte, war ein geflüstertes „Ich komme eines Tages wieder, versprochen“, denn ich wusste, es würde meinen Zieheltern nur mehr Schwierigkeiten bereiten, wenn ich blieb.

So folgte ich ohne ein weiteres Wort oder mich umzudrehen dem Dunkelelfen in die Fremde.
 


 


 

Das Jahr 637 der Herrschaft Minastîrs, 738. Hochkönig der Elfen, westlich der Wälder von Nandûr
 

Unsere Reise dauerte zwei Monde. Wir rasteten nur wenig selbst als der erste Frost einsetzte und unsere Pferde weniger Halt auf dem gefrorenen Boden fanden, ließ mein neuer Meister sich nicht zu kürzeren Reitstrecken überreden. Wohin wir genau reisten, konnte ich nicht sagen. Immer mehr schlich sich das Gefühl bei mir ein, der Dunkelelf führte mich ins Landesinnere, allerdings machte er so häufig Umwege, dass ich schon bald die Orientierung verloren hatte. Ich erinnere mich an einen markanten Stein, der sich inmitten eines Meeres aus hügeligen Wiesen erhob. Dort hielten wir unsere letzte Rast.

Aranél hatte mit einem Zauber Schnee und Kälte vertrieben, sodass wir in der Nacht nicht frieren mussten, denn der Winter in diesem Jahr war ungewöhnlich hart gewesen. Die ganze Reise über hatten wir nur wenig gesprochen und der Dunkelelf war mir noch immer nicht geheuer, aber an diesem Tag wirkte besonders gesprächig und neugierig.

„Was haben sie dich gelehrt?“, hörte ich ihn fragen, während ich den seltsamen Felsen untersuchte. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, Spiralmuster in den Stein zu schlagen.

„Was meint Ihr?“

„Was haben die Menschen dir beigebracht in all den Jahren?“

Die Frage verwunderte mich damals, dennoch antwortete ich ehrlich. „Ich habe lesen und Schreiben gelernt, weiß, wie man Kühe melkt und Viehherden beieinander hält… Und ich kenne viele Pflanzen, die essbar sind und gegen Krankheiten helfen!“

Als Kind war ich sehr stolz auf dieses Wissen gewesen, immerhin war ich meinen Zieheltern immer von Nutzen gewesen, aber diesem Stolz wurde ein jähes Ende bereitet, als der Dunkelelf sich mit der Hand an die Stirn fuhr und verächtlich lachte.

„Nichts also…“, hörte ich ihn mit seinem zischenden Akzent, „Da nehme ich all die Mühen auf mich, nur um mir ein Kind anzuhängen, das gerade eben auf zwei Beinen zu stehen gelernt hat. Nein Mädchen, ich rede nicht von den Dingen, die ein Bauernweib wissen muss, sondern deiner Gabe.“

„Gabe?“, das Wort platzte einfach aus mir heraus. Ich wusste noch immer nicht, worauf dieser Aranél hinauswollte.

„Lass es mich erklären“, antwortete er, als er den Ausdruck in meinem Gesicht bemerkt hatte, „Ist es dir denn noch nie aufgefallen, dass du Dinge bewirken kannst? Ist vielleicht schon einmal etwas passiert, nur weil du es dir gewünscht hast?“

Dagegen wusste ich nichts anzubringen. Ich verstand damals nur sehr wenig von Magie, doch auch damals schon, als ich allein durch meine Wut die Scheune in Brand gesetzt hatte, hatte ich gewusst, dass es nicht einfach Zufall gewesen war. Die Scheune hatte gebrannt, weil ich wütend gewesen war. Dies war die einzige Erklärung gewesen, die ich mir hatte geben können.

„Ah, ich sehe, du beginnst, zu verstehen“, sprach der Dunkelelf und wirkte nun um einiges besser gelaunt, „Und deshalb wirst du mit mir kommen, du wirst lernen, diese Kraft zu kontrollieren und zu beherrschen.“

Allmählich klärte sich der Grund für meine Abreise. Und dennoch verstand ich nicht so recht, weshalb ich ausgerechnet mit einem Dunkelelfen durch die Wildnis ziehen musste, um zu lernen, wie ich meine Gefühle beherrschte.

„Darüber brauchst du dir fürs Erste keine Gedanken machen“, hörte ich ihn sprechen. Er hatte meine Gedanken wohl an meinem Gesicht abgelesen. „Schlaf etwas, für morgen wirst du Kraft brauchen.“

Ich tat, wie mir geheißen, und legte mich auf den trotz des Zaubers noch immer winterharten Boden, der auch durch die freigelegten Grashalme nicht weicher wurde. Wir hatten einen weiten und anstrengenden Weg bis zu diesem Felsen zurückgelegt, sodass es nicht lange dauerte, bis ich in meinen Mantel eingerollt in tiefen Schlaf fiel.
 

Als ich am nächsten Morgen geweckt wurde, erwartete mich die erste Überraschung, die dieser Tag für mich bereithalten sollte. Ich hatte tief geschlafen und dank des Zaubers, den Aranél um mich gewoben hatte, waren meine Hände nicht steif vor Kälte, wie es in den Wintern bei meinen Zieheltern der Fall gewesen war. Doch dies war nicht das eigentliche Wunder. Denn als ich mich erhob und umsah, schien eine klaffende Lücke in die Landschaft gerissen worden zu sein. Und dort, wo eigentlich der gemusterte Fels hätte stehen sollen, war plötzlich ein von warmem Fackellicht erleuchteter Gewölbegang zu sehen. Die beiden Szenen – Winterlandschaft und Steingewölbe – gingen so abrupt in einander über, dass ein unwissender meinen könnte, jemand habe ein Gemälde von einem steinernen Gang inmitten der Wiese aufgestellt. Ich aber, obwohl ich nur ein Kind war und von Magie nicht viel verstand, spürte deutlich den Zauber, der dieses seltsame Bild aufrechterhielt.

„Dorthin wird uns der Weg führen.“

Die Stimme erklang so plötzlich neben mir, dass ich zusammenzuckte. Mein Lehrmeister schien es für amüsant zu halten, meine instinktive Furch herauszufordern, indem er von der dunklen Gabe seines Volkes Gebrauch machte und immer dann, wenn ich es am wenigsten ahnte, direkt hinter mir erschien.

„Dort hinein?“, fragte ich den Dunkelelf argwöhnisch. Auf eine seltsame Weise war mir der Zauber genauso unheimlich wie sein Schöpfer. Doch wider Erwarten nickte mein Meister und deutete mit der Hand auf den Spalt in der Landschaft.

„Dies ist der einzige Weg, ansonsten bist du die letzten zwei Monde umsonst in der Wildnis umhergewandert.“

Er sagte das so ruhig, dass ich keinen Zweifel daran hatte, dass der Ort, der in diesem klaffenden Loch – in diesem Gewölbe – lag, ungefährlich war, und so nahm ich all meinen Mut zusammen und wagte einen ersten Schritt durch den Spalt. Ganz zu meiner Verwunderung war der steinerne Boden, der zu sehen war, real – oder zumindest sollte es mir so vorkommen. Und nach einigen weiteren Schritten stand ich in eben jenen Gang, der zuvor noch wie ein Trugbild aus der Winterlandschaft ragte. Es war ein trockener, warmer Ort, der durch die vielen Fackeln und Kerzen in ein gelbliches Licht getaucht wurde. Fenster gab es keine. Und trotzdem war die Luft frisch und klar, als würde täglich gelüftet.

„So, da wären wir…“, hörte ich Aranél sagen, der nur wenige Schritte hinter mir stand. Der Spalt, der nun den Blick auf die Winterlandschaft freigab, schloss sich und es blieb eine steinerne Wand zurück. Der einzige Weg war der in gerader Richtung voraus.

In dem Gesicht des Dunkelelfen konnte ich erkennen, dass er sich an diesem Ort weitaus wohler fühlte als draußen in Eis und Schnee. „Folge mir!“, forderte er mich auf und ging voran. Noch immer hatte er nicht erklärt, an was für einen Ort er mich gebracht hat und ich wagte es auch nicht, nachzufragen. So folgte ich ihm schweigend und versuchte mir alles so gut wie möglich einzuprägen. Nach einiger Zeit Taten sich schwere Holztüren zu beiden Seiten auf. An einigen waren verschlungene Zeichen angebracht, die ich nicht zu lesen vermochte. Ich prägte sie mir trotzdem ein, vielleicht würden sie mir ja irgendwann nützlich sein.

Der Gang schien schier unendlich zu sein, zumindest kam es mir damals so vor, als ich noch ein Kind war, selbst die Zeit schien langer zu verstreichen, und als ich glaubte, wir würden nie das Ende des Ganges erreichen, tat sich uns ein schlichter, goldener Türrahmen auf, der gut zu dem ockerfarbenen Gestein passte. Eine Tür selbst gab es nicht, nur einige nahezu durchsichtige Vorhänge von undefinierbarer Farbe verschleierten das, was sich dahinter verbarg, vor zu neugierigen Blicken. Hin und wieder schimmerte der Stoff in einem pulsierenden Grün, so, als würden sie von einer Laterne angestrahlt, deren Blende man öffnete und dann wieder zuschlug. Und genau auf dieses grüne Licht hielt der Dunkelelf zu.

Einen Augenblick überlegte ich, ob ich nicht besser kehrtmachen sollte, um einen Ausgang aus diesem Gebäude zu finden, doch wurde mir schnell klar, dass dies nicht möglich war. Die Zugänge schienen sich nur mit Magie öffnen zu lassen und selbst wenn es mir gelungen wäre, zu fliehen, ahnte ich bereits, dass Aranéls Weg ihn unumgänglich zu meiner Familie führen würde. Mairéad fürchtete ihn. Und ich hatte deutlich in ihren Zügen lesen können, dass diese Furcht nicht unbegründet war. Also blieb ich und folgte dem Dunkelelfen etwas verunsichert.

Der zarte Stoff der Vorhänge schien sich nahezu von selbst zu öffnen, als wir uns dem Ende des Ganges näherten, und fiel erst wieder zu, als wir beide hindurch getreten die meine Zieheltern Caleb und mir immer in den Abendstunden vor dem Herdfeuer erzählt hatten. Wir standen auf einer großen, Ringförmigen Galerie, auf welcher sich viele Reihen von Regalen mit Büchern und Pergamentrollen ansammelten. Hin und wieder wurde eine breitere Lücke zwischen den Regalen freigelassen, sodass dort ein Schreibpult Platz fand. Sowohl nach oben, also auch nach unten wiesen jeweils zwei gewundene Treppen, die sich perfekt dem Ringförmigen Gefüge unterordneten, den Weg zu anderen Galerien.

Ich wagte mich näher ans Geländer heran und war erstaunt, zu sehen, wie hoch dieses Bauwerk reichte. Unter uns befanden sich noch fünf weitere Galerien, über uns aber schien diese Heimstätte der Bücher gar endlos heraufzuragen. Was mich aber am meisten für sich einnahm, war die Quelle des geisterhaften Lichtes. Weit unten, auf der niedrigsten Etage, war ein seltsames Mosaikmuster in der groben Form eines Kreises in den Boden eingelassen. Es schienen Runen oder andere Schriftzeichen zu sein, die sich wie Schlangen ineinander wanden und ein für mich nicht fassbares Bild erschufen. Jede Runenschlange führte auf die Mitte des Musters zu, wo ein schlichter Altar aus hellgrauem Gestein ruhte. Dort flackerte ein grünes Feuer, das fast drei Etagen hoch ragte. Und inmitten der Flammen, auf dem steinernen Altar, befand sich eine Kugel aus dunklem Kristall. Schon damals spürte ich die Macht, die von diesem Gegenstand ausging. Es wirkte so unheimlich, erhaben, als sei es aus dieser Welt entrückt, so als stamme es aus einer ganz anderen Welt.

„Dies ist die Bibliothek von Khal’Zur“, holte mich die Stimme des Dunkelelfen in die Wirklichkeit zurück, „Hier wirst du leben und lernen, was du wissen musst. Hier wird fortan dein zu Hause sein.“

Ungläubig betrachtete ich Aranél. Doch der Dunkelelf schien mich nicht mehr wirklich wahrzunehmen. Er hatte die Augen geschlossen und lächelte abwesend, ganz so, als wäre etwas Unsichtbares an diesem Ort, dass nur er wahrnehmen konnte.

„Ähm…“, räusperte ich mich, war ich doch mit dieser Situation überfordert. Mein Lehrmeister schlug die Augen auf, aber dieser düster-heitere Ausdruck blieb in seinen Zügen.

„Ich war viel zu lange fort…“, sprach er mehr mit sich selbst und führte mich dann durch die Reihen von Bücherregalen. Für Unwissende mochte all das Wissen, das hier verwahrt wurde, wahllos in irgendwelche Regale und Schränke verstaut sein, gab es doch noch nicht einmal Schilder, die zeigten, in welcher Abteilung man sich befand, doch wie ich später erfahren musste, gehorchte alles hier einer geheimen Ordnung, die nur die höchsten der Wissenshüter vollständig überblickten. Wie Aranél während des langen Marsches durch die Galerie erklärte, befasste sich jede Etage mit einem anderen Thema. So war der erste Ring den magischen Künsten vorbehalten, während die oberste Etage alles Wissen um die schönen Künste beherbergte. Jene Etage, auf welcher wir uns nun befanden, war dem Studium der Tiere und Pflanzen gewidmet. Alles, was man über die belebte Natur aus aller Herren Länder wissen konnte, sei es auch der noch so kleinste Käfer, war hier verwahrt.

„Der Lebensinhalt eines Wissenshüter ist es, Wissen zu wahren und zu mehren“, erzählte der Dunkelelf mir, als wie die langen Regalreihen durchschritten, ehe er vor einem stehen blieb, „Auch du musst deinen Tribut an den Gott des Wissens zollen, ehe du Teil unserer Gemeinschaft werden darfst.“ Ich sah meinen Lehrmeister nur verwundert an. Wozu sollte ich Wissenshüterin werden, hatte er nicht gesagt, ich wäre hier, um das Zauberhandwerk zu erlernen?

„Deine Bücher“, forderte er und wies auf meine Reisetasche, „Das, was du an Wissen gesammelt hast, ist nicht länger dein privates Gut. Dein Wissen wird allen gehören, die willens sind, zu lernen. Deshalb wirst du die Bücher, die du geschrieben hast, hier zurücklassen, wo sie ihren angemessenen Platz erhalten werde.“

Nur widerwillig holte ich die beiden in schmuddeliges Leder gebundenen Büchlein hervor, die bislang mein ganzer Stolz gewesen waren. Das eine enthielt nur gepresste Blumen und teile von allen Pflanzen, die ich auf dem Hof meiner Zieheltern finden konnte, während ich in dem anderen all jene Tiere zu zeichnen versucht hatte, die ich in meinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte, doch damals blickte ich mit Stolz auf dieses kleine Werk, dass allein mein Verdienst gewesen war. Es nun zurückzulassen und es vielleicht nie wieder zu sehen, gab mir das Gefühl, die letzte Verbindung zwischen mir und meinem Bruder endgültig aufzugeben. Und trotzdem gehorchte ich. Eines der beiden Bücher schon Aranél gleich in eines der niedrigsten Regalfächer, während er das andere einer jungen Frau mit haselnussbraunem Haar überreichte, die gerade einige Schriftstücke sortierte. Die Frau verneigte sich tief und ging dann schweigend wieder ihrer Arbeit nach.

„Dieser Komplex ist nur das herz der Bibliothek“, setzte der Dunkelelf nach einer Weile an, während wir uns einer Eichentür näherten, „Von allen Ringen gehen Gänge ab, die verschiedenste Kammern beherbergen. Einige davon sind Schreibstuben, in manchen verwahren wir auch Dokumente, die schnell dem Verfall erliegen würde, kämen sie mit der Luft in Kontakt.“

„Aber das können doch nicht alles nur Arbeitszimmer sein!“, erwiderte ich, kaum dass wir den schmalen Gang hinter der Tür betreten hatten. Diesmal waren es weitaus mehr Türen, die das Mauerwerk unterbrachen.

„Nein, natürlich nicht. Einige Räume sind unseren Gästen vorbehalten, meist sind es einfache Kammern, die stets auf der Höhe des Ringes liegen, in welcher der jeweilige Gast zu recherchieren wünscht. Die unterste Etage, dort, wo du das grüne Feuer gesehen hast, ist allerdings allein den Wissenshütern vorbehalten.“

Ich nickte und versuchte mir dieses Bauwerk als ein Ganzes vorzustellen. Es musste weitaus mehr als eine einfache Bibliothek sein, wenn es so viele Besucher gab. Dieser Ort übertraf alles, was ich aus den Märchen meiner Ziehmutter kannte!

„Dies ist dein Zimmer.“ Wieder war es Aranél, der mich aus meinen Gedanken holte. „Dort wirst du dich nach Belieben einrichten können. Du wirst auch neue Kleidung vorfinden, für eine Novizin der magischen Künste schickt es sich nicht, in den abgetragenen Kleidern eines Bauernmädchens herumzulaufen.“

Leicht verärgert musterte ich mein Kleid. Nun gut, es war nicht gerade das, was man einer Fürstentochter zumuten würde, doch ich für meinen Teil fand, dass mein Lehrmeister es ziemlich übertrieb. Selbstverständlich trug ich ein schlichtes Kleid aus blasblau gefärbter Wolle und keine Seide, auch trug ich eine wollweiße Schürze mit zwei kleinen Taschen, statt eines Purpurmantels. Immerhin verrichtete ich genau wie alle anderen harte Arbeit und meine Familie war alles andere als Reich gewesen. Aber schmutzig oder zerschlissen waren meine Kleider nicht.

Entweder bemerkte Aranél meinen stillen Protest nicht, oder aber er ignorierte es, denn er wandte sich bereits zum Gehen und rief mir noch zu: „Gegen Sonnenuntergang wird man dich zum Speisesaal führen, bis dahin kannst die Zeit nach Belieben nutzen.“

Wütend starrte ich dem Dunkelelfen hinterher, hielt es aber für besser, nichts zu sagen und auch nichts zu tun, was ich später noch bereuen würde. Zumindest hatte ich nun meine Ruhe. Zögerlich öffnete ich die massive Holztür mit den leicht angerosteten Scharnieren. Dass sie nicht lauthals quietschen, grenzte an ein Wunder. Bei all der Schlichtheit, in der sich die Bibliothek mir bislang präsentiert hatte, glaubte ich bereits zu wissen, wie auch die Gemächer aussehen mussten. Doch was ich zu sehen bekam, überraschte mich bei weitem mehr als wenn ich ein Himmelbett mit seidenen Laken vorgefunden hätte. Vor mir befand sich die Dachkammer eines einfachen Holzhauses. Zwei mit Stroh gefüllte Säcke lugten unter abgenutzten Decken hervor und durch das kleine, kreisrunde Fenster wehte ein kühler Frostwind herein, der die Flamme einer halb heruntergebrannten Kerze auf einem kleinen Schränkchen flackern ließ. Es war ein Zimmer wie Caleb und ich es uns bei unseren Zieheltern geteilt hatten. Nein, es war das Zimmer dass wir gemeinsam bewohnt hatten! Alles sah genauso aus, wie ich es zurückgelassen hatte. Selbst die Kerben, die Caleb in einem besonders harten Winter in das nach Harz duftende Holz geritzt hatte, um die verbleibenden Tage bis zum Frühling zu zählen, waren da. Fast schon glaubte ich, die Reise mit dem unheimlichen Dunkelelfen wäre nur ein Traum gewesen, und wenn ich den Raum betrat, dann würde ich Theodor rufen hören, dass er Hilfe beim Schneeschaufeln benötigte, während Mairéad sich lauthals über Caleb beschwerte, weil dieser schon wieder mit schmutzigen Stiefeln über den eben erst geputzten Boden gerannt war. Als ich mich aber noch einmal umdrehte und in den Gang hinausblickte, wurde mir endgültig bewusst, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren würde und dass dieses Zimmer lediglich Teil eines Zaubers war, den die Wissenshüter über ihre Hallen gelegt hatten.

Enttäuscht schlug ich die Tür zu, wollte alles, was mit er Bibliothek, mit diesem fremden Ort zu tun hatte, aus meinem Kopf verbannen, wollte nicht, dass irgendetwas diese Illusion zerstörte, und so hockte ich da in dem Zimmer, die Beine übereinandergeschlagen und blickte hinaus zu dem Fenster, um den dicken Schneeflocken in ihrem trudelnden Flug zuzusehen. Wie lange ich dort saß, kann ich nicht sagen. Mir kam es wie nur ein winziger Augenblick vor, doch als ich endlich aus meinen tiefsten Gedanken erwachte, zeichnete sich bereits das Abendrot am Horizont ab. Ob es die echte Sonne war? Vermutlich nicht, wieso sollte ausgerechnet der Himmel an diesem Ort real sein, wenn dieses Zimmer doch nur ein Trugbild war und es sonst keine Fenster in dieser unheimlichen Bibliothek gab.

Was mich aber am meisten zum Grübeln brachte war, dass niemand gekommen war, um mir die Kleider zu bringen, von denen Aranél gesprochen hatte. Hatten sie mich etwa vergessen? Dann fiel mir der Holzschrank ein. Caleb und ich hatten uns immer darum gestritten, wer welche der beiden Schubladen erhielt, zuletzt hatte ich nachgeben müssen und die untere nehmen müssen, um das wenige, was ich besaß, unterzubringen. Wenn dieser Schrank genau wie jener war, der auch zu Hause stand, dann müsste ich doch vielleicht noch ein Kleid oder zumindest ein Hemd in meiner Schublade finden. Es wäre dann zwar kein kostbares Gewand, wie mein Lehrmeister es sicher gewollt hätte, aber immerhin besser als nichts, nachdem der Dunkelelf die Kleidung, die ich auf unserer Reise mit mir geführt hatte, so schamlos belächelt hatte.

Mit einem Ruck zog ich die Schublade hervor, denn seid jeher hakte sie, weshalb mein Bruder und ich uns um die obere gestritten hatten, und staunte. Die Schublade war nahezu leer, nur ein einziges, sorgfältig zusammengelegtes Kleidungsstück befand sich noch darin, doch eben dieses kam so gänzlich unbekannt vor. Ich holte es vorsichtig hervor und besah mir, was ich gefunden hatte. Es war ein langes Samtkleid in der Farbe des Nachthimmels. Der Kragen war schlicht und rund, während die Ärmel weit ausgestellt waren und fast bis zum Boden reichten. Sämtliche Säume waren mit einem Muster aus aufgestickten, silbernen Blättern verziert. Es fühlte sich warm an, so als hätte der einstige Träger es eben erst ausgezogen. Wahrlich, dies war das Kleid einer Fürstentochter! Ich selbst kam mir dagegen schäbig und unbedeutend vor. Eines aber verwirrte mich: Das Kleid war zu groß. Ich hätte mindestens zwei Köpfe größer sein müssen, wollte ich es tragen. So würde es mir gewiss über die Schultern rutschen und der Saum würde weit auf dem Boden schleifen. Vielleicht könnte ich es ja mit einer Schere kürzen, damit es zumindest einigermaßen passte. Aber eine Schere konnte ich nicht finden. Also überlegte ich, was ich machen sollte. Das neue Kleid passte mir nicht und die anderen durfte ich nicht tragen. Vielleicht würde man mir ein andres bringe, wenn ich zum Essen abgeholt werden würde und erklärte, was passiert sei. Immerhin war es ja nicht meine Schuld, wenn ich zu klein war. Und so wartete ich, dass endlich jemand kam.

Die Zeit schien viel zu langsam zu verrinnen. Als ich nach gefühlten drei Stunden wieder aus dem Fenster sah, hatte der Himmel eben erst einen rötlichen Ton angenommen, der zuvor noch gelbe Spuren aufgewiesen hatte. Und je länger ich in meinem Zimmer auf einem der Strohsäcke saß und das Abendrot betrachtete, desto ungeduldiger wurde. Erneut beschlich mich der Gedanke, man könnte mich vergessen haben, doch versuchte ich, diese Möglichkeit aus meinem Kopf zu verbannen. Es würde schon jemand kommen, und wenn nicht, würde ich auf eigene Faust handeln.

Wieder fiel mein Blick auf das Kleid, das nun neben mir auf dem Strohsack lag. Es hatte sich so warm, so lebendig angefühlt und aus einem für mich unersichtlichen Grund schien es mich anzuziehen, ließ nicht zu, dass ich es zurück in die Schublade legte oder mich weit davon entfernte. Vielleicht könnte ich es trotzdem einmal anprobieren? Wie Samt sich wohl beim Tragen anfühlte? Und obwohl ich wusste, dass dieses Gewand viel zu groß für mich war, wurde der Drang, es anzulegen, immer stärker. Letzten Endes gab ich nach. Wenn ich es anprobierte, könnte zumindest niemand behaupten, ich würde mich nur aus Trotz weigern.

Fast schon wie ein lebendiges Wesen bewegte sich der Stoff, als er meinen Körper hinabglitt. Haken, Verschlüsse, Öffnungen – alles fand wie von selbst seinen richtigen Platz, so dass ich ohne Schwierigkeiten das Kleid anziehen konnte.

Als ich dann an mir herunter blickte, bestätigten sich meine Vermutungen. Fast eine Elle lang lag der dunkelblaue Stoff auf dem Boden auf, während es oben zu weit war. Und dennoch war es ein unbeschreibliches Gefühl, fast so, als hätte das Gewand nur auf mich gewartet.

Ich machte einige Schritte durch den Raum, versuchte im Spaß, wie eine Edeldame zu laufen und mich zu gebaren, als wäre ich am Königshofe erzogen und nicht in einer ärmlichen Holzhütte am Rande des Kriegsgebietes. In diesem Augenblick fühlte ich mich wirklich wie eine Prinzessin.

Zuletzt fand ich auf meinem Schränkchen einen in Ebenholz gefassten, ovalen Handspiegel. Wie er dahin gelangt war, war mir ein Rätsel, denn wenige Augenblicke zuvor hatte er noch nicht da gelegen. Behutsam nahm ich ihn auf und blickte in mein eigenes Gesicht, die tiefblauen Augen, das weiße Haar, das etwas wild in alle Richtungen abstand. In den Letzten Wochen hatte ich kaum eine Gelegenheit gehab, mich selbst zu betrachten, und nach all den Strapazen der langen Reise verwunderte es mich nur wenig, dass meine Haare so unordentlich waren. Ich durchsuchte mein Reisegepäck nach dem Holzkamm, den Theodor einmal für mich geschnitzt hatte. Er war aus hellem Buchenholz gefertigt und war mit einem Muster aus Libellen verziert, wie es sie in warmen Sommertagen an einem kleinen See nicht weit unseres Hofes gab. Während ich mich hinabbeugte, um das hölzerne Utensil aus meiner Tasche zu holen, hielt ich verdutzt inne. Ich hatte ganz vergessen, die Röcke des Kleides zu Raffen, damit der Saum nicht durch den groben Holzboden aufgeraut oder gar abgenutzt würde. Doch als ich den Stoff anhob, wirkte er auf einmal zu kurz. Entsetzt griff ich wieder zu dem Spiegel. Ich hielt ihn so weit wie möglich von mir weg, um möglichst viel zu sehen, und erstaunte erneut. Der Stoff rutschte nicht mehr über meine Schultern, sondern schien genau zu passen. Ob das wohl ein Zauber war? Wohlmöglich hatte Aranél gewusst, was passieren würde und hatte es deshalb in mein Zimmer gebracht. Mit solch einem magischen Kleid, das stets die Maße die Maße der Trägerin annahm, sparte man sich gewiss einige Mägde, die sonst mit Bergen von Kleidungsstücken umherlaufen müssten, um für jeden Bewohner der Bibliothek stets etwas Passendes zum Anziehen zu finden. Etwas erleichterter, wenngleich ich mich noch nicht so recht an die Allgegenwärtigkeit der Magie gewöhnen konnte, griff ich nach meinem Kamm und begann damit, mein Haar zu bändigen.
 

Als ich später am Abend abgeholt wurde, sollte mich eine weitere Überraschung erwarten.

„Beeil dich!“, gängelte mich das Wesen, das mich zum Speisesaal führen sollte. Es reichte mir nicht ganz bis zur Hüfte und wirkte eher wie ein Zerrbild eines Menschen. Nur die Ohren, die waren spitz und erinnerten an einen Elfen. Er sei ein Gnom, hatte er mir erklärt, als ich ihn in meiner Unwissenheit gefragt hatte, in welchen Landen es so kleine Menschen gab.

„Komm, Mädchen, trödele nicht, das hat er Meister gar nicht gern!“

Obwohl Gamrin, denn so hieß der Gnom, so klein war, fiel es ihm trotzdem nicht schwer, mir vorauszueilen. Zudem schien er sich hier bestens auszukennen.

„Seid ihr ein Wissenshüter?“, fragte ich und versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

„Und wenn dem so wäre, das geht dich nichts an. Und nun komm und stell keine Fragen, der Meister wird sonst sehr zornig sein.“

Wer wohl der Meister war? Alles, was ich von Gamrin darüber erfahren konnte, war, dass der Meister, genau genommen der Großmeister, der oberste der Wissenshüter und somit der Herr dieser Bibliothek war. Und wie es schien, war er nicht gerade ein geduldsamer Mann.

Der Gnom führte mich hinab zu der untersten Galerie und zuletzt zum tiefsten Punkt der Bibliothek, dort, wo die schwarze Kugel auf dem in Flammen gehüllten Altar stand. Im Vorbeigehen spürte ich, dass etwas überaus Machtvolles von diesem Ding ausging. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und ich wurde das Gefühl nicht los, beobachtet werden. Besser wurde es erst, als wir in einen der fünf Gänge einbogen, die sich wie die Strahlen eines Sternes um ihr Zentrum ordneten. Zu meinem Erstaunen war dieser Gang weitaus breiter und höher gebaut, als jene, durch die Aranél mich hierher geführt hatte. Auch gingen weniger Türen zu beiden Seiten ab.

„Küchen, Vorratskammern, Speisesäle“, erklärte Glamrin knapp und führte mich zum Ende es Ganges, welches durch ein einziges, zweiflügliges Tor markiert wurde.

„Dort musst du hinein.“ Die Stimme des Gnoms klang etwas verlegen.

„Wollt Ihr mich nicht hineinbegleiten?“, fragte ich, doch mein Führer schüttelte nur den Kopf und erklärte, er habe noch anderen Aufgaben nachzugehen, wobei ich deutlich merkte, dass es nur Ausreden waren, um nicht den Saal betreten zu müssen. Es blieb mir also nichts übrig, als die letzten Meter allein zu gehen.

Seltsamerweise hatte die große Tür weder Knauf noch Klinge, doch scheinbar wurde dies auch nicht benötigt, denn kaum, dass ich mich bis auf wenige Schritte genähert hatte, schwangen die Flügel schon wie von Zauberhand auf und gaben die Sicht auf einen weitläufigen Saal Preis. Fünf Tafeln befanden sich darin, lange Tische aus schwerem Mahagoni-Holz, an denen sich Wesen aller erdenklichen Rassen versammelt hatten, um zu speisen. Viele Elfen sah ich dort, die besonders durch ihre hohe, schlanke Gestalt und die spitz zulaufenden Ohren auffielen. Aber auch Menschen aller Altersgruppen saßen dort, einige Gnome, und Wesen, die ich als Zwerge erkannte. Sie unterschieden sich vor allem darin von den Gnomen, dass sie muskulöser waren und härtete, wenngleich auch würdevolle Züge besaßen. Besonders die männlichen Zwerge hatten sich aufwändige Zöpfe in ihre langen Bärte geflochten und trugen oft metallenen Schmuck. Abgesehen davon erkannte ich auch zwei Trolle, die mit ihrer Größe einen aufrecht stehenden Menschen fast um eine Manneslänge überragten, und selbst im Sitzen schienen sie noch riesig zu sein. Ansonsten tummelten sich hier auch Gestalten, die ich keiner mir bekannten Rasse zuordnen konnte.

Lebendiges, aber doch geordneten lachen und Plaudern drang an meine Ohren, ich bekam Fetzen von Diskussionen mit und vernahm derbe Scherze, doch als ich selbst in die Halle eintrat, verfielen alle, die mich sahen, in Schweigen.

„Das ist sie, das muss sie sein!“, brach eine geflüsterte Stimme die Stille und zog weitere gemunkelte Worte nach sich.

„Sie sieht ihr wirklich ähnlich…“

„Ihr Ebenbild!“

„Was sich der Großmeister dabei gedacht hat….“

Eingeschüchtert durch diese eher feindseligen Worte schritt ich durch die Reihen von Tischen. Meine Augen suchten Aranél, der vielleicht mein einziger Fürsprecher war. Ich fand ihn zuletzt am Kopfende der mittleren Tafel, wo er mit einem Mann, der ihn um eine Haupteslänge überragte, ein scheinbar ernstes Gespräch führte. Als er meiner gewahr wurde, stand ich schon fast neben ihm.

„Komm, Kind, lass dich betrachten!“, forderte er mich auf, näher zu treten, „Unglaublich, wie sehr du ihr ähnelst…“

„Man könnte fast glauben, sie sei zu uns zurückgekehrt“, bestätigte der Mann neben Aranél mit einem warmherzigen Lächeln. Seine Haut war von einem sanften Braunton, so als habe er lange in einem der warmen und sonnigen Länder des Südens gelebt, während sein Haar kohlrabenschwarz war. Er wirkte abgehärtet, trotz der noch jugendlichen Züge und betrachtete das Treiben um sich herum aus seltsam klaren, wachsamen Augen.

„Darf ich vorstellen? Das ist Sylfâen, meine rechte Hand.“

Der Dunkelhaarige beugte sich über den Tisch hinweg, um mir die Hand zu reichen. „Aranél hat mir bereits viel über dich erzählt. Ich hoffe, dieser Ort hat dir bislang nicht zu viel Angst bereitet.“

In diesem Augenblick bemerkte ich, was mich an seinen Augen so verwirrt hatte: Seine Pupillen waren geschlitzt wie die einer Echse! Leicht erschrocken wich ich zurück.

„Du brauchst ihn nicht zu fürchten. Sylfâen mag zwar eine etwas direkte Art haben und einen ungewöhnlichen Sinn für Humor, aber für einen Drachen ist er ganz in Ordnung.“

Doch anstatt mich zu beruhigen, verunsicherten mich die Worte des Dunkelelfen nur noch mehr. Meine Zieheltern hatten mir von den Drachen erzählt, den Herren der Welt, von ihrer Macht und ihrer Weisheit, doch vorgestellt hatte ich sie mir ganz anders. In meinen Gedanken erschien immer eine gigantische Echse mit Flügeln, die Feuer spie, wenn ich das Wort „Drache“ hörte.

„Als das Mündel des Großmeisters wird dir eine Menge abverlangt werden“, fuhr Sylfâen fort und warf bei dem Wort „Großmeister“ einen Blich zu Aranél, „Aber ich bin zuversichtlich, dass du all die Hürden mit Leichtigkeit überwinden wirst.“

Ich wollte etwas erwidern, doch dazu kam ich nicht. Der Dunkelelf hatte sich bereits erhoben und alle Aufmerksamkeit galt nun ihm. Dass ausgerechnet er, der mich von meiner Familie fortgerissen und an diesen seltsamen Ort gebracht hatte, der Herr dieser Bibliothek sein sollte, erschien mir in diesem Augenblick eher wie ein übler Scherz. Aber schon damals begriff ich, dass ich als Schülerin von Aranél leichter zu Rang und Namen aufsteigen würde und mir eine gewisse Immunität gegen Anfeindungen gegeben war.

„Brüder und Schwestern“, begann der Großmeister seine Rede, „Wieder einmal sitzen wir beisammen und dürfen den Göttern danken für das reichliche Mahl, das wir auch heute genießen dürfen, und dafür, dass ein weiterer Tag in hingebungsvoller Arbeit nicht vergebens war. Lange war ich fort, um den Bildern nachzugehen, die mir das Auge gezeigt hat. Wahrlich habe ich gefunden, wonach ich gesucht: Das Auge führte mich zu dem Erbe einer Frau, die wir lange für verloren geglaubt. Hier ist Celenwyn, die Tochter von Morwéna Schattenweber . Sie wird in unseren Reihen verweilen und zu Ende bringen, was ihre Mutter nicht vermochte.“

Die Anwesenden klatschten eifrig, und obwohl ich die Bedeutung jener Worte noch nicht verstand, ahnte ich bereits, dass dies der Anfang eines von Rätseln und Geheimnissen durchzogenen Lebens werden sollte.



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