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Geweint vor Glück

Im Rollstuhl zu Jesus
von

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Es musste komisch aussehen, wie er hier als erwachsener Mann auf dem Boden hockte und mit pinker Straßenkreide Linien auf den Asphalt des Schulhofs malte. Woran sich Jan aber wenig störte. Es waren schließlich nicht irgendwelche Linien und sie dienten einem bestimmten Zweck.

Er war dabei ein großes Labyrinth aufzuzeichnen. In der Mitte hatte er angefangen und arbeitete sich nun mühsam Zentimeter für Zentimeter weiter nach außen.

Eine halbe Stunde würde er sicherlich noch brauchen.
 

Morgen fand, wie jedes Jahr, der Tag der offenen Tür an ihrer Schule statt. Für die zukünftigen, neuen Fünftklässler und deren Eltern.

Der Direktor hatte beschlossen, dass jeder Lehrer etwas Fachspezifisches zu der Veranstaltung beitragen sollte. Nach Möglichkeit sollten alle Bereiche mit entsprechend originellen Ideen abgedeckt werden, hatte er gesagt.
 

Als Jan dann aber mit seinem Vorschlag von dem Labyrinth und den Sorgensteinen zu ihm gekommen war, hatte der ältere Mann äußerst zurückhaltend reagiert. Religiöse Sachen seien doch wohl nicht zwingend notwendig, und er solle sich lieber auf sein Hauptfach Englisch konzentrieren.

Es hatte den Referendar fast zwei Stunden Diskussion gekostet, bis sein Vorgesetzter endlich widerwillig zugestimmt hatte.
 

Nicht zwingend notwendig!

Wütend drückte Jan die Kreide fester auf den Asphalt. Zwischen diesen ganzen Prüfungsfächern, in denen es nur um Leistung und gute Noten ging, hielt er die Religionspädagogik für sehr notwendig!

Auch wenn Sportlehrer über ihren Unterricht vermutlich dasselbe dachten.

Aber einen Stationen Lauf in der Turnhalle hatte sein Chef ohne zu zögern akzeptiert. Nur die Religion konnte man seiner Meinung nach getrost unter den Teppich kehren!

Jan hätte ihn erwürgen können!
 

Zu einem Schulwechsel gehörten doch auch immer Ängste. Unsicherheiten.

Und Jan hatte beschlossen, diese durch große Steine zu verdeutlichen, die die Kleinen über den verschlungenen Weg des Labyrinths zu Jesus bringen konnten.

Jeder für sich persönlich.
 

Der junge Mann war nun am Ende angelangt und rappelte sich wieder auf. Mit schmerzenden Knien und schmerzendem Rücken.

Achtlos wischte er sich die Kreidefinger der rechten Hand an seiner Jeans ab, während er sich mit der anderen durch seine hellbraunen Haare fuhr.

Abschließend glitten Jans lindgrüne Augen über das Gesamtwerk. Das konnte er so lassen.

Die Kiste mit den Steinen und das symbolische Holzkreuz für die Mitte würde er erst morgen mitbringen.
 

~*~*~
 

Die Nacht war klar und trocken geblieben, und auch das Wetter am nächsten Tag war perfekt. Im strahlendem Sonnenschein tummelten sich etliche Besucher lieber draußen auf dem Schulhof, als in den Klassenzimmern oder der gar der Turnhalle. Darunter viele, viele Kinder.
 

Anfangs hatte Jan sich darüber gefreut, doch nun, um die Mittagszeit herum, war diese Freude einer bitteren Enttäuschung gewichen.

Sicher, die Kleinen hatten ihren Spaß. Sie jagten und schubsten sich gegenseitig durch das Labyrinth, es gab Gelächter und Zank und Geschrei, wenn einer von ihnen schummelte, indem er einfach zwei Biegungen übersprang.

Aber sie nahmen die Idee, die dahinter steckte überhaupt nicht ernst. Sie hörten ihm ja noch nicht einmal richtig zu! Und die, die es taten, lachten ihn entweder sofort aus oder machten sich im Nachhinein über ihn lustig. Äfften ihn und seinen Glauben nach.

Wenn Jan dann doch einmal eingriff, wurde er nur angegrinst und die entsprechenden Jungen oder Mädchen liefen anschließend davon.
 

Fast war er sogar froh darüber, dass die Kinder sich nach einiger Zeit wieder verzogen, um andere Angebote auszuprobieren.

Die Ausarbeitung der Idee und das Zeichnen des Labyrinths hatten so viel Spaß gemacht und nun stand er hier und zermürbte sich mit Selbstvorwürfen.

Er hätte es eigentlich wissen müssen!

Nannte man so etwas nicht naiv?

Oder war er einfach noch zu unerfahren?
 

Seufzend stellte Jan das Kreuz wieder auf, was achtlos umgerannt worden war.

Doch als er den Blick hob, entdeckte er mit einem Mal, in ein paar Meter Entfernung, ein Mädchen. Ein Mädchen, das genauso enttäuscht und hilflos aussah, wie er sich gerade fühlte.

Sie musste in etwa zehn sein. Ein gelber Haarreif verhinderte, dass ihr die glatten, dunkelbraunen Strähnen ins Gesicht fielen. Ihr geblümtes Kleid war in derselben strahlenden Farbe gehalten, aber das sah der junge Mann kaum.
 

Es war der Rollstuhl, in dem sie saß, der seine Aufmerksamkeit daran hinderte sich sofort wieder anderen Dingen zuzuwenden.

Der ihn schlucken ließ.

Und ihre augenscheinlich geistige Behinderung.

Das Down-Syndrom kam ihm als Erstes in den Sinn, aber Jan wollte sich nicht festlegen, das wäre alles andere als fair gewesen.
 

Sehnsüchtig, den linken Handrücken an den Mund gepresst, starrte sie auf das Kreidebild in dem er gerade kniete.

Hatte sie den anderen Kindern etwa die ganze Zeit beim Spielen zugesehen?

Nein, das hätte er bemerkt.

Oder?
 

Er erhob sich, und erst in diesem Moment schien die Kleine auf ihn aufmerksam zu werden. Ein klein wenig ängstlich beobachtete sie, wie er näher kam, blieb aber wo sie war.
 

„Hallo!“, freundlich lächelnd ging Jan vor ihr in die Hocke, „Möchtest du auch mal durch mein Labyrinth?“

Zweifelnd blickte sie ihm in die Augen und schien seiner Freundlichkeit noch nicht ganz zu trauen.

„Aber, ich kann doch nicht …“, nuschelte sie schließlich. Verschluckte den Rest des Satzes ganz. Doch ihr Gegenüber erriet, was sie sagen wollte.

„Aber du hast doch mit Sicherheit zwei kräftige Arme, mit denen du deinen Rollstuhl bewegen kannst!“

Immer noch unsicher sah die Kleine über seinen Kopf hinweg auf die große, pink bemalte Fläche des Schulhofs. Jan erkannte, wie gerne sie dieses Spiel auch einmal ausprobiert hätte. Aber ein paar Zweifel waren scheinbar doch noch vorhanden.
 

Geduldig wartete er ab. Ein paar Sekunden nur, bis sie die Hand an ihrem Mund sinken ließ, den Kopf schüttelte und dann versuchte zu erklären: „Es geht nicht. Der Weg … der ist doch gar nicht … breit genug. Da passt mein Rollstuhl … doch gar nicht drauf.“

Jan musste sich anfangs mächtig konzentrieren, um ihre undeutlich gesprochenen Worte zu verstehen, aber als er begriffen hatte, was sie meinte, schlich sich wieder ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Aber das macht doch nichts!“, lachend sprang er auf die Beine, „Schau mal, ein Weg ist doch für die Füße da! Und solange du darauf achtest, dass die innerhalb der zwei Kreidestriche bleiben, ist es doch egal, wo die Räder sind!“, ermutigend blickte er ihr in die dunkelblauen Augen und fügte dann etwas weniger enthusiastisch hinzu, „Ich helf‘ dir auch in den Kurven, versprochen!“
 

Da endlich verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln und sie nickte heftig.
 

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte der junge Mann, als er ganz normal, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, neben ihr herging.

„Annika!“, antwortete sie, „Und du?“

„Jan.“, schmunzelte er leicht, „Ich bin hier Lehrer.“

„Und das da?“, zu seiner Überraschung deutete sie auf die transparente Plastikkiste mit den Steinen, für die sich den ganzen Tag über noch keiner wirklich interessiert hatte.

„Das sind Sorgensteine!“, erklärte er, „Du nimmst dir einen und stellst dir vor, das wären all die Ängste und der Kummer, die dir auf dem Herzen liegen. Und dann trägst du ihn durch das Labyrinth zu dem Kreuz und legst ihn dort ab. Du bringst alles, was dich beschäftigt zu Jesus.“

„Und dann sind die Sorgen ganz weg?“, das hoffnungsvolle Aufleuchten ihrer Augen, ließ Jan kurz zögern und mit sich hadern. Sollte er jetzt lügen, um ihr die Illusion nicht zu nehmen?
 

„Nein, leider nicht!“, blieb er schlussendlich doch bei der Wahrheit.

„Aber er kann dir beim Tragen helfen!“, fügte er hinzu, da er sie nicht gänzlich enttäuschen wollte, „Dann bist du nicht mehr so allein!“

Sie antwortete ihm nicht, sondern schwieg nur traurig. Jan beugte sich etwas zu ihr.

„Wollen wir trotzdem jeder einen Stein zu Jesus bringen?“, fragte er behutsam, „Auch wenn er sie nicht ganz wegnimmt?“

Deutlich konnte er erkennen, wie Annika schlucken musste, dann aber zaghaft nickte.
 

Die letzten paar Schritte schob er sie doch auf die Kiste zu.

Den Finger an den Lippen, überlegte Annika noch eine Weile, ehe sie sich nach vorne beugte und mit beiden Händen einen der größeren Steine herausholte, den sie sich auf den Schoß legte.

„Hab einen!“, stolz blickte sie zu Jan empor.

Der gab sich mit einem faustgroßen, schwarzem zufrieden und lächelte sie an.

„Dann können wir ja loslegen!“
 

Weitestgehend allein fuhr Annika durch das Labyrinth und sie gab sich die größte Mühe dabei. Der Mann hinter ihr legte nur bei den ganz engen Windungen seine Hände an die Griffe ihres Rollstuhls, um ihr zu helfen. Aber jedes Mal ließ er sofort danach wieder los, damit sie selbst weiterfahren konnte.
 

Doch irgendwann kam der Punkt, an dem sie nicht mehr weiter konnte, ohne das Kreuz in der Mitte umzustoßen.

„Es geht nicht mehr!“, klagte sie.

„Wir könnten unsere Steine natürlich auch schon hier dazulegen!“, schlug Jan vor.

„Aber … aber … dann sind wir ja noch gar nicht … ganz hier durch!“, schüttelte die Kleine den Kopf.

Jan überlegte.
 

„Wenn du möchtest …“, begann er nach einer Weile, „könnte ich dich die letzten paar Schritte zu ihm tragen. Das müsstest du mir aber zuerst erlauben!“

Auf eine Reaktion von ihr musste er diesmal nicht lange warten.

„Ja!“
 

Den einen Arm schob er unter ihre Beine, den anderen legte er ihr um die Schulter. So hob er sie vorsichtig hoch, während Annika sich dabei an seinem Hemdkragen festhielt.

Ganz langsam ging er mit ihr auf den Armen das letzte Stück.

Vor dem Kreuz kniete er nieder, legte seinen Stein zu dem Sockel und Annika den Ihrigen, den sie weiterhin auf ihrem Schoß getragen hatte.
 

„Bitte, hilf uns!“, flüsterte Jan, hielt die Augen dabei geschlossen und blieb noch ein paar Sekunden in dieser Position, bevor er sich ebenso bedächtig wieder erhob.
 

„Danke!“, lächelte Annika, als er sie vorsichtig zurück ihren den Rollstuhl setzte.

„Ich hab zu danken!“, erwiderte er daraufhin, „Du hast mir den Tag gerettet!“
 

„Sag mal, wo sind eigentlich deine Eltern? Du bist doch nicht etwa allein hier?“

„Nein!“ Mama … ist da drin!“, sie schüttelte den Kopf und zeigte auf das Schulgebäude, „Mit meinem Bruder!“

„Kommt der nächstes Jahr an unsere Schule?“

„Ja!“
 

Jan schob sie auf die im provisorische Kuchentheke der Siebtklässler zu und wollte gerade fragen, ob er ihr ein Stück holen sollte, als die Kleine sich umdrehte, um noch einmal einen Blick zu dem Labyrinth zurückzuwerfen.

„Ob er … mir wirklich beim Tragen hilft?“, sie klang unsicher.

„Jesus? Aber natürlich. Warum sollte er das nicht tun?“

„Weil … ich doch nicht richtig … zu ihm gelaufen bin.“, murmelte sie leise.
 

Da ging der junge Lehrer vor ihr in die Hocke und sah ihr fest in die Augen.

„Wie viele Kinder hast du heute in dem Labyrinth gesehen?“, fragte er.

Kurz musste sie überlegen: „Viele!“

„Viele, ganz genau!“, gab Jan ihr Recht, „Und wie viele Steine liegen da jetzt?“

„Zwei. Unsere.“
 

Er nickte und erklärte dann ruhig: „Von all den Kindern, die hier heute durchgerannt oder gesprungen sind, warst du die Einzige, die wirklich bei Jesus war. Und wenn ich er gewesen wäre, hätte ich mich über dich, die du mit größter Mühe freiwillig auf ihn zugekommen bist, viel mehr gefreut, als über die ganzen Anderen, die nichts von all dem ernst genommen haben! Du hast also nicht nur mir den Tag gerettet, sondern auch ihm!“

„Sicher?“, ihre Stimme zitterte plötzlich.
 

„Ganz sicher!“, lächelnd griff Jan mit seinen schlanken Fingern nach ihrer kleinen Hand, „Ich glaube sogar, er hat geweint. Vor lauter Glück!“
 

*Ende*



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  dasy
2021-09-03T20:41:32+00:00 03.09.2021 22:41
Wow...
Ääääähhhmmmmm.....
Ich mache schon seit einigen Jahren Kindergottesdienst, denke mir Geschichten aus und bin mir auch ganz sicher, dass Jesus mich bisher durchs Leben getragen hat.
Aber so hat mich noch keine Geschichte bewegt. Auf diese Idee bin ich noch nie gekommen.
Und Dein Schreibstil ist so einfühlsam... Phänomenal.

Mit Deiner Erlaubnis werde ich mir eines Tages diese Geschichte für einen Kindergottesdienst ausleihen, wenn er denn wieder stattfinden darf.

Vielen Dank für diese Geschichte! (Besser als manche Predigt)
Von:  Salix
2011-05-30T23:03:20+00:00 31.05.2011 01:03
Mir gefällt an der Geschichte besonders gut, wie du das sich auf einen anderen Menschen so wie er, in diesem Fall sie, ist einzulassen, darstellst. Es hat nichts pathetisches und auch kein ach das arme Kind.
Es ist dir sehr gelungen die Sorgen und Verunsicherungen, welche das Mädchen hat, zu beschreiben.
Mir gefällt die Geschichte, auch wenn ich nicht religiös bin. Denn du zeigst, dass es immer richtig ist in der anderen Person den Menschen mit seinen Ängsten und Gefühlen wahr- und ernstzunehmen, und das hat noch nich einmal etwas mit Religion zu tun. Die Würde des anderen anerkennen ist etwas, dass leider viel zu häufig vergessen wird.

LG Salix



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