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Wüstensand

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Wüstensand

Wüstensand

Die Welt ist still, so still.

Das Mädchen ist einsam und verlassen dort. In der einen Hand einen abgegriffenen Teddybären, wie es ihn mittlerweile kaum noch gibt und dessen ständige Gesellschaft oft genug Grund zu Spott und Hohn war. Jetzt wünscht sie sich, es wäre jemand da, der sie verspotten könnte. Denn das würde bedeuten, dass hier jemand wäre außer ihr und dem Teddy.

Das Mädchen ist barfuss. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen und merkt gar nicht, wie die zermalmten Splitter auf dem Boden sich in ihre Haut graben. Merkt nicht, dass kleine Blutperlen aus derselben quellen. Sie ist müde. Sie möchte schlafen. Aber wenn sie jetzt aufhört zu laufen, wird sie nicht wieder damit anfangen und das ist schlecht, sehr schlecht. Erschöpfung ist es, was sie vorantreibt. Erschöpfung, die sie nicht anhalten lässt.

Das Mädchen trägt auch nur ein langes, mittlerweile schmutziges und zerrissenes Nachthemd. Es hatte keine Zeit gegeben, sich umzuziehen, keine Gelegenheit. Aber das ist auch egal, denn es ist niemand, absolut niemand hier, der sie sehen könnte. Hier ist überhaupt niemand, nur ein kleines, zehnjähriges Mädchen mit zerzausten blonden Haaren in einem Nachthemd und mit einem staubigen Teddybären in der rechten Hand, dessen Knopfaugen lose sind und dessen linkes Ohr beinah abgerissen ist, nur noch an ein paar Fäden hängt.

Sie erinnert sich nicht, wie sie hierher gekommen ist, und auch nur noch an sehr wenig, was vorher war. Ihr scheint es, als wäre sie immer hier gewesen, als wäre es immer so. Natürlich weiß sie, dass das nicht stimmt. Es sind einzelne Bilder in ihrem Kopf, die ihr das sagen – die anderen Kinder, die sich über den namenlosen Teddy lustig machen, das verschmitze Lächeln eines relativ jungen und durchaus nicht schlecht aussehenden Mannes, mit dem sie das Wort Daddy] verbindet, ohne zu wissen, was es heißt, eine hübsche, immer ein wenig chaotisch wirkende Wohnung. Und weiß. Sie erinnert sich an weiß, so viel, dass es in den Augen wehtut. Und einen unangenehmen Geruch, den sie nie zuvor gerochen hat, der sie nun aber verfolgt.

Hier ist nichts weiß. Ganz im Gegenteil, die Welt ist grau und staubig. Der Boden ist mit einer seltsam warmen Masse bedeckt, die aus den verschiedensten Miniaturtrümmern zusammengesetzt ist. Aus Steinen, Glas, Plastik, Stoff, was immer einem einfällt. Es gibt kein Wort dafür, aber sie selbst hat es in ihrem Kopf mit der Bezeichnung Sand versehen. Irgendwo endet der Sand und ein ebenso staubiges, blass-verwaschenes Rot beginnt. Das ist der Himmel.

Etwas anderes gibt es hier nicht, außer sacht ansteigenden Hügeln.

Die Hügel sind wichtig. Sie geben ihr den Antrieb weiter zu laufen. Bis zum nächsten noch. Das ist der Hauptgedanke in ihrem kleinen Köpfchen. Sie hegt die leise Hoffnung, dass danach etwas anderes kommt. Jemand da ist. Irgendeine leichte Veränderung. Und wenn sie dann oben ist, sieht sie nichts außer einem weiteren Hügel.

Wie lange das schon so geht, weiß sie nicht. Sie hat ihr Zeitgefühl verloren. Zeit ist unwichtig.

Hier bleibt alles gleich.
 

Matthias’ Fingerknöchel stehen weiß hervor, so fest hat er den Stoff umklammert. Es ist wie ein Halt, irgendetwas, das ihn davor bewahrt, hier und jetzt in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Und es war auch nur ein schwacher Halt, nur grade so eben. Als würde er auf einem Spinnfaden über denselben balancieren.

Auf die monotone Stimme des Artes achtet er gar nicht. Er weiß, dass der Tanja nicht kennt – dass er nichts über sie weiß und nur leere Phrasen von sich gibt, die man halt so sagt. Vor seinem Auge sieht er nur diesen kleinen, zerbrechlichen Körper vor sich, der abgemagert auf dem kalten, sterilen Krankenhausbett liegt. Die brünetten Haare wie ein Heiligenkranz um den Kopf des Kindes ausgebreitet, das in einem endlosen Traum gefangen ist. Seit einigen Wochen schon liegt das Mädchen im Koma. Künstlich. Das ist ihre einzige Überlebenschance gewesen, nachdem ihnen der Betrunkene ins Auto gefahren ist. Sie könnten sie jederzeit daraus aufwecken, aber solang sich ihre Werte nicht verbessern, werden sie das nicht tun – das könnte das Ende für das kleine Herz bedeuten. Also warten sie, bis die kleine Tanja Lebenszeichen von sich gibt. So eine tapfere Kämpferin.

Eine Hand berührt ihn an der Schulter. „Die Besuchszeit ist vorbei“, macht ihn der junge Assistenzarzt aufmerksam, der ihn zuvor über die Änderung in ihrem Krankenbild informieren wollte – oder über das Ausbleiben derselbigen, Matt kennt das schon. Er nickt sacht und steht auf, um sich dann zu seiner Tochter zu beugen und ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Ihren Teddy hat er ihr auch mitgebracht, in den hat er sich so gekrallt – er braucht immer einen Halt, wenn die Ärzte mit ihm sprechen, sonst würde er sie anfallen und anschreien, warum sie dem kleinen Ding nicht halfen – und legt ihn zwischen ihre Arme, drückt kurz noch abschließend ihre Hand. Wie er es jeden Abend tut. Dann verlässt er mit wehmütigem Blick betrachtet er sie noch einmal kurz, ehe er das Zimmer verlässt.

Die kleinen zerriebenen Trümmerteile, die Tanja Sand nennen würde und in seiner Handfläche verbleiben, bemerkt Matthias nicht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2011-03-01T16:25:59+00:00 01.03.2011 17:25
Die Story war ja richtig traurig.
Ich habe eine kleine männliche Träne vergossen.
Die Metapher der Hügel fand ich besonders schön. Sie kann für so vieles stehen.


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