Zum Inhalt der Seite

Paranoia

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Illusion

Bis auf die Unterwäsche unbekleidet stand Shiho vor dem mannshohen Spiegel im Schlafzimmer.

Mit einem Lächeln betrachtete sich die junge Frau, drehte sich zur Seite und strich sich über den deutlich gewölbten Bauch.

Sie war nun im fünften Monat und laut ihrer Ärztin war das Kind völlig gesund. Auch das Geschlecht war ihnen inzwischen bekannt. Ein kleines Mädchen wuchs in ihrem Körper heran. Shihos Lächeln wurde breiter.

Anfangs hatte sich noch so viele Gedanken und Sorgen gemacht. Sie zweifelte. Sie hatte Angst gehabt.

Doch die erste Untersuchung, das erste Ultraschallbild hatten alle Ängste weggewischt. Sie würde endlich eine kleine Familie haben. Soviel Glück, soviel Normalität in ihrem Leben hätte sie sich niemals erträumen können. Es war fast unheimlich, wie gut sie sich dabei fühlte.

Irgendwann konnte sich von dem Anblick ihres kleinen Babybauches losreißen und begann sich anzukleiden.

Shinichi war schon lange in der Uni und würde erst am Nachmittag nach Hause kommen. Sie selbst hatte das Studium vorerst abgebrochen. Nach der Schwangerschaft würde Shiho es fortsetzen – soweit es die Kleine zulassen würde. Shinichi hatte sie dazu überredet. Sie solle sich schonen. Die freie Zeit war zwar recht entspannend, aber genauso langweilig.

Daher verließ Shiho gegen Mittag das Haus und bummelte seelenruhig durch die Stadt. Die Spätsommersonne schien warm auf ihre Haut, die Temperaturen waren ideal.

Sie wollte sich in einem neuen Babygeschäft im Einkaufszentrum von Beika umsehen. Ran hatte ihr vor nicht allzu langer Zeit einen Flyer in die Hand gedrückt und ihr versprochen, ihn mit ihr zu besuchen. Doch sie hatte noch keine Zeit gefunden und so beschloss Shiho, sich den Laden alleine anzusehen.

Ein wenig befangen, betrat sie das Geschäft und sah sich um. Sie steuerte zunächst auf die Umstandsmode zu, den die brauchte sie zurzeit am ehesten. Ihr Bauch wuchs und ihre Hose ließ sich nur noch mit viel Mühe schließen. Bald würde sie bauchfrei herumlaufen, weil jedes Oberteil sich über ihren Bauch rollte. Shinichi amüsierte sich darüber, während sie selbst diese Tatsache nicht so lustig fand.

Zweifelnd begutachtete sie einige Ständer und kam zu dem Schluss, dass die Sachen einfach nur hässlich waren. Sie würde sich woanders umsehen.

Stattdessen sah sie sich die winzigen Strampelanzüge, Mützchen und Schühchen für Neugeborene an und ihr Herz ging auf.

Neugierig beobachtete Shiho die werdenden Mütter um sie herum. Nicht wenige waren mit ihren Kindern oder ihren Freundinnen unterwegs. Es versetzte ihr einen Stich, als sie eine Schwangere mit ihrer Mutter sah. Sie besahen gerade die Kinderwagen und diskutierten.

Das gute Gefühl verließ Shiho schlagartig. Sie hatte niemanden mit dem sie sich austauschen konnte oder der ihr Tipps gab.

Ihre Mutter war seit so vielen Jahren tot. Und sie hatte sie eigentlich nur aus Erzählungen gekannt. Doch jetzt wurde ihr erst bewusst, wie sehr Shiho sie vermisste. Und nicht nur sie, auch Akemi hätte sich über eine Nichte gefreut. Sie konnte sich verdammt gut vorstellen, wie ihre große Schwester stapelweise Bücher las, um am Ende besser auf die Geburt vorbereitet zu sein, als sie selbst.

Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

„Geht es Ihnen gut?“ Eine junge Verkäuferin, kaum älter als sie selbst, stand mit besorgtem Gesicht neben ihr und strich ihr über den Rücken.

Hastig wischte sie sich übers Gesicht und versuchte zu lächeln. „Ja ... schon gut, ich ...“

Ausgerechnet jetzt bekam sie die Hormone zu spüren, dachte sie verärgert.

„Sind Sie sicher? Vielleicht kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?“ Die Sorge dieser Frau berührte und machte sie gleich gleichzeitig wütend.

Shiho schüttelte den Kopf und verabschiedete sich dankend. Halbwegs gefasst verließ sie den Laden. Was für ein Reinfall, dachte sie. In dieses Geschäft würde sie sich wahrscheinlich nicht mehr trauen. Niedergeschlagen machte sich die junge Frau auf den Heimweg.

Sie hoffte, dass Shinichi bereits zu Hause war. Sie brauchte ihn jetzt einfach. Sie wollte in seinen Armen liegen, sich trösten lassen ... vielleicht sogar über das sprechen, was ihr durch den Kopf gegangen war. Es fiel Shiho noch immer schwer, Gefühle oder Dinge aus ihrer Vergangenheit anzusprechen. Noch immer wusste er nichts von der Abtreibung. Er wusste eigentlich nichts. Aber Shinichi drängte sie auch nicht dazu und darüber war sie sehr erleichtert. Irgendwann würde sie sich ihm anvertrauen. Irgendwann.

Doch an diesem Nachmittag würde sie enttäuscht. Auf dem Esstisch lag eine Notiz von ihm. Er hatte mehrmals versucht sie auf dem Handy zu erreichen. Ein Fall war dazwischen gekommen, wie so oft. Seufzend rief sie ihn an. Seine Stimme klang gestresst.
 

„Shiho! Warum gehst du denn nicht an dein Handy?“

„Tut mir Leid.“, erwiderte sie leise. „Ich hab’s zu Hause liegen gelassen. Ich war in der Stadt ...“

„Okay ... entschuldige, ich hab mir nur Sorgen gemacht, verstehst du?“

Ganz automatisch nickte sie, obwohl er es nicht sehen konnte.

„Ist denn alles okay bei dir?“, fragt er.

„Ja ...“ Sie biss sich auf die Lippen. Lügen war noch nie ihre Stärke gewesen.

„Du hörst dich nicht so an ...“

„Wann kommst du nach Hause, Shinichi?“ Sie hörte ihn seufzen.

„Das kann ich nicht so genau sagen, es könnte noch dauern ... geh bitte nicht so spät ins Bett, warte nicht auf mich, ja?“

Shiho versprach es ihm und sie verabschiedeten sich voneinander.

Frustriert schmiss sie das Handy aufs Sofa und zog das Haargummi aus ihrem Zopf. Sie hatte es immer toleriert, dass er einem Fall nach dem Nächsten hinterer jagte, doch so konnte es nicht weiter gehen. Sie vermisste ihn. Und wenn das Baby da war, konnte er auch nicht ständig verschwinden.

Mit einer dünnen Decke über den Beinen, legte sich Shiho auf das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Sie musste mit Shinichi reden. Er würde es einsehen, da war sie sich sicher.

Aber nach diesem mehr oder weniger misslungenen Tag würde sie sich einfach nur noch von schlechten, koreanischen Dramas berieseln lassen und dann schlafen gehen.
 

Sie träumte.
 

Sie sah ihn deutlich vor sich. Sie konnte ihn riechen. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren.
 

Sherry ... meine kleine, süße Sherry ...
 

Nein, wisperte sie. Geh weg ...
 

Er strich ihr über die Wange und sie erschauderte.
 

Ich habe dich so vermisst ... es wird mir ein Vergnügen sein, dich kalt und blass in den Armen zu halten ...
 

Sie schrie. Sie schrie so laut, dass sie davon erwachte. Hektisch schlug Shiho um sich, versuchte ihn damit aus ihren Gedanken zu vertreiben.

Am ganzen Körper bebend sah sie sich um. Es war bereits dunkel und allein der Fernseher erleuchtete das Zimmer mit flackernden Bildern.

Es war, als könne sie seine Finger noch auf ihrer Haut spüren und sie schluchzte laut auf. Als es hinter ihr knarrte, gab sie einen erstickenden Schrei von sich und schrak vom Sofa auf. Dort war niemand. Aber er war da, er war da, sie konnte ihn spüren. Die Panik begann ihre Gedanken zu vernebeln. Sie hastete zum Schrank und zog mit zitternden Händen einen Revolver aus der Schublade. Sie hatte ihn selbst gekauft. Vor Jahren. Aus Angst.

Wieder knarrte es und sie wimmerte auf. Es schien vom Flur, von der Treppe zu kommen. Sie musste wählen. Entweder sie verbarrikadierte sich im Wohnzimmer und rief Shinichi an ...

Aber was, wenn sie sich erneut irrte? So wie damals, als sie glaubte, er wäre auf der Straße gewesen. Und selbst, wenn er sich in diesem Haus befand, sollte sie nicht beginnen, sich ihrer Angst zu stellen? Dieser Mann hatte Jahre ihres Lebens zur Hölle gemacht und jetzt ließ sie sich immer noch von ihm einnehmen?

Ihr Herz klopfte dermaßen laut, dass es ihr schwer fiel, einen klaren Gedanken zu fassen.. Schließlich beschloss Shiho, sich selbst zu vergewissern.

Wenn er es war, wenn er wirklich hier war, dann ...

Zitternd entsicherte sie die Waffe und lief zur Tür. Wie am Rahmen festgeklebt, tastete sie im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Als die Lampe endlich brannte, blickte sie sich hektisch um. Die Geräusche waren von der Treppe gekommen. Also musste er oben sein.

Vorsichtig ging sie Stufe für Stufe hinauf. Alles in ihr widerstrebte sich, schrie und kämpfte um ihr Leben. Sie wollte umkehren, nach draußen stürmen, sich und ihr Kind retten ...

Doch schließlich erreichte sie den oberen Flur. Alle Türen bis auf die des Schlafzimmers waren geschlossen. Also konnte er sich nur dort befinden.

Unbewusst hielt sie die Luft an und ging auf den Raum zu. Sie würde ihn einfach erschießen, dachte sie. Sie würde ihm keine Zeit geben, sie zu verunsichern.

Sie trat näher. Ihr Herz setzte aus, als sie im Zimmer einen Schatten erkannte. Ohne die weit aufgerissenen Augen abzulassen, glitt ihre schweißnasse Hand zum Schalter.

Sie kniff die Augen zusammen, als die Helligkeit sie blendete, die Hände noch immer fest um den Abzug gepresst.
 

Ihre Beine ließen nach und sie sank am Türrahmen herunter.

Der Schatten war ihr gespiegeltes Selbst in der Scheibe des Fensters gewesen.

Sie keuchte auf, als die gesamte Anspannung aus ihrem Körper wich und ihr die Waffe aus der Hand rutschte.

Kraftlos lehnte sie den Kopf an die Wand und schloss für wenige Sekunden die Augen. Sie war doch verrückt. Das war der Beweis.

Jahrelang hatte sie sich auf ihre Fähigkeit, auf ihren Instinkt verlassen. Und nun spielte Shihos Verstand ihr Streiche. Lautlos weinend saß sie auf dem Boden.

Sie war ein verdammtes Wrack. Ihr Kind würde eine paranoide Verrückte als Mutter haben.

War das ihr Schicksal? War das der Preis dafür, dass sie der Organisation entkommen konnte? War die Angst für den Rest ihres Leben ein ständiger Begleiter, egal wie glücklich sie zu sein schien? Das war kein Leben, dachte sie. Es war eine Strafe. Vielleicht bestrafte man sie, für all die Menschen, die durch ihr Gift umgekommen waren.
 

Die Haustür öffnete sich.

„Shiho?“

Wie vom Blitz getroffen, griff sie nach der Waffe und raste ins Badezimmer. Den Revolver verbarg sie gut versteckt im Korb bei ihren Utensilien. Hastig spritzte sie sich Wasser ins Gesicht. Ihre Hände zitterten noch immer, als sie die Zahnpasta aus der Tube drückte.

Sie hörte Shinichi die Treppe hinauf laufen und ehe sie sich versah, stand er mit einem breiten Grinsen im Badezimmer.

„Es ging schneller, als ich dachte!“ Er gab seiner Freundin einen Kuss und blickte ihr ins Gesicht. „Wolltest du ins Bett gehen? Du siehst ziemlich müde aus ...“ Sie nickte, während sie sich die Zähne putzte. So musste sie nicht sprechen. Es wäre ihm sofort aufgefallen, dass etwas nicht stimmte.

„Warum hast du denn den Fernseher unten angelassen?“

Sie hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern, erst dann spülte sie sich gründlich den Mund aus und räusperte sich. „Hab ich wohl vergessen.“, erwiderte sie mit halbwegs fester Stimme. Sie lächelte und küsste ihn. Zärtlich strich Shinichi über ihre Wange und sie musste das Schaudern unterdrücken.

„Leg dich schon mal ins Bett, ich komm’ nach.“, sagte er leise und gab ihr einen weiteren Kuss.

Kurz bürstete Shiho ihre Haare durch, bevor sie sich ins Schlafzimmer begab und dort entkleidete. Er hatte nichts bemerkt, dachte sie. Lautlos seufzend öffnete sie den Schrank und zog das spitzenbesetzte Nachthemd über, welches Shinichi ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.

Dann setzte sie sich aufs Bett und zog die Knie an. Während sie an die Wand starrte, hörte sie Shinichi in der Küche hantieren.
 

Wie sollte sie das aushalten?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück