Einer dieser Tage.
Es war wieder einer dieser Tage. Mit traurigem Gesichtsaudruck pfefferte Carlisle Cullen seinen Mundschutz in einen der dafür vorgesehenen Mülleimer. Schon wieder hatte er ein Menschenleben nicht retten können, schon wieder war er gescheitert. Denn auch wenn für das Mädchen jede Hilfe zu spät gekommen war, der brilliante Chirug gab sich selbst die Schuld. Wie immer. Immerhin hatte der Vampir es zu seiner Bestimmung gemacht, Menschenleben zu retten. Denn wie sollte er sonst mit dem bitteren Los, ein Monster zu sein, zurechtkommen? Alle die ihn kannten vermochten zu sagen, dass Carlisle Cullen der menschlichste Vampir auf Erden war. Sehr wahrscheinlich stimmte das sogar. Aber auch er hatte eine animalische Seite... und hasste sich selbst dafür.
"Dr. Cullen? Hören Sie mir zu?" Eine schüchterne Stimme rief ihn aus seinen Gedanken. Er stand immer noch im Vorraum des OP's, aus dem er gerade gekommen war und sah sich einer Krankenschwester gegenüber, die wie er wusste in der Notaufnhame des Forks General Hospital tätig war. Mit erröteten Wangen und verlegenem Blick starrte sie ihn an, einen gelben Zettel in der Hand. An die Wirkung, die er vor allem auf weibliche Personen hatte, konnte und wollte er sich auch nicht gewöhnen. Er setzte ein charmantes Lächeln auf. "Entschuldigung Mary, ich war in Gedanken. Was gibt es?" Seine melodische Stimme ließ ihr Herz gleich ein paar Takte schneller schlagen, wie seinen unglaublich guten Ohren nicht verborgen blieb. "Nun, im Wartebereich der Ambulanz sitzt eine junge Patientin, die von Dr. Gerandy hierher zu ihnen überwiesen wurde. Ich denke, das sollten sie sich ansehen." Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Interessiert nahm er den Zettel entgegen und las den Namen der jungen Patientin. Jessica Stanley. Das aufgeweckte Mädchen war eine Freundin seiner Schwiegertochter in spe, Bella, und ging wie auch seine Kinder auf die Forks High School. Der Überweisungsgrund ließ ihn schlucken.
"Ja natürlich, ich schaue sie mir sofort an. Einen Moment." Mit einem Nicken verließ die Krankenschwester den Raum und ließ den Chirug wieder allein. Dieser starrte hingegen immer noch auf den Zettel in seiner Hand. Die Symptome waren eindeutig: Blässe, Schwäche, Blutungsneigung mit spontanen blauen Flecken, Anfälligkeit für Infektionen mit Fieber... Verdacht auf Leukämie. Er bezweifelte, dass dies dem jungen Mädchen bewusst war. Carlisle seufzte laut und warf sich seinen Arztkittel über, um sich ein Bild von seiner neuen Patientin zu machen.
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Nervös kaute die Brünette Jessica Stanley an ihren Fingernägeln. Wie sie Krankenhäuser hasste! Und nun hockte das ungewöhnlich blasse Mädchen zusammen mit ihrer Mutter in der Notaufnahme des Forks General Hospital und wartete auf Dr. Carlisle Cullen. Dr. Cullen... wie oft war der überdurchschnittlich gutaussehende Arzt schon Gesprächsthema bei ihr und ihren Freundinnen gewesen? Sie vermochte es nicht zu sagen. Er war DAS Gesprächsthema in Forks, genau wie seine mysteriöse Familie. Und nun sollte er ihr Arzt werden? Jess verstand die Welt nicht mehr. Wieso konnte ihr Hausarzt, Dr. Gerandy, sie nicht mehr behandeln? Irgendwas war faul. Hilfesuchend klammerte sie sich an die Hand ihrer Mum, die auf ihrem Oberschenkel lag. Mit flehendem Blick sah sie in dessen haselnussbraune Augen. "Mum? Was soll das alles?" Zwar hatte die Siebzehnjährige sich bereitwillig hier her kutschieren lassen, aber das hieß ja noch lange nicht, dass sie verstand warum.
Mrs. Stanley sah ihre Tochter mit zärtlichem Blick an und strich ihr eine Strähne ihres glatten, braunen Haares aus den Augen. "Alles wird gut, Schätzchen. Mach dir keine Sorgen." Ja, sicher. Wen wollte sie damit überzeugen? Ihre Tochter oder sich selbst? Seufzend lehnte das Mädchen sich in dem ungemütlichen Plastikstuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Das konnte ja heiter werden. Obwohl Jess sich eingestehen musste, dass sie so langsam wirklich Hilfe brauchte. Das sonst so aufgeweckte und lebensfrohe Mädchen war schlapp, ungewöhnlich blass und ständig müde. Mittlerweile litt sie im Wochenabstand an irgendwelchen Erklältungen und lag mit Fieber flach. Sogar ihren Freundinnen waren diese Dinge schon aufgefallen, zumal Jessica Stanley's wichtigste Eigenschaft verloren gegangen war: Die Fähigkeit, ununterbrochen zu reden. Lange hatte sie das alles unterschätzt, jedoch bewies ihr der Termin im Krankenhaus jetzt wohl das Gegenteil. Sofern sie denn irgendwann mal dran kämen. "Dafür hab ich einen Ausflug mit Mike und den anderen abgesagt" bemerkte sie nach einigen weiteren Minuten mürrisch und warf der Krankenschwester im Anmeldebereich einen finsteren Blick zu. Mike... Mike Newton war ihre erste große Liebe; seit ein paar Wochen fuhren sie jedoch die Wir-beiben-gute-Freunde Schiene, in der sich keiner der beiden wirklich wohl fühlte. Jess hoffte inständig auf ein Comeback der Beziehung, und dieser ihrer Meinung nach unnütze Termin hatte sie um eine weitere Chance gebracht. Doch endlich schien sich was zu tun, denn der schönste Mann, der ich je unter die Augen getreten war, trat auf sie zu. Mit einem umwerfenden Lächeln schüttelte er Jessica's Hand. Das Mädchen zuckte für einen Moment , als sie die Kälte spürte. Es war jedoch kein unangenehmes Gefühl... im Gegenteil. Kurz huschte ihr Blick hoch zu seinen Augen - ein Fehler, wie sich herausstellen sollte. Dieses flüssige Gold... benebelt ließ sie sich zusammen mit ihrer Mutter in sein Büro führen. Es war modern eingerichtet; lediglich ein paar alte Gemälde an den Wänden ließen erahnen, wie alt der Vampir wirklich war. "Setzen sie sich." Er deutete auf zwei gemütliche Ledersessel vor seinem gigantischen Schreibtisch, hinter welchem er sich niederließ. Dort lag bereits ein handliches Klemmbrett bereit, welches für seine Notizen unabdinglich war.
Es folgte ein relativ uninteressantes Aufnhamegespräch, in dem der Arzt Jessica genau zu sämtlichen Symptomen befragte und ihr am Schluss etwas Blut abnahm. Während der gesamten Prozedur konnte Jessica kaum die Augen von dem Arzt abwenden. Er war so schön... "Nun, die nächsten Schritte werden folgendermaßen aussehen. Wir behalten Sie hier Miss Stanley und werden weitere Tests durchführen. Schließlich wollen wir alle so schnell wie möglich Gewissheit, nicht wahr?"
BITTE WAS? Das hatte er gerade doch nicht wirklich gesagt. Der Brünetten klappte der Mund auf.
Während Mrs. Stanley nickte und Dr. Cullen mit Dankbarkeit nur so überhäufte, verschränkte die Siebzehnjährige die Arme vor der Brust und verzog das Gesicht. "Ich bleibe nicht hier." Als ob sie im Krankenhaus bleiben würde! Die taten ja fast so, als wäre sie totkrank! "Wie bitte?" Mrs. Stanley blinzelte verwirrt. "Natürlich bleibst du hier, darüber wird gar nicht erst diskutiert." Jessica stöhnte auf und rollte mit den Augen. Das war so klar! Sie hätte kotzen können. Obwohl, besser nicht, dann hätten die ja erst Recht einen Grund gehabt, sie an diesem unheimlichen Ort zu behalten.
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Später am Abend saß Carlisle erneut in seinem Büro, diesmal allerdings allein. Jessica befand sich nun in einem Einzelzimmer auf einer der Stationen, die er betreute. Sie machte den Krankenschwestern bereits das Leben zur Hölle, aber wer konnte es ihr verdenken? Welcher Teenager war schon gern im Krankenhaus? Carlisle seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die blonden, seidigen Haare. Wenn sie wüsste, dass sie es so schnell nicht mehr verlassen würde... er starrte auf die Laborwerte des jungen Mädchens. Auch ohne weitere Tests war der Chirug sich ihrer Diagnose schon sicher. Er hatte es bereits bei der Blutabnahme am Mittag gerochen. Seine gute Nase war ihm des öfteren überaus hilfreich in seinem Beruf, und da es sich bei Leukämie bekanntlich um eine Blutkrankheit handelte, blieb ihm das natürlich nicht verborgen. Wie sollte er ihr nur mitteilen, dass sie an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt? Aus Erfahrung wusste Carlisle, dass die meisten nicht geheilt werden konnten. Und bei ihr war die Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass auch ihre Organe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Das war doch wirklich zum Verrücktwerden! Der Vampir konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Wenn nicht ein Wunder geschah, hatte sie nur noch ein paar Monate zu leben. Und genau das musste er ihr irgendwie sagen... aber nicht mehr heute Abend.
Circa eine halbe Stunde später befand der Chirug sich in seinem Mercedes und lenkte ihn Richtung nach Hause, in Gedanken aber immer noch bei dem jungen Mädchen, dessen Leben sich ab morgen von grundauf verändern würde...