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Er sieht dich.

Ein trauriges Märchen
von

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Zerbrochen

Als sie wieder nach Hause ging, hatte sie jede Menge über die Stadt gelernt, in der sie jetzt lebte. Die Jungs hatten sie herumgeführt und ihr die besten Ecken gezeigt.

Die meisten Übergabeorte für die Drogen waren irgendwelche U-Bahnstationen oder Bushäuschen, die mit Graffiti besprüht waren und überall nach Zigarettenqualm rochen.

Geraucht hatten sie auch. T hatte ihr eine angesteckt und gegeben. Aiko hatte dummerweise auch einen Zug genommen, um nicht vollkommen blöd dazustehen.

In Wirklichkeit hatte sie zuvor noch nie so ein Ding in der Hand gehabt und war auch nicht gerade erpicht darauf gewesen, diese Erfahrung zu machen.

Jedenfalls hatte sie einen schlimmen Hustenanfall bekommen und T, Sorrow und Tyke hatten sie ausgelacht. Sogar Big Key hatte geschmunzelt. Zumindest hatte sie gedacht, ihn schmunzeln gesehen zu haben.

Alles in allem war es ein sehr witziger Vormittag gewesen. Nach der Panne mit der Zigarette waren sie noch in einen Dönerladen gegangen.

Sorrow hatte sich über ihren Yufka lustig gemacht und Tyke hatte daraufhin ein paar extrem peinliche Storys über Sorrow's nur sehr selten bis gar nicht von Erfolg gekrönte Versuche, irgendwelche Frauen anzubaggern, erzählt.

Obwohl es ein ereignisreicher Vormittag gewesen war, hatte Aiko stets im Hinterkopf behalten, was passiert war. So sehr sie auch gehofft hatte, sich ein wenig amüsieren zu können, war ihre Stimmung durch diese düsteren Gedanken getrübt gewesen.

„Hey Schatz!“, rief Sasori, als sie die Haustür aufschloss. Sie lächelte ihn an.

„Hey Süßer!“, rief sie zurück und gab ihm einen Kuss.

„Wie war die Schule?“, fragte er.

„Gut“, erwiderte sie.

„Das freut mich. Ich habe dir Essen gemacht. Spaghetti Carbonara. Das magst du doch, oder?“

„Du weißt doch ganz genau, dass ich das mag! Gibt’s hier irgendetwas Neues?“

„Nein, nicht das ich wüsste.“

„Wie geht’s dir denn?“

„Sehr gut, danke der Nachfrage! Bis vor zwei Minuten ging es mir noch etwas schlechter, aber als du hereingekommen bist, war meine Laune gleich viel besser! Und wie geht’s dir?“

„Ganz gut, denke ich.“

Er sah sie ernst an.

„Es geht mir wirklich gut, okay?“, sagte sie ein wenig genervt. Sasori schüttelte den Kopf und sah sie mitleidig an. Mit trauriger Stimme sagte er: „Bitte lüg mich nicht an. Ich mag es nicht, wenn du lügst.“

„Aber ich lüge doch gar n....“, begann sie, als er sie mit einem Kuss unterbrach.

„Von so schönen Lippen sollte keine Lüge kommen. Ich bitte dich“, sagte er leise und nahm ihre Hand, „mach es dir doch nicht so schwer. Wir wissen beide, dass es dir nicht gut geht. Sag mir die Wahrheit. Ist es immer noch so schlimm?“

Sie sah zur Seite und flüsterte Tränen erstickt: „Es tut mir Leid. Bitte verzeih mir.“

Ihre Augen waren nass und spiegelten sein besorgtes Gesicht wider. „Hey“, sagte er behutsam, „Es ist schon in Ordnung. Die Wunden sind wohl immer noch so frisch.“ Nachdenklich strich er über ihre Hand.

„Ich wünschte, du müsstest nicht so leiden. Es ist meine Schuld. Ich wollte nie, dass du dich wegen mir so peinigst. Es nimmt dich auseinander, mein Herz. Du musst damit aufhören. Du musst lernen, zu vergessen. Glaub mir, ich weiß, was ich von dir verlange. Aber ich kann nicht länger mitansehen, wie du in deiner Qual ertrinkst. Ich würde es von dir nehmen. So gerne würde ich das, Aiko. Wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages im Stande sein, deine Wunden zu heilen“, flüsterte er. Sie weinte. Sasori hielt sie fest. Mit zitternder Stimme erwiderte sie: „Du weißt, dass du es niemals können wirst. Egal wie sehr du es dir wünschst, es ist zu spät. Ich habe es einfach falsch gemacht. Falsch, Sasori. Das ist es, wie ich mich fühle. Falsch. Als würde ich einem Licht hinterherjagen, von dem ich weiß, dass es längst erloschen ist. Als wäre nur mein Körper lebendig.“

„Deine Seele ist es auch, mein Herz. Du musst es nur loslassen.“

„Das kann ich nicht. Es ist … wie ein Schatten, der mir überall hin folgt. Ich ... ich werde ihn einfach nicht los.“

„Du musst dich endlich überwinden. Sonst wirst du daran zerbrechen. Aiko! Hörst du nicht? Du wirst daran zerbrechen!“

„Ich bin zerbrochen! Kapier es doch! Ich bin bereits kaputt! Daran kannst du nichts ändern! Es ist scheißegal, wie sehr du es versuchst, du kannst es nicht!“, schrie sie.

Er sah sie einfach nur an. Schweigend fuhr er mit seiner Hand über ihr Gesicht und beruhigte sie damit. Langsam und vorsichtig küsste er ihren Hals.

„Warum hast du mir das nur angetan? Warum?“, fragte sie traurig.

„Ich weiß, dass es ein Fehler war. Ich bin deiner unwürdig, so unwürdig, mein Schatz. Wenn ich es hätte verhindern können, hätte ich dir diese Pein erspart. Ich liebe dich. Wie kann dich etwas nur so zerreißen? Wie konnte das passieren?“, fragte er sich selbst.

„Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst. Es bringt doch sowieso nichts. Siehst du, deswegen sage ich dir nicht, wenn es mir schlecht geht.“

„Ich weiß. Es gibt Vieles, dass du mir verschweigst.“

Sie sah ihn verwundert an.

„Was meinst du?“

Anstatt einer Antwort schob er behutsam, beinahe zärtlich, ihren Ärmel hoch und legte ihren Unterarm frei. Mit einem Seufzen sagte er: „Solch ein schöner Körper, so viele Narben.“ Er machte sich daran, ihren mit Schnitten übersäten Arm zu verbinden, doch sie zog ihn weg. Ihr Atem ging schnell und unruhig.

„Es ist okay so.“ Sie versuchte ihre Trauer mit einem falschen Lächeln zu überspielen. Ein anderer wäre vielleicht darauf hereingefallen und hätte es dabei belassen. Ein anderer hätte sich nicht die Mühe gemacht, sie dazu zu überreden, sich den Arm verbinden zu lassen, und ein anderer hätte sich nicht solche Sorgen gemacht. Niemand außer Sasori hätte geweint, nur weil Aiko traurig war. Und er weinte. Die Tränen strömten nur so über sein Gesicht.

Er drückte sie an sich und führte ihre Hand zu der Stelle, an der sein Herz schlug. Sie spürte es pochen.

„Es schlägt für dich“, sagte er weinend. „Und jeder einzelne Schlag ist ein verzweifelter Versuch dich so zu lieben, wie du es verdienst. Mach es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Mach es aber vor allem dir nicht noch schwerer. Ich habe diese eine Bitte an dich. Du weißt, ich würde niemals etwas von dir verlangen, doch ich bitte dich darum. Lebe nicht ewig in der Vergangenheit. Du bist innerlich so kalt geworden. Eiskalt.“ Sie sah zu Boden und schwieg. Es war nie ihre Absicht gewesen, ihn zum Weinen zu bringen. Alles, was ihr weh tat, tat auch ihm weh und alles, was sie bewegte, bewegte auch ihn. Ihre zittrigen Hände hielten die seinen.

„Ich liebe dich“, sagte sie. Es war die einzige Wahrheit, die sie wirklich kannte. Die einzige Wahrheit, der sie sich sicher war. Sie strich seine Tränen aus seinem Gesicht und küsste seine Stirn.

„Ich liebe dich auch. Vergiss es nicht“, erwiderte er mit gesenktem Kopf.

„Wie könnte ich.“ Aiko lächelte traurig. Er war ihre Unterstützung. Derjenige, der ihr Halt gab. Und seine Liebe war das, wovon sie lebte. Ihre Luft, ihr Brot und ihr Wasser in einem. Solange seine Liebe bestand, hätte sie es ohne diese Dinge ausgehalten.

„Wie könnte ich“, wiederholte sie noch einmal und sah auf. Seine braunen Rehaugen blickten sie treu an.

„Aber ich hoffe, du verstehst mich. Ich hoffe, du verstehst, wie ich mich fühle. Ich gebe dir keine Schuld. Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nichts dafür. Doch du hast es mir versprochen. Mir bedeuten Versprechen nun mal sehr viel. Du hast es auf unsere Liebe geschworen“, sagte sie etwas enttäuscht.

Er schüttelte leicht den Kopf und antwortete: „Und ich würde es wieder schwören. Du wirst niemals allein sein. Ich bin bei dir, egal was passiert. Ich verspreche es dir! Meine Liebe wird dich ewig tragen!“

„Lüg' nicht!“, rief sie laut aus. „Ich will es nicht hören! Es ist eine Lüge! Eine verdammte Lüge!“ Sie begann erneut zu weinen.

Abermals schüttelte er den Kopf und erwiderte betont ruhig: „Das ist nicht wahr. Habe ich dich jemals belogen? Habe ich dir je so etwas angetan? Wenn ich dich je verletzt habe, dann tut es mir Leid!“

„Du hast mich nie belogen“, gab sie zu. „Aber ich … ich weiß nicht … Es tut so weh! Es tut so schrecklich weh! Es … reißt mich in Stücke!“, schrie sie weinend und kniff die Augen zusammen. Ihr Atem wurde noch schneller. Er nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Leise flüsterte er in ihr Ohr: „Beruhige dich. Ich werde immer bei dir sein. Ich lasse dich nicht so einfach alleine.“ Sie kam ein wenig zur Ruhe. Doch etwas in ihr schmerzte und schrie. Es fehlte. Irgendetwas fehlte.

„Willst du, dass ich gehe?“, fragte er leise. Sie nickte.

„Ist besser so. Ich schaffe das hier schon“, erwiderte sie mit vorgetäuschter Stärke in der Stimme. Er bemerkte es sofort, stand aber trotzdem auf und ging an die Tür. Für einen Moment wollte sie ihn gehen lassen. „Ich komme später wieder, mein Schatz“, verabschiedete er sich und drückte die Klinke herunter.

Sie hob die Hand und schrie: „Warte!“

Er drehte den Kopf in ihre Richtung und sah sie fragend an. Aiko sprang auf, rannte zu ihm und stürzte halb in seine offenen Arme.

„Geh nicht. Bitte, geh nicht!“, bat sie ihn. Sie sah ihn mit einem dermaßen flehenden Blick an, dass es ihm wehtat, sie so zu sehen. Erneut umarmte er sie.

Es war ein unglaublicher Trost für sie, wie er sie behandelte. Eigentlich hatte sie gewusst, dass sie ihn nicht gehen lassen wollte. Und sie hatte genauso gewusst, dass sie ihm nichts vorspielen musste.

Bei ihm konnte sie so sein, wie sie war. Mit all ihren Schwächen und Ängsten, ihren Tränen und ihrer Hilflosigkeit. Er schenkte ihr seine Liebe auf eine Art, die ihr einen unerklärlich kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

Wieso weinst du eigentlich? Du solltest nicht vor ihm weinen. Er hasst es, dich weinen zu sehen. Weshalb tust du ihm so weh? Es ist deine Schuld. Es war schon immer deine Schuld, wenn es ihm schlecht ging. Er tut so viel für dich, und du weinst. Was verlangst du denn noch? Ist es dir nicht genug, dass er jetzt bei dir ist? Er ist bei dir, vergiss es nicht! Er ist immer bei dir, egal was du tust, oder wo du bist. Er hat es geschworen. Auf seine Liebe. Du hast keinen Grund zu weinen. Nicht jetzt, nicht hier.

Doch ihre Tränen liefen weiter. Unaufhaltsam.

Er blieb bei ihr. Den ganzen Nachmittag. Irgendwann, als es schon spät war, machte er ihr Abendessen und fütterte sie. Er gab sich alle Mühe, sie zum Lachen zu bringen, und einige wenige Male funktionierte es auch.

Jedes Mal, wenn er es geschafft hatte, dass sie zumindest für einen kurzen Moment lächelte, freute er sich. Es tat ihr unglaublich gut, ihn bei sich zu haben. Sie war froh, dass er geblieben war. Es war schon Nacht, als er ein paar Kerzen anzündete und sich mit ihr ins Bett legte.

Er erzählte ihr Geschichten aus seiner Kindheit, wie er sich im zarten Alter von drei Jahren mit einem Glas Honig überschüttet hatte. Er erzählte ihr auch Geschichten aus der Zeit, in der sie sich kennengelernt hatten.

Er erzählte, wie er sich Stück für Stück in sie verliebt und wie er beschlossen hatte, immer für sie da zu sein, was immer sie tat und wen immer sie liebte.

Selbst wenn sie ihn gehasst hätte, wäre er für sie da gewesen. Er ließ nichts aus. Er sprach von Dingen, die Aiko bis dahin nicht gewusst hatte. Zum Beispiel davon, dass er sie oft beobachtet hatte.

„Nicht was du jetzt wieder denkst“, lächelte er. „Ich habe dich beobachtet, wenn du auf der Wiese gesessen bist und dein Buch gelesen hast, nicht unter der Dusche oder beim Umziehen oder so! Das hätte ich mich gar nicht getraut!“

„Denke, es hätte dich auch gar nicht interessiert“, ergänzte Aiko.

„Das wiederum hast jetzt du gesagt.“

„Und, warst du enttäuscht, als du mich zum ersten Mal so gesehen hast?“

„Nein.“ Das sagte er sehr schnell und bestimmt. „Ich war einfach nur fasziniert, wie etwas so Schönes in dieser Welt überhaupt existieren könnte. Und wie es möglich ist, dass jemand dich verletzen kann. Ich habe bis heute keine Antwort gefunden.“

„Ist das dein Ernst? Das waren deine ersten Gedanken?“

„Ja, warum nicht?“, fragte er und wurde ein bisschen rot.

„Was für eine blöde Frage!“, sagte sie und tippte ihm spielerisch gegen die Stirn.

„Keiner hätte das in diesem Moment gedacht!“

„Sehe ich aus wie keiner?“

„Weiß nicht. Glaube aber eher nicht.“

„Ist ja auch egal! Wichtig ist eigentlich ja nur, dass ich dich damals NICHT unter der Dusche bespannt habe!“

„Aber du hättest gerne.“

„Hätte ich nicht!“

„Hättest du wohl.“

„Naaa-hein!“

„Do-hoch!“

„Nein.“

„Doch.“

Er küsste sie und brachte sie damit sanft zum Schweigen. So lagen sie noch lange im Kerzenschein auf dem Bett, während er sie in den Armen hielt. Um Mitternacht schlief sie ein. Sasori deckte sie zu und legte eine Rose auf die Seite des Bettes, wo er gelegen hatte. Nach einem Kuss auf ihre Stirn verschwand er. Und die Schwärze der Nacht kehrte in ihr gebrochenes Herz zurück.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SailorCherryknoedel
2011-07-02T16:21:23+00:00 02.07.2011 18:21
"Als würde ich einem Licht hinterherjagen, von dem ich weiß, dass es längst erloschen ist. Als wäre nur mein Körper lebendig.“"
Traumhaft! Diese Satzkonstellation ist genial!


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