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Secret Nature

Die Fanfiction
von

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Yuki's Ankunft

Die See war nicht sonderlich rau, dennoch schaukelte das Schiff unruhig von einer Seite auf die andere. Eigentlich konnte man bei diesem schwimmenden Wrack, auf das es ihn verschlagen hatte, auch nicht wirklich von einem Schiff reden. Bereits als er sie zum Verladen hatte betreten müssen, hatte die "Queen of the Sea" wie sie sie nannten keinen besonders königlichen Eindruck gemacht, im Gegenteil. Überall roch es nach salzigem Moder und der Rost bröckelte nicht nur hier unten langsam aber sicher von den metallenen Wänden. Ganz zu schweigen von den grausig ächzenden Geräuschen, welche dieser Kahn mit jeder aufschlagenden Welle von sich gab.

Doch das alles nahm Yuki nur beiläufig wahr. Zeit seines Lebens hatte er in solchen Umgebungen zubringen müssen, warum sollte es ihn also jetzt kümmern? Etwas apathisch beobachtete er durch das Bullauge des heruntergekommenen Laderaums, wie der Horizont auftauchte und wieder verschwand. Rauf und runter, rauf und runter – oh Gott, war ihm schlecht von der ewigen Schaukelei. Dabei brachte ihn eigentlich so schnell nichts aus der Fassung, zumindest einen Teil von ihn. Und dieser Teil war es auch, der seine Artgenossen, insbesondere die weiblichen, welche mit ihm in diesem Dreckloch saßen, dazu veranlasste, sich lieber fern von ihm zu halten.

Dabei hätte er niemandem auch nur ein Härchen krümmen können, selbst wenn er gewollt hätte. Denn zu dem unglücklichen Umstand, dass sie alle eingeschlossen waren, gesellte sich außerdem die Tatsache, dass er an Armen und Beinen mit eisernen Fesseln fixiert war, welche wiederum über ein starkes Seil mit einem Ring in der rostigen Wand vertäut waren. Wenn es hoch kam, hatte er vielleicht anderthalb Meter Aktionsspielraum und selbst der nützte ihm nicht viel mit seinen gefesselten Beinen. Selbst seinen Schweif, welcher aus seinem Rückgrat wuchs und etwas mehr als die Länge seiner Beine hatte, hatten sie ihn mit einem Seil um seinen Bauch an den Rücken gebunden, damit er mit diesem nicht nach jemanden schlagen konnte. Eine Gedanke, welcher Yuki unglaublich absurd vorkam. Wenigstens hätte er mit diesem das Geschaukel des Schiffs ein wenig kompensieren und so die schlimmste Übelkeit verhindern können, aber es war ja nichts Neues, dass man sich herzlich wenig um sein Befinden scherte.

Die Sehnsucht in Yuki, sich auf dieser schon eine gefühlte Ewigkeit lang andauernden Reise mit jemanden wenigstens nur ein bisschen zu unterhalten und vielleicht so für nur einen Moment diese schreckliche Übelkeit zu vergessen, trieb ihn letzen Ende doch dazu, es wenigstens zu versuchen.

"Hey, du", wandte er sich an seinen Artgenossen neben ihm, welcher sich jedoch größte Mühe gab ihn zu ignorieren. Doch verriet das Zucken eines seiner großen, seidigen Katzenohren, dass er ihn sehr wohl vernommen hatte. Yuki ließ sich nicht beirren und fuhr auch ohne eine Antwort fort:

"Hast du vielleicht eine Ahnung, wohin die Reise überhaupt gehen soll?"

Geduldig wartete er eine Weile ab, erhielt aber auch dieses Mal keine Antwort. Es hätte ihn auch ehrlich gesagt gewundert, denn wer wollte schon freiwillig mit einem kranken Vergewaltiger verkehren und sei es auch nur für ein bisschen Smalltalk.

Obwohl das Ergebnis seines Versuchs ihm schon von vornherein klar gewesen war, biss sich Yuki dennoch enttäuscht auf die Unterlippe. Sein Ruf war wohl mitlerweile zu sämtlichen seiner Artgenossen durchgedrungen, denn niemand hier unten zeigte auch nur einen Hauch von Interesse an ihm. Nicht, dass hier unten irgendwer sonderlich gesprächig wäre, dennoch verfluchte Yuki innerlich die ihm vom Leben zugeteilte Aufgabe. Tatsächlich konnte er selbst am allerwenigsten etwas für das, was er oder besser gesagt ein unliebsamer Teil seines Geistes war...

Resignierend wollte Yuki sich schon zurück an die von Rost zerfressene Wand lehnen, als sich ein neues Geräusch in das allgegenwärtige Ächzen und Stöhnen des altersschwachen Schiffs mischte. Es war ein Laut, der ihm von irgendwo bekannt vorkam und offensichtlich war er nicht der Einzige in diesem Frachtraum, dem es so ging. Fast augenblicklich kam Bewegung in die bisher eher stumme Gruppe. Einige zerrten an ihren Fesseln in der Hoffnung einen Blick durch das Bullauge nach draußen zu erhaschen. Andere, die mit ihrem Sitzplatz mehr Glück gehabt hatten, konnten diese direkt erreichen und versperrten den anderen die Sicht. Es war wirklich faszinierend: Seinen Artgenossen konnte es so schlecht gehen, wie es wollte, die meisten blieben dennoch stets überdurchschnittlich neugierig.

So langsam dämmerte es auch Yuki, was das neue Geräusch bedeuten mochte. Das laute Krächzen, das von draußen zu ihnen herein drang gehörte zu nichts anderem als einem Schwarm Möwen, welcher in weiten Bahnen den Kahn umkreiste und das konnte nur eines bedeuten: Sie näherten sich dem Land und waren somit womöglich dem Ende ihrer unbequemen Reise ganz nahe.

Noch ehe sich Yuki dem aufgeregten Recken und Strecken seiner Artgenossen nach einem auch nur winzigen Blick nach draußen anschließen konnte, klapperten von ungeschickten Fingern geführte eisernen Schlüssel an der schweren Tür ihres Gefängnisses, begleitet von einer ganzen Sammlung wüster Flüche. Mehrere Paare Katzenohren zuckten in die Richtung dieses neu auftretenden Geräusches und wie auf Kommando verstummte die Gruppe wieder. Auch Yuki machte Anstalten möglichst unauffällig in seinen Fesseln zu sitzen, denn wenn sie alle eines wussten, dann dass der kleinste Mucks hier unten unangenehme Folgen nach sich ziehen konnte.

Mit einem Klicken des Schlosses, welches die nun endlich erfolgreiche Öffnung der Tür verkündete, verstummten auch die teuflischen Flüche. Das rostige Portal schwang auf und ein Schwall gleißenden Sonnenlichts ergoss sich schmerzhaft über die an das Zwielicht des Laderaums gewöhnten Katzenaugen. Einige der Insassen gaben gequälte Laute von sich, während andere blinzelnd versuchten, sich zusammenzureißen, um bloß nicht die Aufmerksamkeit desjenigen auf sich zu ziehen, welcher nun den Raum betrat.

Für einen Moment war nur die verschwommene, aber eindeutig bullige Silhouette eines ihrer Peiniger zu erkennen, welcher sich allem Anschein nach gerade genüsslich die Nase mit dem Unterarm abwischte. Dann jedoch gewöhnten sich Yukis Augen langsam an die Helligkeit und zeigten ihm das Elend in seiner vollen Pracht. Wie schon sein Schemen verriet, war der Mann kräftig in der Statur und außerdem ein fetter, schmieriger Kerl, welcher mindestens genauso ungewaschen war wie das fleckige Hemd, welches er trug. Der widerliche Gestank, welcher nun auch selbst durch den scheinbar alles überdeckenden Modergeruch des Laderaums in die feinen Katzennasen drang war nicht im geringsten angenehmer als der Anblick des Menschen, der ihn produzierte: Eine ordentliche Duftnote von schon längst zu Buttersäure vergorenem Schweiß, Fisch und einer kräftigen Portion Alkohol obenauf rundeten den ohnehin schon mehr als schlechten Eindruck ab. Reflexartig rümpfte Yuki die Nase und er erkannte, dass es seinen Artgenossen nicht anders erging.

Der Kerl stemmte die wurstartigen Finger in die Hüften und ließ seinen Blick einmal durch den gesamten Laderaum schweifen, wobei er mit der darin enthaltenen Überheblichkeit nur zu deutlich zu verstehen gab, wie egal ihm war, dass seine Fracht lebendig und zu Empfindungen fähig war. Einige senkten darunter den eigenen Blick, zuckten zusammen oder versuchten sich irgendwie so klein wie möglich zu machen. Doch der Mann war offenbar nicht gekommen, um einen von ihnen zu seinem persönlichen Prügelknaben auszuerwählen, denn direkt nachdem er sie alle ausführlich mit seinen Blicken gepfählt hatte, drehte er den Kopf zu einer offenbar außerhalb ihres Blickfeldes befindlichen Person.

"Ausladen!", brüllte er knapp und spuckte auf den Boden.

Der Anblick der sich Yuki bot, als er ausgeladen wurde, war so eine gewaltiger Kontrast zu dem Gefängnis, in welchem er bis eben noch gehockt hatte, dass er einen Moment stehen blieb und verwirrt blinzelte. Der Ort, an den es sie verschlagen hatte, kam seiner Vorstellung des Paradieses so nahe, dass er sich ernsthaft die Frage stellte, ob er nicht doch auf der Überfahrt einfach vor Erschöpfung, vielleicht aber auch vor Hunger, gestorben war.

Sie befanden sich an einem Hafen, aber nicht einem derer der dreckigen, verkommen Art wie jener, von welchem aus auch sie auf ihre unangenehme Reise geschickt worden waren. Im Kontrast zu diesem dunklen Frachthafen strahlte dieser hier zumindest für Yuki eine fast schon königliche Erhabenheit aus. Am blauen Himmel kreisten Möwen und auch einige exotische Vögel, deren Namen Yuki jedoch nicht kannte und die Sonne schien warm auf sie hinab. Am Pier ankerten verschiedene kleinere Yachten oder Schnellboote und weiter unten das Ufer entlang sogar zwei Wasserflugzeuge. Alle Boote waren sauber und gepflegt und großteils auf Hochglanz poliert, sodass die "Queen of the Sea" wie ein dreckiger Fremdkörper unter ihnen wirkte. Einige Menschen und auch Artgenossen liefen emsig umher und schienen fleißig zu arbeiten. Doch legten immer mehr, insbesondere die katzenohrigen Vertreter, ihre Arbeit nieder, um sich neugierig um die Neuankömmlinge und ihre Lieferanten zu scharen.

Yuki war so tief in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie er die gesamte Kette, in welcher sie alle an den Händen aneinander gebunden waren, aufhielt. Erst als der Artgenosse direkt hinter ihm ihm einen Schubs gab und ihn mit einer Mischung aus Nervosität und Wut anblickte, bemerkte er, dass sie bereits kurz davor waren eine Tracht Prügel zu kassieren, denn einer ihrer Bewacher vom Boot, welcher fast direkt neben ihnen stand wirkte nicht gerade erfreut über Yukis Unaufmerksamkeit, ganz im Gegenteil, denn seine Hand lag bereits auf dem Schlagstock welchen er am Gürtel bei sich trug. Bemerkenswert war allerdings die Tatsache, dass sie nicht schon längst Schläge kassiert hatten denn Ungehorsam oder Unaufmerksamkeit, egal welcher Art zog in der Regel sofort Strafen mit sich. Irgendetwas musste ihre Peiniger davon abhalten, sich auch hier an diese Regel zu halten. Doch Yuki hatte nicht genügend Zeit, sich über diesen merkwürdigen Umstand Gedanken zu machen, denn nun zogen und schoben ihn seine Artgenossen, wohl aus Angst, einfach mit sich, sodass er alle Konzentration darauf verwenden musste, nicht zu stolpern und einfach hinter den anderen her geschleift zu werden.

Mittlerweile wurden sie von einer ganzen Reihe von Menschen, Männern wie Frauen, die zumindest rein äußerlich weit sympathischer wirkten als die Besatzung der "Queen of the Sea", in Empfang genommen. Einer von ihnen nahm einige Dokumente entgegen und studierte diese aufmerksam, während die anderen offenbar damit beschäftigt waren, die katzenohrige Fracht durch zu zählen. Inzwischen hatte sich ein fast vollständig geschlossener Kreis von Artgenossen um sie herum gebildet, welcher die Besatzung sichtlich nervös werden lies. Das war allerdings auch kein Wunder, schließlich gaben die Katzenmenschen in regelmäßigen Abständen drohende Knurrlaute von sich und gelegentliche fauchte es aus der einen oder anderen Kehle des immer dichter werdenden Rings. Anders als die Besatzung allerdings ließen sich diejenigen Menschen, welche wie Yuki vermutete ihre neuen Besitzer werden sollten, davon wenig beeindrucken.

Offenbar waren die Fremden nun fertig damit die Menge der gelieferten Waren zu überprüfen, denn der eine mit den Dokumenten nahm ein bestätigendes Nicken als Anlass, letztendlich seine Unterschrift darunter zu setzen und sie zurück in die schmierigen Hände zu geben, aus denen er sie zuvor entgegengenommen hatte. Sofort hatte es die Besatzung sehr eilig, sich unter den immer heftiger werdenden Drohgebärden der Katzenmenschen schnellstmöglich auf ihren rostigen Kahn zurückzuziehen. Nicht ohne eine gewisse Schadenfreude beobachtete Yuki diesen hastigen Rückzug, ehe er mit schräg gehaltenem Kopf und einer ordentlichen Spur Misstrauen die Fremden Menschen musterte, welche sich gerade bemühten, die umstehenden Artgenossen zu verscheuchen. Nun waren sie also vollständig in den Händen ihrer neuen Besitzer.

Zu Yukis Erstaunen lösten sich jetzt ein paar Personen aus der Menschengruppe und begannen eilig, sie alle von den Fesseln zu befreien. Das war allein deshalb schon äußerst verwunderlich, da seine Spezies dafür bekannt war, jede noch so kleine Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, was angesichts der Art wie man sie für gewöhnlich behandelte, auch kein Wunder war. Zwar war ein Großteil von ihnen mit irgendwelchem technischen Gerät unter der Haut versehen, was den Menschen zumindest das Aufspüren ihresgleichen vereinfachte, dennoch war es jedes Mal ein schwieriger Akt, sie einzufangen und ihnen abermals Fesseln aufzuzwingen. Für Yuki jedoch hatte offenbar nie die Notwendigkeit für solcherlei technische Hilfsmittel bestanden. Zumindest konnte er sich nicht entsinnen, wann ihm jemals jemand ein solches Ding hätte einpflanzen sollen. Es wäre ihm also ein Leichtes gewesen zu fliehen, doch stattdessen rieb er sich bloß voller Verwunderung die schmerzenden Handgelenke, als auch seine Fesseln entfernt wurden. Einige wenige jedoch ließen sich von der ungewohnten Situation nicht irritieren. Sofort nutzten sie die Gelegenheit, um die Beine in die Hand zu nehmen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und der Gruppe zu bringen. Allerdings schien dies niemanden der Menschen auch nur ansatzweise zu stören. Allenfalls warfen sie sich in der Gruppe gegenseitig wissende Blicke zu, was Yuki nur umso mehr das Gefühl gab, dass irgendetwas an diesem Ort so ganz und gar nicht so war, wie er es bisher gekannt hatte.

„Aufgepasst, Cats!“, rief plötzlich eine kräftige Frauenstimme in die Runde und dutzende Katzenohren zuckten sofort aufmerksam in Richtung ihres Ursprungs. „Cats“ war das Wort, mit dem man ihn und seine Artgenossen allgemein bezeichnete. Ein Wort aus einer Sprache, welche die Menschen noch bis vor einigen Jahren weltweit zur Kommunikation genutzt hatten und ihnen damals wohl aus diesem Grund am geeignetsten erschienen war für die Benennung einer künstlich neu erschaffenen Spezies.

Auch Yuki ließ sich dazu hinreißen, der Frau seine Aufmerksamkeit zu schenken, welche aufrecht und leicht breitbeinig stand und voller Selbstbewusstsein die Hände in die Hüften stemmte. Sie schien einen Moment zu warten, bis sie sich sicher war, dass nun alle Blicke auf ihr ruhten, ehe sie fortfuhr.

„Ich möchte euch bitten, euch nun aufzuteilen. Die Nekos hier vorne hin, die Hybriden bitte dort drüben.“

Die Frau wies in die jeweiligen Richtungen, ehe ihr Blick noch einmal suchend über die Cats wanderte, welche sich bereits widerwillig und daher eher langsam aufmachten, die ihnen zugewiesenen Versammlungsorte aufzusuchen.

„Sind auch noch Mutanten dabei?“

Sie wartete einen Augenblick, ehe sie sich ihre Frage selbst beantwortete: „Nein? Gut, dann wäre es soweit von mir.“ Die Frau klatschte einmal kräftig in die Hände, was diejenigen Cats, welche ihr aus Versehen zu nahe gekommen waren, einen erschrockenen Satz zur Seite machen ließ. Erstaunt nahm Yuki zur Kenntnis, dass die Frau sich darüber offenbar mehr erschreckte als seine Artgenossen und sogar noch ein schuldbewusstes, fast schon entschuldigendes Lächeln aufsetzte.

Auch er machte sich nun langsam auf, den ihm zugewiesenen Platz einzunehmen. Offenbar wollten sie sie nach Rassen aufteilen, wohl um einen besseren Überblick über die frisch eingetroffene Ware zu erhalten. Er selbst war ein Neko, jene Art, welche soweit er es einmal vor einiger Zeit erfahren hatte, in einem östlichen Land nach einem aus dortigen Videospielen und Filmen geprägten Idealbild entstanden war. Im Grunde unterschied ihn kaum etwas von den Menschen, außer dass er anstelle von zerknautschten Knorpellappen flauschige behaarte, hellgraue Katzenohren besaß und ihm ein Schweif der selben Farbe aus dem Rückgrat wuchs. Umso mehr haderte er mit dem Schicksal, welches ihm eine offenbar grausame, höhere Macht zugeteilt hatte.

Er lugte nun hinüber zu den Hybriden, deren animalische Anmut ihn immer wieder in seinen Bann zog. Auch mit ihnen hatte er schon das eine oder andere Mal verkehrt, wenn es die Situation erforderte. Somit wusste er auch um die unbändige Kraft, welche diesen Wesen inne wohnte.

Soweit er erfahren hatte, waren sie fast zeitgleich zu seiner Rasse entstanden, jedoch in einem der westlichen Länder. Anders als die Neko waren Hybriden viel mehr nach tierischem als nach menschlichem Vorbild geschaffen worden. Ihre kräftigen Schenkel waren ähnlich durchgebogen wie die ihrer tierischen Vorfahren, ihr Körper gänzlich mit mehr oder auch mal weniger langem seidigen Fell bedeckt, die Bewegungen stets geschmeidig, das Schnurren tief und einladend. Selbst ihre Augen und der gesamte Aufbau des Gesichts hatten zum Großteil mehr von majestätischen, zweibeinigen Raubtieren als von einem Menschen.

Nur Mutanten, Mutanten gab es in dieser Lieferung keine unter ihnen und das hatte seinen Grund. Denn diese waren die armen Seelen, welche man auch schlechthin als billige Promenadenmischungen bezeichnete. Wenn eine solche Kreuzung aus Neko und Hybrid überhaupt ausgetragen werden durfte, so stand ihnen ein nicht gerade behagliches Leben bevor. Denn Mutanten waren als nicht reinrassige Cats vor allem eines: Billig zu erstehen.

Eine Weile verlor sich Yuki in seinen Gedanken, nutzte die Gelegenheit, dass momentan alle Aufmerksamkeit auf den neuen Besitzern ruhte, um seine Artgenossen weiter zu betrachten, als sein Blick zufällig auf eine abgespaltene Gruppe der Menschen fiel. Sie schienen miteinander etwas zu beratschlagen und blickten dabei immer wieder auf ein Dokument, das ein Mann in der Mitte der Runde in den Händen hielt. Es war genau derjenige, welcher zuvor noch den Lieferschein der schmierigen Bootsbesatzung unterschrieben hatte. Zwischendurch wanderte der eine oder andere Blick in die Reihen der Nekos, ehe sich der einer Frau mit dem von Yuki kreuzte. Einen Moment lang schien sie ihn zu mustern, was bei ihm alles andere als ein gutes Gefühl auslöste, dann schaute sie abermals auf das Dokument des anderen und machte plötzlich mit ausgestrecktem Arm die gesamte Gruppe auf Yuki aufmerksam.

Erschrocken sog Yuki mit einem deutlich hörbarem Zischen die Luft zwischen den Zähnen ein. Was sollte das nun wieder bedeuten? Noch ehe er auch nur über einen Fluchtversuch nachdenken konnte, war die Gruppe an ihn heran und hatte ihn umstellt. Hektisch blickte er sich um, während die anderen Cats in seiner Nähe respektvollen Abstand zu den Menschen nahmen.

Eine leichte Panik wallte in ihm auf, welche er jedoch mit aller Macht versuchte niederzukämpfen. Wenn er ausgerechnet jetzt seine Emotionen nicht im Griff hatte, konnte dies jetzt und auch in Zukunft unangenehme Folgen für ihn haben. Ganz zu schweigen von den Menschen, welche ihn so leichtsinnig bedrängten. In seinem Blick flackerte etwas auf, während er eine abwehrende Haltung einnahm, in welcher er möglichst viele Menschen auf einmal im Blick haben konnte und auch seine Ohren lauschten nun angespannt auf jede noch so kleine unbedachte Bewegung der anderen.

„Was soll das?“, zischte er und versuchte dabei nicht aus Versehen in einen Tonfall zu verfallen, welchen man zu seinen Ungunsten fehlinterpretieren konnte. Sie waren zu viert, vor ihm der Mann mit den Dokumenten, links von ihm die Frau, welche ihn ausfindig gemacht hatte und rechts von ihm sowie hinter ihm jeweils noch ein Mann. Sein Schweif, den sie ebenfalls aus den Fesseln befreit hatten, peitschte nervös hin und her, sodass derjenige hinter ihm ein wenig mehr Abstand einnehmen musste, um diesen nicht regelmäßig rechts und links ins Gesicht geschlagen zu bekommen.

Yukis Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, was man ihm auch deutlich ansah. Als sein Gegenüber mit einem Mal die Hände hob, sprang Yuki sofort deutlich in die Hocke, als wolle er ihn anfallen oder einfach überrennen, führte die Bewegung jedoch nicht ganz zu Ende, sondern beobachtete den anderen stattdessen voller Misstrauen und mit noch einmal gesteigerter Aufmerksamkeit. Es sollte eine beschwichtigende Geste darstellen, doch Yuki maß ihr keinerlei Bedeutung zu. Verdammt, was wollten sie nur ausgerechnet von ihm? Im Grunde seines Herzens wusste er es schon längst selbst, wehrte sich aber mit aller Macht gegen sein Schicksal. War ihm im Leben nicht ein einziger, kleiner Augenblick der Ruhe vergönnt? Wieder meldete sich die Panik, doch diesmal auch gemischt mit einer ordentlichen Portion Wut. Nein, nicht ausgerechnet jetzt.

„Es ist alles gut, wirklich“, versuchte der andere ihn jetzt zu beruhigen. Seine Stimme klang überraschend ruhig und gefasst und hatte einen samtig anmutenden Unterton. Dennoch war sie tief und wohlklingend. Yuki konnte sich nicht erinnern, dass je ein Mann so mit ihm gesprochen hatte. Im Gegenteil hatten sie zumeist gebrüllt, Befehle ausgeteilt, oder ihn so lautstark angefeuert, dass ihm die empfindlichen Ohren klingelten. Diese Situation hier war anders und so ungewohnt, dass er nichts so recht einzuordnen vermochte. Und das war letzten Endes der Grund, weshalb ihm trotz aller Beruhigungsversuche die Nerven durchgingen.

„Nein!“, fauchte er, schlug zunächst nach dem Mann neben ihm und wollte dann seine Angriffsposition nutzen, um sein Gegenüber nun tatsächlich einfach umzurennen. Doch es kam nicht dazu, denn von hinten packten kräftige Hände seinen sich heftig windenden Schweif, während die Frau links von ihm sich an seine Schulter und dem zugehörigen Arm hängte. Auch der Mann, nach dem er eben noch geschlagen hatte, war nur kurz ausgewichen, um ihn nun ebenfalls zu packen und festzuhalten. Gleichzeitig versuchte sein Gegenüber weiterhin auf ihn einzureden, doch sie alle erreichten damit lediglich, dass er nur noch heftiger versuchte, sich zu befreien.

„Lasst mich los, verdammt“, kreischte er nun hysterisch. Seine Stimme überschlug sich fast und sein Blick flackerte immer stärker. Sie wussten ja nicht, was sie hier heraufbeschworen. Denn nicht nur äußerlich, sondern auch in seinem tiefsten Innern führte Yuki nun einen verzweifelten Kampf, und er war gerade dabei letzteren zu verlieren. Unter den festen Griffen spannte er sämtliche Muskeln an, drückte den Rücken durch, bäumte sich auf, aber es half nichts. Die ihn umgebenden Menschen waren den Umgang mit rasenden Exemplaren seiner Art offenbar gewohnt und hielten ihn weiterhin eisern in ihrem Griff. Was wollten sie nur von ihm? Was war hier los? Was? Yukis Panik war nun so groß, dass er glaubte zu spüren, wie sein Herz bis in seine Kehle sprang und ihm die Luft zum Atmen nahm. In seinen Ohren hörte er sein eigenes Blut rauschen und mit einem Male wurde ihm schwindelig – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er den Kampf wohl verloren hatte. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, die Panik war fort, denn nun blieb ihm sowieso nichts anderes übrig, als seinen Körper abzugeben. Yuki schickte ein kurzes Stoßgebet gegen den Azurblauen Himmel, dass er ihn möglichst bald wiederbekommen möge, dann wurde alles schwarz um ihn herum.

Ein lieblicher Duft umspielte Yukis Nase, als er langsam wieder Herr seiner Sinne wurde. Er war einladend beruhigend, roch nach Blüten und frischer Walderde, zwei Düfte, welche er im Leben bisher nur selten hatte genießen dürfen. Noch behielt er die Augen geschlossen, denn obwohl er gerade erst aufgewacht war, fühlte er sich sehr erschöpft. Außerdem waren ihm noch ein paar Momente der Ruhe gegönnt, solange man glaubte, dass er noch immer bewusstlos war. Er wusste nicht was geschehen war, so war es immer. Die Folgen seiner Machtlosigkeit würde er wie immer erst hinterher erfahren und sie waren selten zu seinem Vorteil.

Kleidung raschelte leise, als sich jemand neben ihm bewegte und der beruhigende Duft sich noch ein wenig mehr verbreitete. In ihn mischte sich nun noch eine andere, eine körperliche Note, der Duft einer Frau. Jemand war bei ihm. Er hörte Wasser plätschern, als offenbar etwas in eine Schüssel getaucht und ausgewrungen wurde. Ob es wohl die Frau aus der Menschengruppe war? Nein, dazu war ihr Duft zu markant. Vielmehr hatte er etwas von seinesgleichen, einer Neko.

Etwas Kühles strich und tupfte nun über seine Stirn. Im ersten Moment empfand er dies als unangenehm, da diese Berührung unerwartet kam und verzog ein wenig das Gesicht ohne auch nur kurz mit den Augen zu blinzeln. Dann jedoch genoss er die angenehme Frische und die fast schon mütterlich fürsorgliche Behandlung, die ihm zuteil wurde. Wer sie wohl war, die ihn da umsorgte und die einen solch angenehmen Duft verbreitete? Obwohl er neugierig war, wagte er nicht, die Augen zu öffnen und so zu signalisieren, dass er wach war. Viel lieber wollte er diese kostbaren Augenblicke noch ein Weilchen festhalten, ehe ihn die grausame Realität wieder einholte. Dennoch kam er nicht umhin, sich gedanklich ein Bild seiner Pflegerin zu machen.

Ob sie wohl groß war oder klein? Auf jeden Fall hatte sie sanfte Augen, denn so vorsichtig, wie sie sich um ihn kümmerte, musste sie einfach eine warme Person sein. Und moosgrün waren sie wie der Waldboden, nach dem sie duftete, oder vielleicht doch eher braun? Der Mund war sicherlich rot, schön voll und sinnlich. Vielleicht konnte er ihn küssen – aus Dank natürlich. Die Haare vielleicht in einem hübschen rotbraun, lang und selbstbewusst zu einem oder mehreren Zöpfen zusammengebunden. Er ließ seine Gedanken abschweifen, weiter hinab, zu ihrem Körper. Vielleicht war er wohlgeformt und weiblich, die Rundungen genau an den richtigen Stellen, sodass man darüber streicheln konnte, von oben nach unten, ohne jede einzelne Rippe zu spüren wie bei manchen seiner zwangsweise ausgemergelten Artgenossinnen. Bestimmt war sie ein wenig älter als er und so eine richtige Frau. Ohne dass er es verhindern konnte, stahl sich ein leises Lächeln auf Yukis Lippen und seiner Kehle entfuhr unter ihren Berührungen ein tiefes Schnurren.

Wieder raschelte Stoff, als die andere einen Moment in ihren Bewegungen inne hielt und wohl auf ihn lauschte. Auch er spitzte die Ohren, versuchte nun auszumachen, wie es ihr ging, das leise Geräusch ihres Atems und ihres Herzschlages aufzunehmen. Beides war ruhig und entspannt, allenfalls kurz in die Höhe geschnellt, als er zu schnurren begonnen hatte. Offenbar waren sie hier, wo auch immer sie sich genau befanden, in Sicherheit. Es plätscherte etwas, als sie das Tuch, mit welchem sie ihn bis eben noch abgetupft hatte, zurück in die Wasserschale gleiten ließ.

Plötzlich hörte er etwas weiter entfernt Schritte, die vielleicht aus einem Nebenraum an seine Ohren drangen. Enttäuscht musste Yuki feststellen, dass sie hier wohl nicht allein waren, wie er eigentlich gehofft hatte. Noch dazu gehörten diese schweren Geräusche diesmal eher zu einem Mann und sie kamen näher. Auch seine Pflegerin schien sie vernommen zu haben und drehte sich in Richtung ihres Ursprungs. Mit einem leichten Knarzen wurde eine Tür aufgeschoben.

„Ich glaube, er wacht auf“, hörte er eine weibliche Stimme neben sich sagen. Sie hatte einen durchaus selbstbewussten, aber sehr jugendlichen Klang. Jedenfalls jugendlicher als Yuki es sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Sie kicherte ein wenig. „Er schnurrt“

Yuki musste kurz schlucken. Hatte er sich also mit seiner mangelnden Selbstbeherrschung doch verraten. Mit einem Mal war ihm die Sache doch ziemlich peinlich und so musste er dagegen ankämpfen, dass sein Gesicht nicht auf der Stelle rot anlief, was die Sache vermutlich nur noch verschlimmern würde.

„Ist das so?“, fragte nun eine wie erwartet männliche Stimme, welche Yuki sofort wiedererkannte. Es handelte sich um niemand geringeres als den Mann, welcher ihn noch vor seinem Anfall erfolglos versucht hatte, zu beruhigen. Der angenehme Moment war nun wohl endgültig vorbei. Er hörte, wie die Schritte näher kamen und neben seinem Lager halt machten. Was hatte er nur vor? Yuki wurde es nun doch eine Spur zu gefährlich, weiterhin den Schlafenden zu mimen, denn wer wusste schon, was dieser Kerl womöglich noch im Schilde führte? Zwar schien die andere Neko keine Angst vor ihm zu haben, doch das musste noch längst nichts heißen. Viel zu oft hatte er erlebt, wie sich Seinesgleichen letztendlich mit seinen Peinigern arrangiert und oft sogar identifiziert hatte. Wenn einem die Rechte zum Leben so stark beschnitten wurden, dass man für jedes noch so kleine Vergehen sofort Strafen erhielt, wenn man dumm gehalten und zudem ständig beobachtet wurde, ob man auch ja alles so richtete, wie man es von einem erwartete, dann wurde man recht schnell gebrochen und fügte sich seinem Schicksal. Man ließ einfach wortlos über sich herrschen, um das eigene erbärmliche Leben wenigstens nicht noch zu verschlimmern. Yuki hatte seinen ganz eigenen Weg aus diesem Dilemma gefunden, sodass er zumindest die meiste Zeit bei klarem Verstand bleiben konnte. Oder war es doch vielmehr eine Form der Realitätsflucht? Er hatte sich diese Frage nie selbst so recht beantworten können.

Yuki hielt diese Ungewissheit einfach nicht mehr aus. Innerlich machte er sich bereit direkt zum Angriff über zu gehen, falls ihm irgendetwas auch nur im Ansatz seltsam erscheinen würde. Er knurrte drohend, ehe er die Augen aufschlug und versuchte sich möglichst schnell aufzustemmen. Unerwarteter Weise war der Untergrund, auf welchem er lag, so weich, dass seine Ellenbogen ein gutes Stück einsanken und er sich mit einer ungeschickten Bewegung gerade mal in eine nur halb liegende Position bringen konnte. Er fauchte verärgert über dieses Missgeschick und blickte dann in ein Neko-Gesicht, das ihn sichtlich verwundert und mit großen, wasserblauen Augen anblickte. Einen Augenblick lang starrten die beiden sich so an und in seiner kurzen Erstarrung rutschte ihm die leichte Decke, welche nicht mehr war als ein dünnes Leinentuch, vom Oberkörper, wodurch er erst jetzt ganz nebenbei bemerkte, dass irgendjemand ihn während seiner Bewusstlosigkeit vollständig entkleidet hatte. Es war nicht so, dass sein Körper unansehnlich war, ganz im Gegenteil hielt er sogar große Stücke auf ihn. Unbedingt Scham empfand er auch nicht, denn diese hatte man ihm gar nicht erst gelehrt. Nicht umsonst hatte er die Aufgabe bekommen, welche bisher sein ganzes Leben bestimmt hatte. Dennoch raffte er rein aus Höflichkeit das Leinentuch mit den Händen um seine Hüftregion zusammen. Das gab ihm immerhin die Gelegenheit, seinen missglückten Aufstehversuch zu überspielen, der ihm weit peinlicher war als die Tatsache halb nackt vor der anderen Neko zu hocken, welche neben seinem Lager auf einem Stuhl saß.

Sie entsprach im Übrigen nicht im Ansatz der Fantasie, welche er sich um sie herum gesponnen hatte. Ihr durch die großen, kräftig blauen Augen dominiertes, rundliches Gesicht wurde von langem, offen getragenem und sehr hellem Haar umrahmt, welches von Katzenohren in einem beigen Farbton gekrönt wurde. Ihre Lippen waren nicht wie erhofft kirschrot, sondern eher schmal und jugendlich rosig. Sie war definitiv jünger als er, wenn auch nicht sehr viel, aber immerhin gut genährt und von annehmbar weiblicher, nicht zu schlanker Statur. Yuki verschwendete jedoch nicht sonderlich viel Zeit darauf, sie noch genauer zu betrachten, denn der, auf den er besonders aufzupassen hatte, stand schräg hinter ihr und grinste schelmisch. Quer über seiner linken Wange prangte nun ein großes gelbliches Pflaster, welches vorhin am Hafen noch nicht dort gewesen war und welches gut die Hälfte der dortigen Haut überdeckte. Yuki legte die Ohren dicht an den Kopf und knurrte ihn drohend an, sodass er bloß nicht auf dumme Gedanken kam. Das wiederum veranlasste die Neko dazu, fragend über ihre Schulter zu dem anderen zu schauen.

„Du hast ihm Angst gemacht“, stellte sie in einem tadelnden Tonfall fest, welcher, wäre dies hier ein normaler Ort gewesen, keinem seiner Artgenossen einem Menschen gegenüber zugestanden hätte. Doch schien es dem anderen nicht viel auszumachen. Irrte Yuki sich, oder machte er sogar so etwas wie ein schuldbewusstes Gesicht?

„Ich habe doch gesagt, dass du mich besser mitgenommen hättest“, fuhr die Neko fort und drohte nun sogar mit dem Finger, der genauso blass war, wie der Rest ihres Körpers. Sie war ohnehin ein sehr heller Typ, fast schon kühl und wenn ihre blauen Augen nicht wären und man nicht hier und da in Fell und Haar die einen oder anderen Pigmenttupfer hätte ausmachen können, hätte Yuki sie für eine Albino-Züchtung gehalten.

„Vielleicht wäre dein Gesicht dann sogar noch ganz“, tadelte sie weiter. „Und nicht so ein Krallen-Acker wie jetzt.“

Der andere kratzte sich angesichts der Vorwürfe verlegen an der unversehrten Wange. Diese Situation kam Yuki auf ungewöhnliche Weise verdreht vor, denn hier hatte offensichtlich die Neko die Hosen an, zumindest in diesem Moment. Ihre Worte bestätigten aber auch, was er bis eben nur vermutet hatte: Die Verletzung musste von ihm stammen und das wiederum bedeutete, dass es definitiv Strafen hageln würde. Oftmals waren diejenigen Menschen, welche nach außen hin vertraulich taten, am Ende die schlimmsten von allen. Er würde wachsam sein müssen.

„Ja, ja, du hast ja recht“, gab der Mann zu und streichelte der Neko nun mit einer Hand über den Kopf, was diese mit einem wohligen Schnurren quittierte. Einen Moment lang schloss sie genießend die Augen und als sie sie wieder öffnete, erschienen ihre Gesichtszüge um einiges weicher. Yuki erkannte sofort, dass sie offensichtlich hin und weg von ihrem Meister war. Zumindest nahm er an, dass die beiden in einem solchen Verhältnis zueinander standen. Daher also dieses Urvertrauen in ihn. Sie war vermutlich schlichtweg verliebt und auch das war etwas, was nur allzu häufig vorkam. Yuki musterte die beiden weiter argwöhnisch, als der Mann zu ihm hinüber schaute, als sei ihm gerade erst wieder eingefallen, dass der Neko ebenfalls anwesend war.

„Avis, lass' mich doch bitte mit unserem Neuzugang allein“, bat er die Neko und Yuki horchte auf. So lautete also ihr Name – Avis. Diese jedoch machte keinerlei Anstalten, der Bitte ihres Meisters nachzukommen und sich von ihrem Platz zu erheben. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund.

„Du glaubst doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich euch beide noch einmal miteinander allein lasse? Du gefühlloser Klotz machst ihm Angst und er kratzt dir das nächste Mal womöglich die Augen aus!“

Sie erhob sich leicht von ihrem Platz, nur um sich gleich mit einem Plumps wieder darauf hinab fallen zu lassen und bekräftigte somit ihre Worte. Yuki zweifelte keinen Moment daran, dass man sie tatsächlich an Armen und Beinen würde hinaus schleifen müssen, damit sie ihren Platz räumte. Die Art, wie sie ihren Meister im Griff hatte, war absurd und Yuki fühlte sich mit jedem weiteren Moment, der verging, irritierter. Was zum Donner ging hier eigentlich vor? Offenbar konnte man ihm diese Frage mittlerweile vom Gesicht ablesen, denn der Mann ließ Avis zunächst ihren Willen, legte ihr nur eine Hand auf die Schulter und wandte sich dann endlich seinem Neuzugang zu.

„Du siehst verwirrt aus“, stellte er fest und schien auf eine Antwort zu warten. Doch alles was Yuki tat, war wortlos noch ein wenig mehr der Leinendecke um sich herum zu raffen und zu versuchen, den Mann mit möglichst giftigen Blicken zu erdolchen. Wenn er ihn bestrafen wollte, dann sollte er es endlich tun, und ihn nicht noch unnötig mit langem Gerede foltern. Der andere schien immerhin zu verstehen, dass er von Yuki zumindest jetzt noch keine Antworten erwarten konnte und fuhr unbeeindruckt fort.

„Ich fürchte, wir haben uns vorhin auf dem ganz falschen Fuß erwischt.“ Avis machte ein abfälliges Geräusch, das man als sarkastisches Lachen interpretieren konnte. Doch ließ sich der Mann davon nicht ablenken. „Also, um uns beide vorzustellen, mein Name ist Leon, und das … “ Er klopfte Avis auf die Schulter, auf der bis eben noch seine Hand geruht hatte. „... ist meine gute Freundin Avis.“

Bei den Worten „gute Freundin“ schien sich ihre Miene eine wenig zu verfinstern. Aber nur so kurz, dass Yuki sich direkt die Frage stellte, ob er sich diese Wandlung nicht bloß eingebildet hatte.

„Du bist Yuki, nicht wahr?“

Als ob sie das nicht schon längst wüssten. Er war sich sicher, dass alles, was man über ihn wissen musste, in diesen Dokumenten niedergeschrieben war, welches der Mann vorhin noch in dieser Menschengruppe diskutiert hatte. Schließlich wurden diese Schriften immer bei der Weitergabe von Cats ausgetauscht. Er kannte ihn also vermutlich bereits besser als Yuki sich selbst, einschließlich seiner besonderen Eigenheit. Somit machte der Neko sich auch nicht die Mühe, großartig auf die Frage des Menschen zu antworten, auch wenn es im Zweifelsfalle vielleicht besser wäre, es sich nicht gleich mit seinem neuen Besitzer zu verscherzen. Aber die Art wie Avis mit ihm umspringen konnte, hatte ihm zumindest soweit Mut gemacht, dass er sich einbildete, dass dieser Mann ihm vielleicht nicht gleich aus jeder Kleinigkeit einen Strick drehen würde. Somit musterte Yuki sein Gegenüber nur weiterhin schweigend aus seinen schmalen Katzenaugen.

Leon wartete noch einen Augenblick geduldig, ob er es sich nicht vielleicht doch noch einmal anders überlegte, rieb sich dann aber nur nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger am Kinn. „Tja, also...“

„Bring' ihm doch erst einmal etwas zum Anziehen“, mischte sich Avis nun ungeduldig ein und verdrehte die Augen. „Oder würdest du gerne halbnackt mit fremden Leuten reden? Ich habe einige Sachen gewaschen und auf die Leine gehängt. Die kannst du bügeln und dann herbringen.“

Yuki riss ungläubig die Augen auf, als Leon zwar einen Moment lang die Stirn runzelte, dann jedoch tatsächlich nur mit einem Nicken und ohne ein weiteres Wort den Raum verließ, um Avis Bitte – oder war es doch vielmehr ein Befehl gewesen? - offenbar tatsächlich nachzukommen. Als der Menschenmann den Raum verlassen hatte, lächelte sie ihn mit einer Selbstverständlichkeit an, dass Yuki nichts anderes übrig blieb, als dieses Lächeln zu erwidern.

„Das wird jetzt ein Weilchen dauern.“ Sie grinste jetzt und entblößte dabei ein Gebiss voll reinweißer, spitzer Raubtierzähne. Eine weitere Eigenschaft, die Seinesgleichen von ihren tierischen Vorfahren übernommen hatten. „Wenn Leon eines nicht kann, dann ist es bügeln.“

Leicht legte sie den Kopf schief und ihre spitzen Katzenohren folgten der Bewegung. Sie musterte ihn aufmerksam, obwohl er sich sicher war, dass sie dies schon während seiner Bewusstlosigkeit zu genüge getan hatte. Schließlich musste ihn ja irgendwer aus der vor Dreck triefenden provisorischen Kleidung von der Überfahrt geschält haben. Und der Gedanke, dass dieser Leon das gewesen sein könnte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Mit einer entsprechenden Frage hielt er sich aber vorsichtshalber zurück.

„Hast du vielleicht Durst?“, fragte sie unvermittelt, ließ ihn aber gar nicht erst für eine Antwort zu Wort kommen, sondern sprang direkt auf, noch ehe sie ihre Frage zu Ende gestellt hatte. Der Stuhl, auf welchem sie bis eben noch gesessen hatte, schwankte gefährlich, sodass Yuki fast versucht war, von seinem improvisierten Lager zu springen, um diesen festzuhalten. Einen Arm hatte er bereits im Reflex danach ausgestreckt, doch bestand im Grunde keine Notwendigkeit dazu, denn bereits kurz danach schaukelte der Stuhl wieder nach vorne, um laut klappernd zum Stehen zu kommen. Yuki atmete erleichtert aus, obwohl ihm das Möbelstück eigentlich hätte reichlich egal sein können.

Während er so abgelenkt gewesen war, hatte sich Avis bereits zu einer Zimmertür hinaus aus dem Staub gemacht. Irgendwo ein paar Räume weiter hörte er Gläser klimpern, das leicht erstickte Quietschen von Avis Stimme, dann das Plätschern von Flüssigkeit, welche von einem Behältnis in ein anderes umgefüllt wurde. Sie bereitete offenbar tatsächlich etwas zu Trinken vor, wenngleich auch nicht mit überdurchschnittlich viel Geschick, wie er anhand der Geräuschkulisse feststellte. Yuki nutzte die Gelegenheit, um nach Leon zu lauschen, doch war kein Laut von ihm zu hören. Wohin war er wohl verschwunden? Eigentlich wäre die Gelegenheit zur Flucht günstig, doch zum einen wusste er nicht, wo er sich überhaupt befand, zum anderen obsiegte nun doch langsam die sprichwörtliche Neugierde, welche seiner Art zugesprochen wurde und die auch ihm nicht fremd war. Vielleicht konnte er von der Neko gefahrlos ein paar brauchbare Informationen erhalten, wenn er es geschickt anstellte. Danach konnte er immer noch fliehen.

Avis kam nun wieder herein, beachtete ihn jedoch zunächst nicht, denn ihr Blick war konzentriert auf die beiden Gläser gerichtet, welche sie jeweils in der linken und rechten Hand trug und die sie viel zu großzügig mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt hatte. Erst als sie die Gläser auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Lager abgesetzt hatte, wagte sie es wieder, den Blick auf ihn zu richten. Abermals lächelte sie ihn an.

„Nimm dir ruhig“

Yuki schielte auf jenes der beiden Gläser, welches ihm am nächsten stand. Es war nahezu bis an den Rand gefüllt. Eigentlich war es ein Wunder, wie Avis es fertiggebracht hatte, diese quer durch den gesamten Raum zu transportieren, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Erst jetzt bemerkte Yuki, dass er in der Tat sehr durstig war, denn auf dem letzten Teil der Überfahrt hatten er und seine Artgenossen nicht mehr viel zu Trinken bekommen. Sein Blick wanderte noch ein letztes Mal misstrauisch zwischen Avis und dem Glas hin und her, ehe er nun doch zugriff. Es fühlte sich eiskalt an, was auf die Temperatur seines Inhaltes schließen ließ. Doch kaum hatte er das Glas angehoben, schwappte auch schon ein Teil der kalten Flüssigkeit über sein Handgelenk, was er mit einem verärgerten Gesichtsausdruck quittierte. Avis legte derweil schuldbewusst die Ohren an.

Yuki gab sich größte Mühe, nicht mehr als nötig zu verschütten und führte sich das Glas zunächst an die Nase, um den Geruch des Inhalts zu prüfen. Man konnte ja nie wissen. Derlei faule Tricks kannte er schon zu genüge. Doch schien es sich bei dem Inhalt tatsächlich um nichts weiter als einfaches, klares Wasser zu handeln. Nachdem er seinem Misstrauen nun also ausreichend Schuldigkeit geleistet hatte, hielt ihn nichts davon ab, den Inhalt einfach mit einem Mal hinunterzustürzen. Er war dabei etwas übereifrig, sodass ein Teil des Wassers über seine Mundwinkel hinaus rann, seinen Hals und seinen nackten Oberkörper entlang, um letzten Endes in dem dünnen Leinenstoff zu versickern.

Als er das Glas wieder absetzte, stellte er fest, dass Avis die kleinen Rinnsale auf seiner Haut aufmerksam beobachtet hatte. Nur vermochte er nicht genau zu sagen, ob es an ihm selbst oder einfach nur an der Tatsache lag, dass er drauf und dran war, die mit teurem Stoff bezogene Chaiselongue, auf welcher er saß, zu ruinieren. Mit dem Handrücken wischte er sich den Mund ab und stellte das Glas zurück auf den Tisch, wo jenes von Avis noch immer unangetastet dastand.

„Das hat gutgetan, vielen Dank“

Mit einem Mal hellte sich Avis Miene auf. „Du kannst ja doch sprechen!“, stellte sie sichtlich erfreut fest. „Das freut mich“

Er blickte sie fragend an. Irgendwie war sie ja ganz niedlich in ihrer Art, aber er war sich auch sicher, dass sie zu denjenigen Personen gehörte, deren Anwesenheit für eine Weile ganz nett war, die jedoch auf Dauer ziemlich anstrengend werden konnten.

„Ja ...“, antwortete er unsicher und ersparte sich die Bemerkung, dass sie ihn bisher ja auch nicht hatte zu Wort kommen lassen. Stattdessen ergriff er gleich die Gelegenheit seinen Plan in die Tat umzusetzen: „Und ich hätte auch gleich ein paar Fragen.“

„Natürlich“, antwortete sie und blickte ihn erwartungsvoll an. „Die hat jeder am Anfang.“ Sie rutschte etwas auf ihrem Stuhl hin und her, wohl um sich in eine Position zu bringen, in der sie ihm am besten und bequemsten zuhören konnte und beugte sich letzten Endes leicht zu ihm vor. Es war nur eine schlichte, unverfängliche Körperhaltung, dennoch ertappte Yuki sich dabei, wie sein Blick kurz von ihrem Gesicht zu ihrem Dekolletee abwich, welches jedoch artig unter dem wenig femininen Rundkragenausschnitt eines schlichten hellen T-Shirts verhüllt war. Doch Yuki hatte bereits so viele nackte Frauen gesehen, dass gerade das, was nicht offen gezeigt wurde, seine Fantasien am meisten beflügelte. Ob das wohl normal war? Er wusste es nicht, nur konnte er sich auch nicht vorstellen, dass er von seinem bisherigen Leben nicht in irgendeiner Form negativ geprägt worden war. Für einen Moment gab er sich dem Gedanken hin, was sie wohl täte, würde er jetzt einfach aufstehen, versuchen, sie zu berühren, zu entkleiden, niederzudrücken ... Ob sie sich wohl bewusst war, was er war? Vermutlich nicht, denn sonst würde sie sich hier nicht allein mit ihm in Gefahr begeben. Und eine Gefahr war er für sie, zumindest wenn er seine Gedanken jetzt nicht langsam wieder in den Griff bekam.

Innerlich rief Yuki sich zur Ordnung. Er sollte sich wirklich besser beherrschen. Wie lange hatte er sie jetzt wohl schon so unverblümt angestarrt? Er schaute wieder auf und sein Blick kreuzte sich mit dem von Avis, die anscheinend noch immer geduldig auf seine Fragen wartete. Hatte sie sein gedankliches Abschweifen gar nicht erst bemerkt, oder ignorierte sie es einfach nur höflich? Er rettete sich in die erstbeste Frage, die ihm in diesen Moment einfiel und die ihm sowieso von allem am meisten auf der Seele brannte: „Wo sind wir hier?“

Abermals lächelte Avis. „Das ist einfach zu beantworten.“ Sie lehnte den Oberkörper wieder ein wenig zurück, streckte die Arme aus und machte eine große, ausladende Geste, welche so ziemlich alles, diesen Raum, dieses Haus, diesen gesamten Ort einschließen mochte. „Das hier ist Cat's World“, meinte sie. „Das bedeutet so viel wie Katzenwelt. Ein schöner Name, oder? Ach und herzlich willkommen übrigens.“ Wieder schaute sie ihn mit diesem erwartungsvollen Blick an, als erhoffte sie sich irgendeine bestimmte Reaktion von ihm.

„Cat's World, aha.“ Yuki ließ sich den Namen dieses Orts ein paarmal durch den Kopf gehen. Schließlich wirkte Avis in ihrer überzeugten Art so, als müsste er ihm etwas sagen. „Nie gehört“, stellte er dann jedoch fest. „Klingt wie eine Art Vergnügungspark.“

Er hoffte inständig, dass dieser erste Eindruck des Namens nicht zutraf, denn wenn er eines nicht wollte, dann Zeit seines Lebens irgendwelche Menschen zu unterhalten, oder noch schlimmer: Als überdimensioniertes Kuscheltier für ihren Nachwuchs herzuhalten.

„Naja, so ähnlich“, gab Avis zu und Yuki musste scharf schlucken, als eine neuerliche Panik in ihm aufwallte. Da wären ihm noch ein paar zusätzliche Wochen auf der „Queen of the Sea“ wohl lieber gewesen, als so einen Albtraum leben zu müssen. Doch die Neko beeilte sich, beschwichtigend die Hände zu heben: „Nein, nein, versteh' mich nicht falsch!“ Sie schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen. Ihr Blick wurde nachdenklich und sie kräuselte etwas die Stirn dabei.

„Also eigentlich handelt es sich eher um eine Art Reservat. So eine Art ...“ Sie wedelte unsicher mit den Armen, wohl um zu überspielen, dass ihr eine gute Beschreibung dieses Orts ziemlich schwer fiel. „... Zuflucht“, beendete sie den Satz und schien halbwegs zufrieden mit dieser Bezeichnung. „Ja, genau“, nickte sie, um ihre eigenen Worte zu bestätigen. „Hier ist unsere Art frei und kann weitestgehend über sich selbst bestimmen. Verstehst du?“

Aus reiner Höflichkeit heraus hatte Yuki permanent bei ihren Erklärungen genickt, entschloss sich bei ihrer letzten Frage jedoch spontan, den Kopf zu schütteln.

„Kein Wort“, gab er zu. Das, was er da gehört hatte, klang einfach zu fantastisch in seinen Ohren. Es sollte tatsächlich einen Zufluchtsort für Seinesgleichen geben, wo sie frei über ihr Schicksal bestimmen konnten? Wenn ja, warum hatte er noch nie von einem solchen Ort gehört? Und was hatten dann die Menschen hier zu suchen? Ein solches Paradies hatte er sich zwar häufiger erträumt, doch seine Peiniger waren nie ein Teil dieses Orts gewesen.

Avis bemühte sich derweil sichtlich, eine bessere, vielleicht verständlichere Erklärung für all das hier zu finden und setzte neu an: „Leon hat diese Insel für uns geka...“ Yukis herrische Armbewegung und ein lautstarkes „Moment mal!“ unterbrachen sie. „Insel? Wir befinden uns auf einer Insel?“ Yuki hätte Avis am liebsten an den Schultern gepackt und die Antwort aus ihr herausgeschüttelt, als diese nicht schnell genug antwortete. Wenn dieser Ort eine Insel war, dann war er hier definitiv bis auf Weiteres gefangen. Was sollte das für eine Freiheit sein? Noch bevor Avis ihm seine sowieso eher rhetorische Frage beantworten konnte, setzte er nach: „Wie weit vom Festland entfernt?“

Nun war es Avis, welche verwirrt drein blickte. Doch antwortete sie ihm auch dieses Mal bereitwillig: „Ein paar Tage mit dem Schiff, ein paar Stunden mit dem Flugzeug. So genau weiß ich es aber nicht.“ Erst jetzt schien ihr aufgefallen zu sein, was in Yukis Kopf vorging. Vielleicht sah man es ihm aber auch nur überdeutlich an. Jedenfalls gab sie ein wissendes „Ah“ von sich und hob abermals beschwichtigend die Hände. „Es gibt keinen Grund von hier weg zu müssen“ Sie schaute ihm dabei so ernst und so ehrlich in die Augen, wie er es bisher nur bei wenigen Personen gesehen hatte. „Wirklich nicht“, setzte sie nach.

Yuki, welcher sich in seinen Plänen ertappt fühlte, holte Luft zu einer scharfen Antwort, doch diesmal war es Avis, welche ihm mit einer entsprechenden Geste das Wort abschnitt.

„Es ist ein so wundervoller Ort, den Leon für uns geschaffen hat. Gib ihm doch wenigstens eine kleine Chance.“

Yuki war sich nicht sicher, ob sie damit nun den Ort oder diesen Leon meinte, doch egal was gemeint war, beide Optionen erschienen ihm im Moment ähnlich inakzeptabel. Immerhin sah er ein, dass er mit Panik wohl keinen Schritt weiter kommen würde und ließ sich daher vorerst auf Avis ein. „Und wenn es mir nicht gefällt?“, fragte er lauernd.

„Dann steht es dir frei, mit dem nächsten Schiff zurück zum Festland zu fahren. Ich gebe dir mein Wort darauf.“

Abermals setzte sie diesen ernsten Gesichtsausdruck auf, welcher es Yuki schwer machte, auch nur ansatzweise an ihren Worten zu zweifeln. Wären diese Worte von Leon gekommen, er hätte ihnen wohl keinerlei Glauben geschenkt, doch Cats hassten Lügen wie die Pest, war doch die Ehrlichkeit untereinander eine der letzten Sicherheiten in ihrem Leben. Andererseits konnte die treue Ergebenheit zu ihrem Meister so manch einen Artgenossen diese Grundsätze vergessen lassen. Hinter seiner Stirn rasten die Gedanken. Nur zu gerne würde er einen solchen Ort kennenlernen, doch nicht um jeden Preis. Andererseits erwartete ihn auf dem Festland auch nichts anderes als neuerliche Gefangenschaft.

Noch ehe Yuki zu einer Antwort ansetzen konnte, vernahm er stapfende Schritte, welche sich langsam aber sicher näherten. Sofort drehten sich seine Ohren in Richtung ihres Ursprungs und nur wenige Augenblicke darauf erschien Leon in der Tür, durch welche er noch vor einer Weile verschwunden war. Auch Avis drehte sich nun zu dem Mann um und stellte sichtlich erstaunt die Ohren auf, als sie die Wäsche erblickte, welche dieser sorgfältig über seinen Arm gelegt hatte. „Du bist aber schnell“, stellte sie fest und stand auf, um ihm entgegenzugehen.

„Ein blindes Huhn findet auch einmal ein Korn“, grinste Leon zur Antwort. Avis nickte und nahm die Kleidung von ihm entgegen, um sie direkt mit prüfenden Blick auseinanderzufalten. Offenbar gefiel ihr nicht sonderlich, was sie sah, schenkte sich aber eine entsprechende Bemerkung, da Leons Grinsen sich fast augenblicklich in ein schuldbewusstes, verlegenes Lächeln wandelte. Sie seufzte und kam nun wieder zurück zu Yuki, um diesem die Kleidungsstücke zu reichen.

„Zieh' das an, sonst erkältest du dich noch.“

Yuki hatte zwar keine Ahnung, wie um Himmels Willen man es schaffen sollte, sich angesichts der tropischen Temperaturen, welche auf dieser Insel herrschten, zu erkälten, doch war er froh, sich endlich etwas überstreifen zu können. Die Sachen waren seines Erachtens in Ordnung, allenfalls ein paar kleinere Knitter waren auszumachen, aber er hatte auch nicht die Erfahrung zu wissen, wie ordentliche Kleidung auszusehen hatte. Vielleicht war Avis Reaktion auch schlicht ein Hinweis darauf, dass es sich bei ihr um eine äußerst reinliche Neko handelte.

Wenige Augenblicke später hatte er sich umgezogen, während Avis und Leon sich in einen Nebenraum zurückgezogen hatten. Seine Bekleidung war nun schlicht, aber immerhin sauber: Eine recht bequeme Hose, welche man am Bund zusammenbinden konnte, ein einfaches, weißes Oberteil, dazu ein Satz Socken und simple Schnürschuhe. Letztere beiden waren reichlich ungewohnt für ihn, da er die meiste Zeit barfuß unterwegs gewesen war. Vermutlich würde er sich beider Dinge entledigen, sobald die Möglichkeit dafür bestünde. Er ging nun durch die Tür, zu der Avis und Leon ihn verlassen hatten.

Der folgende Raum war vielmehr ein Eingangsbereich, vielleicht eine Art Empfangshalle, in der ein großer Schreibtisch drapiert war. Leon saß dahinter und ging einige Dokumente durch. Ein Schlüssel und ein kleines Heftchen befanden sich direkt vor ihm. Als Yuki den Raum betrat, blickte Avis, welche direkt neben Leon saß, auf und schenkte ihm ihr übliches, aufrichtiges Lächeln. „Gut siehst du aus“, behauptete sie, was Yuki nun doch für einen kurzen Augenblick eine leichte Röte ins Gesicht trieb. Er fing sich jedoch sehr schnell wieder und wandte sich stattdessen das erste Mal direkt an Leon: „Also, was soll ich nun tun?“, fragte er gerade heraus und hoffte, dass Avis Recht damit hatte, dass sie hier eine gewisse Freiheit genossen. Wenn nicht, würde er sich vermutlich gerade selbst in größte Schwierigkeiten bringen.

„Du musst jetzt erstmal gar nichts tun“, antwortete Leon ruhig und legte nun die Dokumente zur Seite, in welchen er bis eben noch eifrig gestöbert hatte. Stattdessen nahm er den Schlüssel und das Heft an sich und stand auf. Avis tat es ihm gleich. „Wir werden dir jetzt dein Quartier zeigen“, meinte die Neko und fügte mit sichtlichem Stolz hinzu: „Wir haben sogar ein eigenes Dorf, weißt du?“

Sie hatten das Gebäude, welches sich im Nachhinein als schmucke kleine Villa entpuppte, verlassen. Nun bewegten sie sich in gemächlichem Schritttempo eine Reihe kleiner, weiß getünchter Häuser entlang, welche von ebenso kleinen, nicht einmal einen Meter breiten, aber ansehnlich hergerichteten Vorgärten gesäumt waren. Zumindest dieses idyllisch anmutende Dorf war wohl nicht für Seinesgleichen bestimmt, denn in der Hauptsache gingen hier Menschen ein und aus, wenngleich er auch den einen oder anderen Artgenossen durch einige der Eingangstüren verschwinden sah.

Als er so seinen Blick über die in das Licht der tropischen, sich langsam gen Horizont senkenden Sonne getauchten Häuserreihen schweifen ließ, fiel ihm eine Frau ganz besonders in den Blick, welche wohl gerade ihre Post hereinholen wollte. Ihr Arm steckte in einem frischen weißen Verband. Glücklicherweise konnte sie ihn noch nicht richtig erkennen, da sie zu weit entfernt war, aber durch seine ungleich schärferen Katzenaugen konnte er sofort sehen, dass es sich um die Frau aus der Gruppe am Hafen handelte. Sofort legte er ein wenig die Ohren an. Stammte diese Verletzung etwa auch von ihm?

Avis hatte wohl seine Reaktion bemerkt und folgte seinen Blicken. Als auch sie die Frau erkannte, strich sie mit dem Handrücken beruhigend über seinen Arm. „Du hast ganz schön gewütet unter den Betreuern“, sprach sie wider erwarten ohne jegliche Form von Vorwurf in der Stimme. „Erinnerst du dich?“

Noch bevor Yuki ein Kopfschütteln auch nur andeuten konnte, nahm Leon ihm die Antwort ab: „Natürlich kann er sich nicht erinnern, das weißt du doch.“ Avis erwiederte diesen Einwurf lediglich auf ihre Art, indem sie Leon die Zunge herausstreckte. Doch Yuki horchte auf. Also wusste nicht nur dieser Leon, sondern auch Avis über seine Eigenheiten Bescheid. Und dennoch hatte sie sich in Gefahr begeben, indem sie mit ihm eine Weile allein in einem Raum verbracht hatte? Wer waren diese Personen nur? Leon wandte sich nun direkt an ihn: „Keine Sorge, der Frau geht es gut. Verletzungen gehören hier nun einmal zum Berufsrisiko.“

Yuki verstand nicht ein Wort von dem, was ihm da erzählt wurde. Wer sollten diese Betreuer sein und von was für einem Berufsrisiko sprach Leon da? Trotz all dieser Fragen in seinem Kopf nickte er als hätte er verstanden. Dafür stellte er die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Seele brannte: „Ihr wisst also, dass ich...“

„... zur Zucht verwendet wurde, aber außer Kontrolle geraten bin?“, ergänzte Leon seinen Satz und Avis fügte noch hinzu: „Das wissen wir. Aber mach' dir darum mal keine Sorgen.“

Er wusste nun nicht mehr so recht, welche Reaktion hier angemessen war, und in Ermangelung einer besseren Idee starrte Yuki daher während der folgenden Wegstrecke nur noch mit betroffenem Gesichtsausdruck zu Boden. Es breitete sich nun ein fast schon peinliches Schweigen zwischen den dreien aus, welches zumindest Yuki nicht zu brechen wagte. Eine ganze Weile folgte er den beiden wortlos, schritt die Häuserreihen entlang, welche irgendwann einer natürlicheren Umgebung Platz machten. Die geteerte Straße wich nun einem leichten Schotter- und Kieselweg, dennoch standen an den Seitenrändern vereinzelt Parkbänke und in regelmäßigen Abständen Straßenlaternen. Eigentlich hätte er neugierig angesichts dieser vollkommen neuen Umgebung sein müssen, doch Yuki fühlte sich in diesem Moment auf unerklärliche Weise matt. Er wusste einfach nicht mehr so recht, wie er mit diesen Leuten, dieser ganzen Situation umgehen sollte. Natürlich war ihm von vornherein klar gewesen, dass sie über ihn Bescheid wissen mussten, dennoch hatte er sich insgeheim an die irrationale Hoffnung geklammert, dass dem nicht so wäre. Nun würde sein Leben vielleicht doch wieder in Ketten enden.

Es war dämmrig geworden, als sie auch diesen Weg seitlich verließen und einen schmalen Trampelpfad betraten, welcher mitten in das dichte Geäst eines tropischen Waldes führte. Das Laubdach war so dicht, dass die letzten schwachen Sonnenstrahlen am Horizont nicht mehr so recht hindurch dringen konnten und da Beleuchtungen hier nur noch sehr vereinzelt angebracht waren, war es reichlich finster. Yuki empfand dies zwar als eine Wohltat für seine auf die Dunkelheit spezialisierten Katzenaugen und auch Avis schien sich in dem nunmehr eher unwirtlichen Gelände bestens zurecht zu finden, doch merkte man deutlich, wie große Schwierigkeiten Leon mit den hiesigen Lichtverhältnissen hatte. Das stimmte Yuki abermals nachdenklich. Er hätte genauso gut nur Avis schicken können, doch schien es diesem Mann sehr wichtig zu sein, ihn höchst selbst zu begleiten. Yuki nutzte die Gelegenheit, die ihm diese Verzögerung bot, um seine Umgebung etwas genauer zu betrachten. Er konnte sich nicht helfen. Obwohl er am Geruch erkannte, dass sämtliche der exotischen Pflanzen hier echt waren, kam ihm zumindest ihre Anordnung auf seltsame Weise künstlich vor. Auch der Boden unter seinen Füßen schien entweder von etlichen Besuchern so kompakt zusammengetreten worden zu sein, dass hier nichts mehr wuchs, oder er war bereits von vornherein so geplant und befestigt worden. Er tippte ohne nähere Anhaltspunkte auf letzteres. Schließlich gab es hier ja auch in größeren Abständen die eine oder andere elektrische Laterne. Hatte Avis nicht gemeint, dass es sich hier um so etwas Ähnliches wie einen Vergnügungspark handelte? Langsam bereute er, dass er sie diesbezüglich nicht noch mehr gefragt hatte.

Irgendwann erbarmte sich Avis dann doch und hakte sich bei Leon ein, um ihn durch das dichte Dickicht zu führen. Sie kamen nun um einiges schneller voran und brachten den Rest der Strecke in recht überschaubarer Zeit hinter sich. Bald schon drang das Plätschern von Wasser an Yukis Ohr und seine Nase nahm den Geruch von etlichen anderen Cats auf. Kurz darauf lichtete sich die hiesige Flora und gab den Blick frei auf eine scheinbar gigantisch große Lichtung, welche von unzähligen rundlichen Hütten gesäumt wurde. Tatsächlich aber waren sie nicht allein am Boden, sondern hauptsächlich in den Kronen der riesigen umstehenden Bäume errichtet worden. Am anderen Ende dieses Dorfs plätscherte ein kleiner Bach. Trotz oder gerade wegen des vorherrschenden Dämmerlichts herrschte rege Betriebsamkeit unter den offenbar ausschließlich aus Cats bestehenden Bewohnern. Anders als bei der weißen Häuserreihe, welche er noch zuvor gesehen hatte, waren es hier die Menschen, die in der eindeutigen Minderheit waren und hier und da aus den Hütten traten oder ungeschickt über Strickleitern die Bäume hinaufzuklettern versuchten.

Zwei jüngere Cats, eine Neko und eine Hybride, rannten kichernd direkt an ihnen vorbei. Yuki konnte sich nicht entsinnen, jemals so ausgelassene Cats gesehen zu haben. Mit einem Mal streifte der Blick der jungen Neko den seinen und er schien in ihren Gesichtszügen etwas wie Erkennen lesen zu können. Dieser Umstand verwirrte ihn, denn er erinnerte sich nicht, sie jemals zuvor gesehen zu haben. Auf dem Schiff nicht und auch davor noch nie. Da war er sich sicher. Doch noch bevor er entsprechend reagieren konnte, waren die beiden Mädchen schon an ihnen vorbei und Leon setzte zusammen mit Avis seinen Weg fort. Das Blätterdach war hier nicht mehr ganz so dich und offensichtlich reichte das Licht nun auch für dessen unterentwickelten Augen aus, den richtigen Weg zu finden.

Sie liefen nun den Rand der Lichtung entlang, während sie von mehr und mehr neugierigen Katzenaugen verfolgt wurden. Leon und Avis waren hier eindeutig keine Unbekannten. Es kam sogar vor, dass ihnen einige Artgenossen respektvoll Platz machten. Etwa auf halber Höhe der Lichtung erreichten sie nun einen der großen Bäume, in dessen Krone zwei oder drei dieser Hütten untergebracht waren. Erst jetzt von nahem betrachtet fiel Yuki auf, wie gigantisch diese Gewächse tatsächlich waren. Seine Theorie von der künstlichen Urwald-Welt bekam einen leichten Knacks, denn er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man solche Ungetüme hätte her schaffen sollen. Oder konnte man gerade hieran erkennen, dass nicht alles um ihn herum wirklich war?

„Da sind wir“, meinte Leon und nestelte mit einer Hand in seiner Hosentasche herum. Endlich fand er wohl, was er gesucht hatte und angelte den Schlüssel hervor, den er während ihres Spaziergangs dort aufbewahrt hatte. Er reichte ihm seiner Begleiterin: „Avis, wärst du wohl so nett? Du weißt ja, ich habe in solchen Dingen ein gewisses Handicap.“ Avis nickte nur grinsend und warf Yuki einen verschwörerischen Blick zu. Dann sprang sie mit einer kraftvollen Bewegung ab, kaum dass sie den Schlüssel zwischen die Finger bekommen hatte. Sie landete geschmeidig auf einem Ast schräg unter einer der Hütten und streckte sich nun nach deren Unterseite aus. Erst jetzt bemerkte Yuki, dass dort tatsächlich eine Art Bodenklappe eingelassen war, welche ein Schloss besaß. Eben dieses Schloss war offenbar Avis Ziel und als sie es endlich geschafft hatte, dieses zu öffnen, verschwand sie sofort mit einem Satz in der freien Öffnung. Es dauerte nicht lange und eine Strickleiter wurde klappernd herabgelassen, welche Leon sofort in die Hand nahm. Er grinste Yuki an. „Meine Sprung-Prothese“, witzelte er über sein eigenes körperliches Unvermögen. „Du kannst es wie Avis machen, wenn dir das lieber ist.“ Er zweifelte offenbar nicht daran, dass Yuki es ihr gleich tun würde, denn sofort ging er einen Schritt zur Seite, um ihm den Weg frei zu machen.

Yuki nickte nur stumm und machte sich bereit zum Sprung. Wenn er ehrlich war, war er sich nicht so recht sicher, ob er diese Höhe überhaupt in einem Zug bewältigen könnte. Er hatte einfach zu selten die Gelegenheit gehabt, seine körperliche Kraft auszutesten. Also fixierte er vorsichtshalber zunächst nur einen der starken Äste auf halber Höhe an. Er konzentrierte sich ganz auf sein Ziel, spannte die kräftigen Beinmuskeln an und schoss dann wie eine Rakete in die Höhe. Tatsächlich schaffte er es bis zum anvisierten Ast, schwankte aber beachtlich, als seine Füße darauf zu stehen kamen. Glücklicher Weise war er von der Natur mit einem nützlichen Schweif ausgestattet worden und mit eher unbeholfener Zuhilfenahme der Arme brachte er tatsächlich irgendwie das Kunststück fertig, nicht direkt wieder hinunterzufallen und sich vielleicht sämtliche Knochen zu brechen. Erst als er halbwegs sicheren Halt dort oben hatte wagte er es, erleichtert auszuatmen und nun auch das letzte Stück der Wegstrecke in Angriff zu nehmen. Seltsam, von da unten hatte es gar nicht so hoch ausgesehen. Yuki sprang ab und kam halb mit dem Oberkörper in der Hütte an, wo er sich ächzend in dem Holzboden krallte. Sollte das wirklich der Zugang zu seiner neuen Behausung sein? Falls ja, würde er wohl noch ein paarmal das Betreten üben müssen. Es dauerte nicht lange, als ihn zwei kräftige helfende Hände hinaufzogen, welche selbstverständlich zu Avis gehörten.

Wie zu erwarten kam Yuki in einer kleinen runden Hütte auf die Füße und blickte sich aufmerksam um. Sie war nur sehr schlicht eingerichtet und hatte gerade einmal zwei Türen, welche wohl in weitere Räume führten. Im Moment sah er jedoch nur ein sauberes Sofa, dabei einen größeren Tisch, auf welchem sich sowohl ein Telefon als auch so etwas wie ein Radio befanden, sowie hinter einem nur halb zugezogenen Vorhang eine Art Kochnische, in welcher man aber wohl kaum Lebensmittel für mehr als eine Person zubereiten konnte. Immerhin, es war weit mehr, als er bisher gewohnt gewesen war. „Ich weiß, es ist nicht viel“, meinte Avis, welche ihn dabei beobachtet hatte. „Aber du kannst sie dir später gerne nach deinem Geschmack einrichten.“

Ein puterroter Kopf tauchte schnaufend in der Bodenluke auf. Leon hatte es wohl nun endlich auch geschafft, die Strickleiter bis ganz nach oben zu kraxeln. Auch ihm half Avis hinauf. „Danke Avis.“ Er wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. „Verdammt, ich sollte wirklich mehr Sport machen.“ Avis grinste darauf und stupste ihn schelmisch von der Seite an. „Mit ausgerasteten Cats zu ringen ist kein Sport?“

Offenbar war die spaßhafte Bemerkung auch ein wenig auf ihn gemünzt und so nutzte Yuki diese, um sich nun auch wieder in das Gespräch einzubringen: „Also... ihr wollt mich hier wirklich allein lassen? Habe ich das richtig verstanden?“ Avis schaute mit einem fragenden Blick zu ihm auf. „Natürlich, was denkst du denn?“

„Ich werde nicht eingesperrt?“

„Wieso solltest du?“

„Na, weil ich...“ Er stoppte mitten im Satz und blickte betroffen zur Seite. Er mochte die Sache nicht auch noch selbst aussprechen. Leon erkannte offenbar seine Gefühle und nutzte die Gelegenheit, um sich ihm zu nähern und ihm den Schlüssel zu der Hütte in die Hand zu drücken. Normalerweise hätte Yuki ihn allein dafür, dass er es wagte, ihn einfach zu berühren, auch noch die andere Wange zerkratzt, doch ließ er es diesmal zu und drehte den Schlüssel nachdenklich in den Händen. „Wir vertrauen hier einander“, meinte Leon dann mit fester Stimme. „Sorg dafür, dass man auch dir vertrauen kann, dann wird alles gut.“ Avis für ihren Teil grinste nur angesichts der theatralischen Szene. „Gut gebrüllt, Löwe“, spöttelte sie. „Vergiss das Buch nicht“

Nun nahm Leon auch das Büchlein, welches er aus seinem Haus mitgebracht hatte und legte es auf den Tisch neben sich. „Das hier ist so eine Art Ausweis für dich“, erklärte er. „Verliere es bitte nicht. Du kannst damit auch auf der ganzen Insel Lebensmittel und andere Gegenstände kaufen. Es enthält herausnehmbare Blätter, welche abgestempelt werden. Du bekommst jeden Monat neue in meinem Büro.“ Yuki blinzelte verwirrt. Das System kam ihm etwas suspekt vor, zumal er noch nie hatte für sich selbst einkaufen dürfen oder müssen. „Du musst jetzt noch nicht alles im Detail verstehen“, mischte Avis sich ein und lächelte aufmunternd. „Schau dich morgen einfach ein wenig um und frag ein paar Artgenossen. Sie werden dir sicher weiterhelfen. Ansonsten kommst du einfach bei uns vorbei, in Ordnung?“ Er nickte unsicher.

„Sehr schön“, meinte Leon und rieb sich die Hände. „Dann lassen wir dich am besten erst einmal allein. Deine Reise war sicher anstrengend.“ Wieder nickte Yuki, immer noch nicht sicherer als zuvor, was Avis wohl dazu veranlasste, ihm auf die Schulter zu klopfen. „Keine Angst, du wirst dich sicher richtig schnell hier eingewöhnen. Mach in den ersten Tagen nur einen Bogen um die Touristen. Sie können ziemlich anstrengend werden.“

„Touristen?“ Yuki blickte alarmiert auf.

Avis wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, als Leon ihr ins Wort fiel. „Später“, meinte er und wandte sich dann an Yuki: „Am besten bleibst du hier im Dorf oder zumindest in der Nähe. Hier wirst du zwar auch ein paar von ihnen treffen, aber wenn es dir zu viel werden sollte, kannst du ja die Bucht besuchen. Einfach den Weg auf der anderen Seite der Lichtung weiter, dann kommst du direkt dort an.“ „Die Touristen haben dort nämlich Zutrittsverbot“, fügte Avis noch schnell hinzu.

Ihre Erklärungen trugen zwar nicht so recht zu seiner Beruhigung bei, dennoch stimmte er auch hier mit dem Kopf nickend zu, denn langsam spürte er eine gewisse Erschöpfung in seinem Körper aufsteigen. Ganz davon abgesehen, wollte er nun am liebsten allein bleiben, um diese ganze Sache hier zu verarbeiten. Leon machte eine Kopfbewegung in Richtung der Kochnische. „Wir haben dir bereits etwas zu Essen besorgt, du musst es dir nur noch zubereiten.“ Als nächstes tippte er auf eine der Schnellwahltasten am Telefon. „Falls du Probleme haben solltest: Das hier ist die Taste deiner Wahl. Wir lassen dich jetzt am besten in Ruhe, in Ordnung?“

„Hm-hm“, murmelte Yuki und schielte zu der provisorischen Küche hinüber. Beim Wort „Essen“ war seinem Magen eingefallen, dass er außer dem Wasser in Leons Haus schon lange nichts mehr zu sich genommen hatte. Daher versuchte Yuki nun verzweifelt, das aufkommende Magenknurren zu unterdrücken, um sich vor Avis und Leon keine Blöße zu geben. Leon jedenfalls nickte zufrieden. Offenbar hatte er erkannt, dass er von dem wortkargen Kater im Moment keine emotionalere Reaktion zu erwarten hatte. Jedenfalls machte er sich nun wieder auf, genauso ungeschickt wie zuvor über die Strickleiter hinabzuklettern. Avis wartete noch einen Moment, bis er unten angekommen war, ehe auch sie sich über den Rand der Luke schwang. Sie schaute nun halb aus dem Loch im Boden heraus, als sie sich ein letztes Mal an Yuki wandte. „Ich weiß, es ist schwer, aber hab' einfach ein wenig Vertrauen, in Ordnung?“ Sie zwinkerte ihm zu. „Gute Nacht.“

Mit diesen Worten verschwand nun auch Avis endgültig durch die Luke und ließ Yuki gänzlich allein in dieser Hütte zurück, welche ihm mit einem Mal viel zu groß und einsam vorkam. Es war nicht so, dass er nicht schon des Öfteren ganz allein irgendwo eingesperrt gewesen war, aber das hier war etwas anderes. Ihm wurde plötzlich von jetzt auf gleich eine gewisse Freiheit gewährt und er wusste schlicht nicht, was er nun damit anfangen sollte. Eine ganze Weile stand er stumm da und schaute sich unschlüssig um. Dann jedoch ging er zu der Bodenklappe und blickte hinunter. Leon und Avis schienen bereits nicht mehr in der Nähe zu sein und so schloss er sie erst einmal ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden abzuschließen oder gar die Strickleiter hochzuziehen.

Sein Magen meldete sich nun doch lautstark zu Wort und so schlurfte er hinüber zu dem Vorhang, hinter welchem sich die Kochnische versteckte und zog ihn gänzlich zur Seite. Sie bestand lediglich aus einem hängenden Schrank mit zwei Türen, darunter zwei Herdplatten und eine Spüle. Darunter befand sich ein weiterer Schrank und daneben ein Mülleimer. Er seufzte enttäuscht, denn auf dem ersten Blick war nirgends auch nur ein Fitzelchen an Nahrung zu finden. Sollte dieser Leon sich einen Spaß erlaubt haben, dann war es kein besonders guter gewesen. Yuki knurrte mit seinem Magen um die Wette und riss den Schrank über den Herdplatten auf: Ein wenig Besteck und zugehörige Teller sowie Gläser befanden sich dort und klimperten leicht gegeneinander – definitiv nichts zu essen. Er ließ sich in die Hocke sinken und schielte flüchtig in den Mülleimer – definitiv auch nichts zu essen. Blieb also nur noch der Schrank daneben. Auch diese Tür riss er auf und fauchte erschrocken, als ihm ein Schwall kalter Luft entgegen kam. Vor Schreck schloss er sie sofort wieder. Yuki hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, so eine Annehmlichkeit wie einen Kühlschrank kennenzulernen, deshalb erschreckte ihn dieses Gerät im ersten Moment zutiefst. Doch meinte er in dem kurzen Moment, in welchem die Tür geöffnet gewesen war, etwas ähnliches wie Nahrungsmittel erspäht zu haben und so brauchte er nicht sonderlich lang, um sich von seinem ersten Schrecken zu erholen. Abermals öffnete er vorsichtig die Tür und angelte eines der darin befindlichen Päckchen heraus. Er schloss sie wieder und betrachtete das Ding aufmerksam, ehe sich seine Miene aufhellte. Sie hatten ihm tatsächlich ein Stück Fleisch dagelassen! Sofort begab er sich zurück auf das Sofa und entledigte sich der umgebenden Schweißfolie mithilfe seiner scharfen Krallen. Einen Augenblick verschwendete er an den Gedanken, wie wohl Menschen diese Verpackung öffnen konnten, wo sie doch keine Krallen besaßen, machte sich dann jedoch direkt über den Fleischbrocken her.

Das Fleisch war etwas zäher als erwartet und hatte einen leicht rauchigen Geschmack. Ein ungewohnter Sinneseindruck, da er nur rohes Fleisch gewohnt war, dem man im schlimmsten Falle noch das Tier ansah, welchem es entstammte, wenn er überhaupt welches bekam. Doch dieses hier war auf seine ganz eigene Weise köstlich. Innerhalb weniger Minuten hatte er das gesamte Schinkenstück hinunter geschlungen und leckte sich nun genüsslich Lippen und Fingerspitzen. Fast war ihm dieses Verhalten ein wenig peinlich, doch solange ihm niemand zusah, konnte er sich ruhig gehen lassen. Der ärgste Hunger war nun jedenfalls gestillt.

Unschlüssig blickte Yuki sich um. Der Raum, in welchem er sich befand, war groß und leer. In seinen Augen gab es hier einfach viel zu viel Platz. Was sollte er nur damit anstellen? Sein Blick fiel auf die beiden verschlossenen Türen. Da sie Teil dieser Hütte waren, ging er davon aus, dass ihm was auch immer sich dahinter befand, ebenfalls angedacht war. Neugierig stand er auf und öffnete die erste, nur um gleich darauf erstaunt die Augen aufzureißen. Der dahinter befindliche Raum war sehr viel kleiner als der, aus welchem er eben gekommen war. Rotes Dämmerlicht fiel durch ein kleines Fenster auf hellblaue Fliesen. Dusche, Waschbecken und Toilette waren hier zu finden. Das Bad war groß genug, um einer Person bequem Platz zu bieten, mehr aber auch nicht. Solcherlei sanitären Anlagen kannte Yuki schon, nur nicht ganz so hübsch und gepflegt. Hier würden ihm hoffentlich keine unangenehmen Überraschungen begegnen wie eben noch mit dem Kühlschrank. Vorsichtig schloss er die Tür wieder, denn aus irgend einem Grund befürchtete er, etwas kaputt zu machen, wenn er sie einfach nur achtlos zuwerfen würde.

Der zweite Raum stellte ganz offensichtlich ein Schlafzimmer dar. Auch hier gab es zwei dicht beieinander liegende Fenster, durch welche das schummrige Licht der anbrechenden Nacht hereinfiel. Links und rechts von ihnen befanden sich Vorhänge aus schwerem Stoff, mit welchen man den Raum abdunkeln konnte. An einer der Wände befand sich ein Kleiderschrank. Yukis größte Aufmerksamkeit jedoch galt dem Bett, neben dem außerdem ein kleines Nachtschränkchen mit zugehöriger Leuchte drapiert war. Ein richtiges Bett, mit Holzrahmen und bequem aussehender Matratze, dazu Kissen und eine dieser leichten Leinendecken, welche er schon in Leons Haus kennengelernt hatte und die anscheinend typisch waren für die hier vorherrschenden tropischen Verhältnisse. Diesmal betrat er den Raum ganz und setzte sich auf das Bett, um mit einer Hand darüber zu streichen. Die Matratze war in der Tat so weich, wie sie ausgesehen hatte. Mit einem Mal fühlte Yuki die Erschöpfung, die sich schon zuvor in seinen Gliedern breit gemacht hatte, nur ungleich stärker. Sollte er sich jetzt wirklich einfach so hinlegen und riskieren, dass das hier alles nur ein unglaublich absurder Traum gewesen war?

Er ließ sich seitwärts fallen. Das Kissen, auf welchem sein Kopf nun ruhte, fühlte sich weich an und duftete ungewohnt frisch und sauber. Noch hingen seine Beine leicht über der Bettkante. Nur ein wenig die Augen schließen. Er wollte die Füße anheben, doch bemerkte er, dass er noch immer diese unbequemen Schuhe trug. Also streifte er sie ab, trat sie in eine Ecke und streckte sich endlich ganz auf dem Lager aus. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Ein seltsamer Ort, an den es ihn hier verschlagen hatte. Er war sich sicher, dass er noch längst nicht alles über ihn erfahren hatte. Aber vielleicht hatte er zum ersten Mal in seinem Leben echtes Glück gehabt. Sollte dem wirklich so sein? Morgen würde er sich in Ruhe umschauen. Seine Augen fielen ihm zu. Morgen, so redete er sich ein, würde er bestimmt erfahren, was hier wirklich vor sich ging. Wie er so darüber grübelte, spürte Yuki, wie sein Geist sich langsam aber sicher immer weiter entfernte. Dann endlich schlief er ein.

~~~

ENDE Yuki 01



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Hellrunner
2011-11-16T11:17:46+00:00 16.11.2011 12:17
Mhhhh, klasse, genau das richtige für einen gemütlichen Vormittag. Schjön geschrieben und gelegentlich einfach nur witzig. Ich habe immer noch damit zu tun, mir Avis als Sprungprothese vorzustellen XD.

Fürs RPG wäre es sicher nicht schlecht, wenn die FF eine Fortsetzung erfahren würde, in der auch der Inselalltag beschrieben wird. Da könnten sich potentielle neue Besucher ein besseres Bild vom RPG machen.

Jetzt habe ich aber noch bissel zu posten!

MfG

Hellrunner
Von:  Cat-girl
2010-07-29T19:31:32+00:00 29.07.2010 21:31
Interessanter Anfang^^
Da hoffen wir doch mal, dass der Kahn nicht auseinander bricht..
der arme, Yuki! Ein schöner Name^^
Wieso, was hat er denn durchmachen müssen?
Dieser Teil von ihm... nicht von ihn...
Der arme Catboy... ich hoffe, er muss nicht kotzen...
warum halten sich die Weibchen von ihm fern?
Süß, ein Catboy, der niemandem etwas tun kann.... mal was anderes^^
Aua! Der arme! *ihn von den Fesseln befrei*
so hart ist doch kein Katzenschweif, dass man damit jemanden erschlagen konnte... der arme Catboy, warum hat man ihn denn so gefesselt?
O.o, das klingt, als hätte er schon früher keine Beachtung bekommen... was ist denn mit ihm... wo kommt er her? *neugierig bin*
Warum hat der Neko ihn ignoriert? Was für ein unfreundliches Wesen...
Wieso denn kranker Vergewaltiger? Yuki! Was hat er denn getan?
Ich würde mich mit ihm unterhalten, egal was er getan hat!

Oh ja! Bitte mach schnell die Fortsetzung... *mit großen Katzenaugen guck* ich will unbedingt wissen, wie es weiter geht und was der Kleine denn nun getan hat!

Ein echt super Anfang^^
das ist mal etwas anderes... ich find die Story aufregend und spannend, konnte mir alles bildlich vorstellen. Eine echt super Story, mach bitte weiter so!

Lg Cat-girl


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