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Nebeljagd

Die Welt hat um ihn herum aufgehört zu existieren; alles ist versunken in ewigem, endlosen Grau. Es ist zu spät, um noch etwas daran zu ändern, und dennoch fällt es schwer, die Hoffnung aufzugeben. Vielleicht, weil er all die Jahre darum gekämpft hat, loszukommen, das weiche Nichts hinter sich zu lassen; vielleicht, weil niemand je verstanden hat, dass die Probleme nicht an, sondern in der Familie liegen. Er hat sich immer wieder vorgestellt, wie das sein würde, wenn er diese eine Person fände, die ihn in die Arme schließen und nicht verdammen, sondern ihm danken würde.

Dem Anschein nach würde das nie mehr geschehen.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl hier zu stehen, umgeben von dem weißen Nebel, in dessen Tropfen die Essenz seiner beiden Brüder, seiner Vaters, seiner Tanten und Onkel und seiner Cousins glänzen, merkwürdig und zugleich befreiend. Zumindest ist er nicht alleine, im Gegenteil, nach der harten Einsamkeit scheint er nun endlich nach Hause zu kommen.

Für einen Moment verliert er sich in diesem Gefühl und lächelt. Dann, mit einem verzweifelten Ruck reißt er sich selbst aus dieser Illusion und versucht aufzustehen.

Verdammt! Jetzt hat es also auch ihn erwischt. Heftig schlägt er sich selbst ins Gesicht, wieder und wieder, bis das Blut aus Nase und Mund rinnt und ein heftiger, aggressiv pochender Schmerz ihn vor den Versuchungen des Nebels schützt. Nur nicht nachgeben, ermahnt er sich und taumelt sichtlos über den steinigen Boden. Wenn er doch nur wüsste, wann er das Ufer aus den Augen verloren hat…

Aber er weiß es nicht, und seine einzige Chance besteht nun darin, das Zentrum zu finden. Feuchtwarm kriecht der weiße Dampf unter seine Kleidung, umschmeichelt sein Gesicht, reizt die Synapsen seiner Haut, während er sich Schritt für Schritt vorkämpft und hofft, dass seine Erfahrung ihn in die richtige Richtung führt. Und wenn nicht, fragt es hämisch in seinem Kopf, was dann? Merken würde ich es wohl kaum, vielleicht ganz am Ende, bevor mein Körper sich auflöst und zu wässriger Luft wird, vielleicht würde ich dann begreifen, was geschehen ist, dann, wenn es zu spät ist…

Doch für solche morbiden Gedanken hat er keine Zeit.

Es ist irritierend den unebenen Boden unter den Füßen zu spüren und trotzdem mit den Augen nichts anderes wahrnehmen zu können als eine endlose Beschränktheit, irritierend und zugleich einschüchternd. Doch immer, wenn erst die Furcht und dann die Ruhe ihn zu überwältigen drohen, findet seine flache Hand oder der knochige Handrücken sein blutiges Gesicht.

Nicht nachgeben, ermahnt er sich. Jetzt nur nicht nachgeben.

Schließlich, endlich, nach einer Zeitspanne, die seiner Erfahrung nach nicht mehr als fünf Stunden und nicht weniger als fünfzehn Minuten umfassen kann, sich in seinem Empfinden aber wie Tage ausbreitet, spürt er ein sanftes Vibrieren und kann sein Glück nicht fassen.

Hat er es wirklich gefunden?

Je weiter er geht, desto mehr Widerstand spürt er, das graue Nichts verdichtet sich mit jedem Schritt. Es ist jetzt auch nicht mehr grau, sondern scheint immer gleißender, als nähere er sich einer kleinen Sonne; er lächelt grimmig, denn ihm ist bewusst, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.

Inzwischen presst er seinen Körper mit Gewalt durch die immer solider scheinende Materie, deren Lockrufe ihn verführen wollen. Am Rande des Wahnsinns bricht er sich die Nase, um den letzten Rest Verstand zu konservieren, geht weiter, obwohl der Gegendruck ihm die Luft nimmt, presst, arbeitet, beißt sich die Zunge blutig um dem verhängnisvollen Wispern zu entgehen…

Und mit einem Mal erfüllt ihn das Weiß, das Licht, der Nebel, er ist er selbst und zugleich ein Räuber von unglaublichen Ausmaßen, schnell, lautlos, unberechenbar, er spürt den Hunger, die Gier, die Glut in seinem Inneren die zu eine alles verzehrende Feuer wird, triumphierend auflodert und jede Menschlichkeit aus ihm vertreibt. Er ist alles, fühlt alles, spürt Felon und Ardo, Tolan, Risa und Loan, nimmt sie in sich auf, brennt weiter.

Und dann, als er erfüllt ist und selber jeden Tropfen und jede Präsenz fühlen kann, wird er aus der Asche seiner Humanität wiedergeboren und badet im warmen Gefühl seiner Wut. Es wandelt sich, das Feuer in seinen Zellen, es wird tatsächlich sein Feuer und strömt durch seine Fingerspitzen, seine Zehen, durch jede einzelne Pore hinein in den Nebel, in jeden Tropfen, in jeden Winkel. Er verliert wieder die Kontrolle, doch dieses Mal ist es gut - dieses Mal ist er das Zentrum und der Neben vergeht in ihm.

Und du kannst dir nicht die Beine brechen, denkt er hämisch, bevor er dem Nebel seinen Willen aufzwingt und ihn mit jeder Hirnzelle bekämpft.
 

Es kann nicht länger als dreißig Minuten gedauert haben, doch er fühlt sich so erschöpft, als habe er Tage hier gestanden. Das graue Nichts ist verschwunden; er selbst lebt noch.

Dieses Mal, wispert es in seinem Kopf, und ihm entgeht nicht, dass die Stimme eine Nuance dazugewonnen hat, ja, dieses Mal. Aber du kannst nicht immer gewinnen… Niemand kann immer gewinnen.

Müde schüttelt er sich und versucht, das hämische Flüstern zu überhören. Seine Beine fühlen sich unsagbar leer an, sein Kopf dröhnt von den vielen Schlägen und seine Nase schwillt langsam an. Der metallische Geschmack in seinem Mund ist stechend und ihm wird bewusst, dass er nur auf einem Auge sieht. Hoffentlich ist es nur zugeschwollen.

Doch er kann das nicht verifizieren, denn mit einem Mal sieht er eine Menschentraube, die sich ihm nähert. In ihren Gesichtern kann er lesen, dass auch sie es nicht verstehen werden, und so dreht er sich um und hofft, dass er genug Kraft aufbringen kann, um der Befragung zu entgehen.

Er würde es ihnen gerne sagen.

Es liegt nicht an, sondern in der Familie.

Aber wer sollte ihm glauben? Die Nebeljagd hat ihn viel gekostet, und das, obwohl er immer versucht hat, sich dem Gesetz seiner Familie zu widersetzen. Er ist gar kein Jäger, hat nie dieselbe Empfindung von Pflichterfüllung gehabt wie die anderen Mitglieder seiner Familie.

Für ihn ist es ein Fluch, kein Segen; nur darin unterscheidet er sich von seiner Familie.

Darin, und dadurch, dass er lebt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Veroko
2010-11-03T21:35:58+00:00 03.11.2010 22:35
Mir gefällt diese Geschichte auch sehr gut. Man wird zwar komplett im Dunkeln gelassen und man hat keine Ahnung, worum es überhaupt geht, aber sie ist mystisch und läd ein, sich eigene Gedanken zu machen.

Der Nebel erinnert mich an Moers' Nebelqualle, ein lebendiges Wesen. Dadurch wirkt alles so fantastisch und das bringt Spannung in die Geschichte. Ein bisschen Enttäuscht ist man dann gegen Ende dennoch, weil man die ganze Geschichte über darauf gewartet hat, aufgeklärt zu werden.

Den Stil finde ich wiederum nicht vollkommen passend. Es ist nicht so, dass sich die Geschichte schlecht lesen lässt. Ich glaube, es liegt eher daran, dass ich Selbstverstümmelung nicht besondern mag. Ich finde, in einer Handlung mit dem Potential könnte sich eine andere Lösung finden lassen.

Aber ich bleibe dabei, es gefällt mir =)

Liebe Schreibziehergrüße
Laurel
Von: abgemeldet
2010-09-20T15:03:11+00:00 20.09.2010 17:03
Hallo,
die Glut in seinem Inneren die zu eine alles verzehrende Feuer wird,
Bei "eine" scheint dir ein "m" zu fehlen, wenn ich mich nicht irre.

dieses Mal ist er das Zentrum und der Neben vergeht in ihm.
Meinst du Nebel?

Das ist jedoch auch schon alles, was ich zu fragen habe.
Ich mag dein Kapitel! Man erfährt recht wenig, beispielsweise nicht, was ein Nebeljäger überhaupt ist, und ob seine Tätigkeit aus mehr besteht als nur darin, heil aus dem Nebel davon zu kommen. Man erfährt nicht viel über deinen Protagonisten, und doch eine Menge.

Man weiß kaum etwas - aber das macht nichts, den man fiebert mit deinem Nebeljäger mit, hofft und bangt, dass er es schaffen wird.
Dadurch, dass die Gedanken so klar vom Text getrennt und doch mittendrin sind, weiß der Leser gar nicht wie ihm geschieht, und beinahe fühlt es sich an, als wäre man selbst zu allen Seiten von gräulich-weiß waberden Mauern umgeben.

Und man freut sich tierisch, als er es schafft, das Ende erreicht - auch, wenn es bedauernswert ist, dass er nun allein da steht.
Apropos, ich habe doch noch eine Frage: War seine Familie schon tot, bevor er sich dort hineingewagt hat, oder beginnt die Geschichte unmittelbar nach ihrem Tod?

Hieraus könnte man sicher etwas längeres zaubern. Falls dir eines Tages der Sinn dannach stehen sollte, meldest du dich dann bei mir?
Liebe Schreibziehergrüße
Polaris


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