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Groß werden - Eine steinige Kindheit

von

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Die wunderschöne, blauhaarige Frau mit den dunkelbraunen Augen lächelte huldvoll, als ihr dreijähriger Sohn das Stück Kuchen fallen ließ, welches er so krampfhaft versucht hatte, ordentlich zu halten, so wie sie es ihm beigebracht hatte.

Es fiel auf den kostbaren Perserteppich, den ihr Mann ihr erst in der letzten Woche von einer seiner vielen Dienstreisen mitgebracht hatte.

Ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen jedoch zogen sich einen Moment lang unheilvoll zusammen, dann stimmte sie in das Lachen ihrer Teefreundinnen mit ein, die das kleine Missgeschick des Kindes nachsichtig betrachteten.

Aber der Junge hatte ihren finsteren Gesichtsausdruck sehr wohl bemerkt und er zuckte ängstlich zusammen. Er wusste, was ihn erwartete, wenn die Gäste erst einmal gegangen waren.

Ein gequältes Lächeln verzog seine Lippen, als eine der Frauen ihm tröstend den Kopf tätschelte und ihm half, die gröbsten Überreste des Kuchens vom Boden aufzulesen.

„Nun mach doch nicht so ein Gesicht.“, versuchte die Frau ihn aufzumuntern. „Das ist doch nicht schlimm. Nachher kommt die Putzfrau und dann ist alles wie neu.“

Sie wandte sich an ihre Gastgeberin. „Eleonore, du solltest mal sehen, wie es bei uns aussieht, wenn meine beiden einmal richtig loslegen. Dagegen ist der kleine Jesse hier ein wahrer Engel.“

Der Junge wagte nicht, etwas darauf zu erwidern, während seine Mutter in künstliches Lachen ausbrach.

„Ja, du hast recht. Wir achten aber auch sehr darauf, dass er kostbare Dinge zu schätzen lernt und genau weiß, wie er sich zu verhalten hat.“
 

Wenig später fiel die Eingangstür hinter ihren Gästen ins Schloss, das Dienstmädchen verdrückte sich schnell wieder an ihre Arbeit und zurück blieben Mutter und Kind.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, sobald sie allein waren. Finster verzog sie den Mund, ihre Augen blitzten drohend, als sie sich an ihren Sohn wandte.

„Und nun zu dir du ungezogener, dreckiger, kleiner Dreckspatz! Wie kannst du es wagen…“ Mit jedem Wort war sie einen Schritt auf den Kleinen zugetreten, welcher ängstlich zurückwich und furchtsam zu ihr aufsah. „Dir werde ich beibringen, was es heißt, kostbare Dinge so sorglos zu behandeln und dich dermaßen unklug und unmanierlich daneben zu benehmen…“

Tränen traten ihm in die Augen, aber das war ihr egal, dass wusste der Kleine. Es hatte sie noch nie gekümmert.
 

*****
 

„Mama, warum darf ich nicht in den Kindergarten wie Robert und Luisa?“ Fragend sah der inzwischen fünfjährige Jesse seine Mutter an.

Sie blickte von ihrem Nachmittagstee auf und sah ihn finster an.

„Möchtest du das denn gern?“, fragte sie streng. „Den Tag mit spielen vergeuden meine ich?“

„Ich weiß es nicht.“, entgegnete er unsicher. „Sie erzählten, dass man in einem Kindergarten den ganzen Tag mit anderen Kindern zusammen sein kann und dass es ihnen gefällt.“

Eleonore Blue ließ sich viel Zeit mit ihrer Antwort, dachte angestrengt nach, während ihr Sohn inzwischen schon bereute, mit diesem Thema angefangen zu haben.

„Du willst also lieber dumm und ungebildet bleiben und deinen Spaß zu haben, während ich dir hier mühsam versuche, das Lesen und Schreiben, sowie das Rechnen beizubringen, damit dein Vater stolz auf dich ist? Ist dir das lieber?“, sagte sie schließlich. „Denn eines sage ich dir gleich, dein Vater wird es nicht billigen, genauso wenig wie ich. Wer will schon ein dummes, unvernünftiges Kind, welches in den Tag hineinlebt, anstatt darauf hinzuarbeiten, einmal große Dinge zu vollbringen, die Welt zu verändern, berühmt zu werden? Wir jedenfalls nicht. Aber bitte, wenn dies dein Wunsch ist, mein Sohn, dann kann ich dich gleich morgen in einem Kindergarten anmelden, das ist für mich gar kein Problem. Aber dann kann ich auch gleich einen Schlafplatz in einem Kinderheim reservieren, denn hier wäre dann kein Platz mehr für dich.“ Mit jedem Wort wurde ihre Stimme schriller und inzwischen bereute der Junge sehr, sie darauf angesprochen zu haben. Vor dem Kinderheim hatte er große Angst. Seine Mutter hatte ihm so oft prophezeit, wie schlimm und dumm die Kinder da waren, er wollte auf gar keinen Fall dahin.

„Nein Mama, bitte nicht!“, flehte er nun mit leiser Stimme. „Es tut mir leid, dass ich dich danach gefragt habe. Es war nur meine Neugier, die mich zu diesem Satz verleitet hat und ich werde es nie wieder erwähnen. Ich bin dir doch so dankbar dafür, dass du jeden Tag mit mir lernst und ich durch dich klüger und besser bin als die anderen Kinder. Ich möchte doch, dass ihr stolz auf mich seid, Papa und du.“
 

Zufrieden nickte sie und lehnte sich zurück.

„Dir sei verziehen mein Sohn.“, meinte sie lächelnd. „Du darfst dich jetzt auch entfernen und weiter deine Aufgaben lösen. Morgen kommt dein Vater nach Hause und wenn er sieht, wie viel du diese Woche wieder gelernt hast, dann wird er sehr stolz auf dich sein.“

Jesse atmete erleichtert auf und erhob sich dann folgsam.

„Danke Mama.“ Er beugte sich nach vorn, gab ihr einen Kuss auf die Wange und begab sich dann aus dem Salon in sein Zimmer an den Schreibtisch, wo noch seine heutigen Mathematikaufgaben lagen.

Eleonore blieb zurück und überlegte finster, wie sie den Kontakt zwischen den Kindern ihrer Freundinnen und ihrem Sohn unterbinden konnte. Sie setzten ihm Flausen in den Kopf und das gefiel ihr überhaupt nicht. Jesse war ihr Kind und nur sie allein wusste, was gut für ihn war.
 

*****
 

Eine Woche nach Schulbeginn wurde der achtjährige Jesse von seiner Mutter in ihr Zimmer gerufen.

Er klopfte an und trat dann ein.

„Du wolltest mich sehen Mama?“

Sie saß an ihrem Schreibtisch, vor sich die Liste mit den außerschulischen Vereinen, die er ihr vor einigen Tagen mitgebracht hatte. Freudig sah er, dass sie einen Stift in der rechten Hand hielt und dabei war, einige Anmeldeformulare auszufüllen.

„Ich habe auch auf Anraten deiner Lehrer hin beschlossen, dich an drei Tagen in der Woche nachmittags an diesen Gemeinschaftsgruppen teilnehmen zu lassen. Es sieht auf dem Lebenslauf auch sehr gut aus, wenn wir deine Bewerbung beim Kavallerieoberkommando in einigen Jahren schreiben.“, begann sie. „Mehr kann ich nicht zulassen, da sonst die Gefahr besteht, dass deine schulischen Leistungen darunter leiden werden. Du bist so klug, dass man dich direkt in die dritte Klasse eingeschult hat, was deinen Vater und mich sehr stolz macht. Wenn du allerdings zu wenig Zeit für die Schule hättest, dann bleibst du womöglich sitzen und dass willst du doch auch selbst nicht.“

Jesse schüttelte entschieden den Kopf.

Nein, dass wollte er auf gar keinen Fall. Diese Schmach könnte er nicht ertragen. Er war Klassenbester und er würde es auch bleiben, egal wie viel er dafür lernen müsste. Seine Eltern waren stolz auf ihn und das sollten sie auch weiterhin sein.

Sie wandte sich erneut den Zetteln vor ihr auf dem Tisch zu.

„Ich habe dich für die Kampfsportart Karate eingetragen, was gut für deine körperliche Fitness sein wird, außerdem für Schach, damit dein strategisches Denken gefördert wird und für die Gemeinschaft Wissenschaft und Natur. Ich habe mich informiert und da werdet ihr eigene Forschungsprojekte erarbeiten, wodurch du dein theoretisches Wissen von Technik und Natur aus dem Unterricht praktisch vertiefen kannst.“ Sie las noch einmal den Zettel mit den Möglichkeiten, welche die Schule den Kindern bot. „Der Rest kommt nicht in Frage. Fußball oder Baseball sind Sportarten, wo es nur ums Rennen und Raufen geht. Ich sehe keinen Sinn darin, dass du wie einundzwanzig andere Dummköpfe einem Ball über einen Rasen hinterher rennst. Oder Rudern und Schwimmen, das ist genauso wenig gut für dich. Du kannst sehr gut schwimmen und rudern brauchst du nicht zu lernen, dass wirst du nie im Leben brauchen. Der Rest ist genauso sinnfrei oder es sind Mannschaftssportarten. Das ist nichts für dich. Du bist der Beste, in einer Mannschaft hast du nichts zu suchen, denn du bist besser als alle anderen.“, erklärte sie ihm ihre Entscheidungen.

Jesse setzte eine ausdruckslose Miene auf und nickte. „Danke Mutter, deine Wahl ist sehr vorteilhaft für meine weiter Entwicklung.“

Eleonore war zufrieden. „Sehr gut, ich bin froh, dass du dies auch so siehst.“ Sie schob ihm die ausgefüllten Anmeldezettel hin. „Dann darfst du jetzt auch gehen. Mehr wollte ich mit dir nicht besprechen und außerdem bekomme ich gleich Besuch.“

Jesse verabschiedete sich artig und verließ mit den Papieren den Raum.
 

In seinem Zimmer angekommen, zwang er sich, die Tür leise zu schließen, ehe er sich enttäuscht von innen dagegen lehnte.

Wieder einmal waren seine Hoffnungen enttäuscht worden. Er hatte sich so sehr gewünscht, dass sie ihn in die Fußballmannschaft gehen lassen würde. Jeden Dienstag im Nachmittagsunterricht beobachtete er sehnsuchtsvoll das Training der Großen, während er über den Aufgaben grübelte.

Er hatte sich vorgestellt, dass er bald mit ihnen um die Wette nach dem Ball jagen würde und ein Tor nach dem anderen schießen. Es war so ein simples Spiel, aber es war für ihn so ungemein anziehend und er hätte vielleicht endlich einmal dazu gehört, hätte Freunde gefunden und wäre nicht mehr nur der Klassenstreber geworden.

Eine einzelne Träne rollte über seine Wange, aber heute machte er sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.

Wenn Eleonore Besuch bekam, dann hatte er für einige Stunden seine Ruhe.
 

*****
 

Die Schule schloss er als Jahrgangsbester ab, durfte die Abschlussrede halten.

„Streber!“, murmelten die Jungen seiner Klasse dem fast sechzehnjährigen Jesse hinterher, als er an ihnen vorbei als Erster aufs Podium trat.

Es war ihm egal. Wer waren sie schon? Lauter Niemande, die keine Chance hatten, jemals aus ihrem kleinkarierten Leben zu entkommen. Sie waren weder sonderlich intelligent noch schien es sie zu bekümmern, dass sie ihr Leben bereits jetzt schon fast hinter sich hatten, eingebunden in die Zwänge, die ihre Umgebung ihnen auferlegt hatte. Viele von ihnen würden noch ein mittelklassiges College besuchen, dann heiraten und Nachwuchs in die Welt setzen, während sie langweilige Arbeiten an irgendeiner Maschine verrichteten.

Keiner von ihnen konnte es mit ihm aufnehmen, denn er war der Einzige aus seiner Klasse, welcher im Eliteinternat des Kavallerieoberkommandos aufgenommen war. Noch in dieser Woche würde er auf den Planeten Yuma reisen, ins geheime Ausbildungslager der Kadetten unter Leitung von General White Hawke.

Jesse wusste alles über ihn, er bewunderte ihn seit langem und er hatte sich vorgenommen, einmal so weit hoch in der Rangliste zu kommen wie der General oder sein anderes Vorbild, Commander Eagle.
 

Jesse lächelte, während er auf sie heruntersah, seine ehemaligen Klassenkameraden und die versammelten Eltern.
 

Von seiner Familie war nur seine Mutter erschienen.

Sein Vater war vor einigen Jahren auf einer seiner Reisen ums Leben gekommen, mit dem Auto verunglückt.

Jesse hatte es wenig berührt. Er hatte den dunkelhaarigen Mann kaum gekannt, zu oft war er weg gewesen hatte ihn mit Eleonore allein gelassen, hatte zugelassen, dass diese ihm die Kindheit nahm und ihn zum Mittelpunkt ihres eigenen trostlosen Daseins gemacht hatte.

Wie oft hatte er ihn dafür gehasst, heute war er dankbar, denn ohne den Reisejob seines Vaters hätte die Mutter sich vermutlich nicht so viel Zeit nehmen können, ihren Sohn mittels Leistungsdruck und Angst groß zu ziehen.
 

Sein Blick wanderte zu Eleonore, die mit starren Augen zu ihm aufsah, die Blicke von Mutter und Sohn trafen sich.

Sein Mund lächelte, der Blick seiner Augen dagegen war eiskalt, während der ihre wirr wirkte, als ob sie nicht genau wüsste, wo sie sich befand. Vielleicht war dem wirklich so, vielleicht hatte sie es vergessen. In letzter Zeit vergaß sie vieles und lebte mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart.

Jesse empfand kein Mitleid.

Im Gegenteil, endlich war ihr Werk an ihm beendet, ihre Herrschaft über sein Leben vorbei.

Sie war krank und allein und noch heute würde sie in das Pflegeheim zurückkehren, in welchem sie nach ihrem Schlaganfall vor drei Monaten jetzt lebte. Sie war teilweise gelähmt, sie konnte nicht mehr sprechen, jede Art von Verständigung fiel ihr schwer.

Jesse dagegen genoss es. Endlich war er frei von ihrer Umklammerung, der jahrelangen Unterdrückung.
 

Das Kavallerieoberkommando hatte unmittelbar nach dem Anfall die Vormundschaft über ihn übernommen, weil er sowieso schon in die Reihen der Kadetten aufgenommen war. Bis er das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, würden sie über ihn bestimmen können, aber im Gegensatz zum Leben bei seiner Mutter würde er diese Bestimmungen gern auf sich nehmen.
 

So verbaut seine Kindheit auch gewesen war, so sehr der Druck und der Drill seiner Mutter auch auf ihm gelastet hatte, er wusste, er würde alles daran setzen, der Beste zu bleiben um sich eines, nicht allzu fernen Tages, niemandem mehr unterordnen zu müssen.
 

Er würde Großes verrichten und der Herrscher sein, dem alle gehorchten und den alle für seine Taten lieben und veehren würden.
 

Ende
 

Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-11-30T14:27:12+00:00 30.11.2012 15:27
Gute Geschichte. Und nachvollziehbar ist sie auch.
Von:  Kittykate
2010-06-24T18:49:22+00:00 24.06.2010 20:49
Oh wow,

das ist mal eine ganz andere Perspektive von Jesse. Der arme Junge hat mir richtig leid getan.

Super, hat mir gefallen.

Viele Grüße


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