Zum Inhalt der Seite

Hungerstreik

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

»63«, hatte sie gesagt. 63 Kilogramm.

Es ist der fünfte Tag. Gerade einmal. Er fragt sich, wie viel er selbst wohl wiegt. Er kann es nicht sagen, nicht einmal schätzen. Er ist nicht dick, aber auch nicht dünn. Er ernährt sich gesund, geht häufig laufen. Normalerweise täglich, doch seit ein paar Tagen ist er nicht einmal mehr aus dem Haus gegangen.

Der Kühlschrank ist fast leer. Eigentlich ist er es. Ein Apfel liegt noch darin. Warum er einen Apfel in den Kühlschrank gelegt hat, weiß er selbst nicht mehr. Wahrscheinlich schmeckt er nicht einmal mehr. Für einen Moment spielt er mit dem Gedanken, es Kieran gleichzutun.

Doch aus welchem Grund? Aus Faulheit? Das wäre erbärmlich. Um ihn zu unterstützen? Nicht ganz so erbärmlich, aber ebensowenig sinnvoll. Für die gleichen Ziele wie er? Unlogisch.

Er steht mit einem Ruck auf, geht zur Tür und nimmt sich seine Jacke. Er spürt, wie sein Magen knurrt. Nach gerade mal ein paar Stunden ohne Nahrung. Wie würden sich wohl Tage anfühlen? Versuchend, den Gedanken zu verdrängen, macht er sich auf den Weg zu der Wohnung seiner Eltern, die Evergreen Street hinunter, dann nach rechts auf den Sullivan's Quay.
 

»Seán! Wie siehst du denn aus?«

Er zuckt bloß mit den Achseln und seine Mutter fährt fort: »Komm' erstmal rein. Weißt ja, wo du die Jacke aufhängen kannst. Wir sind gerade am Essen. Möchtest du auch was?«

Er nickt bloß, erneut macht sich sein Magen lautstark bemerkbar.

Sie muss seufzen. »Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?«

Er zuckt die Schultern.

Ein erneutes Seufzen. »Also, dann beeil' dich, sonst isst dein Vater dir alles weg.«
 

»Das nenne ich einen gesunden Appetit!«, bemerkt dieser wenig später.

»Er hat seit zwei Tagen nichts mehr gegessen«, hält seine Mutter dagegen und er hat keine Lust, sie zu verbessern. Schließlich ist das wirklich etwas zu dramatisch ausgedrückt.

Sein Vater sieht auf. »Wie bitte? Du hast seit zwei Tagen nichts mehr gegessen?«

Er schüttelt den Kopf.

»Und warum sagt deine Mutter dann so etwas?«

Deine Mutter. Als ob es nicht auch seine Ehefrau wäre.

Er zuckt mit den Schultern und sein Vater seufzt. »Was ist das bloß für eine Familie?«, fragt er scherzhaft, doch keiner lacht.

Seine Mutter stellt ihm einen dampfenden Teller vor die Nase. »Jetzt iss erstmal«, sagt sie.
 

»Seán..«, erkundigt sie sich einige Momente später vorsichtig, »du hast ja noch gar nichts gesagt. Das hat jetzt aber nichts mit Kieran zu tun oder?«

»Lass den Jungen erst einmal essen«, murmelt sein Vater leise, doch es ist zu spät.

Langsam hebt er den Blick, seine grauen Augen bohren sich in die seiner Mutter. Sie wissen davon? Sie wissen, dass Kieran im Gefängnis sitzt und... was er tut?

»Jetzt hast du den Salat.« Lautstark räuspert sich sein Vater, dann steht er auf und verlässt die Küche.

»Ja!«, ruft ihm seine Mutter wütend hinterher, »lauf nur immer davon!«

Verwirrt blickt er zwischen seinen Eltern hin und her. Seit wann gibt es da diesen bestimmten Tonfall zwischen ihnen? Er hatte sie immer bewundert. Sie waren früh Eltern geworden, sehr früh. Doch im Gegensatz zu vielen anderen waren sie es nicht schnell leid geworden. Sie waren zusammen geblieben. Für ihn. Streit gab es nur selten. Wenn, dann nur über dieses Thema. Über das momentan keiner mehr sprechen möchte.

Seine Mutter wendet sich jetzt wieder ihm zu. »Seán, Möchtest du darüber reden?«

»Ihr wisst es.«, ist das einzige, was er antwortet. Leise. Ein wenig ungläubig.

Sie lacht vorsichtig. »Ja, wir wissen es. Nichts hat die Menschen hier in Irland in den letzten paar Jahren so sehr aufgewühlt wie das hier. Natürlich wissen wir es.«

Ohne ein weiteres Wort steht er auf und verlässt die Küche.

»Hey!« Sie springt auf und eilt ihm hinterher. »Hast du jetzt etwas anderes erwartet?«

Er antwortet nicht. Wenn er ehrlich ist, hatte er nicht gewusst, was er erwartet hätte. Natürlich, sie hat Recht, man kann dem Thema gar nicht mehr ausweichen. Es ist überall. In den Zeitungen, im Radio. Und doch – er ist enttäuscht. Enttäuscht davon, dass sie es ihm nicht gesagt hatten. Er nimmt sich seine Jacke.

»Seán...« Vor der Tür hält ihn seine Mutter noch einmal auf. »Bitte versprich mir, dass du jetzt nichts Unüberlegtes tust. Es bringt nichts, jetzt überstürzt nachBelfast aufzubrechen, auch dort sind die Menschen hilflos. So wie wir. Du wirst nichts bewirken können alleine aus dem Grund, dass du in Belfast bist, okay? Außerdem..«, fährt sie fort und blickt ihren Sohn fast schon entschuldigend an, »solltest du nicht vergessen, dass Kieran nicht grundlos in Long Kesh ist. Ich weiß, dass das schwer ist, aber auch in dieser Zeit müssen wir versuchen, vernünftig zu denken. Vernünftig zu handeln. Zu sein.«

Er befreit sich aus ihrem Griff, öffnet die Tür. »Ich glaube..« Seine Stimme klingt nur mühsam beherrscht.»Ich glaube, ihr seid die einzigen Iren, die momentan noch in der Lage sind, vernünftig zu denken.«

Dann verlässt er die Wohnung.
 

-“Everyone, Republican or otherwise, has their own particular part to play. No part is too great or small, no one is too old or too young to do something.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück