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Gefühle

von

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4.

Mit rasendem Herzen und schwitzigen Fingern kramte ich den Haustürschlüssel aus meinem Rucksack und steckte ihn, so leise ich konnte, ins Schloß. Aber es war nicht leise genug. Kaum steckte er ganz drin, als die Tür von innen aufgerissen wurde und ich vor meinem Vater stand. Als er mich sah, war sein Gesicht erfüllt mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung. Da die Situation für uns beide neu war, stand er erst einmal ein paar Sekunden nur da und suchte nach Worten, die er aber schließlich fand. „Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, fuhr er mich mit gedämpfter Stimme an. „Wo warst du?!“

Ich befeuchtete meine trockenen Lippen, bevor ich ebenso leise erwiderte: „Ich… ich war bei Freunden. Ganz spontan.“ Meine Stimme zitterte und wieder einmal verfluchte ich meine Schwäche. Jeder andere in meinen Alter hatte keinerlei Probleme, seinen Eltern die Meinung zu sagen und für sich selbst einzustehen, manchmal sogar mehr als nötig, nur ich schaffte es nicht. Unter dem Blick von meiner Mutter oder meinem Vater knickte ich regelmäßig ein.

„Ganz spontan.“, äffte er mich nach. „Dir ist wohl nicht ganz klar, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben?! Was ist nur los mit dir, dass du auf einmal mit solchen Sachen anfängst?“

„Ich… ich...“, stotterte ich, aber mein Vater erwartete gar nicht, dass ich ihm darauf eine Antwort gab. „Und gelernt hast du auch nicht! Was für ein vergeudeter Tag! Denk an deinen Abitur-Schnitt und an deine Zukunft. Dann wirst du solche Sachen sicher nicht noch einmal machen!“

Jetzt wäre wieder einmal einer dieser Augenblicke gewesen, wo ich ihm hätte sagen sollen, wie furchtbar egal mir mein Abi-Schnitt war. Dass ich mich heute zum allerersten Mal seit langer Zeit wieder richtig wohl gefühlt hatte. Dass ich niemals vorhätte, Medizin oder Jura zu studieren. Und das sie mich mit ihrem elendigen Druck und ihren guten Noten mal kreuzweise konnten.

Aber ich tat es nicht. Stattdessen senkte ich den Kopf und murmelte: „Entschuldigung. Es wird nie wieder vorkommen.“

„Das hoffe ich auch!“, erwiderte mein Vater unversöhnlich. „Und jetzt sieh zu, dass du ins Bett kommst.“

Gehorsam ging ich die Treppe hoch und in mein Zimmer. Ich warf meinen Rucksack in die Ecke und erst in diesem Moment überkam mich die Wut, die ich vorhin so dringend gebraucht hätte, um meinem Vater endlich einmal die Stirn zu bieten.

Stattdessen ging ich wie so oft zu meinem Boxsack und schlug so lange auf ihn ein, bis ich keine Kraft mehr hatte. Dann putzte ich mir die Zähne, zog mich um und legte mich ins Bett. Doch so müde ich auch war, ich konnte nicht einschlafen. Aber ich musste nicht nur an Francis denken, an das, was er mit mir gesprochen hatte, an den Klang seiner Stimme und an die Szene, in der er mich am Träger festgehalten hatte.

In diesem Moment beneidete ich ihn auch um seine Stärke. Er ließ sich nicht von seinen Eltern beeinflussen, er war einfach er selbst.

Wieso konnte ich nicht so stark sein?

Einem plötzlich Impuls folgend sprang ich aus dem Bett, öffnete leise die Tür zu meinem Zimmer und schlich im Dunkeln die Treppe hinunter zu der Garderobe und holte aus meiner Jackentasche den Zettel mit Francis' Nummer. Leise ging ich wieder zurück in mein Zimmer und als wieder im Bett lag, erwischte ich mich dabei, wie ich mit dem einen Ende des Zettels leicht über meine Wange strich. Erschrocken legte ich ihn auf den Nachttisch, drehte mich zur Wand und zog mir die Decke über den Kopf.

Was machte ich bloß für Sachen zur Zeit? Ich erkannte mich selbst kaum wieder.
 

Am nächsten Morgen beim Frühstück musste ich auch noch die Vorwürfe meiner Mutter über mich ergehen lassen und fühlte mich richtig mies. Ich war froh, als ich endlich zur Schule gehen konnte.

Kai wartete an der üblichen Ecke auf mich. In der letzten Zeit hatte mehr oder weniger Funkstille zwischen uns geherrscht. Er war ein wenig angefressen darüber, dass ich ihn damals nicht zurückgerufen hatte und zeigte mir das auch deutlich, aber als er merkte, dass es mich nicht sehr beeindruckte und ich mit meinen Gedanken ständig ganz woanders war, ließ er es sein.

Die Schulwege hin und zurück liefen zum größten Teil schweigsam ab, aber an diesem Tag hielt er es nicht mehr aus, packte mich am Arm und sah mich eindringlich an. „Julian, jetzt sag mir doch endlich, was mit dir los ist?!“

Ich zog die Schultern zusammen. „Was soll denn mit mir los sein? Das ist heute eben nicht mein Tag.“

Er verdrehte die Augen. „Seit Beas Party ist doch bei dir jeder Tag nicht dein Tag!“ Plötzlich grinste er bis über beide Ohren. Jetzt weiß ich, was mit dir los ist. Du hast dich total verschossen. Irgendeine von Beas Freundinnen. Wer ist es? Julia? Lina? Also, Lina könnt ich verstehen, die sah ja echt heiß aus an dem Abend.“ Er begann von Lina zu schwärmen, an die ich mich nur deswegen erinnern konnte, weil sie an diesem Abend furchtbar hässliche weiße Stiefel getragen hatte.

„Ich bin nicht verliebt!“, fiel ich ihm ins Wort, aber das wischte er mit einer Handbewegung beiseite. „Ach, erzähl mir nichts. An dir sieht man doch die klassischen Zeichen. Du redest nicht mehr viel, du träumst ständig, du denkst eben nur an deine Traumfrau. Wer ist es, komm sag’s mir doch. Ich erzähle es auch nicht weiter, das schwöre ich!“ Er drang immer weiter auf mich ein und irgendwann ging er mir nur noch auf die Nerven.

„Ich bin nicht verliebt!“ schrie ich ihn an, doch das beeindruckte ihn nicht. „Man Julian, jetzt reg dich deswegen doch nicht so auf. Ich sag’s dir noch mal: Mir kannst du’s ruhig anvertrauen, ich werde es nicht weiterzählen.“

Jetzt hatte ich endgültig genug. „Hör zu.“, sagte ich. „Wenn du jetzt nur noch darüber reden willst, dass ich angeblich verliebt bin und wer es vielleicht sein könnte, dann lass mich bitte in Ruhe oder rede jetzt auf der Stelle von irgendetwas anderem!“

Er hörte die mühsam unterdrückte Wut in meiner Stimme und erkannte, dass es mir wirklich ernst war. Das leicht schelmische Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Schon gut, schon gut. Ich sage nichts mehr.“

Und so verlief der Rest des Schulweges wieder schweigend.

Wie schon in den Wochen davor hockte ich wie Falschgeld im Unterricht. Was die Lehrer sagten, rauschte völlig an mir vorbei und mechanisch wie ein Roboter schrieb ich das, was sie uns diktierten oder an die Tafel kritzelten in meine Hefte.

Am Nachmittag saß ich über meinen Hausaufgaben oder meinen Lernstoff, starrte aus dem Fenster und dachte an Francis und daran, dass ich ihn am Montag vielleicht wiedersehen würde. Und was ich dann sagen oder tun würde.

Das war meine Woche und ein Teil von mir, der das Ganze noch aus der Distanz sah, versuchte mich wieder zurück in mein altes Leben zu ziehen, aber es war bereits zu spät. Und das, obwohl ich mir immer noch sicher war, dass Francis mir nur deswegen so wichtig war, weil er ganz anders war als alle anderen und ich mich nur auf den Montag freute, weil ich da endlich mal wieder etwas machen konnte, das nichts mit Lernen oder Noten zu tun hatte. Das sagte ich mir immer und immer wieder.

Das Wochenende schlich nur da so dahin. Am Samstag fragte mich mein Vater in Biologie ab, weil ich in der nächsten Woche eine Arbeit schrieb und obwohl er mich, immer, wenn er mal kurz einen Blick in mein Zimmer geworfen hatte, mich über den Büchern sitzen gesehen hatte, konnte ich ihm jetzt keine Antwort auf eine von seinen Fragen geben.

Von seiner ruhigen Art war nichts mehr geblieben. Vermutlich hatte sie nur Bestand, wenn die Vorfälle in einem bestimmten Rahmen blieben. Eine zwei plus in der Arbeit zum Beispiel. Aber bei solchen Dingen wie absolutes Nichtwissen fand er dann seine Grenzen. Er schrie mich an, was mir denn einfalle, nur noch ein paar Tage bis zur Arbeit und ich wüsste nichts. Wenn ich jetzt nicht auf der Stelle lernte, dann würde es sicherlich wieder eine zwei werden. Oder sogar eine drei. Er packte mich am Arm, zerrte mich die Treppe hoch, drückte mich auf den Schreibtischstuhl und warf das Buch vor mir auf die Tischplatte. „Jetzt lerne gefälligst! In zwei Stunden komme ich und frage dich noch einmal und wehe, du kannst mir dann wieder nichts sagen!“ Er rauschte davon und knallte die Tür hinter sich in Schloß.

Diese Ansage half mir wenigstens einigermaßen beim Lernen. So verbrachte ich die Hälfte der Zeit mit Träumen und die andere mit dem Aufbau der Zelle und als mein Vater genau zwei Stunden später wiederkam, konnte ich ein paar seiner Fragen auch beantworten. Das besänftigte ihn ein wenig. „Es geht doch! Und jetzt mach gefälligst auch so weiter.“

Natürlich tat ich es nicht, ich starrte aus dem Fenster. Und der distanzierte Teil in mir sah eine Menge Schwierigkeiten auf mich zukommen.

Am Sonntag kam Kai vorbei und bestand darauf, mit mir zu reden. Wir saßen uns in meinem Zimmer gegenüber, er auf dem Bett und ich auf dem Schreibtischstuhl und eine ganze Weile herrschte Schweigen zwischen uns.

Schließlich seufzte er. „Es tut mir wirklich Leid, wenn ich dir schon wieder damit komme, aber als dein Freund muss ich unbedingt wissen, was mit dir los ist! Letzten Monat saßen wir noch in der Kneipe und haben Bier getrunken und jetzt redest du gar nicht mehr mit mir.“

Ich spürte plötzlich ein heftiges inneres Verlangen, ihm zu erzählen, wie es mir im Moment ging, dass ich es mir selbst nicht erklären und nicht wusste, was ich dagegen tun konnte, aber ich kämpfte mit solcher Macht dagegen an, dass ich die Zähne aufeinander presste. Ich konnte es Kai nicht sagen. Er mochte Francis nicht und außerdem würde er mir sicher deutlich ins Gesicht sagen, was ich die ganze Zeit so entschieden von mir schob. Deswegen zuckte ich nur mit den Schultern. „Na ja, Menschen verändern sich eben. Vor allem in unserem Alter, von heute auf morgen. So ist das eben.“

„Ja, so ist das eben.“, wiederholte er und ließ mich dabei nicht aus den Augen und wir beide wussten, dass er mir nicht glaubte. Er seufzte wieder, dann stand er plötzlich auf, legte mir die Hand auf die Schulter und sah mich ernst an. „Was auch immer in deinem Kopf grade stattfindet, du willst es mir wohl nicht sagen und auch, wenn ich es unbedingt wissen will, werde ich dich nicht mehr danach fragen. Ich will dir nur sagen, dass ich immer dein Freund sein werde und du jederzeit zu mir kommen kannst.“

„Danke.“ Ich lächelte ihn einmal kurz an.

„Dann bis Montag,“ sagte er und ging.

Kaum war er zur Tür hinaus, als er auch schon vollkommen aus meinen Gedanken verschwunden war. Ich verbrachte den Rest des Tages damit, am Schreibtisch zu sitzen und auf das Telefon zu achten. Ich war mir zwar sicher, dass Francis nicht heute anrufen würde, aber ich konnte trotzdem nicht anders. Immer, wenn es klingelte, sprang ich auf, lief zum Geländer und hörte gespannt zu, was unten gesprochen wurde. Und ich hatte mich nicht geirrt: Francis rief nicht an.

Auch, als ich am Montag schweratmend nach Hause kam, weil ich fast den ganzen Rückweg gerannt war, hatte keiner für mich angerufen. Ich war so enttäuscht, dass ich für einen Moment am liebsten losgeheult hätte. Doch dann riss ich mich zusammen und hielt mir selbst eine Standpauke. Ich solle mich nicht so anstellen, sooo extrem wichtig wäre dieser Anruf doch auch nicht. Wäre zwar schön, wieder was mit Francis und den anderen zu machen, aber nicht lebensnotwendig. Doch diese Methode war nicht wirklich erfolgreich, da ich ja wusste, dass es genau andersherum war.

Ich saß grade am Schreibtisch und versuchte, mich auf die Latein-Hausaufgaben zu konzentrieren, als meine Mutter ins Zimmer kam. „Ein Anruf für dich…“ Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Ich sprang so heftig von meinem Stuhl auf, dass er nach hinten wegkippte, stolperte auf sie zu und riss ihr das Telefon aus der Hand. „Hallo?“ rief ich atemlos. Mein Herz raste und ich musste einmal schlucken, als ich tatsächlich Francis' Stimme am anderen Ende hörte. „Hi Julian, ich bin’s. Tut mir Leid, ist n bisschen später geworden. Verdammte Schule, du weißt ja wie das ist.“

„Ja.“, krächzte ich, ich war nicht fähig, irgendetwas anderes zu sagen. Ich konnte es eigentlich immer noch nicht ganz fassen, dass er tatsächlich angerufen hatte.

„Hast du jetzt Zeit? Wir können uns an der Kreuzung von letzter Woche treffen. Die Jungs sind sicher schon voll dabei.“

Wieder fiel meine Antwort einsilbig aus. „Klar.“

„Okay, dann bis gleich.“ Er legte auf und ich stand einen Augenblick nur da, starrte vor mich auf den Boden und versuchte das Gefühl des totalen Glücks, das mich grade überkam, herunterzukämpfen. Es war doch nichts besonderes.

„Du willst weg?“ Ich zuckte zusammen, als meine Mutter, die natürlich die ganze Zeit hinter mir gestanden und jedes Wort gehört hatte, mich ansprach.

„Aber du musst für Biologie lernen! Du schreibst am Mittwoch doch die Arbeit!“, rief sie, bevor ich antworten konnte und in diesem Moment tat ich etwas, was ich vorher noch nie gemacht hatte. Ich log. „Ja, das war Paul aus meiner Klasse, wir haben uns heute zum Biolernen verabredet. Ich muss jetzt auch gleich los.“

„Paul?“, wiederholte meine Mutter. „Von dem habe ich ja noch nie etwas gehört. Seit wann trefft ihr euch denn zum Lernen?“

Tausend andere Gedanken rasten durch meinen Kopf und es fiel mir unglaublich schwer, die Lüge weiterzuspinnen. „Er… er ist nicht sehr gut in Bio und heute ist er zu mir gekommen und hat mir gefragt, ob ich ihm nicht helfen kann. Und ich finde, wenn man jemandem etwas erklärt, dann ist das gleichzeitig eine sehr gute Übung.“

Das traf bei meiner Mutter genau den richtigen Nerv. Ihr lieber schlauer Sohn der sein Wissen mildtätig nutze und jemandem, der nicht so intelligent war, half und dabei gleichzeitig noch lernte. Sie strich mir einmal kurz über die Wange, eine Geste, die bei ihr so selten war wie die Wahrung meiner Privatsphäre. „Das ist wirklich lieb von dir. Dann beeil dich mal.“

Da sie weiterhin wie festgegossen im Zimmer stand, blieb mir nichts anderes übrig, als mein Bioheft, mein Biobuch und mein Etui in meinen Rucksack zu packen. Sie begleitete mich noch bis zur Haustür und wünschte mir „produktive Stunden.“

Als sie die Haustür hinter mir schloß, musste ich erst einmal tief Luft holen. Das erste Mal, dass ich gelogen hatte – und es war so furchtbar einfach gewesen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich es überhaupt konnte.

Francis wartete schon am verabredeten Ort, als ich kam. Ich sah ihn und die verschiedensten Gefühle rasten durch meinen Körper, von denen ich aber keine zeigen durfte. Innerlich brodelte ich, aber äußerlich war ich erstaunlich ruhig, als ich zu ihm hinging. „Hey.“, sagte ich.

Er grinste. „Hey. Dann lass uns mal gleich losgehen.“

Wir waren grade einmal fünf Schritte gegangen, als ich mich nicht mehr zurückhalten konnte. „Ich hab vorhin meine Mutter belogen!“, platzte es aus mir heraus.

Er drehte den Kopf und starrte mich an. „Echt? Coole Sache.“ Ich hörte die Anerkennung in seiner Stimme, genau das, was ich auch erreichen wollte. „War ganz einfach,“ fügte ich hinzu und hoffte, dass ich mich einigermaßen lässig anhörte.

Er schlug mir auf die Schulter. „Ich sehe, unser guter Einfluss tut schon seine Wirkung. Sehr schön.“

Den Rest der Strecke ging ich wie auf Wolken.



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