The End
Was ist aus mir geworden?
Das frage ich mich, während ich in den zerbrochenen Spiegel sehe. Ich bin nicht mehr derselbe, schon lange nicht mehr.
Meine blassen Finger streichen vorsichtig über die zerbrochene Scheibe, doch ich spüre den Schmerz nicht, als ich mich an dem kalten Glas schneide.
Fasziniert sehe ich meinem eigenen Blut dabei zu, wie es in zähflüssigen Bächen am Spiegel hinab läuft.
Seine roten Fäden spinnen gleichwohl ein Bildnis, welchen meinem Innersten gleich zu sein scheint, ein wirres Durcheinander, an dem nichts dort ist, wo es hingehört und dennoch alles seine Richtigkeit hat.
Langsam löse ich meine Fingerspitzen von der kühlen Fläche, wende mich von dem Jungen ab, der schon lange nicht mehr ich ist und verlasse das karg eingerichtete Schlafzimmer.
Ich war schon immer ein Mensch, der gerade Linien bevorzugte. Und ebensolche Linien zogen sich durch meine Wohnung.
Ich brauchte die kalte Atmosphäre stilistischer, moderner Möbel, die nichts mit dem wohligen Gefühl eines Heimes gemeinsam hatten.
Ich brauchte keine warmen Farben an den Wänden, die mir das Gefühl gaben, zu Hause zu sein, sondern liebte die kalten Farben, eisiges blau oder weiß, dass mich wissen ließ, dass mein Besuch hier nicht von Dauer sein würde.
Betrübt schloss ich die Augen, während ich mir in der Küche einen Kaffee kochte.
Ich hasste das schwarze Getränk, ich hasste es wirklich. Aber ich trank es dennoch, aus Gewohnheit, weil es mich wach hielt, wenn die Medikamente mich zu müde machten, um mich aus meinem Bett zu erheben.
Ich dachte, diese Antriebslosigkeit wäre das erste Anzeichen einer Depression, doch ich täuschte mich. Es war viel mehr als das. Viel mehr, als ich tragen konnte…
Es gibt keinen, den ich jetzt noch dafür verantwortlich machen kann. Ich habe es aufgegeben, die Schuld anderen in die Schuhe zu schieben, es hätte eh nichts gebracht.
Mir war klar, dass es nicht mein eigenes Verschulden war. Aber ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sein Verschulden gewesen ist.
Denn ich weiß nicht, ob er es wusste, ob er es billigend in Kauf genommen hatte, oder ob er selbst völlig überrascht war, als man es ihm – irgendwann, viel später – gesagt hatte.
Nach Atem ringend ließ ich mich auf meiner Couch nieder, die dampfende Tasse Kaffee noch in der Hand.
Ich nahm einen Schluck des bitteren Getränkes.
Manchmal, da fühlt es sich an, als wenn mein Herz damit zu kämpfen hätte, Öl durch meine Venen zu jagen, Öl, dass sich darin festsetze, nicht willig, vorangetrieben zu werden. Und vielleicht, so dachte ich leidend, war dem sogar so.
Es gab nicht mehr viel, was mein Leben noch auszeichnete, es war nur noch gepeinigt, von immer wieder aufkommenden Symptomen, von Leid. Eigentlich war ich schon so gut, wie tot.
Nur dank der Medikamente fühlte ich keinen Schmerz – eigentlich… fühlte ich gar nichts mehr…
Apathisch starre ich an die Decke und frage mich, was geschieht, wenn ich nicht mehr hier bin.
Ich stelle mir vor, wie sie meine Wohnung ausräumen, die wenigen Möbelstücke versteigern oder auf den Flohmarkt stellen, wie eine Familie hier einzieht und Kinderlachen diese Räume erfüllt.
Früher, da habe ich Kinder nicht gern gehabt. Ich fand sie nervig und laut, fand, dass sie die Ruhe störten, dass sie zu viele Fragen stellten, einen schubsten, weil sie den letzten freien Platz in der U-Bahn wollten, möglichst noch am Fenster.
Jetzt, wo ich weiß, dass ich nie Kinder haben werde, hätte ich gerne welche und sie stören mich auch nicht mehr.
Manchmal, da gehe ich in den Park und sehe ihnen zu, wie sie spielen. Und ich beneide sie darum, beneide sie, weil ich selbst nie Kind war.
Mir kommt ein Bild vor die Augen, meine wenigen Freunde an meinen Grab. Wie werden sie reagieren, wenn sie erfahren, dass es mich nicht mehr gibt. Werden sie traurig sein, oder interessiert es sie so wenig, als wenn eine entfernte Groß-Tante stirbt und man sich nur die Frage stellt, ob sie annähernd genug Geld besessen hat, welches man hoffentlich erbt, um seine Schulden zu tilgen.
Wie wird die Öffentlichkeit reagieren, wenn ein bedeutender Blader stirbt, ein Star, obgleich auch Teamleader des meist gehassten Teams der Welt.
Werden sie trauern? Werden sie meine Leistung in Ehren halten? Oder werden sie sich nur die Frage stellen, wer denn jetzt die Blitzkriegboys leitet? Kai? Bryan?
Mir ist es egal. Es gab eine Zeit, in der dieser Sport alles für mich bedeutete, das Team alles für mich bedeutete. Und die Jungs waren noch immer das Wichtigste für mich.
Aber ich hatte es längst aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen, was aus dem Team wird, voraus zu planen, Trainingspläne zu erstellen – für die nächsten zehn Jahre am Besten.
Das alles hatte ich sein lassen, weil ich wusste, wer auch immer den Job übernehmen würde, würde ihn gut machen.
Der Kaffee ist schon lange kalt und einige Tropfen sind auf den weißen Teppich vor der ebenso weißen Couch getropft, als ich eine unbedachte Handbewegung gemacht hatte.
Seufzend stelle ich die Tasche auf den kleinen, eckigen Glastisch und schlage mir dramatisch die Hand vor die eisblauen Augen.
Die Wirkung der Medikamente lässt nach. Ich spüre einen leisen Schmerz beim Atmen. Ich könnte aufstehen und eine Tablette nehmen, aber ich lass es sein.
Ich will spüren, wie die Luft in meine Lungen dringt, wie sie diese reizt, Schmerzen verursacht. Es ist, als wenn ich völlig neu Atem lerne, kurz vor dem Ersticken wieder Luft bekomme. Obwohl es weh tut, ist es, als würde ich neu geboren.
Vielleicht werde ich das sogar, denke ich einen kurzen Moment lang bitter. Vielleicht kann ich noch einmal ganz von Vorne beginnen…
Als es klingelt, erwäge ich einen kurzen Moment, die Türe nicht zu öffnen, stehe dann aber doch auf, gequält inne haltend, weil das Atmen nun noch schwerer fällt und noch mehr schmerzt.
Ich laufe in den Flur, öffne die schwere Holztür und frage mich beiläufig, ob ich irgendwann zu schwach dazu sein werde.
Boris mustert mich von Kopf bis Fuß und sein kalten, ausdruckslosen Blick weicht einem zärtlich-fürsorglichen, während er mich sanft in die Wohnung schiebt.
“Du warst doch erst gestern da,“ meine ich, satt einer Begrüßung.
“Ich freue mich auch, dich zu sehen,“ lächelt Boris und ich bewundere den Blasslilahaarigen dafür, dass er so locker sein kann.
“Was willst du?“, frage ich und lasse mich wieder auf die Couch fallen. Boris verschwindet in der Küche, kommt mit einem Glas Wasser und meinen Tabletten wieder, sieht zu, wie ich sie wortlos einwerfe und schlucke.
“Wieso nimmst du sie nicht einfach?“, will er wissen und ich lächele zynisch.
“Weil es egal ist, ob ich sie nehme. Ich sterbe – so oder so…“
Boris sieht mich traurig an – ja wirklich, traurig, ich glaube es selbst kaum.
Dann beugt er sich vor, streicht mir eine rote Strähne aus dem Gesicht und meint: „So lange ich da bin, stirbst du nicht.“
Und ich glaube ihm. So naiv dieser Gedanke auch ist, ich glaube ihm. Er ist wie ein Abwehrzauber. Er hält mich am Leben. Ich kann nicht sterben, so lange er neben mir sitzt und mit mir redet. Ich kann nicht sterben, solang er mich in seinen Armen hält. Langsam lasse ich mich gegen ihn sinken und er schlingt seine starken Arme um mich.
Darf man lieben, wenn man stirbt? Darf ich es jemanden zumuten, sich in mich zu verlieben, darf ich es zulassen, wenn es ihm letztlich nur Schmerz einbringt.
“Yuriy,“ meint Boris leise und seine Hand streicht sanft über meinen Rücken, „Ich lass dich nicht gehen!“
Als ich es erfahren habe, da hielt ich es für einen Scherz, eine Verwechslung. Woher sollte ich so etwas haben? Ich, der ich doch in den klinischen Laboren der Abtei zu Hause gewesen war.
Dort, wo man so viel Wert auf Sauberkeit und Hygiene legte, um die ganzen Experimente nicht zu verfälschen.
Nie wurde eine Nadel zwei Mal benutzt. Woher also?
Dann dachte ich an die zweite Möglichkeit. Doch nie hatte ich jemanden nur in die Nähe meines Körpers gelassen, nie hatte ich eine Berührung ertragen, ohne sofort abzuwehren. Woher also?
Und dann wurde es mir klar. Es lag an der Ursache, die dazu führte, dass ich keinen an meinen Körper ließ.
Es lag an ihm. An Boris Balkov. Es lag an den vielen Malen, an denen er mich zu sich bestellt hatte, an denen er mich berührt hatte. Und noch so viel mehr.
“Kann es nicht doch nur eine Grippe sein?“, fragte ich erneut, wollte nicht glauben, dass ein wenig Fieber und Halsschmerzen, ein wenig Müdigkeit Zeichen für so eine Krankheit sein konnten.
“Nein, tut mir Leid, Herr Iwanov. Sie sind HIV-positiv.“
“Wenn ich nie zum Arzt gegangen wäre, dann hätten sie nie gemerkt, dass ich positiv bin, dann hätte ich die Krankheit nie bekommen…“, sinnierte ich und Boris gab mir einen Kuss auf den Kopf.
“Red' nicht so einen Unsinn,“ meinte er und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge.
“Warum ich?“, fragte ich leise und unterdrückte das Husten, dass sich in meiner Kehle bemerkbar machte.
“Warum nicht jemand, der es mehr verdient hat, als ich?“
Ich kniff die Augen zusammen, um die Tränen nicht laufen zu lassen. Das letzte Mal, da hatte ich geweint, als meine Eltern gestorben sind.
Und seitdem hatte ich mir geschworen, nie wieder zu Heulen.
Doch jetzt, jetzt war ich nicht mehr stark genug, hatte keine kraft mehr – weder physisch noch psychisch – die Tränen zurückzuhalten. Da half auch das Kneifen nichts.
“Hab ich nicht schon genug leiden müssen?“
Ich war schon immer ziemlich blass und deshalb fiel es gar nicht auf, dass ich immer blasser wurde.
Und dass ich Gewicht verlor, führte ich auf die neue Diät zurück, die ich dem Team auferlegt hatte.
Doch als dann das Fieber anfing und wieder diese Müdigkeit, da wusste ich, dass ich doch zum Arzt sollte.
Und dort sagte man mir, was ich schon geahnt, schon befürchtet hatte.
“Es ist ausgebrochen.“
AIDS.
Ich hatte mich damit abgefunden, HIV-positiv zu sein. Ich hatte gelernt, damit zu leben und mich an gewisse Regeln zu halten. Doch es hatte nichts genutzt, all die Medikamente hatten nichts genutzt.
AIDS.
Das war nur ein anderes Wort für TOT!
Ich hatte mich Impfen lassen. Gegen alle möglichen Krankheiten, gegen die man sich Impfen lassen konnte. Ich fühlte mich sicher, gleichzeitig wusste ich, dass ich irgendwann an einer Erkältung zu Grunde gehen würde, an was denn sonst.
Doch es wurde keine Erkältung, zumindest nicht direkt. Ich dachte es, als der Husten einsetzte und ich ein wenig fiebrig war. Ich bekam Medikamente, aber mein Immunsystem war schon viel zu schwach.
Und irgendwann wurden diese leichten Symptome stärker – bis sie irgendwann zu Anzeichen wurden. Für eine Lungenentzündung, die mein Ende sein sollte. Nicht Heute, aber vielleicht Morgen, Übermorgen, in einer Woche.
Warum ich?
“Ich will sterben,“ flüsterte ich Boris am nächsten Morgen zu. Wir hatten den ganzen Tag auf der Couch verbracht, geredet, alte Filme angesehen. Als ich eingeschlafen war, hat Boris mich ins Bett gebracht und ist bei mir geblieben.
“Sag das doch nicht,“ nuschelte er mir zurück und ich hörte in seiner Stimme, wie sehr ihn diese Worte verletzen.
“Es wird nicht besser werden. Diese Hirnschädigungen, von denen Dr. Perikow gesprochen hat… Ich will nicht irgendwann von Krämpfen geschüttelt werden, mit Schaum vor dem Mund am Boden liegen und mir dabei in die Hose machen!“
“Aber so etwas braucht doch gar nicht auftreten,“ murmelte Boris, nicht das, was ich hören wollte, aber wohl das, was er hören wollte. Und vielleicht auch nur ein Versuch, etwas zu sagen, weil er die richtige Antwort nicht kannte, genauso wenig, wie ich selbst.
“Ich werde vielleicht alles vergessen, vielleicht weiß ich irgendwann nicht einmal mehr, wie du heißt oder wer du bist. Wo der Ketchup steht, wo da Klo ist…“
“Yuriy,“ stoppte er mich und ich drückte mich fester an ihn, an seine Wärme, fühlte meine eigene Kälte. Ich war in letzter Zeit nur noch kalt, als wäre mein Körper schön tot.
“Ich weiß ja jetzt schon nicht mehr, wer ich bin.“
Einige Tage später lag ich im Krankenhaus, dass Fieber tobte in mir und ich fühlte mich, als würde ich innerlich verbrennen, während mir gleichzeitig kalt war. So kalt.
Das einzig Warme war Boris Hand, die auf meiner lag, ein kleines Trostpflaster, etwas, dass es leichter machen würde, zu gehen.
Das Husten tat weh, ebenso das atmen.
Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis sie mich an ein Atemgerät anschließen mussten. Und ich frage mich, was es für einen Sinn haben sollte, mich am Leben zu erhalten, wenn ich doch nur noch auf den Tod wartete.
“Du bist so schön,“ murmelt Boris leise, während er mir eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht streicht. Eine glatte Lüge, weiß ich doch, wie ich aussehe.
Ich weiß, dass ich unnatürlich blass bin, ich weiß, dass ich ausgehungert aussehe, wie ein Gerippe, ich weiß, dass sich meine Lippen blau verfärbt haben.
“Es soll endlich aufhören,“ presse ich zwischen zwei Hustenanfällen hervor, so schmerzhaft.
Ich schmecke ein wenig Blut, nichts Neues.
“Boris…“, nuschle ich und schließe die Augen. Solche Schmerzen. Vielleicht brauch ich eine höhere Dosis.
„Ich liebe dich.“
Boris antwortet mir nicht sofort, sieht mich nur an und ich sehe Tränen in seinen Augen, als ich meine wieder öffne.
“Ich dich auch,“ meint er dann, seine Stimme klingt fest, aber ich weiß, dass es in ihm anders aussieht. Ich weiß, dass es ihm sein Herz zerreißt, mich hier zu sehen.
“Geh,“ fordere ich ihn auf, weil ich nicht will, dass er weiter leiden muss. Reicht es nicht, wenn ich leide?
“Ich werde nicht gehen. Ich lass dich nicht alleine“, erwidert er und da sind wieder seine Tränen, die über seine Wange laufen.
“Ich lass dich nicht alleine!“
Heute liege ich noch immer hier und warte auf das Ende.
Boris ist eingeschlafen, sein Kopf liegt neben meinem Körper, aufgestützt, auf seine verschränkten Arme.
Ich hebe meine Hand – es ist so schwer, sich zu bewegen – und streiche ihm durch sein kurzes, lila Haar.
Dann lasse ich sie wieder sinken, spare meine Kräfte.
Der Husten hat nachgelassen, ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, ich weiß gar nichts mehr.
Manche Menschen – so hört man immer wieder – lassen ihr Leben Revue passieren, bevor sie sterben. Aber so etwas mache ich nicht, vielleicht, weil mein ganzes Leben nicht erwähnenswert war.
Angefangen damit, dass ich als Kind in der Abtei gelandet bin und der Anfang vom Ende schon in mir saß, als ich die Abtei verließ.
Jetzt liege ich hier und weiß, dass mein Zug abgefahren ist. Und ich habe nur einen Wunsch, der sich nicht erfüllen wird. Balkov sagen, dass ich ihn hasse.
Ich habe Boris den Auftrag gegeben, es für mich zu übernehmen. Ich weiß, er wird es tun.
Ich lächle ein wenig und fühle die salzigen Tränen, die über meine Lippen laufen.
“Yuriy?“, dass ist Boris, der panisch aus den Schlaf schreckt und mich ansieht.
Ich weiß, dass er Angst hat, er würde aufwachen und ich wäre nicht mehr da, fort. Für immer.
“Ich sterbe schon nicht, während du schläfst,“ lächle ich freudlos und er sieht mich wieder leidend an.
“Du wirst nicht sterben,“ murmelt er, aber wir wissen Beide, dass er es nur verdrängt, weil es leichter zu Ertragen ist.
Die Vorstellung, Morgen gemütlich mit ihm im Park spazieren zu gehen – sie ist tröstlich.
Ich schließe die Augen, bin müde.
Ich höre ihre Stimmen. Da ist nicht nur Boris, da sind auch Sergej und Ivan. Sicher auch Kai.
Ich will meine Augen öffnen, aber ich kann nicht.
Vielleicht auch besser so, ehe ich in ihre Gesichter sehe und darin lese, dass es das Ende ist.
Es gab noch so viel, dass ich tun wollte.
Weltmeister werden.
Klavier lernen.
Bungeejumping.
Alles leere Träume, die jemand anderes an meiner statt erfüllen muss.
Ich spüre Boris Hand auf meiner, höre Ivans Stimme und hoffe, dass er noch immer Witze macht, obwohl die Situation nicht lustig ist.
Ich will ihn lachen hören und will hören, wie die anderen Lachen, weil es gut ist, so wie es ist, weil ich sterben will, weil ich nicht mehr leiden will.
Und weil ich nicht sterben will, wenn ich weiß, dass sie alle dann nicht lachen werden.
Sergej antwortet Ivan und mir wird klar, dass ich ihn vermissen werde, wo immer ich auch hinkommen.
Ich werde sie alle vermissen, weil es ohne sie einfach Leer ist. Und ich weiß, dass sie mich vermissen werden.
Wenigstens etwas, denke ich, während ich wieder in den Schlaf falle.
Als ich erneut aufwache, da höre ich Boris und spüre den ganzen Verlust, obwohl es eigentlich er ist, der etwas verliert.
Und ich wünsche mir, mehr Zeit mit ihm verbracht zu haben.
Und gleichzeitig bin ich so dankbar dafür, dass er mir zu Seite stand, in dieser Zeit. Und ich wünsche mir, es ihm sagen zu können.
Ich danke dir, hörst du das? Ich. Danke. Dir.
Ich spüre Tränen auf meiner Handfläche, nicht meine, wird mir klar.
Ich höre Ivan reden, versuche, ihn zu verstehen.
Doch ich höre nur Boris, der mir sagt, dass alles gut wird. Das wird es, ganz sicher.
Ich glaube ihm. Ich würde ihm alles glauben.
Jetzt. Hier. In diesem Moment.
Kai ist da, ich weiß es. Ich weiß es, weil ich das Rascheln seiner Lederjacke höre. Ich weiß es, weil ich auch da wäre, wenn er jetzt hier liegen würde.
Ivan lacht. Ich höre sein helles, fröhliches Lachen.
Ist das ein Traum oder lacht er wirklich?
Sergej, der in meiner Küche steht und Essen kocht, weil ich es selbst nicht kann.
Boris, wie er versucht, seine Katze vom Baum zu holen und mit dem Ast und der Katze abstürzt.
Kai, wie er mir einen Move beibringt.
Wir waren so jung.
Ich.
Boris.
Wir beide.
Vor wenigen Tagen in meiner Wohnung.
Oder war es seine? Ich weiß es nicht mehr.
Vögel, die zwitschern.
Ein Ast, der sich im Wind biegt.
Der erste Schnee in diesem Jahr.
“Es wird alles gut!“
Wolborg.
“Lass ihn gehen, Boris!“
Eisblumen an der Scheibe.
“Ich kann nicht.“
Ich dich auch…
“Du musst loslassen, Boris.“
Tränen auf meiner Hand.
Regentropfen, die im Sonnenlicht glitzern.
Kälte, als er seine Hand weg nimmt…
Danke.
…und dann die ewige Dunkelheit.