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Das Maleficium

von

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Der Blick von Hargfrieds stahlblauen Augen verlor sich in der Tiefe des Abgrunds, der sich vor seinen Füßen öffnete. Der frische Wind bewegte seine Haare, und die aufgehende Sonne warf seinen Schatten lang und klar in das Kanalgewölbe hinter ihm.

Er stand bis zu den Knien im Wasser, das zwischen diesen hindurch strömte und einen Schritt weiter in die Tiefe fiel. Hargfrieds Blick war gebannt von diesem Schauspiel, diesem Vorhang aus trübem Wasser, der in der aufgehenden Sonne in allen Farben des Regenbogens glänzte. Das Licht schien ihn reinzuwaschen, wodurch der Wasserfall, der sich aus dem Kanalrohr in den kleinen See am Fuße des Felsens ergoss, wie ein Gebirgsbach schillerte und nicht mehr wie die trübe Brühe wirkte, die zwischen seinen Knien hindurch rauschte.
 

Brynja Peinhild stand am Rande des Kanalbeckens und betrachtete ihren ‚Begleiter‘ missmutig. Einen Moment überlegte sie, ihm einen Stoß zu versetzen, um sich endgültig seiner zu entledigen; doch dann kamen ihr Zweifel, ob das Leben des offensichtlich verrückten Sohns des Herzogs nasse Füße wert war.

Ihre Abneigung gegen das Adelsgeschlecht ihres Heimatlandes drohte im nächsten Moment wieder überhand zu nehmen, doch das Geräusch herannahender Schritte lenkte ihre Aufmerksamkeit weg vom Tunnelende, durch welches das Licht der aufgehenden Sonne hineinfiel, und zurück in das Gewölbe, durch das sie bis jetzt geirrt waren. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, und sie betastete ihre Armschiene, aus der immer noch der Stachel ragte. Undeutlich erkannte sie mehrere Schemen im Halbdunkel. Aus der zwanglosen Ordnung zueinander erkannte sie, dass es sich um keine Soldaten des Kaisers handelte. Wenngleich ihr bewusst war, dass deren Auftauchen nur mehr eine Frage der Zeit war.

Hargfried von Lichtenfels bestaunte immer noch den Wasserfall, der in den kleinen See am Fuße des Felsens fiel, auf dessen Fundament der Palast und ein Teil der Stadt ruhte. Brynja blickte immer noch den Gestalten entgegen, die vorsichtigen Schrittes auf sie zu kamen. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass von dieser Position keine Flucht möglich war, außer-

„Welch ein herrlicher Anblick!“ rief ihr Hargfried zu, der sich in ihre Richtung wandte, die Arme ausstreckte und einen Moment lang den Eindruck erweckte, er würde sich in die Tiefe fallen lassen.

„Ja, verdammt herrlich.“

Brynja schüttelte den Kopf über das Gebaren dieses jungen Mannes, der sich wie ein Kind über dieses Schauspiel im Licht der Morgensonne freute, und darüber ihre gefährliche, wenn nicht gar aussichtlose Situation zu vergessen schien.
 

„Es ist wirklich wunderschön“, murmelte Hargfried ergriffen, ohne ihrer rüden Antwort Beachtung zu schenken. Dann wandte er sich wieder dem Ausblick zu, der ihm dichte, sattgrüne Wälder zeigte, durch die das dunkle Gelb der aufgehenden Sonne hindurch glühte wie eine Feuersbrunst, die hinter noch unversehrten Sträuchern und Bäumen lodert. Darüber zeigte sich ein blaugrauer Himmel mit nur wenigen Wolken, der einen lauwarmen Frühlingstag versprach. Er atmete tief die frische Luft ein, die ihm dieser Himmel schenkte und die die reinste Wohltat war nach dem langen, endlos anmutenden Gang durch die von stickiger Luft erfüllten Kanalgewölbe. Ein Ausruf riss ihn aus diesen angenehmen Eindrücken, die sich wie Balsam über seine fiebernde Seele legten, und so drehte er sich um.
 

Dorian ging einige Schritte entfernt hinter dem Mann namens Sarik Metharom. Dicht hinter sich hörte er die Schritte von Nadim und Iria. Er spürte förmlich ihre furchtsamen Blicke und auch ihr Misstrauen diesem Mann gegenüber, besonders von Iria.

Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob sein schwer erklärbares Vertrauen diesem Unbekannten gegenüber nur aus ihrer aussichtlosen Situation resultierte, oder ob es eher die natürliche Autorität dieses Mannes war, die ihn in seinen Bann gezogen hatte. In jedem Fall spürte er zwar Furcht vor den Palastwachen, nagende Ungewissheit um das Schicksal seiner Freunde und nicht zuletzt Angst um sein eigenes Leben, das hier genauso schnell zu Ende gehen konnte wie das des Soldaten, der durch seine Hand gestorben war; aber er spürte keine Angst vor diesem Mann. Es gäbe genügend Gründe dafür, aber keiner war triftig genug, um das in so kurzer Zeit entstandene Vertrauen, das er in sich spürte, zu zerstören. Und nach all der Ungewissheit und der Verlorenheit, die die letzten Stunden auf ihm gelastet hatte, gab er sich diesem Gefühl der Zuversicht wider alle Vernunft hin.

Dorian stoppte seine Bewegung annähernd synchron mit der von Sarik. Ebenso kamen Nadim und Iria hinter ihm zum Halt. Sarik schien etwas zu sehen; Dorian erkannte in seinen Bewegungen eine gewisse Anspannung, wie eine Vorbereitung auf eine mögliche Konfrontation. Ganz anders, als er ihnen vorher begegnet war, und Dorian fühlte die Gewissheit, dass er im Gewölbe vor ihnen etwas erblickt hatte, das er als echte Bedrohung einstufte.

„Was ist da?“ fragte Dorian. Jetzt erst merkte er die Veränderung. Die Luft war deutlich frischer als die ganze Zeit zuvor. Sie atmete sich leicht und angenehm wie an der Oberfläche und hatte nur mehr wenig vom bis jetzt allgegenwärtigen Fäulnisgeruch. Auch das Licht war anders, und als er zu Sarik aufschloss, sah er den Schein der Sonne, der am Ende des Kanalgewölbes durch die Öffnung hereinfiel.

„Kommen wir hier endlich raus?“ hörte er die bange Frage Nadims, der diese Veränderungen ebenfalls bemerkt hatte und zusammen mit Iria an seine Seite trat.

„Die Sonne! Wir sind in Sicherheit!“ rief Iria mit erleichterter Stimme, die jetzt, von frischer Luft gestärkt, einen ganz anderen Klang hatte. Dorian sah ihr hoffnungsvolles Gesicht von der Seite. Er dachte daran, dass sie in Wahrheit noch längst nicht in Sicherheit waren, verstand aber, dass für Iria dieser erste Hoffnungsschimmer, die Aussicht, diese düsteren Gewölbe verlassen zu können, im Moment genauso schwer wog wie das Gelingen ihrer Flucht.

Auch in ihm keimte die gleiche Hoffnung auf, die er auf ihrem Gesicht gesehen hatte, und sie wurde durch die endlich wieder erquickende Luft und das erste Tageslicht seit langem- seit Ewigkeiten, wie ihm vorkam- bestärkt. Doch dann sah er im Gegenlicht der aufgehenden Sonne die Umrisse zweier Personen am Ende des Kanalgewölbes.
 

„Schon wieder diese Leute…“, zischte Brynja. Sie ballte ihre linke Faust und befühlte mit der Rechten die kurzen Dolche, die an dem breiten Gurt um ihre Mitte verteilt saßen. Der Mann, der sich in der Schatzkammer nach dem Kampf mit Hargfried als Sarik Metharom vorgestellt hatte, setzte sich nach kurzem Halt wieder in Bewegung.

Doch er machte keine Anstalten, einen Kampf zu beginnen, und so wartete sie ab. Daraufhin sah sie drei weitere, jüngere Personen, die ihm folgten, und einen Augenblick später kam ihr die Erinnerung. Dies waren die halbwüchsigen Diebe gewesen, die zu ihnen gestoßen waren, bevor der Eindringling, der ihnen allen zuvor gekommen war, die Kräfte des Maleficium entfesselt hatte.
 

„Jetzt gibt es einen Kampf, jetzt gibt es einen Kampf“, jammerte Nadim mit weinerlicher Stimme. Er hielt sich an Irias Ärmel fest, was diese mit einem nervösen Blick quittierte. Sarik ging langsam auf die beiden Personen zu. Dorians Augenmerk richtete sich auf die Nähere von den beiden, die Frau, die er vorher schon in dem großen Saal gesehen hatte. Sie kam ihnen mit kurzen Schritten entgegen, und ihre Haltung verriet, dass sie eine Konfrontation erwartete.

Er sah jetzt auch den Mann in der Rüstung und mit den langen Haaren, der durch das Kanalbecken watete. Dorian konnte im Gegenlicht ihre Gesichter nicht genau erkennen, doch etwas sagte ihm, dass gleich etwas passieren würde, das ihrem Abenteuer eine neue Richtung geben würde. Nadims angstvolle Miene und Irias angespannte Haltung verrieten ihm wenig Zuversicht für dieses Zusammentreffen, doch bei aller Gefahr, die diese Situation verhieß, spürte er selbst eine schwer erklärbare Zuversicht, was den Ausgang betraf.
 

„Ich bin nicht hierhergekommen, um mit irgendjemanden von euch zu kämpfen“, begann die Frau mit eindringlicher Stimme. Der Mann mit den langen Haaren, der immer noch im Wasser stand, blieb auf ihrer Höhe stehen. Dorian erkannte seinen Gesichtsausdruck, der aber nichts Feindseliges an sich hatte, sondern eher aufrichtig interessiert und geradezu leichtfertig wirkte.

„Ich genauso wenig“, antwortete Sarik neben ihm, und Dorian schaute zu ihm auf. Sein Gesicht war immer noch ausdruckslos, geradezu undeutbar, doch etwas darin bestärkte ihn in seiner Zuversicht. Sicher, dachte Dorian, wird ihm etwas einfallen, und es wird kein weiteres Blutvergießen geben. Sicher wird er-
 

„Da sind sie! Wir haben sie!“

Aufgeregte, vielstimmige Rufe hallten durch das Kanalgewölbe. Das Trappeln etlicher Stiefel begleitete diese Rufe; Dorian erkannte das charakteristische Geschepper von kaiserlichen Rüstungen im vollen Lauf.

Unwillkürlich wich er zurück. Ohne den Blick von den herannahenden Palastwachen zu nehmen, ging er rückwärts in Richtung der ihm fremden Personen, die er in diesem Moment nicht mehr als Bedrohung empfand. Seine Wahrnehmung wurde ausgefüllt von den Soldaten, die auf beiden Seiten des Kanals auf sie zu kamen. Ihre gezogenen Waffen, die entschlossenen Mienen und ihre energische Bewegungen ließen keinen Zweifel an ihrer Absicht.

„Tötet sie nicht gleich“, hörte Dorian einen von ihnen sagen, dessen Rüstung sich geringfügig von denen der anderen unterschied und so wohl einen höheren Rang bezeichnete. „Sicher können sie uns etwas über ihren Komplizen verraten.“

Die Frau mit dem Stachel an der Armschiene wich ebenfalls zurück, und hinter ihren ernsten Augen schien sich eine schwierige Entscheidung abzuspielen. Der Mann in der aufwändigen Rüstung hingegen zog sein langes Schwert, das er auf dem Rücken trug, und sein Gesicht war nun voller Angriffslust. Dorian versuchte die Anzahl der Soldaten abzuschätzen, doch es waren mehr, als er in der Eile erkennen konnte.

Sarik Metharom wich ebenfalls zurück; jetzt entstand erstmals seit vorhin Unruhe in Dorian, die zu Panik werden drohte. Die Soldaten kamen langsam, aber sicher, näher, und aus ihren Bewegungen sprach die Gewissheit, ihre Opfer in einer Falle zu wissen.
 

Platschende Schritte rissen Dorian aus seiner Starre. Er drehte sich um und sah, wie die Frau mit dem Stachel an der Armschiene in wenigen weiten Schritten den Rand der Öffnung erreichte. Dorian öffnete vor Staunen den Mund, als sie ihre Arme ausbreitete und sich in einer eleganten Haltung in die Tiefe stürzte. Wie ein Falke, der seine Schwingen spreizt, so hing sie in seiner Wahrnehmung einen Moment lang über dem Abgrund, um dann zu verschwinden. Er wandte sich wieder um, aber niemand außer ihm schien es bemerkt zu haben.

„Ihr wollt mich aufhalten? Ihr wollt den Mörder meines Vaters vor meiner Rache bewahren?“ schrie der junge Mann mit den langen Haaren der Traube nur zögerlich vorrückender Soldaten entgegen. Dorian beobachtete fassungslos, wie der Mann in der Rüstung mitten im Wasser des Kanals auf die Palastwachen zuschritt und sie anschrie. Aus seinen Worten klang selbstgerechter Zorn und nicht der mindeste Zweifel, dass das Schicksal, das Glück, oder zumindest das Wohlwollen der Götter auf seiner Seite war. Die Soldaten wechselten Blicke miteinander, und selbst ihr Anführer schien unschlüssig zu sein, wie sie mit diesem Gegner verfahren sollten.

Dann öffnete sich der Kampfdom um den jungen Ritter und schloss alle Soldaten im näheren Umkreis links und rechts des Kanals ein. Der Mann schwang sein riesenhaftes Schwert, und all seine Gesten und Bewegungen drückten eine spielerische Kampflust aus, die sich von dieser zahlenmäßig überlegenen Gegnerschar nicht im Mindesten beeindrucken ließ. Sariks düsterer Blick war auf den jungen Mann geheftet; aus seinen Augen und der gerunzelten Stirn sprachen Verständnislosigkeit über diesen hitzköpfigen jungen Mann, wie auch ein gewisses Bedauern über dessen unzweifelhaft tragischen Schicksal, das ihn im Angesicht dieser vielfachen Übermacht ereilen würde.

„Wie auch immer… er wird sie eine Weile aufhalten“, sagte er schließlich, wie um den auf seiner Miene sichtbaren Gedanken abzuschließen. Dann wandte er sich an Dorian, Iria und Nadim. „Könnt ihr schwimmen?“

Die drei sahen sich an; Verwirrung spiegelte sich angesichts dieser unerwarteten Frage auf ihren Gesichtern.

„Was mich betrifft, nicht so besonders…“, sagte Dorian schließlich, der offenen Wasserflächen in seinem bisherigen Leben eher ausgewichen war. Auch Nadim und Iria zuckten nur missmutig mit den Schultern.

„Dann frage ich eben anders“, fuhr Sarik lakonisch fort, als die ersten Schwerthiebe blechern durch den Kanal klangen. „Wollt ihr sterben?“

„Nein!!“ antworteten die drei nun schlagartig und im Chor. Dorians angstvoller Blick wechselte zu dem jungen Ritter, der mit seinem langen Schwert die bis jetzt vorsichtig agierenden Soldaten noch auf Distanz hielt. Tatsächlich reagierten die vordersten der Soldaten zögernd, beinahe erschrocken auf seinen Kampfesmut, doch die hinter ihnen nachdrängenden Palastwachen zeigten klar, dass dies nur ein Zeitgewinn war, und selbst dem stärksten Krieger erlahmten irgendwann die Arme.

„Wenn ihr nicht sterben wollt, dann folgt mir.“

„Folgen? Wohin?“ rief Dorian ihm hinterher. Sarik blieb kurz vor dem Rand der Öffnung stehen und drehte sich um. Dorian glaubte, sein blindes Auge zwinkern zu sehen.

„Aaargh!!“

Dorian, Nadim und Iria sprangen auseinander, als der junge Mann mit dem großen Schwert zwischen ihnen im Wasser landete. Erschrocken wichen sie zurück und liefen zu Sarik. Der Mann betastete die Beule in seinem Brustharnisch, dann rappelte er sich mit Hilfe seines Schwertes wieder auf. Die Soldaten waren deutlich näher als zuvor, und wenngleich schon mehrere von ihnen erschlagen im Wasser lagen, so rückten die Restlichen mit noch größerem Ingrimm vor.

Dorian blickte entsetzt in die Tiefe, die sich unter der Öffnung des Kanals erstreckte. Er sah, dass das Wasser mehrere Atemzüge brauchte, bis es die Oberfläche des kleinen Sees unten, am Fuße des Felsens, auf dem der Palast ruhte, traf. Dann ging sein Blick zu Nadim und Iria.

Nadim war blass, sein Gesicht war geradezu wächsern. Es war weniger Angst oder Aufregung, die sich auf seinem Gesicht zeigte, sondern eher die Abwesenheit jeglichen Empfindens, die seine leere Miene prägte. Es sah für Dorian aus, als hätte das Feuer seiner Angst allen Brennstoff verbraucht und nur die Asche einer stillen Verzweiflung zurückgelassen.

„Entweder wir springen oder wir sterben!“ rief Sarik gegen den Kampflärm an, der hinter ihnen erklang. Dabei packte er Dorian und Iria an den Armen. Iria ergriff instinktiv Nadims Hand, und dieser verzog nur kurz sein aschfahles Gesicht dabei.

„Oder auch beides!“ schrie Dorian zurück, der wusste, was kommen würde, und der doch nicht die Kraft hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Schließlich wurde er von Sarik, der jetzt sprang, mitgerissen. Ebenso wie Iria und auch Nadim, die sich verkrampft an den Händen festhielten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2010-02-02T23:05:44+00:00 03.02.2010 00:05
Super Kapi!^^


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