Carpe Noctem
Lautlos gleitet das Auto über die leere Landstraße, vorbei an Schatten kahler Bäume und namenloser Meilensteine, die nur vom grellen Licht der Scheinwerfer ein Gesicht bekommen. Regen peitscht gegen die Windschutzscheibe, verklärt jede Sicht auf den Weg, der da noch kommt. Alle Vorsicht, die eigentlich geboten wäre, lässt der Fahrer hinter dem Steuer vermissen, rast geradezu über den nassen Asphalt, die Kurven halsbrecherisch, aber doch irgendwie elegant nehmend.
Ungeduldig tippt Bela immer wieder mit den Fingern gegen das Lenkrad, eine Melodie im Kopf, die es noch gar nicht gibt.
Mit nahezu klischeehaft quietschenden Reifen hält das Fahrzeug vor einem unscheinbaren Vorstadthaus. Bela steigt aus und genießt das harsche Geräusch seiner Sohlen auf dem Kies, als er eilig auf die Haustür zusteuert, wie er es immer genießt, im Schatten der Nacht seiner Natur nachgehend die Rolle des Schurken zu übernehmen.
Bela lächelt den Schlüssel, den er aus der Hosentasche zieht, zufrieden an. Das sind Dinge, die in Horrorfilmen nie vorkommen und doch so viel eigene Dramatik haben: Wozu einbrechen, wenn das Lamm dir den Schlüssel aushändigt mit den Worten „In dem Vertrauen, dass du ihn nicht missbrauchst…“?
Es ist kein Missbrauch. Es ist ein Notfall.
Bela dreht den Schlüssel so leise wie möglich im Schloss, um das Lamm nicht zu warnen.
Das Mondlicht malt helle Streifen auf den Boden des Flures, alles ist ruhig.
Bela zieht, einer alten Angewohnheit folgend, die Schuhe aus und stellt sie sorgfältig nebeneinander. Schließlich ist das hier immer noch Farins Haus.
Die leisen, wehklagenden Töne dringen nur ganz schwach an sein Ohr, aber sie reichen aus, um ein Lächeln über sein Gesicht geistern zu lassen, während er langsam zur Treppe geht.
Er labt sich an dem Schluchzen, er braucht es wie andere die Luft zum Atmen, jede Nacht wieder.
Mit jeder Stufe nimmt die Lautstärke zu, verbreitert sich Belas Lächeln zum Grinsen, das beinahe schon grausam wirkt.
Die Tür ist erreicht, aber noch zögert Bela den Moment, in dem er Farins Gesicht sehen kann, hinaus, um ihn später umso mehr genießen zu können. Der Klang des Weinens, der so viel unterdrückten Schmerz zeigt, ist eine viel zu köstliche Vorspeise, um sie vorzeitig abzubrechen, und so verharrt er sekundenlang, das Ohr an die Tür gepresst.
Schließlich richtet er sich auf und drückt langsam die Klinke.
Die aufschwingende Tür scheint das genießende Lächeln von seinem Gesicht zu wischen, denn als Bela in der Türöffnung steht, zeigt er nur Anteilnahme, Mitleid, den Ansatz eines traurigen Lächelns.
Ein guter Freund.
Farin sitzt zusammengesunken vor dem Fenster, die Stirn gegen das Glas gepresst. Als Bela sich leise raschelnd bewegt, fährt er herum und starrt ihn eine Sekunde lang aus zu Tode erschrockenen Augen an, ehe er ihn erkennt und den Kopf wieder an die Fensterscheibe fallen lässt.
Bela kniet neben ihm nieder und fährt ihm durch die Haare. Er braucht ihn, jetzt, wo er leidet, ganz nah bei sich.
„Wieder so schlimm?“ fragt er leise, nicht wirklich eine Antwort erwartend. Es ist jede Nacht so schlimm.
Farin ist ein Sonnenmensch. Mit der Nacht kommt er nicht zurecht.
„Wenn du dich nur zusammenreißen könntest, würdest du sehen, wie schön die Nacht ist… Wie herrlich die dunklen Gassen, die Sterne, die Leute, die Nachts unterwegs sind, die Ruhe, durchbrochen von leisem Gelächter…“ Es ist nicht nur ein feiner Stich, es ist fast schon eine Tätowierung, ein Tattoo von Bela B, jede Nacht an einer anderen Stelle.
Irgendwann, wenn Farin ganz tätowiert ist, wird er ihm komplett gehören.
Bela lächelt und legt einen Arm um Farins Schulter.
Farin lehnt sich an ihn, sucht die Nähe in der Hoffnung auf Trost und Linderung, die Bela ihm nicht geben wird.
Bela wird nur stochern, es schlimmer machen, Farin in dem Glauben lassend, er sei eben ein Gefühlstrampel.
Es gibt nichts, was er mehr braucht als diesen Farin.
Es gibt nichts, was er mehr braucht als den strahlenden Farin am nächsten Morgen.
Bela kann es nicht lassen, Farins Gesicht ist zu schön, wenn er leidet, Farin ist zu anhänglich, wenn er leidet, Farin öffnet sich viel zu sehr, wenn er leidet, als dass man die Gelegenheit, ihn leiden zu sehen, verstreichen lassen könnte.
„Vielleicht sollte ich…“ Farins Stimme klingt dünn, sein Selbstbewusstsein ist bei Nacht ein löchriges, fadenscheiniges Tuch.
„Nichts solltest du. Bleib einfach bei mir, bleib bei mir, ich helf dir, ich bin für dich da.“ Der Gedanke, Farin in die Obhut eines Anderen zu geben – Farin nicht mehr jede Nacht sehen zu können – eventuell sogar nie mehr so wie jetzt – ist zu grausam, um ihn zuzulassen.
Bela drückt Farin an sich, der gegen seine Brust schmilzt wie heißes Wachs, hält ihn fest, gewährt ihm einen Moment lang Trost, ehe er, kaum dass der Blonde sich ein wenig beruhigt hat, sich bestimmt losmacht und aufsteht.
„Jan…“ Farin sieht nicht zu ihm auf, er weiß, was jetzt kommt, deshalb hält er den Blick auf den Boden gerichtet. Bela sieht trotzdem, wie er innerlich zusammensackt, vollständig zerstört für diese Nacht. „Jan, ich kann so viel Trauer nicht ertragen, das weißt du… Wenn du dir etwas antun willst, bin ich immer für dich da, aber jetzt kann ich nicht mehr…“
Bela streicht Farin kurz durch die Haare und verlässt rasch das Zimmer.
Nichts wäre undenkbarer, als Farin aus seiner Kontrolle zu entlassen, ihn nicht mehr jede Nacht zu zerschlagen, bis nur noch ein glitzernder Scherbenhaufen übrig ist, um sich am nächsten Morgen an seinem glücklichen Gesicht zu erfreuen.
Nichts wäre undenkbarer, als Farin in seiner Kontrolle zu lassen, ihn jede Nacht weiter zu zerstören und damit immer weiter dem endgültigen Abgrund entgegenzuschieben.
Bela verlässt das Haus mit dem Gefühl der Endgültigkeit, das ihn jedes Mal befällt, wenn er die Schwelle übertritt.
Das hier war das letzte Mal. Ganz sicher.