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Tales of Symphonia: Lyrical Requiem

von

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Der Fall Iselias

Aufmerksam scannten die Augen der Desians die Umgebung. Im regelmäßigen Rhythmus wandte sich ihr Kopf von der Felswand zum Waldweg, der die Menschenfarm mit der einzigen Route des Waldes verband, bis hin zur Böschung. Mehr denn je waren sie darauf erpicht, einen Eindringling zu schnappen und ihm seine – aus ihren Augen gerechte – Strafe zukommen zu lassen.
 

„Wie sollen wir da bloß vorbei kommen?“ Hinter eine Baumgruppe aus alten, breit- wie auch hochgewachsenen Bäumen ragten die Köpfe zweier Jugendlicher hervor. Lyra war es, die diese Frage im leisteten Flüsterton möglich stellte. Halbelfen, als auch reinrassige Elfen, waren für ihr erstaunlich gutes Gehör bekannt.

„Lass das nur meine Sorge sein.“ Ihr kleiner Begleiter Genius schien einen Plan zu haben. Es war nun vollkommen ausgeschlossen, dass er zum ersten Mal die Farm heimlich besuchte – so wie Lyra einst auf ihren Weg hierher gerätselt hatte.

„Dann bist du also der Eindringling, von dem die Desians sprachen.“ Das Mädchen erinnerte sich an ihre gestrige Begegnung mit den Halbelfen der Farm. Vom Schreck gepackt wandte sich Lyras elfischer Freund an sie, doch konnte sie ihn sofort wieder beruhigen: „Keine Sorge, sie haben die Person nicht erkannt. Sie wissen nur, dass jemand ihrer Farm häufiger einen Besuch abstattet.“

Erleichtert atmete Genius aus, auch wenn nun höchstes Gebot zur Vorsicht galt. Allein, dass die Desians eine Anwesenheit bemerkt hatten, war Grund zur Sorge.

„Komm, hier!“

Genius bückte sich mehr und mehr ins Gebüsch und zog seine Freundin hinterher. Er kannte den Weg durch das Dickicht und seine Verstecke in- und auswendig. Es war, als würde er seinen normalen Heimweg bestreiten.
 

Bald waren sie außer Sichtweite der Wachen und standen an der westlichen Umsperrung der Farm. Abseits des täglichen Treibens innerhalb der Einrichtung – Menschen wurden mit Peitschenhieben motiviert, noch schneller zu arbeiten – stand eine ältere Frau und schien auf jemanden zu warten. Ihr Haar war ergraut und Falten des Lebens zeichneten sich über ihren Körper. Wie alle Gefangenen der Farm trug sie ein einfaches Leinengewand. Lächelnd ging sie auf ihre heimlichen Besucher zu und würde sie, wenn es ihr möglich wäre, mit offenen Armen empfangen.

„Marble-san!“

Durch das Gitter hindurch schenkte Genius ihr die frischen Sandwiches. Herzlich bedankte sie sich bei dem kleinen Elfen ehe sie fragend zu Lyra blickte. „Eine Freundin von dir, Genius?“

„Ah-“ – „Lyra Irving.“, kam sie Genius zuvor und stellte sich vor. Ungeachtet dessen – und die Formalitäten beiseite – berichtete Genius voller Freude von den heutigen Ereignissen am Tempel von Martel. Das Orakel sei erschienen und die Auserwählte würde morgen ihre Reise beginnen. Er versuchte mit seinen Erzählungen Marble – und im Grunde eigentlich auch allen Gefangenen der Menschenfarm – wieder Hoffnung zu schenken. Wenn das Ritual zur Welterneuerung vollzogen wurde, wären neben dem wieder regenerierten Mana auch die Desians versiegelt. Die Freiheit und Sicherheit aller lag in nicht mehr weit entfernter Zukunft.
 

„Hm?“ Lyra hatte Genius’ Erzählungen kaum zugehört und war im Gedanken weit weg gewesen, als sie ein Funkeln auf Marbles Handrücken wahrnahm. „Marble-san, ist das ein Exphere?“

„Oh?“ Verwundert blickte Marble auf den besagten Stein „Exphere wird er also genannt?“ Bis dato wusste sie nicht, was und warum sie den Stein von den Desians bekommen hatte.

„Ja, eindeutig.“, bestätigte Lyra. „Er wurde ohne Schutzfassung an die Haut angebracht.“

„Ist das schlimm?“, fragte Genius nach.

„Die Schutzfassung schützt vor den negativen Wirkungen des Expheres.“ Sie deutete auf ihre eigene. „Ohne die Fassung würde der Exphere Lebenskraft entziehen und uns krank machen.“

Lyra gab eine grobe Erklärung dessen wider, was sie einst von ihrem Ziehvater Dirk gehört hatte. Wie so oft hatte sie ihm in jüngeren Jahren nicht zugehört und ignoriert, als er seiner Ziehtochter etwas erklären wollte.

„D-das ist schlimm! Wir müssen etwas machen!“

„Na, ja…“ Lyra verstand durchaus die Sorge ihres Freundes, nur war dies alles nicht so einfach. „Für die Schutzfassung benötigen wir ein spezielles Erz. Und dann ist noch der Herstellungsprozess…“ Das Mädchen wurde gegen Schluss des Satzes hin immer leiser. Wie bereits erwähnt hatte sie als kleines Kind Dirk nie zuhören wollen. Da war es wohl nun mehr als verständlich, dass sie auch nichts von seinem Handwerk gelernt hatte.

„Dirk wird uns sicher eine Fassung für Marble-san herstellen können!“ Oh, das war bei weitem keine Frage, die Genius stellte. Und genau diese Tatsache ließ Lyra erschaudern.

„Äh… natürlich…?“ Sie vermochte nicht ihren Freunden die frischerlangte Hoffnung zu nehmen.

„Ihr müsst doch nicht!“ Marble wollte keineswegs Umstände bereiten. Zudem sie auch die Kleinigkeit verschwieg, dass alle Gefangenen einen solchen Exphere ohne Schutzfassung angebracht bekamen. Und Schutzfassungen für alle Menschen in dieser Farm zu erstellen… das war doch schier unmöglich!

„Weib, was ist hier los?!“

Iiik!

Genius und Lyra mussten sich in Windeseile in Sicherheit bringen. Aus ihrem Versteck im Grünen beobachteten sie, wie zwei Desians Marble weg und zu den anderen arbeitenden Insassen brachten.

„Sie haben uns zum Glück nicht bemerkt.“, murmelte Lyra erleichtert und wandte sich an Genius: „Lass uns gehen und unser Glück nicht weiter herausfordern.“

„Nein!“, entgegnete er und blickte besorgt als auch flehend in die Augen seiner Freundin. „Sie werden Marble unsertwegen etwas antun!“

Ein Seufzen entkam Lyras Lippen und sie verschränkte ihre Arme. „Wenn sie uns erwischen, machen wir alles nur noch schlimmer. Denk an den Nichtangriffspakt.“

„… aber sie haben bereits Collet angegriffen. Heute.“

„…“

Verdammt, der kleine Zwerg hatte Recht. Die Desians hatten den Pakt als erstes gebrochen und sie alle am Tempel von Martel angegriffen.

„Du kleiner, sturer Giftzwerg.“ Gespielt beleidigt stupste sie Genius’ Stirn. „Gut, klettern wir drüben den Felsvorsprung hoch und verschaffen uns einen Überblick.“
 

Lyra wunderte sich schon, ob sie beide mehr Glück als Verstand hatten. Die Wachen um die Menschenfarm waren auf einen Bruchteil reduziert und nicht der Rede wert. Unbemerkt konnten sie sich ihren Weg durchbahnen und überblickten auf beschaulicher Höhe das Treiben in der Farm.

„Marble-san!“

Erschrocken zuckten beide zurück, als sie Marble vor Schmerz gepeinigt gegen die Mauer kauern sahen und immer mehr Desians lachend mit ihren Peitschen auf den entkräfteten Körper einschlugen. Der Anblick… er war einfach nur grauenvoll.

„Genius, greif sie von hier mit Magie an.“

Ein Befehl. Noch nie hatte Lyra jemanden einen Befehl erteilt – mit Ausnahme von Noishe. Fest umklammerte sie den Griff ihrer Schwerter. Wie gern würde sie selbst einschreiten und jeden einzelnen dieser Halbelfen in die Hölle schicken.

„Greif sie nur an. Ich werde sie zum Hang locken und in die entgegen gesetzte Richtung des Dorfes fliehen.“

„S-sie werden dein Gesicht erkennen!“

Falls sie es sehen.“ Ihr Gesicht spiegelte Kampflust wider. „Werden sie nicht lang genug leben um zu wissen, wer sie getötet hat.“

Genius schluckte und hielt sein Kendama bereit. Er wollte Marble ebenso helfen wie Lyra im Moment. Warum zitterte er also?

Angst…

Er hatte einfach Angst. Die Sorge, eine Kleinigkeit könnte schief gehen. Ein verhängnisvoller, winziger Fehler und das Leben aller stand auf dem Spiel.

„Jetzt!“

Lyra sprang los und fand Halt an der Mauer der Farm. Zeitgleich feuerte Genius mehrere Fireballs ab und traf seine Gegner punktgenau. Wage vernahm er, wie die Desians Lyras Schatten weghuschen sahen und ihr folgten. Erschöpft ließ er sich nieder und atmete tief durch. Er… hatte es eben getan, richtig? Er hatte es geschafft, im richtigen Moment seine Magie einzusetzen und Marble zu retten… oder?

Genius wusste es nicht. Was war in den letzten Sekunden geschehen?

<Als allererstes muss ich hier weg!>

Vorsichtig kletterte er die Felswand wieder herab und schlich sich neben Gebüschen allmählich weg von der Farm. Der Elf erblickte noch den ein oder anderen Desians, der Lyra nachjagte. Genius versuchte seine Gedanken zu sammeln, doch kam zu keinem vernünftigen Ergebnis. Ein Filmriss von wenigen Sekunden hinterblieb ihm als Erinnerung an dieses Abenteuer.

Da ist noch jemand!

Verdammt!“, zischte Lyra und wandte sich zu ihren Verfolgern, deren Aufmerksamkeit nun der gedankenverlorene Genius anzog. Oh, dafür hatte sich der Kleine eine Kopfnuss verdient, dachte sich das Mädchen und eilte zurück. Sie schnitt den Desians den Weg ab und zog ihre Klingen. Ein Kampf war nun unausweichlich. Genauso wie weiteres Blutvergießen.
 

Außer Puste erreichte Genius die Lichtung am Waldrand zu Iselia. Tränen standen ihm in den Augen. Die Desians hatten ihn gesehen. Sie hatten ihn und Lyra erspäht. Wie hatte er sich bloß so gehen lassen können?!

„Es ist alles meine Schuld!“

„Was soll deine Schuld sein?“

„!“

Ganz mit sich selbst beschäftigt hatte Genius nicht bemerkt, dass Lyra wieder zurück war. Sie hatte den kurzen Weg über den steilen und tiefen Hang genommen. Ihrem Exphere sei Dank war ein solcher Sprung eine Kleinigkeit.

„S-sie haben uns gesehen!“

Hatten.“, korrigierte sie. „Und können es nun keiner Seele mehr verraten.“

„Es… tut mir Leid.“

Geknickt stand Genius da, sich seiner Fehler bewusst und bereit, jegliche Konsequenz zu tragen.

„Au!“

Und sei es eine Kopfnuss seiner besten Freundin.

„Warum entschuldigst du dich? Danke mir lieber.“

Das Lächeln fand wieder in sein Gesicht zurück und so hatte er nun wirklich Grund genug, seinen Dank auszusprechen. Zur Verabschiedung kündigte er noch an, gemeinsam mit Collet und seiner Schwester dem Mädchen noch einen Besuch abzustatten. Damit trennten sich ihre Wege. Genius eilte ins Dorf zurück und Lyra machte sich auf den Weg nach Hause.
 

„Sie sind entkommen, Forcystus-sama!“

Japp, das sah der Leiter der Farm auch ohne die Bemerkung seines Untergebenen.

„Wie konnte ein einfacher Mensch bloß einen solchen Sprung hinlegen?“ Forcystus wurde aus der Sache nicht schlau, doch er würde die Wahrheit schon noch herausbekommen. Und er wusste auch schon wie: „Überprüft die Aufnahmen am Eingangstor, sofort!“

„Jawohl!“
 

„Oyaji, bin wieder da.“

Gemächlich betrat Lyra die gute Stube und ließ ihren Blick umherschweifen. Sie war etwas verwundert, dass ihr Ziehvater bereits seine Arbeit beendet hatte und das Essen vorbereitete.

„Du bist reichlich spät.“, merkte Dirk an und wandte sich zum Mädchen.

„Na ja. War noch mit Genius so hier und da unterwegs.“

Ihre typischen Gesten – ein unsicheres Grinsen und die Angewohnheit, sich am Kopf zu kratzen – verrieten Lyras Lügen. Dem nicht genug wuchs Dirks Misstrauen noch weiter an als sie fragte: „Oyaji, du kannst doch sicher eine Schutzfassung herstellen, richtig?“

„Wofür benötigst du eine Fassung, Lyra?“

„Errr...“ Verdammt. Warum konnte Dirk nicht einfach die Frage beantworten und es sein lassen?

„Na ja. Ich habe da jemanden kennen gelernt und sie...“ Beunruhigt, wie Dirk nun reagieren könnte, sprach das Mädchen immer leiser: „... trägt einen Exphere ohne Schutzfassung. Deshal-“

Du warst auf der Menschenfarm?!

Erbost knallte Dirk die Holzschüssel auf die Tischplatte. Erschrocken zuckte Lyra zusammen und fühlte sich – trotz der Tatsache, dass sie mindestens einen Kopf größer war als der Zwerg – erheblich klein und winzig.

„W-wie kommst du darauf?“

„Zwergenregeln Nummer 11: Lügen ist der erste Schritt zum Diebstahl. Sag mir die Wahrheit, Lyra.“

Argh. Kam Dirk erstmal mit seinen Zwergenregeln, dann war alles hoffnungslos.

„Ja, gut. Waren Genius und ich halt auf der Menschenfarm.“ Beleidigt verschränkte sie die Arme und blickte zur Seite. Dass eine einfach gestellte Frage gleich in einem solchen Verhör enden musste!
 

Dirk schritt an seine Ziehtochter heran. Noch bevor Lyra wusste wie ihr geschah, hallte eine Ohrfeige durch die Räume des Hauses. Ihr Kopf war nach rechts geneigt und ihre linke Wange färbte sich allmählich rot.

„Habe ich dir nicht verboten, den Desians zu nahe zu kommen?!“

Lyra hatte das Gefühl, dass selbst die Wände vor Ehrfurcht erzitterten. Sie wich einige Schritte zurück und erwiderte missbilligend, die ersten Tränen vor Schmerz in ihren Augen, Dirks Blick.

„Was sollte das?!“ Trotz ihrer unzähligen Reibereien hatte es Dirk noch nie gewagt, Hand an Lyra anzulegen.

„Haben sie deinen Exphere gesehen?“ Der Zwerg ignorierte ihren Gefühlsausbruch und verdrängte ihren Wunsch nach Erklärung. Für ihn zählte im Moment nur eines: Antworten auf Fragen zu bekommen.

„Und selbst wenn.“ Lyra war nicht daran interessiert, eine eindeutige Antwort zu geben. „Ich bin nicht die einzige mit einem Exphere! Der Söldner von heute trägt auch einen - genau wie - ich und hat ebenfalls gegen Desians gekämpft.“

Lyra legte es darauf an, dass Fass zum Überlaufen zu bringen. Und sie schien auch ein wahres Talent dafür zu haben.

„Darum geht es nicht!“, hisste Dirk. „Die Desians sind hinter deinem Exphere her – weiß Martel warum! Es reichte bei weitem, dass deine Mutter schon deswegen ihr Leben lassen musste.“

Die gesamte Wut in Lyra verflossen ins Nichts, ersetzt durch Verwirrung und Entsetzen. Das Gefühl, wenn die Zeit für einen stehen blieb, war beängstigend. Als wäre man von endloser Dunkelheit umgeben, ohne einer Spur von Hoffnung oder Wärme.

„Sie... wurde ermordet?“ Ein Hauch. Nicht mehr entkam Lyras Lippen. Bis dato blieb sie im Glauben, ihre Mutter sei durch einen Unfall verunglückt. Sie biss sich auf die Lippen und unterdrückte ihre vor Zorn gefärbte Trauer. Warum erfuhr sie erst jetzt von der wahren Begebenheit? Warum so?

„Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?“, murmelte sie und wandte sich ab. „Du hättest mich nicht anlügen sollen!

In ihrer blinden Wut schmetterte sie die Eingangstür auf und lief hinaus. Sie wollte an einen Ort um alleine zu sein und sich zu fassen.

„Urg!“ - „...“

Nur gerade heute war es Lyra einfach nicht gegönnt, ihr Dasein alleine zu fristen.

„I-ihr?“ Verwundert blickte sie zu ihren Besucher und versuchte sich mit einer gut gemeinten Geste bei Kratos zu entschuldigen, weil sie in ihm reingelaufen war. Mit ausdrucksloser Miene schien er ihre Entschuldigung mehr oder weniger anzunehmen, doch überließ das Reden Refill: „Wir möchten gerne mit Dirk-san über morgen und die Reise an sich sprechen.“

„O-okay?“ Unbeholfen schritt Lyra zur Seite und machte Platz. Ihren Augen war es bis jetzt entgangen, doch erkannte sie nun die betroffenen Gesichter aller.

„Ich schätze mal, ihr habt alles mitangehört.“ Das Schweigen war Lyra Antwort genug. Wehmütig seufzte sie und bat selbst Collet, die eine Kleinigkeit mit ihrer Freundin besprechen wollte, um einige Minuten der Ruhe.

„Ich werde bei Noishe auf dich warten, Lyra.“

„Danke dir, Collet.“
 

Okaa-san...

Sanft strichen Lyras Finger über den rauen Grabstein. Die Umrisse des Grabes, die Aufschrift des Namens ihrer Mutter... all dies und noch viele Kleinigkeiten kannte Lyra in- und auswendig. Sie sank auf ihre Knie und faltete die Hände in Gebetsstellung. Sie konzentrierte ihre Gedanken und zwang sich, die abscheuliche Wahrheit zu vergessen. Blinde Wut würde ihre Mutter auch nicht mehr lebendig machen. Nichts auf dieser Welt würde diese Tatsache ändern können.

Getötet.

Von Desians.

„Wessen Grab ist das?“

Vollkommen aus ihren Gedanken gerissen schweifte Lyras Blick vom Grabe an und begutachtete die fragende Person, Kratos. Sie hatte weder sein Kommen noch seine Anwesenheit vernommen.

„Es... gehört meiner Mutter.“

Kein Zittern lag in der Stimme des Mädchens. Nein. Viel zu ruhig – als hätte nie das Schauspiel von Trauer, Wut und Verzweiflung in ihr stattgefunden – antwortete sie Kratos und stand langsam wieder vom Steinboden auf. Keineswegs ließ sie den Söldner aus den Augen, studierte neugierig sein Gesicht. Es blieb ein kläglicher Versuch, aus seiner Mimik schlau zu werden.

„Und dein Vater?“

Da kannte sie Kratos erst wenige Stunden und schon sagte ihr Gefühl, wen Kratos nun meinte. Gut. Logisch betrachtet würde sich die Frage in der Frage von selbst beantworten. Aber Lyra hörte nicht auf ihr Köpfchen, das 'logisch' nur mit Mühe und Not buchstabieren konnte.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht lebt er noch. Vielleicht auch... nicht.“

Gemächlich streckte sie ihre müden Gelenke und warf all die Trägheit und Last für den Augenblick von sich.

„Wird langsam Zeit. Ich sollte Collet nicht länger warten lassen.“
 

Der Windzug, als Lyra an ihm vorbeihuschte, kitzelte Kratos. Jedenfalls meinte er, ein Kitzel gespürt zu haben. Vielleicht war es auch vielmehr ein kalter Schauer. Dumpf hörte er die Mädchen von weitem Kichern, bis auch der letzte Laut von der Nacht verschluckt wurde. Trotz der Dunkelheit erkannten seine Augen den Schriftzug des Grabes, als wäre es heller Morgen.

„... Anna.“
 

„So~! Und nun...“

Lyra hatte Collet still und heimlich in ihr Zimmer gelotst und kramte – länger als eigentlich nötig – in ihrer Schublade und...

„Tada~!“

Übergab dem Geburtstagskind ein goldenes Kettchen, geschmückt mit einem roten Anhänger.

„Lyra!“ Freudestrahlend nahm Collet das Geschenk entgegen und bestaunte das Schmuckstück. In der Vergangenheit hatte ihre Freundin sich öfter daran versucht, die ein oder andere Kette oder Anhänger herzustellen, doch fehlte es dem Mädchen in Rot an Übung. Oder auch Talent, was natürlich keiner laut sagen wollte.

„Die ist wunderschö-!“

Klick

Klirrr

Zwei Geräusche, die man nicht unbedingt in Verbindung mit einem Goldkettchen hören möchte. Das feine Metall konnte dem Gewicht des Anhängers nicht standhalten und zerbrach in aberwinzige Teile.

„ARGH! Ich könnt' mich in den Hintern beißen!“ - „Ly-“ - „Nicht mal das mag mir gelingen!“

Schmollend ließ sich Lyra auf ihr Bett fallen und starrte auf einen zufälligen Punkt in ihrem Blickfeld. „Und das gerade heute...“

Amüsiert lächelte Collet. Lyras schmollendes Gesicht, verziert mit einem Hauch Ärgernis, war einfach zu niedlich.

„Danke dir, Lyra.“ Collet setzte sich auf ein freies Plätzchen am Bett. „Dieser Geburtstag... er ist der Schönste, den ich bis jetzt erlebt habe.“

„Also das wundert mich nicht!“ Augenblicklich saß das brünette Mädchen gerade auf ihrem Bett und stupste Collets Nase. „Ist auch dein erster Geburtstag ohne der traditionellen Feier im Tempel.“

Jahr für Jahr musste das Mädchen als Auserwählte der hiesigen Generation an einer eigens für sie stattfindenden Feier im Tempel teilnehmen. Nur ihre Familie und die Priester des Tempels waren befugt, Teil dieser Veranstaltung zu sein.

„Doch dafür erschienen das Orakel.“

„Ah...“

Eine sonderbare Stille schwebte im Raum. Jedes der Mädchen wollte das Schweigen auf ihre Art und Weise durchbrechen, doch wusste ein unsichtbares Hindernis dies zu untergraben. Im gleichmäßigen Rhythmus tickte die Standuhr im unteren Geschoss des Hauses. Sie zeugte von rustikaler Struktur und ihr lautes Ticken war selbst durch geschlossene Türen im gesamten Haus zu hören.
 

Das Ticken des Sekundenzeigers verstummte und wurde vom lauten Gong abgelöst. Zehn-, elf-, zwölf-mal.

Mitternacht. Collets sechzehnter Geburtstag, verblichen im unaufhörlichem Strom der Zeit, war nur mehr ein Fragment der Erinnerung.

„Wir werden morgen nach Mittag aufbrechen. Unser erstes Ziel ist... Triet.“

Durchaus merkbar verkrampften sich die zarten Hände der Auserwählten in ihrer Robe. Sie erwies sich als keine gute Schauspielerin wenngleich dahingestellt war, ob sie ihr Missbehagen auch wirklich verstecken wollte oder nicht. Ihre Unsicherheit war mit jeder Faser ihres Körpers zu erkennen.

„Collet...?“

„Das ist die offizielle Version.“

Behutsam, ohne ein Geräusch zu viel zu machen und die schneidende Stille zu durchbrechen, rückte Lyra an ihre Freundin und beobachtete sie eindringlich. „Offizielle Version?“, fragte sie nach.

„Vor den ersten Sonnenstrahlen werden Sensei, Kratos-san und ich Iselia verlassen.“, flüsterte Collet kaum hörbar. Man könnte schon fast meinen sie hätte Angst, dass die Wände ihre Worte aufsaugen und über die ganze Welt verstreuen würden.

„Und der Bürgermeister?“ Lyra wechselte ihre Position in den Schneidersitz und verschränkte die Arme. Ihr fehlte bei weiten die Energie um wie sonst so üblich einen Aufstand zu machen und zu protestieren. Zudem das letzte Wort in der Sache so und so noch nicht gesprochen war.

„Er ist sich des Vorhabens nicht im Klaren. Sonst würde er es zu aufhalten wissen.“

„Tatsache.“, schnaubte Lyra.

Collet!

Refills Ruf erklang durch das Haus und verkündete, dass die Zeit des Besuches vorbei war. Collet blieb nicht viel Zeit, also beugte sie sich zu Lyra und flüsterte die Nachricht hastig und in kurzen Sätzen in ihr Ohr. Es folgte ein zustimmendes Nicken seitens der Zuhörerin und schlussendlich wünschten sie einander eine gute Nacht.

„Gar nicht mal schlecht geplant, Collet.“
 

„Lyra!“

„Urgh…“ Ein Déjà-vu Erlebnis? „Genius, lass mich schlafen.“, brummte sie in ihr Kissen.

Lyra!“ Wie kam es, dass die Stimme ganz und gar nicht nach Genius klang? Viel zu tief und… beunruhigend. Gar angstauslösend.

BAMM

Der Blitz persönlich schlug in Lyras Zimmer ein. Aus dem Schlaf gerissen und halb verstört versuchte sie die Ursache des fürchterlichen Lärms herauszufinden. Nein. Es handelte sich natürlich um keinen Blitz, obwohl die Beschreibung schon sehr treffend war.

„O..yaji?“ Gähnend hielt Lyra sich die Hand vor dem Mund und schloss ihre Augen, obgleich sie diese wenige Augenblicke später wieder öffnete. Gemächlich begannen die Zahnrädchen in ihrem Kopf zu arbeiten und sie nahm den Hammer in Dirks Händen war. Das Werkzeug, wenngleich es viel mehr als Waffe diente, verfügte über eine stattliche Größe von mindestens einem Meter. Fiese Zungen würden gar behauptet, er sei genauso groß wie der Zwerg. Gebaut aus robusten Holz und der Kopf versiegelt mit einer dicken Metallschicht erwies sich der Hammer als tödliches Werkzeug – wusste man mit ihm umzugehen.

„Steh auf.“ Dirks Miene war weiterhin finster. Seine Stimmung schien an die von gestern Abend anzuknüpfen und Lyra überkam ein verdammt unangenehmes Gefühl. Es war nicht die Vorahnung, dass irgendetwas schlimmes passiert war oder passieren würde, die ihr diesen Eindruck des Unwohlseins vermittelte. Die Tatsache, dass ihr Ziehvater – schon wieder oder noch immer, wie man es auch sehen mag – eine solch überaus schlechte Laune mit sich trug, war Grund der Sorge genug für sie.

„Was ist los, Oyaji?“

Nickend deutete er Lyra, dass sie aus dem Fenster schauen sollte. Ein kalter Schauer überfiel sie und wie in Zeitlupe wagte sie einen Blick in die Ferne.
 

Schwarze Rauchwolken.
 

Iselia stand in Flammen.



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