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Einen Penny für deine Gedanken

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Einen Penny für deine Gedanken

1
 

Michael Rowe, den alle nur Miki nannten, weil er für sein Alter so klein war, saß auf dem Bordstein vor dem Haus seiner Eltern und schob Autos hin und her. Er war sieben Jahre alt, ging in die erste Klasse der örtlichen Grundschule, hatte blondes, wirres Haar und braun gebrannte Haut. Er ließ ein rotes gegen ein graues Auto knallen und kicherte, als das graue vom Bordstein auf die glatt asphaltierte Straße purzelte und dort auf dem Dach aufschlug.

„Hilfe! Oh Gott, Hilfe! Holt mich hier raus, es brennt!“, rief Miki gedämpft und griff mit der linken neben sich, um das Feuerwehrauto zum Einsatz zu bringen.

„Wir sind unterwegs.“, flüsterte er und fuhr den Wagen die abgeflachte Borsteinkante links neben sich hinunter. Er parkte den Einsatzwagen neben dem Unfallwagen und zog die winzige Leiter aus.

„Wir löschen!“ Miki ließ imaginäres Wasser durch den Schlauch rauschen. Als der Unfallwagen gelöscht war, ließ er zwei unsichtbare Feuerwehrmänner die Insassen herausholen.

„Ich fühle keinen Puls. Beatmen!“, rief er und ließ die Feuerwehrmänner die zwei Unfallopfer retten. Dann wurden sie ins Krankenhaus gebracht, das hinter dem schmalen Gulligitter lag, das sich direkt unter Mikis Sitzplatz im Bordstein befand.

„Sie sind in Sicherheit.“ Miki schaffte das Unfallauto beiseite und ließ den Unfallfahrer Fahrerflucht begehen. Er kicherte.

„Miki? In einer halben Stunde gibt es Mittagessen, in Ordnung?“ Miki hob den Kopf und sah seine Mutter. Sie stand, mit zwei braunen Papiertüten bepackt, neben ihrem Auto, das in der Einfahrt zum Haus stand. Miki hatte sie gar nicht kommen gehört, aber so war das eben, wenn man ins Spiel vertieft war.

„OK, Mom. Ruf aus dem Fenster.“, antwortete er und lächelte kurz, dann wandte er sich wieder seinen Autos zu. Das Küchenfenster des Hauses ging auf die Straße hinaus und immer, wenn Miki vor dem Haus spielte, brauchte Mikis Mutter nur das Fenster zu öffnen, um Miki zum Essen zu rufen. Das war eine sehr praktische Angelegenheit.

„Fein. Bis gleich, mein Schatz.“ Noch einmal hob Miki den Blick und lächelte seine Mutter an.

„Ja, bis gleich.“, sagte er, dann betrachtete er wieder den Unfallschauplatz. Der Unfallfahrer fuhr davon und machte sich leise flüsternd Vorwürfe, dass er vielleicht zwei Menschen getötet hatte. Er konnte ja nicht wissen, dass sie beide schon im Krankenhaus waren. Einer mit einem gebrochenen Bein, der andere mit zwei gebrochenen Armen. Aber beiden ging es soweit gut.
 

Mikis Mutter schaute noch einen Augenblick ihrem jüngsten Sohn beim Spielen zu, dann wurden die Tüten zu schwer und sie ging ins Haus. Es war verrückt, wie unterschiedlich Kinder sein konnten. Melanie Rowe hatte zwei Söhne. Miki war unglaublich selbstständig, lebensfroh und weltoffen. Sein älterer Bruder Jake dagegen war verschlossen, still und ziemlich schüchtern. Melanie dachte an das Sommerfest von Jakes Schule vor einer Woche. Sie war mit Miki dort gewesen und der Kleine war sofort alleine losgestürmt, hatte alle Menschen angesprochen, die ihm bekannt erschienen waren und hatte sich allein einen schönen Tag gemacht. Jake dagegen, der immerhin vier Jahre älter war, hatte sich immer neue Vorwände ausgedacht, um nur ja nicht die schützende Seite seiner Mutter verlassen zu müssen. Melanie lachte und machte sich daran, das Mittagessen zu kochen. Bis Jake aus der Schule kam, würde es fertig sein.
 

„Na, mein Kleiner? Was spielst du denn da Schönes?“ Miki hob verwirrt den Blick. Zuerst sah er zwei grobe, schwarze Motorradstiefel. Er fand sie unglaublich cool. Sein Vater hatte solche gehabt und wenn er Miki manchmal auf seinem Motorrad hatte mitfahren lassen, hatte er Miki versprochen, dass er eines Tages auch solche Stiefel bekommen würde. Miki runzelte die Stirn. Er dachte daran, dass sein Vater sein Versprechen jetzt wohl nicht mehr halten würde. Er hatte ihm ja nicht einmal etwas zu seinem letzten Geburtstag geschenkt. Blödmann.

Dann wanderte Mikis Blick an zwei schlanken, aber durchaus muskulösen Waden hinauf, Jeans mit vielen dünnen Stellen und dann über den Knien zwei große Löcher. Die Haut darunter war braungebrannt. Miki liebte Hosen mit Löchern. Er hatte einmal seine Lieblingshose zerschnitten, das hatte ziemlichen Ärger gegeben. Sein Bruder hatte ihm hinterher gesagt, dass es echt cool gewesen war, was er gemacht hatte. Darauf war Miki echt stolz gewesen. Allerdings hatte er zwei Wochen Hausarrest dafür bekommen, das war gar nicht cool gewesen. Miki kicherte.

„Was ist denn so lustig?“ Mit einem Ruck rutschte Mikis Blick von den zerlöcherten Jeans hinauf zu einem Kopf mit wuscheligen, langen, schwarzen Haaren, ebenso braungebrannter Haut, wie die Haut an den Knien, funkelnden, blauen Augen und einem schmalen Mund, der breit lachte.

„Oh, nichts.“, sagte Miki rasch. Wow, dachte er. Der Mann, der neben ihm stand, sah aus wie ein echter Motorradrocker. So einer, wie Miki manchmal spät abends im Fernsehen sah, bei den Filmen, die sein Bruder und er heimlich schauten, wenn seine Mutter abends wegging, oder arbeiten musste. Echt cool.

„Na, was spielst du da?“ Miki schaute auf seine Autos, dann spürte er, dass er rot wurde. Oh je, wie uncool. Wenn er dem coolen Motorradmann jetzt erzählte, dass er Unfallauto gespielt hatte, würde der ihn sicher auslachen. Miki dachte, dass er sich selber auslachen würde. Also biss er sich nur beschämt auf die Unterlippe und starrte auf seine Turnschuhe. Er sah, dass der rechte ein winziges Loch über dem großen Zeh hatte. Yeah, dachte Miki kurz, dann kriege ich bald Neue.

„Sag mal, bist du Miki?“ Ohne nachzudenken hob Miki den Kopf und sah dem Fremden erstaunt ins Gesicht.

„Woher weißt du das?“, rief er beeindruckt. Der Mann lachte freundlich und hockte sich zu Miki hinunter.

„Ich bin Seth.“, antwortete er und Miki fragte sich, ob der Mann glaubte, dass sei wirklich eine Antwort auf seine Frage. Dann dachte er, was für ein endcooler Name Seth war. Viel cooler jedenfalls, als Miki.

„Ich bin Michael.“, sagte Miki deshalb rasch und bemerkte sehr wohl, dass ein verschmitztes Grinsen die Lippen des Mannes zum Kräuseln brachte.

„Hallo Michael. Weißt du, ich wollte zu deiner Mom.“ Miki hob die Augenbrauen und öffnete überrascht den Mund. So ein cooler Mann wollte zu seiner Mutter? Ja, OK, seine Mutter war echt richtig nett. Aber cool war sie ganz und gar nicht. Miki schüttelte den Kopf.

„Sicher?“, fragte er und Seth lachte.

„Na klar! Wir haben uns letzte Woche auf dem Sommerfest kennen gelernt. Sie hat mir angeboten, doch mal vorbei zu schauen und heute habe ich mich entschlossen, genau das zu tun.“ Miki staunte Bauklötze. Wie krass das wäre, wenn dieser coole Kerl seine Mutter heiraten würde. Dann hätte er endlich einen echt coolen Vater.

„OK. Wir essen gleich, dann kannst du ja mit rein kommen.“ Miki strahlte über das ganze Gesicht. Seth lachte, dann schüttelte er den Kopf.

„Oh, ich glaube, das wäre keine gute Idee. Weißt du, ich wollte lieber mit ihr alleine sprechen. Sag mal, ist sie heute Abend daheim?“ Miki spürte die Welle der Enttäuschung, die ihn durchströmte. Doch er nahm sich zusammen.

„Klar. Sie muss erst morgen Abend wieder arbeiten. Mein Bruder und ich müssen um neun im Bett sein.“ Seth hob eine Augenbraue, was unglaublich cool aussah und grinste dann.

„Na, du bist mir ja Einer.“, sagte er und Miki fand, dass das unglaublich gut klang. Wie ein Kompliment. Er legte sein coolstes Grinsen auf und nickte. Dann fing ein Blitzen Mikis Blick auf und er betrachtete Seths Jacke. Es war eine schwarze Lederjacke, aber nicht so eine dumme, wie die Kids sie manchmal trugen, sondern eine echte. Eine Motorradjacke mit Nieten an den Schultern und vielen Schnallen und Knöpfen. Miki wurde unglaublich neidisch. Wie gern er so eine gehabt hätte!

„Einen Penny für deine Gedanken.“

„Huh?“

„Einen Penny für deine Gedanken.“ Seth lächelte und Miki musste lachen. Es war ihm peinlich, dass er Seth angestarrt hatte. Sicher hatte er es bemerkt.

„Ach nein.“, sagte Miki und wandte den Kopf nach vorn, um die Häuser auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig anzusehen. Er spürte, dass seine Wangen ein wenig rot wurden und ärgerte sich darüber.

„Komm schon, du hast sicher etwas Interessantes gedacht.“, meinte Seth und setzte sich neben Miki auf den Bordstein. Miki schielte zu ihm und dachte, dass er gerade unglaublich cool aussehen musste, mit diesem großen, coolen Mann neben sich. Er biss sich auf die Zunge, um sich nicht zu verraten.

„Einen Dollar?“ Miki hob die Brauen und schaute Seth an. Der hatte einen Dollarschein in der Hand und wedelte damit vor Mikis Gesicht herum.

„Ein ganzer Dollar, nur, dass ich dir sage, was ich denke?“ Miki konnte sein Glück kaum fassen. Das war echt obergenial. Von seiner Mutter bekam er nie Geld dafür, dass er ihr etwas erzählte. Miki zuckte mit den Schultern.

„OK.“, sagte er, nahm den Dollar und steckte ihn innen in seinen Turnschuh. Manchmal klaute Jake ihm sein Taschengeld, wenn Miki nicht aufpasste. Aber auf das Versteck im Turnschuh war sein Bruder noch nicht gekommen.

„Also, was denkst du?“ Seth verschränkte die Arme auf den Knien und legte seinen Kopf darauf. Er sah Miki an. Miki fand das unglaublich schön. Es war fast so, als wäre Seth sein großer Bruder. Oder ein cooler Freund. Auf jeden Fall wollte Miki, dass er am Abend wiederkam, um seine Mutter zu treffen.

„Ich wollte immer so eine Jacke haben.“, sagte Miki schließlich und lächelte, ein wenig beschämt. Seth lächelte auch und Miki war überrascht, dass er nicht lachte. Er nickte sogar. Miki lächelte. Das Gefühl der Scham war verschwunden.

„Vielleicht bekommst du irgendwann auch so eine. Und wenn du sie nicht bekommst, musst du sie dir kaufen. Irgendwann.“ Miki nickte. Seth lächelte. Dann schlug er sich auf die Knie, was Miki ein Zucken entlockte und stand auf.

„In Ordnung, Partner, jetzt muss ich aber weiter. Wir sehen uns.“ Miki sah zu Seth hinauf. Er wollte nicht, dass er schon wieder ging. Aber er wollte auch nicht wie ein Baby aufstehen und sich an ihn klammern. Also blieb er sitzen und nickte nur.

„Alles klar.“, sagte er und nickte Seth zu. Diese Geste hatte er von den Jugendlichen abgeschaut. Das war eine coole Art, sich zu begrüßen und sich wieder zu verabschieden. Seth nickte zurück und hob eine Hand. Er winkte kurz, dann machte er kehrt und ging den Gehsteig entlang. Miki sah ihm nach. Er wünschte sich, dass Seth sich noch einmal umdrehte. Da drehte Seth sich um und als er Mikis Blick sah, lächelte er noch einmal und winkte kurz. Dann drehte er sich wieder weg und ging weiter. Mikis Herz machte einen freudigen Sprung, als Seth sich umdrehte. Er winkte zurück und beobachtete, wie Seth schließlich um eine Ecke bog und verschwand. Wow, hoffentlich kommt er wieder, dachte Miki und seufzte. Er betrachtete seine Autos. Plötzlich war ihm die Lust vergangen, noch weiter mit ihnen zu spielen. Er war doch kein Baby mehr.

„Miki! Komm rein, es gibt Essen!“ Miki hob den Blick und drehte den Kopf. Da stand seine Mutter am Küchenfenster und winkte ihm. Miki stand auf und tapste missmutig zur Haustür. Er hatte keine Lust, jetzt schon hinein zu gehen. Seine Mutter kam ihm entgegen und öffnete die Tür.

„Mensch Mom, sag mir das nächste Mal vorher Bescheid.“, murrte Miki.

„Na hör mal, Bursche. Vor eine halben Stunde schon hab ich dir Bescheid gesagt.“ Miki runzelte die Stirn.

„Hast du?“

„Mach dich nicht über mich lustig, Michael Rowe. Und jetzt setz dich an den Tisch, Jake muss jeden Augenblick kommen.“ Miki zuckte die Schultern und ging in die Küche. Er setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete den Tisch.

„Miki! Geh und zieh die Schuhe aus, was soll denn das?“ Miki hob den Blick, schaute verdattert und sah dann auf seine Füße. Oh je. Das hatte er vollkommen vergessen. Mist, er wusste doch, wie sehr seine Mutter es hasste, wenn sie mit Schuhen durchs Haus liefen. Wieso hatte er es vergessen?

Rasch zog Miki die Schuhe aus und lief dann auf Socken zurück in den Flur, um die Schuhe dorthin zu stellen.

„Tschuldigung, Mom.“, rief er in die Küche. Er bekam ein Grummeln zur Antwort. Miki ging in die Küche zurück und setzte sich wieder.

„Mensch, Miki. Was ist heute bloß los mit dir? Setz dich auf deinen Platz!“ Wieder schaute Miki seine Mutter irritiert an, dann schlug er sich gegen die Stirn.

„Sorry!“, entgegnete er, stand wieder auf und setzte sich einen Platz weiter. Er wusste ja, wie pingelig Jake damit war, immer auf demselben Stuhl zu sitzen. Ach du meine Güte, er war wirklich ziemlich durcheinander.
 

Es klingelte. Miki sprang auf, lief zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand Jake, mit hochrotem Kopf und völlig außer Rand und Band geratenen Haaren.

„Was machst du denn hier?“, fragte Miki und bekam ein spöttisches Schnauben zur Antwort. Jake drängte sich an Miki vorbei, streifte seine Schuhe ab und warf seinen Rucksack in die Ecke.

„Hey Mom.“, begrüßte er seine Mutter und wusch sich rasch die Hände am Spülbecken. Miki schloss die Tür und beschloss, seine Verwunderung darüber, dass Jake schon zurück war als kleine Ausfallerscheinung abzutun. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass es genau die richtige Zeit für Jake war, heimzukommen.

„OK, Mom, ich hab Hunger.“, beschloss Jake in der Küche gerade und Miki setzte sich wieder. Ihre Mutter nahm drei Teller aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch und parkte dann noch drei Gläser daneben. Dann trug sie den dampfenden Topf vorsichtig vor sich her und stellte ihn auf den Untersetzer, den Jake ihr hingelegt hatte.

„Na dann, guten Hunger.“, sagte sie und lud Jake und Miki jeweils einen Haufen Spaghetti auf die Teller. Jake hielt seine Nase über die duftende Köstlichkeit. Miki nahm sich Soße, reichte den Schöpflöffel weiter an Jake und sah dann zu, wie seine Mutter sich selber auftat. Dann befasste er sich mit dem Nudelberg auf seinem Teller und dachte an nichts anderes mehr, als daran, wie herrlich würzig die Soße über seine Zunge lief.
 

2
 

Am Abend brachte Melanie ihre beiden Söhne zu Bett. Miki und Jake teilten sich ein Zimmer. Nicht, dass sie nicht ein Zimmer für jeden von ihnen gehabt hätten, aber Jake schlief schlecht und Miki hatte gerne Gesellschaft und so hatten sich die beiden entschlossen, das zweite Zimmer als ein gemeinsames Spielzimmer zu nutzen. In dem anderen standen ihre Betten, ihr Kleiderschrank und ihre Schreibtische.

„Schlaft schön, ihr beiden.“, sagte Melanie zum Abschied und schloss die Tür hinter sich. Jake rutschte auf dem Bett hin und her, um sich bequem hinzulegen. Miki schlief immer steif auf dem Rücken, ausgestreckt, wie ein Brett. Jake hatte ihn deswegen schon oft aufgezogen, aber Miki störte sich nicht daran.

„Nacht, Mom.“, riefen die beiden Jungs gemeinsam und sahen zu, wie der Lichtstrahl, der durch die Tür drang, kleiner und kleiner wurde. Schließlich war es dunkel. Nur langsam gewöhnten sich Mikis Augen an die Dunkelheit im Zimmer. Es war Sommer und draußen würde es noch etwa eine Stunde lang hell sein. Durch die dicken Vorhänge vor den zwei schmalen Fenstern drang schummriges Licht und ließ Miki schließlich wenigstens Schemen und Umrisse erkennen.

„Du, Miki, bist du noch wach?“ Miki gähnte und nickte. Dann fiel ihm ein, dass Jake das nicht sehen konnte.

„Klar.“, sagte er deshalb und stopfte nebenbei seine Decke um sich herum fest.

„Soll ich dir was erzählen?“

„Klar.“

„Heut in der Schule hab ich Jamie Lierson verprügelt.“ Miki gab ein überraschtes Keuchen von sich und setzte sich im Bett auf.

„Ehrlich?“ Dass sein sanftmütiger, ruhiger, schüchternen Bruder jemanden verprügelte, gehörte nun wirklich nicht zu den Dingen, die man beim abendlichen Smalltalk erwartete. Jake kicherte leise. Miki vermutete, dass er sich die Hand vor den Mund hielt, damit ihre Mutter sie nicht hörte.

„Ja, ehrlich! Es war total irre!“ Miki pfiff leise durch die Zähne. Er war schwer beeindruckt.

„Das ist klasse. Dieser Blödmann hatte das jawohl lange verdient.“ Jake stimmte seinem Bruder zu.

„Er hat mich dumm angemacht. Als ich weggehen wollte, hat er mich geschubst und da hab ich einfach mal zurück geschubst. Das Gefühl war herrlich, glaub mir. Ich war fast froh, als er danach versucht hat, mir eine zu kleben. Stattdessen hab ich ihm eine geklebt. Dann haben wir uns geschlagen und am Ende saß ich auf seinem Bauch und hab seine Arme festgehalten. Echt krass.“ Miki kicherte hinter vorgehaltener Hand.

„Echt krass.“, stimmte er zu und strahlte in die Dunkelheit. Miki hatte sich schon öfters mit fiesen Klassenkameraden geprügelt und seinem Bruder immer wieder geraten, das bei Jamie Lierson auch mal zu versuchen. Jamie war der Rüpel in Jakes Klasse und niemand traute sich, sich gegen ihn zu wehren. Es war wirklich Zeit, dass sich das änderte.

„Du, Miki?“

„Ja?“

„Glaubst du, Mom wird sauer, wenn sie das mitbekommt?“ Miki schnaubte durch die Nase.

„Klar. Hat euch jemand erwischt?“

„Ja. Ich musste zum Direktor und er hat gesagt, er würde noch heute Abend Mom anrufen. Bisher hat er’s ja nicht getan, aber bestimmt macht er’s noch.“ Miki seufzte.

„Ist doch egal. Mom versteht das sowieso nicht. Manchmal muss man sich eben prügeln.“ Jake seufzte ebenfalls. Dann hörte Miki, wie er sich zurechtlegte und schließlich still lag.

„Glaubst du, Dad würde es cool finden?“, fragte Jake schließlich leise und brachte Miki dazu, wütend zu grummeln.

„Scheiß auf Dad.“, zischte er dann, als er sich etwas beruhigt hatte. Wen interessierte schon die Meinung eines Mannes, der einen nicht einmal am Geburtstag anrief. Miki schloss die Augen. Das Bild von seinem Vater tauchte vor seinem inneren Auge auf. Dann verschwamm das Bild langsam. Miki runzelte die Stirn. Erst verschwammen die Augen, dann die Nase, der Mund und schließlich hatte sich das ganze Gesicht seines Vaters in einen breiigen Nebel verwandelt. Miki öffnete erschrocken die Augen wieder. Er spähte durch die Dunkelheit zu Jake, doch der rührte sich nicht. Er sagte auch nichts mehr. Miki schloss langsam wieder die Augen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er etwas so Gemeines über seinen Vater gedacht hatte. Er versuchte, das Gesicht seines Vaters wieder vor seinem inneren Auge zu sehen, um sich im Stillen zu entschuldigen. Doch nach einigen Sekunden musste Miki verwirrt feststellen, dass immer, wenn er versuchte, an seinen Vater zu denken, er nur diesen breiigen Nebel sah. Er sah aus, wie Wasser, in das nach und nach Tuben mit breiiger Farbe hinein gequetscht wurden. Echt hässlich.

Miki öffnete die Augen wieder. Na schön, dann war er eben immer noch sauer auf seinen Vater. Was soll’s. Miki beschloss, nicht mehr daran zu denken und stattdessen einzuschlafen. Morgen war Samstag, da konnten sie lange schlafen und dann den ganzen Tag draußen spielen. Prima. Miki schloss die Augen und schlief wenige Minuten später.

Dass es an diesem Abend nicht mehr klingelte und der fremde Mann, der Seth hieß, nicht mehr kam, um sich mit seiner Mutter zu treffen, bekam Miki nicht mehr mit. Aber selbst, wenn er es mitbekommen hätte, hätte er sich nichts dabei gedacht. Er hatte seine Begegnung mit Seth am Mittag schon längst wieder vergessen.
 

3
 

Um halb neun am nächsten Morgen weckte Miki ein merkwürdiges Gefühl. Als er die Augen öffnete, wusste er selbst nicht, was für ein Gefühl das war. Er fühlte sich einfach merkwürdig. Er hatte geträumt, aber er konnte sich nicht erinnern. Was an sich schon merkwürdig war, weil er sich sonst jeden Morgen an seinen nächtlichen Traum erinnern konnte.

Miki rieb sich die müden Augen und schaute sich dann im Zimmer um. Oh, das war komisch. Miki runzelte die Stirn. Als dann der letzte Rest Müdigkeit langsam verflog und sein Blick sich an die Helligkeit des Zimmers gewöhnt hatte, wusste Miki plötzlich, woher das merkwürdige Gefühl gekommen war. Wo war er denn bloß?
 

Miki machte große Augen. Er sah sich im Zimmer um und suchte Jake. Aber Jake war nicht zu sehen. Dann suchte Miki wenigstens Jakes Bett, aber auch das war verschwunden. Miki rieb sich nochmals die Augen. Vielleicht hatte er sich verguckt. Doch als er wieder klar sah, musste Miki feststellen, dass sowohl Jake, als auch Jakes Bett, sowie die Schreibtische, der Kleiderschrank, der Teppich, die Fenster, die Tapete und, als Miki an sich hinunter sah, auch sein eigenes Bett, sowie sein Schlafanzug verschwunden waren.

Miki keuchte erschrocken auf. Eine Sekunde lang dachte er, dass er vielleicht doch noch träumte, dann erkannte er, dass dem nicht so war. Er lag in einem metallenen Bett. Über seinen Beinen lag eine weiße, steife Bettdecke. Mikis Arme waren nackt. Seine Brust bedeckte ein hellgrau gemusterter, weißer Stoff. Miki fuhr an sich hinab und stellte fest, dass er ein Nachthemd trug.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihm und er schüttelte ungläubig den Kopf. Dann war er sich sicher, dass jemand, vermutlich Jake, ihn furchtbar hereinlegte. Miki stand auf, betrachtete wütend das flatternde Hemdchen um sich herum und lief dann zur Tür. Nebenbei stellte er fest, dass sowohl die Tür, als auch die Wände und die Decke weiß waren. Nur der Boden nicht. Aber da war kein weicher Teppich, wie in seinem Kinderzimmer, sondern kühler, grauer Plastikboden. Miki fiel das Wort nicht ein, wie diese Art von Boden hieß. Aber er wusste, dass er aus Plastik war.
 

Miki erreichte die Tür. Er legte seine Hand an die Klinke und zuckte zusammen, weil sie so kalt war. Eine Gänsehaut überzog Mikis nackte Arme und er fröstelte. Einen schrecklichen Augenblick lang war Miki sich sicher, dass die Tür nicht aufgehen würde. Doch sie öffnete sich, leise quietschend, und offenbarte Miki den Blick auf einen langen, hellgelb gestrichenen Flur. Miki sah die Stangen, die an beiden Seiten des Flures entlang führten und wusste schlagartig, wo er war. Er war im Krankenhaus.

Irritiert blieb Miki stehen. Dann schaute er an sich hinunter. War er verletzt? Miki war schon einmal hier gewesen, da hatte er sich mit fünf Jahren den Arm gebrochen. Aber was hatte er denn nun? War er vielleicht hingefallen und hatte eine Gehirnerschütterung? Das hatte Jake mal gehabt und da war es genauso gewesen. Miki hatte Jake im Krankenhaus besucht und Jake hatte ganz überrascht ausgeschaut, als er aufgewacht war. Er hatte nicht gewusst, wo er war und hatte seine Mutter ganz verwirrt gefragt, warum es draußen so hell war. Weil Jake am Abend gefallen war und erst am nächsten Morgen im Krankenhaus aufgewacht war.
 

Miki stellte fest, dass er sich nicht krank fühlte. Ihm tat auch nichts weh. Und er fand auch keine Beulen, Schrammen, oder sonst was. Aber Miki wäre nicht Miki gewesen, wenn er sich davon hätte aus der Ruhe bringen lassen. Er wusste, dass viele Leute im Krankenhaus arbeiteten. Einer davon wusste sicher, warum er hier war.

Also lief Miki den langen, hellen Flur entlang, auf der Suche nach einem Arzt, oder einer Krankenschwester. Nach vielleicht zehn Metern entdeckte Miki ein Loch in der Wand des Flures. Dahinter einen Tisch und einen Tresen, zu hoch, als das Miki hätte darüber schauen können.

„Hallo?“, fragte er versuchsweise und plötzlich erschien ein blonder Lockenkopf über dem Tresen.

„Oh!“, rief die blonde Schwester überrascht und kam rasch hinter dem Tresen hervor.

„Miki, du sollst doch nicht einfach so hier herumgeistern.“, sagte sie vorwurfsvoll und lächelte liebevoll. Miki runzelte die Stirn. Dann zuckte er mit den Schultern.

„Das kann ich doch nicht wissen.“, sagte er und grinste frech. Die Schwester schaute kurz verwirrt, dann wurde ihr Gesichtsausdruck plötzlich ernst. Sie trat zu Miki heran und nahm ihn sacht an der Hand.

„Natürlich nicht. Weißt du was, ich bringe dich wieder zu deinem Zimmer und rufe Doktor Lance, was meinst du?“ Miki zuckte nochmals mit den Schultern.

„OK.“, sagte er und ließ sich von der Schwester zu seinem Zimmer führen. Sie verschwand wieder und Miki setzte sich auf sein Bett. Dann stand er wieder auf und trat an das Fenster. Es war hoch und schmal. Miki sah einen hübschen Park mit viel Rasen, geschwungenen Wegen und hohen, dicken Bäumen. Er runzelte die Stirn. Als Jake hier gewesen war, hatte er gar keinen Park gesehen. Schade, da hätte er doch prima spielen können, während seine Mutter all die langweiligen Gespräche mit den Ärzten geführt hatte.

„Ah, Michael. Schön, dich zu sehen.“, erklang da eine Stimme hinter Miki und er drehte sich herum. Da stand ein Mann in einem weißen Arztkittel und lächelte ihn freundlich an. Miki entschloss sich ebenfalls zu einem Lächeln.

„Guten Morgen.“, sagte er und der Arzt schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf Mikis Bett.

„Na, wie geht es dir heute?“ Miki seufzte. Das war alles irgendwie unheimlich anstrengend.

„Mir geht es gut. Aber ich weiß nicht, warum ich im Krankenhaus bin. Und wo ist meine Mom?“ Der Arzt lächelte und klopfte neben sich auf die Bettdecke. Miki tapste zu ihm und kletterte auf das Bett. Er setzte sich im Schneidersitz darauf und sah dem Arzt in die freundlichen Augen.

„Lass mich dir eine Frage stellen, Michael.“, bat der Arzt und Miki nickte.

„In Ordnung. An was erinnerst du dich? Ich meine, was ist genau passiert, bevor du hier aufgewacht bist?“ Miki runzelte die Stirn und dachte nach. Dann lächelte er.

„Naja, ich bin ins Bett gegangen und dann bin ich hier aufgewacht.“, sagte er und war ein wenig erschrocken, als er den besorgten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht des Arztes sah.

„Ist was mit mir passiert?“, fragte Miki und war noch einmal erschrocken, weil er hörte, dass seine Stimme ein bisschen zitterte. Er schluckte.

„Nun, das wissen wir leider nicht so genau, Michael.“

„Was soll das heißen?“ Plötzlich durchflutete Sorge, Angst und dann Panik Mikis Gedanken. Sein Magen rumorte ganz unangenehm und brachte Miki dazu, seine Hände schützend auf seinen Bauch zu legen. Der Arzt legte Miki eine Hand auf die Schulter.

„Ich möchte, dass du mich anschaust. Ich sage dir jetzt, was wir wissen und ich möchte, dass du versuchst, weiter ganz ruhig zu atmen. Wenn dir schwindelig wird, dann sagst du es mir, in Ordnung?“ Miki nickte mechanisch und musste sich arg zusammen reißen, um zu verhindern, dass seine Gedanken abschweiften und er dem Arzt nicht mehr richtig zuhörte.

„Also, Michael. Du denkst, du bist gestern Abend ins Bett gegangen und heute Morgen hier aufgewacht. Aber das stimmt nicht. Weißt du, was eine Ohnmacht ist?“ Miki nickte wieder. Er sah den Arzt an, versuchte auch, ihn wirklich anzusehen, aber sein Gesicht verschwamm vor Mikis Augen.

„In Ordnung. So etwas Ähnliches hast du auch, verstehst du? Du bist an dem Abend eingeschlafen und als du am nächsten Morgen aufgewacht bist, wusstest du nicht mehr, wo du warst. Deine Mom hat dich ins Krankenhaus gebracht. Als sie mit dir dort war, hast du gar nicht mehr gewusst, dass sie deine Mom ist. Die Ärzte haben vermutet, dass du vielleicht eine Krankheit hast, oder gefallen bist, aber sie haben nichts gefunden. Du warst nicht krank und du hattest dich auch nicht verletzt. Es war ein wenig so, als ob du einfach alles vergessen hättest. Verstehst du das?“ Miki schüttelte den Kopf. Der Arzt drückte sanft Mikis Schulter. Er lächelte. Miki schaute ihn an und legte den Kopf schief.

„Du bist zwei Tage im Krankenhaus geblieben und als du am dritten Tag aufgewacht bist, hattest du wieder alles vergessen. Einfach so, wie es schien. Du bist wieder aufgewacht und hast gefragt, wo du bist. Und seitdem geht das so. Du wachst eines Tages auf, hast alles vergessen und denkst, gestern seiest du ins Bett gegangen und heute seiest du an einem Ort aufgewacht, den du noch nie zuvor gesehen hast.“ Miki schüttelte den Kopf. Dann seufzte er. Dann kullerte eine verwirrte Träne über seine Wange. Der Arzt zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Kittels und wischte die Träne fort.

„Aber ich weiß, dass ich schon einmal hier war.“, sagte Miki schließlich schluchzend. Der Arzt lächelte. Miki gefiel das Lächeln nicht. Es sah so aus, wie man alte Leute anlächelt, die einem jeden Tag dieselbe Geschichte erzählen. Verdammt.

„Jake war hier früher mal im Krankenhaus. Er hatte eine Gehirnerschütterung.“

„Nein, Michael.“ Der Arzt schüttelte den Kopf und reichte Miki das Taschentuch. Er nahm es und putzte sich geräuschvoll die Nase.

„Das hier ist nicht dasselbe Krankenhaus.“ Miki nickte heftig.

„Jawohl ist es das!“, rief er, doch er wusste, dass das nicht stimmte.

„Nein, Michael, das ist es nicht. Das hier ist eine Klinik für Kinder, die Probleme haben. Solche Probleme, wie du. Die nicht richtig krank sind, denen es aber trotzdem schlecht geht.“ Miki schnaubte, streifte die Hand des Arztes ab und rümpfte die Nase.

„Ein Irrenhaus.“, stellte er nüchtern fest und zog die laufende Nase hoch. Der Arzt nickte und lächelte warm. Er versuchte, Miki zu beruhigen.

„Wenn du es so nennen möchtest. Wir versuchen hier, dir zu helfen, dich wieder zu erinnern.“

„Aber ich kann mich nicht erinnern!“, schrie Miki plötzlich und wollte vom Bett springen, doch der Arzt hielt ihn zurück. Er hielt ihn fest und Miki spürte, dass er so stark war, dass er sich gar nicht erst zu wehren brauchte. Also ließ er es zu, dass der Arzt ihn auf seinen Schoß hob und ihn sanft hin und her wiegte.

„Eines Tages wirst du es sicher. Wenn wir herausgefunden haben, warum du angefangen hast, alles zu vergessen.“ Miki weinte. Er sagte nichts mehr, sondern ließ seine Müdigkeit, seine Angst und seine Sorgen einfach aus sich heraus fließen.
 

4
 

Eine Stunde später hatte Miki seine Situation begriffen. Er lebte seit acht Monaten in dem weißen Zimmer, ohne sich daran erinnern zu können. Niemand konnte ihm erklären, warum das so war. Aber Miki wusste es. Er selbst war schuld daran. Er hatte für einen Dollar seine Gedanken verkauft und nun gehörten sie dem Mann mit den schwarzen Haaren, den coolen Stiefeln und der krassen Lederjacke. Miki hatte Seth dem Arzt gegenüber nicht erwähnt. Er wusste nicht, ob er das vielleicht in den letzten acht Monaten irgendwann einmal getan hatte und es war ihm auch egal. Als Miki gegen Mittag beschloss, den Fremden zu suchen und seine Gedanken von ihm zurück zu kaufen, fühlte er sich besser.
 

Der Arzt hatte ihm gesagt, dass es um zwei Uhr Mittagessen gab. Miki wollte dann schon nicht mehr in der Klinik sein. Ihm fiel ein, dass er vor drei Monaten Geburtstag gehabt hatte. Dann war er also nicht mehr sieben, sondern acht Jahre alt. Der Gedanke war merkwürdig. Miki sah sich in seinem Zimmer um, entdeckte aber keinen Schrank, oder sonst ein Möbelstück. Nur das Bett stand dort, mitten im Raum. Also würde er in seinem Nachthemd weglaufen müssen. Echter Mist. Aber trotzdem öffnete Miki um halb eins das Fenster, kletterte auf die Fensterbank und ließ sich schließlich aus dem Fenster auf den Erdboden gleiten. Was für ein Glück, dass sein Zimmer im Erdgeschoss lag. Miki sah zu dem Fenster hinauf und seufzte. Er wusste doch nicht einmal, wo er überhaupt war. Wie sollte er den Fremden finden? Unsicher lief Miki an dem Gebäude entlang, bis er eine Ecke erreichte. Als er vorsichtig um die Ecke herum spähte, sah er einen Zufahrtsweg, der vor dem Gebäude an einigen Parkplätzen endete. Miki beschloss, dem Weg zu folgen. Er hoffte, dass ihn niemand sehen würde und lief schnell, dann rannte er. Er genoss das Gefühl der Stärke, das ihn durchströmte, als sein Herz schneller schlug. Endlich verschwand das hässliche Gefühl, dass das alles nicht wahr sein konnte, dass er noch immer träumen musste, oder dass er tatsächlich verrückt geworden war.
 

Miki erreichte das Ende des Weges tatsächlich, ohne dass ihn jemand sah. Er wurde nicht zum Stehen bleiben aufgefordert, nicht zurückgehalten. Vor Miki lag eine breite Straße. Er sah nach rechts, dann nach links. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Flitzekacke, dachte er und kicherte.

Dann suchte er ein Straßenschild und fand schließlich eines, einige hundert Meter rechts die Straße hinunter. Es sagte ihm, dass er drei Meilen würde laufen müssen, um die Stadt zu erreichen. Miki wusste, dass er als Erstes versuchen musste, etwas anderes zum Anziehen zu finden. Wenn ihn jemand so sah, in seinem Irrenkleidchen, würde man ihn sicher wieder zurück in die Klinik bringen. Dann würde er dort schlafen, am nächsten Morgen vielleicht schon wieder alles vergessen haben und vielleicht nie wieder auf die Idee kommen, davon zu laufen, um Seth zu suchen.

„Oh Gott, bitte mach, dass er nicht verschwunden ist.“, sprach Miki sich selbst gut zu, während er sich auf den langen Weg in Richtung Stadt machte. Nach einer Viertelstunde stellte er fest, dass er fror. Das war kein Wunder, immerhin war der Sommer seit acht Monaten vorbei. Zwar galt dasselbe für den Herbst und den Winter, aber wenn Miki richtig überlegte, musste es jetzt Anfang März sein. Frühling. Keine sehr warme Jahreszeit. Miki blieb einen Moment stehen, um sich seine nackten Füße wieder warm zu rubbeln. Himmel, wenn er nicht bald irgendwoher Schuhe bekam, würden ihm die Zehen abfrieren.
 

Miki lief eine volle Stunde, dann sah er jemanden am Straßenrand. Rechts und links von der Straße gab es Gras und Büsche und inzwischen auch Bäume. Miki hatte hin und wieder einzelne Häuser gesehen, mit großen Gärten. Er hatte daran gedacht, dort hinein zu schleichen und sich Schuhe zu klauen, aber dann hatte er zu große Angst gehabt. Feigling, schimpfte er sich, dann konzentrierte er sich auf die Person, die vielleicht zehn Meter vor ihm an der Straße entlang schlurfte. Es war ein Penner. Miki kicherte. Penner. Der Mann schob einen Einkaufswagen vor sich her und als Miki näher kam, hörte er den Mann leise vor sich hin murmeln. Er wusste, dass er Hilfe brauchte, also beschloss er, einfach den Penner zu fragen, ob er ihm etwas zum Anziehen geben konnte. Es war ja auch egal, was der von ihm dachte. Er war ja selber nicht gerade ein Prachtbild von Mensch.

„Hallo, guten Tag.“, sprach Miki den Mann an, als er ihn schließlich erreicht hatte. Der Mann blieb stehen, wie erstarrt und warf den Kopf herum. Sein erschrockener, misstrauischer Blick erschreckte Miki zuerst, doch dann breitete sich ein Lächeln auf den spröden Lippen aus und Miki atmete tief durch.

„Hallo, du kleiner Kerl. Was machst du denn hier, allein auf der Straße, in einem Nachthemd?“ Miki musste lachen.

„Ich brauche was zum anziehen.“, sagte er und setzte sein schönstes Lächeln auf. Der Mann lachte heiser und tippte Miki gegen die Brust.

„Soso. Was zum Anziehen. Und wieso brauchst du was zum Anziehen?“ Miki hob die Schultern.

„Na, weil ich nur ein Nachthemd anhabe und mir kalt ist.“, sagte er freundlich und ging neben dem Mann her, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.

„Falsch.“, stellte der Mann fest und zauberte so eine kleine Schamesröte auf Mikis Wangen, der schon ahnte, was als Nächstes kommen würde.

„Du brauchst etwas zum Anziehen, weil du aus dem Irrenheim weggelaufen bist und nicht willst, dass das jemand rauskriegt.“, kicherte der Mann und hob scheltend den Zeigefinger gegen Miki. Miki sah zu Boden, aber er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Na, dann schauen wir mal, was wir für dich haben.“, sagte der Mann als Nächstes und blieb wieder stehen. Miki schaute ihn verwirrt an. Er hatte doch gerade gesagt, dass er aus dem Irrenhaus weggelaufen war, oder nicht? Wollte er ihn denn nicht zurückbringen?

„Weißt du, euch Kinder einzusperren, nur, weil ihr nicht so tickt, wie die Großen es gerne hätten – wo kommen wir denn da hin?“ Miki kicherte. Ja, das war wahr. Der Mann murmelte weiter vor sich hin, während er den Kram in seinem Wagen durchstöberte.

„Wie alt bist du denn?“

„Acht.“ Der Mann nickte.

„Du bist ganz schön mickrig für dein Alter.“ Miki wollte etwas Entrüstetes antworten, doch dann überlegte er es sich anders. Er wollte den missmutigen Mann nicht verärgern. Vielleicht brachte er ihn dann doch noch zurück.

„Ah, sieh mal an. Das ist doch was Feines.“ Der Mann zog eine Hose, ein Hemd, einen Pullover und ein zusammen gebundenes Paar Turnschuhe aus dem Krimskrams im Wagen heraus. Miki beäugte die Sachen zweifelnd.

„Bisschen groß vielleicht, aber immerhin warm, ne?“ Miki nahm die Sachen und betrachtete sie genauer. Sie hatten dem Mann gehört und so sahen sie auch aus. Sie waren dreckig, sie stanken und sie waren viel zu groß. Aber immerhin waren sie warm, genau, wie der Mann gesagt hatte.

„Danke.“, sagte Miki kleinlaut. Der Mann lachte laut.

„Zieh sie mal an.“ Miki seufzte. Dann legte er Pullover, Hemd und Schuhe auf den Boden und zog die Hose über. Er zog das Nachthemd heraus und zog dann den Reißverschluss zu. Die Hose rutschte ihm über die Hüfte herunter.

„Hier.“ Der Mann reichte Miki ein Stück Paketschnur. Miki zog es durch die Gürtelschlaufen der Hose und machte einen festen Knoten. Dann krempelte er die Hosenbeine so weit hoch, dass er nicht darüber stolperte. Als Nächstes zog Miki sein Nachthemd aus und fröstelte kurz, als der kühle Wind des Tages auf seine nackte Haut traf. Er zog das Hemd über, dann den Pullover. Der Mann half ihm, die Ärmel umzuschlagen. Miki stopfte das Hemd in die Hose. Jetzt passte sie schon etwas besser.

„Und die Schuhe. Warte, stopf die Socken rein.“ Miki nahm das Paar dicker, ehemals weißer Sportsocken und stopfte jeweils einen vorn in die Turnschuhe. Dann schlüpfte er hinein und kicherte. Dann lachte er laut. Er musste sicher unmöglich aussehen. Selber Penner, dachte Miki und grinste.

„Na was denn, steht dir doch prima!“ Der Mann lachte ebenfalls und beugte sich dann zu Miki hinunter.

„Sag mal, wo möchtest du denn hin?“ Miki deutete die Straße hinunter und seufzte.

„In die Stadt.“, sagte er, etwas verschüchtert. Der Mann nickte, dann hob er Miki mit einem Ruck hinauf auf seinen Einkaufswagen.

„Hey!“, rief Miki überrumpelt. Der Mann lachte und zwinkerte Miki dann zu.

„In den Schuhen kommst du nicht weit. Ich werde dich mitnehmen. Wie es der Zufall so will, bin ich auch auf dem Weg in die Stadt.“

„Danke!“, rief Miki und rückte auf dem gesammelten Zeug des Herumstreuners herum, bis er gut saß. Der Mann schob an und Miki genoss die Erleichterung für seine nackten Füße, die jetzt nicht mehr nackt waren.

„Und wieso möchtest du in die Stadt?“, fragte der Mann, während er gemächlich an der Straße entlang zockelte. Miki hob die Schultern und umschlang sich selbst mit den Armen. So war es wärmer. Langsam wirkten die zwei Kleidungsschichten.

„Ich muss meine Gedanken zurückkaufen.“, erklärte er und als der Mann verwundert grunzte, erzählte Miki ihm die Geschichte von dem fremden Seth, dem Dollar, den gestohlenen Gedanken und den vergessenen acht Monaten.
 

5
 

Eine weitere Stunde später hatte das merkwürdige Gespann die Stadt erreicht. Miki fühlte sich aufgeregt. Er überlegte, wo er zuerst suchen sollte. Der Mann schob den Einkaufswagen an den Straßenrand. Immer wieder brausten Autos an ihnen vorbei und manche hupten aufgebracht. Jedes Mal murrte der Mann dann wütend und erzählte Miki, wie ungerecht die Menschen mit Leuten wie ihm umsprangen. Miki nickte jedes Mal verständnisvoll.

„So, Kleiner. Hier endet unsere gemeinsame Reise dann wohl. Ich wünsche dir viel Glück auf der Suche nach diesem Seth. Hoffentlich findest du ihn und er gibt dir deine Gedanken zurück.“ Miki lächelte und schüttelte dem Mann dankbar die Hand, nachdem dieser ihn wieder aus dem Einkaufswagen auf den Boden gestellt hatte.

„Vielen Dank fürs Mitnehmen. Ich wünsche ihnen auch alles Gute.“ Miki wusste nicht so genau, was er sonst sagen sollte, aber der Mann schien zufrieden. Er nickte Miki freundlich zu, dann zog er murmelnd und fluchend ab. Miki sah ihm eine Weile nach, dann atmete er unschlüssig tief durch und begann seine Suche. Er überlegte, ob er zu seinem Haus gehen sollte. Vielleicht kam Seth ja wieder einmal daran vorbei. Doch dann entschloss er sich dagegen. Wenn seine Mutter noch dort wohnte und ihn sah, würde sie ihn sicher schneller zurück ins Irrenheim bringen, als er ‚Verkackter Hosenscheiß’ sagen konnte. Miki kicherte. Verkackter Hosenscheiß, das war echt genau das richtige Wort.

„Verkackter Hosenscheiß, verkackter Hosenscheiß.“, flüsterte Miki vor sich hin, während er die Straße überquerte und sich auf den Weg in den Stadtkern machte.

Jetzt in der Stadt, fiel sein merkwürdiges Aussehen kaum auf. Es gab in der City viele Penner und Straßenkids. Miki hatte die Jugendlichen oft gesehen, wenn er mit seiner Mutter in der Stadt zum Einkaufen gewesen war. Sie rauchten, tranken und sagten zu den Vorbeilaufenden ‚Der Herr ein bisschen Kleingeld? Nein? Die Dame vielleicht? Schade, schönen Tag noch.’ Miki grinste. Vielleicht konnte er das auch mal probieren. Er brauchte dringend passende Schuhe und unbedingt auch Geld, um seine Gedanken zurück zu kaufen. Miki beschloss, es zu versuchen.
 

6
 

Zwei Stunden später kaufte Miki sich von seinem erbettelten Geld einen Hamburger, setzte sich auf einen steinernen Blumenkübel, in dem außer Blumenerde gar nichts war und biss hungrig hinein. Der Burger dampfte und schmeckte gigantomanisch. Miki aß ihn auf und leckte sich genüsslich die Finger ab. Es war überhaupt nicht schwer gewesen, Geld zu bekommen. Miki hatte alle alten Omas angebettelt und die hatten fast alle ein paar Cents übrig gehabt und sie ihm mit ungläubigem Gesicht in die Hand gedrückt. Sie konnten wohl kaum glauben, dass er tatsächlich auf der Straße bettelte. Eigentlich hatte es Miki Spaß gemacht. Wenn er gewusst hätte, dass man mit schmutzigen Klamotten und einem traurigen Gesicht so leicht so viel Geld bekam, hätte er sicher schon früher so sein Taschengeld aufgebessert.

Dann kaufte Miki sich an einem kleinen Straßenstand noch ein Paar Turnschuhe in seiner Größe für sieben Dollar. Echt billiger Mist, wie seine Mutter gesagt hätte, aber immerhin konnte er darin prima gehen. Außerdem traute Miki sich in seinem Aufzug nicht in eins der richtigen Geschäfte. Bestimmt hätte man ihn rausgeworfen.

„OK.“, sagte Miki schließlich zufrieden und schaute sich an, was er noch an Geld übrig hatte. Sieben Dollar für die Schuhe, ein Dollar fünfzig Cents für den Burger – blieben noch genau fünf Dollar. Miki zuckte die Schultern. Das musste reichen, um seine Gedanken zurückzukaufen. Immerhin hatte Seth ihm nur einen Dollar dafür gegeben.

Frohen Mutes lief Miki so gestärkt durch die Straßen der Stadt. Die abfälligen Blicke der Menschen um ihn herum bemerkte er gar nicht. Selbst das schockierte ‚Herrgott, wie kann man sein Kind nur so herumlaufen lassen!’ einer Frau in knielangem Wollmantel, brachte Miki nicht aus der Ruhe.
 

Und schließlich, als Miki am wenigsten damit rechnete, fand er Seth schließlich. Oder Seth fand ihn, wie man es nahm. Er stand auf einmal direkt vor Miki, starrte ihn verwirrt und überrascht an und lachte dann lauthals.

„Na du!“, rief er und Miki stemmte wütend die Fäuste in die Hüfte. Da waren sie, die coolen Stiefel. Auch die Jeans mit den Löchern, die krasse Lederjacke und die langen, schwarzen Haare. Seth grinste über das ganze Gesicht, was Miki noch wütender machte.

„Gib mir meine Gedanken zurück!“, forderte er unverblümt. Seth lachte.

„Was?“, fragte er und runzelte die Stirn. Miki machte einen Schritt auf den Mann zu und starrte ihm entschlossen in die Augen.

„Du sollst mir meine Gedanken zurückgeben.“, forderte er noch einmal. Seth ließ sich auf ein Knie zu Miki hinunter und sah ihn fragend an.

„Na hör mal, Kleiner, findest du das nicht etwas unhöflich?“ Miki riss entrüstet die Augen auf.

„Was?“, rief er fassungslos und holte sauer aus, um Seth gegen das Schienbein zu treten. Doch der wich etwas ungeschickt zur Seite und hielt Mikis Bein fest. Seth lachte.

„Sag mal, wer bist du eigentlich, dass du so wütend auf mich bist?“ Miki zerrte an seinem Bein, bewirkte jedoch nur, dass er unsanft auf dem Hintern landete. Miki biss sich auf die Zunge und der unerwartete Schmerz ließ Tränen in seinen Augen brennen. Aber er zwang sie zurück.

„Du sollst mir meine Gedanken zurückgeben. Ich hab fünf Dollar. Bitte!“ Seth ließ Mikis Bein los und half ihm, sich wieder hinzustellen. Dann legte er den Kopf auf die Seite und schaute besorgt.

„Was meinst du denn bloß damit?“ Miki schluchzte. Wieso musste dieser Blödmann ihn jetzt noch so quälen?

„Du hast mir einen Dollar für meine Gedanken gegeben, aber jetzt möchte ich sie zurückkaufen.“, bat er schluchzend und schniefend. Seth lachte laut auf und schaute Miki dann ungläubig an. Dann plötzlich riss er die Augen auf und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Miki wünschte sich, er hätte fester zugeschlagen.

„Miki!“, rief Seth und lachte schallend. Einige Leute auf dem Bürgersteig drehten ihre Köpfe zu ihnen und schüttelten sie dann verständnislos. Miki nickte. Dann zog er den zerknitterten Fünfdollarschein aus der Hosentasche und hielt ihn Seth hin. Seine Hand zitterte.

„Du möchtest wirklich deine Gedanken zurückkaufen?“, fragte Seth ungläubig und betrachtete den zitternden Schein. Miki nickte und starrte flehend in Seths blaue Augen.

„Oh man.“, sagte Seth und lächelte dann. Er strich Miki übers Haar und nahm den Schein.

„Fünf Dollar, damit ich dir deine Gedanken zurückgebe?“ Miki nickte. Er konnte nichts mehr sagen. Er wollte nur, dass das alles endlich aufhörte. Seth steckte den Schein ein und lächelte.

„In Ordnung. Und jetzt geh nach Hause, deine Mutter macht sich bestimmt Sorgen um dich.“ Miki nickte und drehte sich wortlos um. Dann ging er los, ohne sich noch einmal nach Seth umzusehen. Der schüttelte lächelnd den Kopf, drehte sich ebenfalls um und verschwand.
 

Miki wollte nicht mehr, dass Seth seine Mutter heiratete, damit er einen coolen Vater bekam. Er wollte noch nicht einmal mehr solche Motorradstiefel haben, so eine Hose, oder so eine dämliche, schwarze Lederjacke. Miki wollte nur noch heim, seiner Mutter in die Arme fallen, diese ekeligen Sachen ausziehen, duschen und vor allen Dingern – nie, nie, nie wieder etwas vergessen.

„Verkackter Hosenscheiß, verflucht nochmal.“, flüsterte Miki, während er den halbstündigen Weg durch die Stadt in sein Wohnviertel im Eilschritt zurücklegte. Als er den ersten Blick auf seine Straße warf, fielen ihm tausend Tonnen Steine vom Herzen. Er lächelte und rannte das letzte Stück, zurück zu seinem Haus.
 

7
 

Mikis Mutter öffnete ihm die Tür, nachdem er zweimal geschellt hatte.

„Miki!“, rief sie und wich ungläubig einen Schritt zurück. Miki riss die Augen auf, stürmte hinter seiner Mutter her und sprang ihr in die Arme. Zögernd legte Melanie ihre Arme um ihren Sohn und schließlich drückte sie ihn an sich.

„Was machst du denn bloß hier? Wie bist du hierher gekommen?“, fragte sie atemlos, kniete sich hin und nahm Mikis Gesicht in ihre Hände. Sie sah ihm kopfschüttelnd in die verweinten Augen.

„Wie hast du bloß den Weg gefunden?“ Miki schluchzte, schniefte, weinte und klammerte sich mit aller Macht an seine Mutter. Er sagte erst einmal gar nichts, sondern atmete nur ihren Duft, lauschte dem Geräusch von weichem Stoff auf seiner Haut, genoss den Druck ihrer Hände an seinen Wangen. Dann trug Melanie ihren Sohn ins Wohnzimmer und setzte ihn dort auf die Couch.

„Miki.“, murmelte sie leise und lächelte. Oh, wie hatte Miki dieses Lächeln vermisst! Wie wunderschön war doch seine Mutter! Und wie lieb sie ihn hatte. Es war herrlich.

„Miki, bist du weggelaufen?“ Miki riss die Augen auf und starrte seine Mutter an. Er spürte den panischen Herzschlag wieder, der ihm die Freude zu rauben drohte.

„Mom. Ich- Mir geht’s gut. Mom. Ich will hier bleiben.“ Melanie lächelte sanft und nahm Miki auf den Schoß. Er schmiegte seine Nase in die kleine Kuhle zwischen Hals und Brust und atmete tief ihren warmen Duft ein.

„Aber Miki. Du darfst nicht einfach von dort weglaufen. Was, wenn dir etwas passiert wäre?“ Miki schüttelte heftig den Kopf und schaute zu seiner Mutter hinauf. Sie sah besorgt aus und ein wenig traurig.

„Mom, ich bin wieder gesund, ehrlich!“, sagte er und strahlte über das ganze Gesicht.

„Was? Du kannst du wieder an alles erinnern?“ Melanie schüttelte ungläubig den Kopf. Miki senkte den Blick. Dann hob er die Schultern.

„Nein. Aber- Ab jetzt, Mom, wirklich. Ich weiß es. Ich werde nie wieder was vergessen.“ Melanie lächelte und drückte einen sanften Kuss auf Mikis Haar. Miki schloss dankbar die Augen.

„Hast du das auch schon Doktor Lance gesagt?“ Miki riss die Augen auf, als er den schrecklichen Namen hörte. Doktor Lance. Er schüttelte den Kopf. Melanie seufzte.

„Hör mal, Miki. So geht das nicht. Du kannst nicht einfach weglaufen. Das ist gefährlich, verstehst du?“ Miki schüttelte noch einmal den Kopf, dass seine Haare nur so flogen.

„Mom, du musst mir glauben!“, bat er flehendlich und Melanie strich ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn.

„Warum glaubst du, dass du nichts mehr vergessen wirst, hm?“ Miki lächelte erleichtert. Oh ja, sie hörte ihm doch zu. Das war gut. Dann konnte er ihr endlich alles erklären. Dann konnte er wieder bei ihr sein, so wie früher.

„Mom, ich habe meine Gedanken zurückgekauft. Von Seth. Er hat sie mir wiedergegeben.“ Miki strahlte und nickte. Melanie lächelte ebenfalls. Dann stand sie auf, mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm und ging mit ihm ins Schlafzimmer. Dort legte sie sich gemeinsam mit ihm auf ihr großes Bett und deckte ihn sanft zu.

„Das ist schön, Miki. Weißt du, was wir machen? Wir rufen Doktor Lance an, sagen ihm, dass du wieder gesund bist und dass du jetzt wieder bei mir bleiben kannst, was meinst du?“ Miki nickte und kuschelte sich an seine Mutter.

„OK.“, sagte er murmelnd, schloss die Augen und lächelte zufrieden. Melanie küsste Miki auf die Nase und streichelte ihm sacht über den Arm. Dann ließ sie ihn allein, um Doktor Lance anzurufen.
 

Miki öffnete die Augen wieder und betrachtete die Decke. Da war ja der Wasserfleck. Miki lächelte. Einmal hatte es vier Tage lang ununterbrochen geregnet und ihr Dach war undicht gewesen. Das Wasser war nur so heruntergetropft und das ganze Bett ihrer Mutter war nass gewesen. Miki kicherte bei dem Gedanken. Seine Mutter hatte fürchterlich geflucht und war wütend durchs Haus getigert, um einen Eimer aufzutreiben. Er und Jake waren mit nackten Füßen auf das Bett geklettert und waren darauf herum gesprungen. Es hatte herrlich geklatscht und gespritzt bei jedem Hüpfer, aber ihre Mutter war nicht begeistert gewesen, als sie wieder ins Zimmer gekommen war. Sie hatte ihnen zwei Tage Hausarrest ausgebrummt, aber das war es wert gewesen. Jake! Miki setzte sich im Bett auf und strampelte die Decke beiseite. War Jake auch zu Hause? Dann musste er ihn sehen!

Miki wollte gerade aus dem Schlafzimmer heraus und ins Kinderzimmer stürmen, als seine Mutter ihm entgegenkam. Er lief ihr direkt in die Arme.

„Hey!“, rief sie lachend und hob ihn hoch.

„Willst du etwa wieder weglaufen?“ Miki schüttelte lachend den Kopf.

„Ich will zu Jake, ist er auch da?“, fragte er und strampelte stürmisch herum, damit seine Mutter ihn wieder herunterlassen sollte. Melanie ließ Miki herunter und schaute ihn an. Sie lächelte gar nicht mehr. Stattdessen schüttelte sie den Kopf. Miki lachte ihr zu, dann rannte er zu ihrem Kinderzimmer. Doch bevor er es betreten konnte, hatte seine Mutter ihn eingeholt und hob ihn wieder auf ihren Arm.

„Nein, Miki, er ist nicht da. Er ist in der Schule.“, sagte sie und drückte Miki einen fetten, feuchten Schmatzer auf den Hals. Miki kicherte und versuchte, sich aus den Armen seiner Mutter zu winden, doch sie ließ ihn nicht los.

„Komm, lass uns was essen.“, meinte Melanie dann und Miki nickte heftig.

„Oh ja, ich hab solchen Hunger!“, rief Miki und ließ sich von seiner Mutter in die Küche tragen. Dort setzte er sich auf seinen Stuhl, während Melanie ihm ein Sandwich machte. Sie stellte einen Teller vor Miki, sowie ein Glas Limonade. Dann legte sie Miki sein Sandwich auf den Teller und nahm sich selbst einen Apfel aus dem Obstkorb auf der Fensterbank. Miki leckte sich die Lippen und begann, zu essen.

„Guten Appetit.“, sagte Melanie lachend und Miki nickte heftig. Melanie kaute langsam ihren Apfel und sah Miki beim Essen zu. Der aß und trank, bis Glas und Teller leer waren.
 

Dann fühlte er sich besser. Das Essen hatte ihn müde gemacht und ohnehin spürte Miki langsam die Erschöpfung, die die Strapazen des Tages hinterlassen hatte. Melanie räumte das Geschirr ab und hockte sich vor Miki nieder.

„Na, mein Großer? Müde?“ Miki nickte und gähnte unverhohlen. Melanie lachte und hielt ihrem Sohn die Hand vor den Mund.

„Na dann komm, ich bring dich ins Bett.“

„Aber du musst bei mir bleiben.“ Melanie nickte und küsste Miki auf die Stirn. Dann hob sie ihn wieder auf ihren Arm und trug ihn zu ihrem Bett. Miki ließ sich die schmutzigen Klamotten ausziehen und Melanie steckte ihn in einen weiten Pullover von ihr. Miki sog den Duft von frischer Wäsche ein und seufzte zufrieden. Dann schloss er die Augen. Melanie legte sich neben ihren Sohn, streichelte seinen schmalen Arm und summte leise ein Lied für ihn.
 

8
 

Als Miki seine Augen wieder öffnete, gelang ihm dies kaum. Er blinzelte und hob die Hand, um sich die Augen zu reiben. Seine Hand war schwer und gehorchte ihm kaum. Sie zitterte und fiel wieder auf die Bettdecke zurück. Miki gähnte. Sein Mund fühlte sich trocken an und er konnte nicht schlucken. ‚Mom’, wollte er sagen, doch er bekam nur ein heiseres Krächzen heraus. Miki schloss die Augen wieder. Es war zu anstrengend. Gerade wollte er noch einmal rufen, als er hörte, dass sich die Tür öffnete.

„Es geht ihm doch gut?“ Miki runzelte die Stirn. Die Stimme kannte er doch. Ach ja, das war seine Mutter. Jemand setzte sich zu Miki auf das Bett und er vermutete, dass das seine Mutter war.

„Ja, es geht ihm gut. Das Mittel ist sehr sanft, glauben sie mir. Es ist gut, dass sie so rasch geschaltet haben. Wir sehen noch nach, ob wirklich alles in Ordnung ist, dann nehmen wir ihn mit.“ Mikis Herz machte einen schmerzhaften Sprung, doch als er versuchte, sich aufzusetzen, konnte er sich nicht bewegen. Was war mit ihm los? Das war die Stimme von diesem Arzt gewesen. Doktor Lance, genau.

„Ich weiß, es ist vielleicht zuviel verlangt, aber bitte, könnten sie mir versichern, dass er nicht noch einmal wegläuft?“ Miki riss die Augen auf, doch seine Lider blieben geschlossen. Mom, schrie es in seinem Kopf, doch sein Mund blieb stumm.

„Dieser Umstand tut mir wirklich sehr leid, Miss Rowe. Ich werde dafür Sorge tragen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“ Miki atmete ruhig und gleichmäßig, doch in ihm kochte und brodelte es. Was hatte das alles zu bedeuten? Seine Mutter hatte doch gesagt, dass er jetzt bei ihr bleiben konnte. Wieso sollte er jetzt wieder zurück? Das sollte er doch, oder? Miki spürte die Panik, die sein Herz schneller schlagen ließ. Die wollten ihn wieder mitnehmen und er konnte sich nicht einmal dagegen wehren.

„Danke. Wissen sie, es wäre alles nicht so schwer, wenn nicht-“ Mikis Mutter schluchzte und plötzlich spürte Miki, dass sie nach seiner Hand griff. So gut tat diese Berührung, dass Miki für einen Augenblick alles um sich herum vergaß. Doch dann war die Berührung wieder verschwunden und Miki war wieder allein.

„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Dann war da plötzlich eine Hand an Mikis Handgelenk, dann etwas Kaltes an seiner Brust.

„Es ist alles in Ordnung.“, sagte der Doktor und Mikis Mutter erhob sich vom Bett.

„Und sie sind sicher, dass es unmöglich ist, dass er die Wahrheit gesagt hat?“

„Natürlich nicht zu einhundert Prozent. Aber glauben sie mir, falls sich wirklich herausstellen sollte, dass er sein Gedächtnis vollständig wiedererlangt hat, werden sie ihren Jungen zurückbekommen. Aber ich bitte sie, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen. Sie wissen ja selbst, was geschehen ist. Und wie oft wir schon glaubten, er hätte es überwunden.“ Mikis Mutter schluchzte und es brach Miki fast das Herz, sie nicht in den Arm nehmen zu können. Er wollte ihr so gerne sagen, dass sie sich nicht zu sorgen brauchte. Er würde es diesem dämlichen Arzt schon beweisen. Er hatte seine Gedanken zurück und irgendwann mussten sie das einsehen.

„Danke. Wissen sie, er hat auch verlangt, Jake zu sehen.“

„Was haben sie ihm gesagt?“ Wieder ein Schluchzen von Mikis Mutter. Es tat ihm in der Seele weh.

„Dass er in der Schule ist.“

„Gut. In Ordnung, wir nehmen ihn jetzt mit. Wir werden sie anrufen, sobald er wieder in der Klinik ist.“

„Danke, Doktor. Bitte, passen sie gut auf ihn auf.“ Miki wollte weiter zuhören, doch plötzlich verschwand alle Kraft aus seinen Gedanken und er schlief wieder ein.
 

9
 

Bei Mikis nächstem Versuch, seine Augen zu öffnen, gelang es ihm tatsächlich. Er blinzelte und spürte heiße Tränen über seine Wangen laufen.

„Hallo, Michael.“ Miki drehte den Kopf schwerfällig auf die Seite. Da war er wieder, der grausame Doktor. Er lächelte.

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“, sagte der Arzt und strich Miki mit seinem dämlichen Taschentuch die Tränen von den Wangen. Miki drehte den Kopf beiseite. Der Arzt zog seine Hand zurück und seufzte.

„Ich verstehe ja, dass du nicht hier sein möchtest. Aber bitte glaub mir, dass es besser für dich ist. Ich weiß auch, dass du davon überzeugt bist, dich wieder zu erinnern und wenn das wirklich stimmt, dann werden wir dich nur zu gern entlassen.“ Miki schnaubte, dann schluchzte er.

„Ich werd’s ihnen schon beweisen.“, zischte er wütend und hob mühsam die Hände. Er legte sie auf sein Gesicht und schluchzte hinein.

„Ich will zu Mom.“, sagte er und wischte sich die Tränen beiseite. Doktor Lance legte seine Linke auf Mikis Schulter und drückte sacht.

„Das verstehe ich.“

„Tun sie nicht!“

„Lass dir von uns helfen, Michael.“ Miki murrte, dann schüttelte er heftig den Kopf.

„Warum hat Mom mich nicht bei sich behalten? Warum hat sie mich wieder zurück geschickt? Was hab ich ihr denn getan?“ Miki wand sich zur Seite und rollte sich zusammen. Er schlang die Arme um die Knie und vergrub sein Gesicht darunter. Der Arzt lächelte und stopfte die Decke um Miki fest.

„Kannst du dich daran nicht erinnern?“ Miki hörte den provozierenden Ton in der Stimme des Arztes. Es war derselbe, mit dem Miki manchmal zu Jake gesagt hatte ‚Du bist schon zehn, aber trotzdem bist du irgendwie ein Baby, oder?’. Seine Mutter hatte dann gesagt ‚Hör auf, Jake so zu triezen.’ Und genau das machte der Doktor gerade, oder nicht? Er triezte Miki, weil er ihm nicht glaubte.

„Sagen sie es mir doch, wenn sie es so gut wissen.“ Der Doktor lächelte. Er seufzte. Miki hob den Kopf und schielte zu dem Arzt.

„Ist sie sauer auf mich?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. Miki schluchzte verzweifelt.

„Was denn dann?“ Wieder seufzte der Arzt.

„Vielleicht ist es ganz gut für dich, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst.“, sagte er und strich Miki über den Kopf. Er ließ es zu und schloss erschöpft die Augen. Dann setzte Miki sich wieder auf und betrachtete das sanfte Lächeln des Arztes.

„Sagen sie’s mir schon. Wenn ich es morgen eh wieder vergesse, kann es ihnen doch egal sein.“ Miki schnaubte verächtlich. Er hatte das Gefühl, dass niemand hier ihn ernst nahm. Vielleicht lag das daran, dass er bloß ein kleiner Junge war, aber trotzdem fand er es unfair. Doktor Lance schüttelte den Kopf.

„Michael, ich glaube du solltest jetzt versuchen, zu schlafen. Das Beruhigungsmittel braucht eine Zeit, um vollständig abgebaut zu werden.“

„Sie werden es mir jetzt sagen. Warum muss ich hier sein?“ Der Arzt schüttelte den Kopf und sah Miki an. Er lächelte mitleidig und Miki hasste sein Lächeln. Er wusste plötzlich, dass Etwas geschehen war, das er vergessen hatte. Etwas Schlimmes wahrscheinlich. Und jetzt wollte man es ihm nicht sagen. Und das war nicht fair. Er würde solange weiter fragen, bis der dämliche Arzt es ihm sagte.

„Sagen sie es mir.“

„Nein, Michael.“

„Wie wollen sie mir helfen, mich zu erinnern, wenn sie mir nicht erzählen, was ich vergessen habe?!“ Miki schrie fast und ballte seine Hände wütend um die weiße Bettdecke. Doktor Lance schaute ihn überrascht an, dann senkte er den Blick. Dann schüttelte er den Kopf.

„Weißt du was? Du hast Recht. Vielleicht sollten wir wirklich alles versuchen, um dir zu helfen. Nur, weil wir der Ansicht sind, dass du es nicht hören solltest, muss das nicht bedeuten, dass wir damit Recht haben.“ Miki nickte und hörte aufmerksam zu. Der Doktor setzte sich zurecht und legte seine linke Hand wieder auf Mikis Schulter. Er ließ sie dort. Vielleicht half es.

„Nun, Michael. Miki. Weißt du noch, was ich dir heute Morgen erzählt habe? Dass deine Mutter dich hierher gebracht hat, nachdem normale Ärzte dir nicht hatten helfen können?“ Miki nickte und leckte sich die Lippen. Sein Mund war trocken und er hatte keine Ahnung, ob das von dem Beruhigungsmittel kam, oder weil er nervös war.

„Nun, bevor dein Verstand sich entschlossen hatte, einfach alles zu vergessen, hast du etwas getan. Etwas wirklich Schlimmes. Aber wir glauben nicht, dass du es mit Absicht getan hast. Wir glauben, dass in deinem Kopf etwas kaputt gegangen ist, das dich dann dazu gebracht hat, Dinge zu tun, die du eigentlich niemals tun würdest.“ Miki runzelte die Stirn. Was sollte das jetzt wieder bedeuten?

„Was hab ich denn getan?“, fragte er und spürte, dass seine Zehen eiskalt waren. Er grub sie tiefer in die warme Bettdecke und hoffte, dass es helfen würde.

„Nun, in der Nacht, an die du dich als Letztes erinnerst, da bist du zum Beispiel aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen. Du hast alle Fische aus eurem Aquarium genommen und sie der Reihe nach auf den Boden gelegt. Als deine Mutter wach wurde, weil sie auf die Toilette musste, hat sie dich dort gefunden. Du hast vor den toten Fischen gekniet und ein Lied gesummt.“ Miki stieß scharf die Luft aus, dann lachte er. Aber es war kein fröhliches Lachen, sondern ein Lachen voll Verwirrung, Ungläubigkeit und Entsetzen. Er sollte die Fische getötet haben? Niemals. So etwas absolut Dämliches hatte er echt noch nie gehört. Der Doktor lächelte und nahm Mikis Hand.

„Kannst du dich daran erinnern?“ Miki schüttelte den Kopf. Doch dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, nickte er.

„Ja.“, sagte er tonlos und nickte noch einmal. Ja und dann, kaum hatte er es ausgesprochen, kaum war das Bild von den zappelnden, sich windenden Fischen wieder in seinen Kopf zurückgekehrt, da fielen Miki auch noch andere Dinge ein. Viele Dinge. Eigentlich alles, was er in dieser Nacht noch getan hatte, nachdem seine Mutter in schockiert, aber liebevoll wieder ins Bett gebracht hatte. Nachdem sie ihn wieder in den Schlaf gestreichelt hatte. Nachdem er dann wieder aufgewacht war, als alles schlief, in der Stunde vor der Morgendämmerung.
 

Da war grauer Teppich, doch eigentlich war er blau. Er sah nur grau aus, weil es dunkel war. Nacht. Dann war da Wasser, das aus dem übervollen Waschbecken auf den Badezimmerfußboden getropft war. Seine nackten Füße, als er kichernd hindurch gelaufen war.

Und dann die kleine Stoffkatze, die immer am Fußende von Jakes Bett lag. Sie war eigentlich grün, aber auch sie sah jetzt grau aus. Wegen der Dunkelheit. Ja und dann war da die Dunkelheit, nicht wahr? Die Dunkelheit, in der Miki all diese Dinge getan hatte. Und als sich die Dunkelheit für einen Augenblick hob eine kleine, fleckige Hand und große, starre Augen.

Und dann der Schrei, der aus Mikis Kehle gedrungen war, als er erkannt hatte, was die Dunkelheit ihn hatte tun lassen. Seine Mutter, zum zweiten Mal in dieser Nacht aufgeschreckt, die ihn fand, am Fußende des Bettes seines Bruders kniend. Und dann. Die Schere. Nein, dann wieder die Dunkelheit. Miki keuchte. Sein Herz raste, hämmerte gegen seine Brust. Keine Schere. Nur Dunkelheit. Dunkelheit. Nichts konnte man sehen, wenn es dunkel war. Gar nichts.

„Michael?“ Keine Stimmen in der Dunkelheit. Nein. Miki kniff die Augen zusammen und hielt sich die Hände fest auf die Ohren gepresst, doch er hörte die grausame Stimme des Arztes trotzdem.

„Michael?“ Nein. Nein, nein, nein.

„Keine Schere!“, schrie Miki auf, atemlos, panisch, zitternd. Doktor Lance zog Miki zu sich, hielt ihn fest, um sein Strampeln und sein Schlagen zu unterbinden.

„KEINE SCHERE!“, schrie Miki noch einmal, heulte und knirschte mit den Zähnen, doch Doktor Lance hielt ihn fest. Plötzlich erschlaffte Mikis Körper und er schluchzte nur noch. ‚Sch…sch…’, machte der Doktor, doch Miki bekam davon nichts mit. Die Schere, die grausame Schere klammerte sich an sein inneres Auge und ließ nicht locker, gab nicht nach, zerstörte, zerschnitt.

Schließlich drückte Doktor Lance den roten Knopf über Mikis Bett, die Schwester kam mit einer langen, dünnen Spritze und Miki fiel zurück in die Dunkelheit, in der man nichts sah, in der man nichts hörte, in der man nichts fühlte, nichts sagte, nichts tat. Sein letzter Gedanke war ‚Mom, die Schere! Nimm sie mir weg!“. Sein letztes Gefühl, dass er, noch während er das dachte wusste, dass seine Mutter ihm die Schere nicht wegnehmen würde. Niemand würde das. Weil es dazu schon zu spät war. Weil er die Schere schon benutzt hatte.
 

10
 

Die hellen Sonnenstrahlen machten Miki das Öffnen seiner verschlafenen Augen schwerer, als angenehm war. Trotzdem kämpfte er gegen die aufsteigenden Tränen und öffnete die Augen.

Miki machte große Augen. Er sah sich im Zimmer um und suchte Jake. Aber Jake war nicht zu sehen. Dann suchte Miki wenigstens Jakes Bett, aber auch das war verschwunden. Miki rieb sich nochmals die Augen. Vielleicht hatte er sich verguckt. Doch als er wieder klar sah, musste Miki feststellen, dass sowohl Jake, als auch Jakes Bett, sowie die Schreibtische, der Kleiderschrank, der Teppich, die Fenster, die Tapete und, als Miki an sich hinunter sah, auch sein eigenes Bett, sowie sein Schlafanzug verschwunden waren.

Miki keuchte erschrocken auf. Eine Sekunde lang dachte er, dass er vielleicht doch noch träumte, dann erkannte er, dass dem nicht so war. Er lag in einem metallenen Bett. Über seinen Beinen lag eine weiße, steife Bettdecke. Mikis Arme waren nackt. Seine Brust bedeckte ein hellgrau gemusterter, weißer Stoff. Miki fuhr an sich hinab und stellte fest, dass er ein Nachthemd trug.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihm und er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Michael!“ Mom, dachte Miki, doch eine Sekunde später wusste er, dass das nicht seine Mutter war. Ein Mann in einem weißen Kittel betrat den Raum. Er lächelte. Seine Augen wirkten etwas verquollen, als hätte er zu wenig geschlafen.

„Na, wie geht es dir heute Morgen?“ Miki lächelte. Dann strampelte er sich frei von der steifen Bettdecke und ließ die Füße über die Bettkante baumeln.

„Gut, aber wo ist meine Mom?“ Der Arzt lächelte und setzte sich zu Miki auf das Bett.

„Lass mich dir eine Frage stellen, Michael.“, bat der Arzt und Miki nickte.

„In Ordnung. An was erinnerst du dich? Ich meine, was ist genau passiert, bevor du hier aufgewacht bist?“ Miki runzelte die Stirn und dachte nach. Dann lächelte er.

„Naja, ich bin ins Bett gegangen und dann bin ich hier aufgewacht.“, sagte er und war ein wenig erschrocken, als er den besorgten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht des Arztes sah.

„Ist was mit mir passiert?“, fragte Miki und war noch einmal erschrocken, weil er hörte, dass seine Stimme ein bisschen zitterte. Er schluckte.

„Nun, das ist nicht so einfach zu beantworten, Michael.“

„Was soll das heißen?“ Plötzlich durchflutete Sorge, Angst und dann Panik Mikis Gedanken. Er griff nach der Bettdecke und hielt sich daran fest. Der Arzt legte Miki eine Hand auf die Schulter.

„Ich möchte, dass du mich anschaust. Ich sage dir jetzt, was wir wissen, in Ordnung?“ Miki nickte mechanisch und musste sich arg zusammen reißen, um zu verhindern, dass seine Gedanken abschweiften und er dem Arzt nicht mehr richtig zuhörte.

„Also, Michael. Du denkst, du bist gestern Abend ins Bett gegangen und heute Morgen hier aufgewacht. Aber das stimmt nicht. Weißt du, was eine Ohnmacht ist?“ Miki nickte wieder. Er sah den Arzt an, versuchte auch, ihn wirklich anzusehen, aber sein Gesicht verschwamm vor Mikis Augen.

„In Ordnung. So etwas Ähnliches hast du auch, verstehst du? Du bist an dem Abend eingeschlafen und als du am nächsten Morgen aufgewacht bist, wusstest du nicht mehr, wo du warst. Deine Mom hat dich ins Krankenhaus gebracht. Als sie mit dir dort war, hast du gar nicht mehr gewusst, dass sie deine Mom ist. Die Ärzte haben vermutet, dass du vielleicht eine Krankheit hast, oder gefallen bist, aber sie haben nichts gefunden. Du warst nicht krank und du hattest dich auch nicht verletzt. Es war ein wenig so, als ob du einfach alles vergessen hättest. Verstehst du das?“ Miki schüttelte den Kopf. Der Arzt drückte sanft Mikis Schulter. Er lächelte. Miki schaute ihn an und legte den Kopf schief.

„Du bist zwei Tage im Krankenhaus geblieben und als du am dritten Tag aufgewacht bist, hattest du wieder alles vergessen. Einfach so, wie es schien. Du bist wieder aufgewacht und hast gefragt, wo du bist. Und seitdem geht das so. Du wachst eines Tages auf, hast alles vergessen und denkst, gestern seiest du ins Bett gegangen und heute seiest du an einem Ort aufgewacht, den du noch nie zuvor gesehen hast.“
 

Miki schüttelte den Kopf. Dann seufzte er.

„Eines Tages wirst du dich sicher wieder erinnern, Michael. Manchmal macht unser Gehirn Sachen, die wir uns nicht erklären können. Aber irgendwann wirst du deinem Gehirn sagen, dass es gefälligst dir zu gehorchen hat und nicht umgekehrt und dann klappt es wieder.“ Miki betrachtete das Lächeln des Arztes und spürte plötzlich einen reißenden Stich hinter dem linken Auge. Er zuckte zusammen und presste vor Schmerz die Hand ans Auge. Der Arzt schien besorgt.

„Alles in Ordnung, Michael?“ Miki nickte und nahm die Hand wieder von seinem Auge.

„Was war denn los?“

„Oh, mir tat nur das Auge weh. Aber jetzt geht es wieder.“ Miki lächelte und rieb noch einmal das schmerzende Auge. Es pochte ein wenig. Dann sah er wieder den Arzt an.

„Wissen sie was?“, sagte er dann und lächelte ein wenig breiter.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich sie kenne.“
 

~ENDE~



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