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Furcht vor dem Marktplatz

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Furcht vor dem Marktplatz

Zweiundzwanzig.

Und es hört einfach nicht auf. Alles ist in Ordnung, denke ich, nicht die Fassung verlieren. Nicht jetzt, nicht hier. Was soll denn Mama denken, schießt es mir durch den Kopf, der leer ist, so leer, dass meine Furcht ihn völlig ausfüllen kann. Und doch geht es weiter.
 

Dreiundzwanzig.

Der Schweiß rinnt mir die Stirn herab, hinein in den Kragen, der schon ganz feucht ist, hinab ins Haar, das wie frisch gewaschen an meinen Schläfen klebt.

Und ich höre einfach nicht auf.

Ich weiß, dass die Leute starren. Ich weiß es, weil ich ihre Blicke fühle, eine Last, die jede Bewegung noch schwerer macht, als sie sowieso schon ist. Ich atme, einaus. Einaus. Ein aus. Ein aus. Ein aus. Ein aus. Ein aus.
 

Vierundzwanzig.

Einaus,einaus, meine Hände zittern, während die Brust sich hastig hebt und senkt. Ich fühle die Feuchtigkeit an meinem Rücken, an meinem Oberschenkel. In meinen Augen.

Aber ich blinzele sie weg, weiß, dass es noch nicht aufhört. Vierundzwanzig, vierundzwanzig, vierundzwanzig. Vierundzwanzig, verdammt!

Es ist ein Mantra, das mir helfen soll, meinen Körper zu überlisten. Mich zu beherrschen. Und es funktioniert, langsam.
 

Fünfundzwanzig.

Mama!, denke ich, aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Es hört nie auf, das weiß ich, auch wenn sie hier ist, bleiben die anderen da.

Und wieder der Atem, einaus,einaus,einaus, einaus, einaus, ein aus, ein aus, ein aus. Ein aus. Ein aus. Ein aus.

Reiß dich zusammen! Das Herz schlägt. Einmal, zweimal, dreimal. Alles ist gut, denke ich, Fünfundzwanzig, fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig.

Die Tür geht auf, denke ich, doch der Kopf ist leer. Keine Furcht, denke ich, keine Furcht, es sind nur Menschen, nur Menschen, sie kommen, sind da, ein Ranzen. Berührung. Furcht. Furcht, nein, keine Furcht, es sind nur Menschen. Zwanzig, zwanzigfünf, das Herz einaus,einaus,einauseinauseinuseins, der Atem schlägt, eins, zwei, zwei, berührung , zwei, drei, keine Furcht, einszwei,ausein, nein, nur Menschen, Menschen, nur hier, nur Kinder, überall, und wenn ein Feuer, einauseinaus, fünfunddreißig, fünfunddreißig, aber das ist zu weit, denke ich, Kinder, überall Menschen, atme, schreie ich, atme, wie soll ich atmen, überall Menschen, zu viele Menschen, wir werden erdrückt, statistisch gesehen, nein, fünfunddreißig, fünf und, fünf,fünf,fünffünffünf, keine Angst, denke ich, einaus,einaus,einauseinauseinszweieinszwei, bewegen, denke ich, die Hand zittert, nicht zittern, statistisch gesehen 13,8 % aller Autounfälle, einauseinaus, der Ranzen, Stoß, Atmen, ATMENatmenatmenatmen, statistisch gesehen 13,8 % Autounfälle wegen Alkohol, Alkohol, ein Rauschgift, genau, Alkohol,Alkohol, einszwei, menschen überall und die sicherheit atmen keine sicherheit mama einaus viele zu viele statistik und wenn 13,2 % keine furcht menschen starren sich und sicherheit kein feuer und sauerstoff einauszuvielemenschenkeinesicherheitranzenkeineluftkeinefurchtangstangstangstmamaangstangstengundwohinfeuerplatzvielezuvieleundsicherheitnahsonaharmedruckhilfeatmenstatistiküberfallopfer
 

„Ein aus. Ein aus.“

Einauseinauseinauseinauseinauseinauseinauseinauseinaus.

„Ein aus. Ein aus.“

Eineinauseinauseinauseinaus einaus einaus einaus einaus einaus.

„Ein aus. Ein aus.“

Ein aus ein aus ein aus, ein aus, ein aus, ein aus.

„Eins.“

Nicht gehen, schreie ich, nicht gehen! Nicht eins.

„Eins.“

Nein, schreie ich, nein! Fünfundzwanzig,fünfundzwanzig.

„Fünfundzwanzig.“

Ein. Aus.

Nass, alles ist nass. Warum ist alles nass?

„Sechsundzwanzig.“

Einauseinauseinaus.
 

Einaus. Einaus. Einaus.

„Siebenundzwanzig.“

Einaus einaus einaus.

„Achtundzwanzig.“

Einauseinauseinaus. Druck, denke ich, ich denke Druck, Mama. Das Herz schlägt. Weg, alle gehen weg, achtundzwanzig, denke ich, achtundzwanzig. Achtundzwanzig.

„Neunundzwanzig.“

Tränen, denke ich, ich weine. Kälte im nassen Gesicht, Freiheit, Himmel, gebt mir mehr Himmel!

Neunundzwanzig.

Neunundzwanzig Schritte bis zu Tür, denke ich. Nur neunundzwanzig. Die Furcht verblasst, langsam. Der Bürgersteig ist leer, Mama steht hinter mir, die Arme um meine Brust geschlungen. Mein Hemd ist durchgeschwitzt, selbst ihres hat feuchte Flecken, dort, wo sich unsere Körper berühren. Sie entfernt sich ein wenig, nimmt meine Hand und lächelt.

„Entschuldige.“

Ich nicke, müde. Meine Beine zittern und ich will nach Hause, einfach nur nach Hause, um zu duschen, um mich umzuziehen, um zu vergessen.

Und um kein Risiko einzugehen.

Der Bürgersteig ist leer.
 

Papa wartet auf uns, auf uns und die Milch, doch als wir die Wohnung betreten und er mich sieht, zitternd, durchgeschwitzt, lächelt er nur nachsichtig und nimmt Mama das Portemonnaie ab.

„Bin gleich wieder da.“

Vorsichtig berührt er mein Haar, und ich schließe schnell die Augen.

Neunundzwanzig Schritte.

Es schüttelt mich, und die Hitze steigt mir ins Gesicht.

Nun neunundzwanzig.

Nun brennt es auch in meinen Augen, und ich gehe schnell den Flur hinab, ins Badezimmer. Als ich abgeschlossen habe, blicke ich in den großen Wandspiegel.

„Du Waschlappen!“

Inzwischen ist die Scham in jedem Körperteil angekommen, und ich möchte am liebsten heulen.

„Schon wieder, du Waschlappen?!“

Obwohl ich nicht will, kommen sie natürlich doch, die Tränen, und wie bei einem Anfall schüttelt es meinen ganzen Körper, als wolle mein Unterbewusstsein die Furcht gleich mit abwerfen, als habe ich nicht schon genug gezittert.

Wütend reiße ich mir die Kleider vom Leib, werfe sie so weit weg, wie ich kann und ziehe die Duschkabine knallend hinter mit zu.

Keine neunundzwanzig Schritte kannst du alleine machen, keine lumpigen neunundzwanzig Schritte.
 

Ich stelle das Wasser so heiß ein, dass meine Haut sich krebsrot verfärbt und der Schmerz meinen Körper betäubt; meine Gedanken aber sind stahlblau und klar.

Neunundzwanzig Schritte. Kein Mensch außer mir weiß, wie viele Schritte es von der Kühltheke bis zu Ausgang sind – weil niemand außer mir es wissen muss. Niemand außer mir braucht einen Begleiter zu Schule, zum Einkaufen, niemand außer mir ist so ein Baby.

So hilflos.

Und wieder schüttelt es mich, nun, weil die Nachwellen der Furcht mich endlich erreicht haben.

Waschlappen, denke ich schluchzend, du verfluchter Waschlappen.

Als ich mich wieder beruhig habe, stelle ich das Wasser aus; meine Haut brennt, als ich mich abtrocken. Draußen geht die Haustüre auf, und ich höre Julias Stimme durch das rote Holz hindurch.

„Bin wieder da! Hallo Mum, das riecht ja! Ich hab vielleicht einen Kohldampf…“

Ich trockne mein Haar, langsam, und Hass kocht in mir hoch.

Julia weiß auch nicht, wie viele Schritte es sind. Sie braucht keinen Begleiter, keine Sonderbehandlung. Sie ist kein Baby…

Lass es, sage ich mir selbst. Sie kann nichts dafür. Niemand kann etwas dafür. Keiner ist Schuld…

Doch so oft ich es auch wiederhole, glauben kann ich es nicht. Vielleicht, weil die Gewissheit, dass das stimmt, mehr schmerzen würde als die düsteren Gedanken. Weil ich dann nicht mehr wütend sein könnte.

Schnell verlasse ich das Badezimmer und laufe an der Küche vorbei, wo Julia gerade ungeduldig in die Töpfe schaut.

„Mensch, warum seid ihr denn noch nicht fertig? Ihr wisst doch, dass ich gleich noch zum Fußball muss.“

Und wieder dieser Stich.

Julia kann zum Fußball. Weil sie nicht gleich anfängt zu heulen, wenn sie die Halle betritt. Weil sie sich nicht benimmt wie ein Baby.

„Ich war mit Mama einkaufen.“

Kaum habe ich das gesagt, laufe ich weiter in mein Zimmer. Ich weiß, dass das als Erklärung reicht, und es macht mich wütend; ihren mitleidigen Blick könnte ich jetzt nicht ertragen. Ich müsste sie anschreien, um diesen Ausdruck aus ihrem Gesicht zu schlagen, und dann müsste ich wieder mit Mama reden. Wegen der Aggressionen.

Und wieder ist da diese Hitze, diese Scham.

Nicht einmal einkaufen kannst du gehen, du Waschlappen. Nicht einmal, wenn deine Mutter nur drei Reihen neben dir steht.

Ich knalle die Zimmertür zu, reiße den Schrank auf, nur um auch hier wieder alle Kraft in den Schwung zum Schließen zu legen.

Schließlich werfe ich mich auf mein Bett.

Neunundzwanzig Schritte. Keine Distanz, die einem Menschen Schwierigkeiten bereiten sollte, aber mir, mir bereitet sie mehr als einfach nur Schwierigkeiten. Für mich sind neunundzwanzig Schritte manchmal der Versuch, zu Fuß den Mond zu erreichen.
 

Wenn ich alleine bin.

Wenn ich mich in geschlossenen Räumen aufhalte.

Wenn viele Menschen um mich herum sind.

Wenn ich mich nicht alleine fühlen müsste, fühle ich fast immer Panik.

Und schon das Wort macht mir Angst, wie es dort unschuldig steht, auf zahllosen Büchern, auf Broschüren, auf Entschuldigungen.
 

Agoraphobie.
 

Ich denke an Schritt Fünfundzwanzig. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein riesiger Schritt für mich.

Mich hätten sie zum Mond schicken sollen, denke ich, da gibt es keine engen Räume, keine Decken, keine Menschenmassen…

Aber die Furcht reist immer mit.

Die Furcht vor dem, was geschehen könnte.

Die Furcht, die mich lähmt, selbst jetzt noch.

Und natürlich die Scham, die ich noch viel weniger loswerden kann, weil sie sich in jede meiner Zellen eingebrannt hat.

Weil ich ein Waschlappen bin.

Weil ich…

Meine Schwester klopft an der Tür.

„Kommst du? Essen ist fertig.“

Ich folge ihr, und sie gibt sich alle Mühe, mir nicht ins Gesicht zu sehen. Sie weiß, dass ich sie am liebsten verletzen will für den Blick, mit dem sie mich anschauen würde, für dieses Mitleid.

Ich bin nicht schwerbehindert, nicht todkrank.
 

Obwohl ich keinen Hunger habe, schaufele ich das Essen ungestüm in mich hinein. Das Brennen in meinem Magen lässt dennoch nicht nach.

Julia räuspert sich.

„Morgen Abend gibt es ein erstes Training für die neuen Mannschaften… Die Gruppen sind ziemlich klein, und wir kennen die meisten Teilnehmer.“

Sie macht eine Pause, doch ich schweige und esse noch ein wenig schneller.

Wieder räuspert sie sich.

„Ich dachte, vielleicht willst du einfach mal sehen, wie es so läuft.“

Ob du es schaffst, sagt ihre Körperhaltung.

„Momentan spielen die noch auf offenem Feld.“

Nie, antwortet Mamas Augenbraue. Musst du so etwas vorschlagen? Das klappt doch nie.

„Wenn du Lust hast, wäre das doch eine Idee, oder?“, sagt sie, blickt mich dabei aber nicht an.

Und ich höre auf zu essen, weil ich fühle, dass der Reissalat mir schon wieder den Hals heraufkommt und weil mir plötzlich wieder zum Heulen ist.

Ich habe Furcht vor dem Marktplatz und Angst vor meinem Leben.

„Ich kann’s ja mal versuchen.“

Schlimmer kann es nicht werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  w-shine
2010-03-30T10:04:52+00:00 30.03.2010 12:04
Hey,
ich habe gerade meine Geschichte für den Wettbewerb online gestellt und da wollte ich mir mal die anderen Geschichten ansehen und da ist mir dein Titel ins Auge gesprungen.
Wir haben beide tatsächlich die Agoraphobie genommen - echt krass. Aber die Umsetzung ist schon ziemlich anders...
...aber kommen wir zu dir. Mir hat der Anfang der Geschichte wahnsinnig gut gefallen. Dadurch, dass ihre Gedanken durcheinander wirbeln und die häufige Wiederholung des "einaus" wird eine wirklich sehr beklemmende Atmosphäre erzeugt. Ich dachte auch zunächst, das Zählen wäre zu Beruhigung, weil man bei verschiedenen Entspannungstechniken ja zählen und dabei die Luft anhalten soll. Ich finde es auch wirklich gut getroffen, wie ihre Angst dann verfliegt, als ihre Mutter dann da ist.
Der einzige Wehmutstropfen war dann, das Gespräch zu Hause. Ich kann nicht genau sagen warum, aber für mich hat die Geschichte ein kleines bisschen von ihrem Eindruck verloren, als die Schwester dann da war.
Aber insgesamt hat mir die Geschichte wirklich gut gefallen und vor allem der Anfang ist ganz, ganz klasse.
Liebe Grüße
Von:  Langenlucky
2009-08-20T23:48:36+00:00 21.08.2009 01:48
Sehr schön hast du die Angst beschrieben und ich konnte mich gut in den Charakter hinein versetzten. Die Geschichte ist auch schön flüssig geschrieben, was mich jedoch stört sind die Rechtschreibefehler, vorallem die Groß- und Kleinschreibung. Oder ist es gewollt, dass du soviele Substantive kleingeschriebn hast?
Von:  GreenDarkness
2009-08-20T13:43:09+00:00 20.08.2009 15:43
Woah.
Ich bin durch Zufall über den Wettbewerb auf deine Fanfc gestoßen und ich bin ziemlich baff.
Deine Erzählung reißt einen einfach mit und ich bekam schon selber Panik, was denn jetzt mit ihr passiert. Besonders die Szene, in der das "Einaus" wirkte, als würde sie gleich kollabieren finde ich sehr gut gelungen.
Zuerst habe ich gedacht, dass der Protagonist zählt, um sich zu beruhigen. Diese "Verwirrung" fand ich sehr schön eingebettet. Wenn man hinterher erfährt, was es mit den Zahlen auf sich hat, ist man ziemlich vor den Kopf gestoßen. Außerdem finde ich die Atmosphäre bedrückend, deine Geschichte stimmt mich traurig.
Am Ende hatte ich Tränen in den Augen. Sie tut mir so leid.

Ich habe sehr mitgefühlt, du kannst wunderbar schreiben.
Von: abgemeldet
2009-08-05T17:09:16+00:00 05.08.2009 19:09
Du schreibst großartig. Das ganze Geschehen reißt einen mit und man kann sich sehr gut in diesen Charakter hineinversetzen, der für einen selbst so unbekannte Dinge empfindet. Man konnte toll mit dem Charakter fühlen/leiden.


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