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Es war einmal ...

von

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Kapitel 3

Kapitel 3

Die Zeit verging. Tage wurden zu Wochen und Wochen zu Monaten, bis dann ein Jahr ins Land gezogen war. Das Schloss der Adelsfamilie war ruhig geworden und über Johannes war kein Wort mehr gefallen, als habe er nie existiert. Nur William und Lisette nahmen seinen Namen noch in den Mund.
 

Es war früh am Morgen als eine Kutsche vorfuhr und Charlotte vollkommen überstürzt aussstieg und ins Schloss stürmte. Vor Williams Gemach blieb sie stehen und klopfte an. Sie hatte Neuigkeiten über Johannes und dessen Aufenthaltsort. Sie hatte sich vorgenommen ihre Brüder wieder zusammen zu führen und dazu musste sie William wohl oder über 'entführen'.

William hatte sich in dieser Zeit zurückgezogen. Seinem Vater zum Trotz hatte er sich auch einige Liebhaber zugezogen, doch keiner konnte die Leere füllen, die Johannes in ihm zurückgelassen hatte.

Auch an dem Morgen, als Charlotte ankam, teilte er sich das Bett mit einem Offizier seines Vaters. Doch geschalfen hatte er schon lange nicht mehr. Als er die leisen Schritte vernahm, kroch er aus seinem Bett, zog sich eine Hose über und öffnete die Tür. Erstaunt blickte er auf seine Schwester.

"Lotte, was machst du hier? Ich dachte du wärst in Budapest."

"Keine Zeit für Erklärungen!" sagte sie, packte William an Arm und zog ihn aus seinem Zimmer.

Sie streifte ihm schnell einen Umhang über und fasste ihn an der Hand, um ihn aus dem Schloss zu führen.

"Wir müssen uns beeilen und vor Mittag in Bad Wiessee sein!" sagte sie und stieg schnell wieder in die Kutsche ein.

Sie hatte gesehen wer dort im Bett lag, aber darauf würde sie William noch ansprechen, wenn sie unterwegs waren. Es gab so viel, was sie William erzählen musste, über Johannes Aufenthaltsort. Und auch hatte sie einige Fragen an ihren kleinen Bruder.

"Bad Wiessee?" fragte er ungläubig.

Was sollte er denn bitte dort? An einem Kurort? Er war weder krank, noch fehlte ihm sonst irgendetwas.

"Du bist mir eine Erklärung schuldig" sagte William schließlich, als sie in der Kutsche saßen.

"Was hat das zu bedeuten. Was du gerade machst kommt einer Entführung sehr Nahe Lotte. Vater wäre nicht sehr erfreut darüber."

"Vergiss Vater doch einmal, er ist an dem ganzen Dilemma doch Schuld, wir fahren nicht meinetwegen dort hin." sagte sie und schloss die Tür und wieß den Kutscher an sofort loszufahren.

Es holperte kurz und die Kutsche setzte sich in Bewegung.

"Aber erklär mir eins noch, bevor ich dir erzähle was wir dort wollen. Wer war das in deinem Bett?" fragte sie und ihr Blick wurde ernst.

Williams Blick wanderte nach draußen, als sie seinen Bettgefährten ansprach.

"Niemand von Bedeutung. Aber ihr könnt auch nicht alle von mir verlagen, dass ich mich der Keuschheit hingebe, nur weil man mir das wichtigste in meinem Leben genommen hat!"

Sein Ausdruck in den Augen war wieder leer.

"Niemand könnte Johannes Platz einnehmen, falls es das ist, was du meinst."

"Aber du tust es trotzdem. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Johannes das gut heißen wird" sagte sie und legte den Kopf nach hinten.

Sie seufzte laut hörbar und band ihre Kopfbedeckung los und legte sie neben sich auf die Bank.

"Es ist jetzt ein Jahr her, seitdem er ohne ein Wort gegangen ist."

Lisette hatte William nie erzählt, wohin sein Bruder verschwunden war.

"Er hat es in Kauf genommen, mir das Herz zu brechen. Ich habe doch nur etwas gesucht, dass das alles wieder heilen könnte." Er seufzte.

"Aber das kann wohl niemand. Außer Hannes selbst." Er sah zu Charlotte.

"Also, was willst du mit mir in Bad Wiessee?"

Ihr Blick war immer noch ernst. So langsam befürchtete sie, dass es ein Fehler war erst jetzt nach Bad Wiessee aufzubrechen. Zu viel hatte sich für William verändert. Sie hoffte das er nicht Johannes die Schuld an allem gab.

"Um das zu erklären, lass mich im letzten Winter beginnen" sagte sie und holte Luft, da es eine lange Erklärung werden würde.

"Johannes ist nicht freiwillig gegangen" begann sie.

Williams Blick richtete sich jetzt auf Charlotte.

"Das hat Lisette mir bereits gesagt. Aber keiner wollte mir dann einen besseren Grund dafür geben."

Niemand hatte erkannt, wie kaputt es jetzt in ihm aussah. Vielleicht war eine Kur für ihn gar nicht so verkehrt.

"Hat man dir auch gesagt, dass ich versucht habe mir das Leben zu nehmen? Zweimal?"

"Natürlich" sagte Charlotte und nickte.

"Johannes geht es nicht viel besser, er kommt nicht einmal dazu, dies zu versuchen" erzählte sie.

"Vater hat ihn weg schaffen lassen, weil er eine 'Schande' in seinen Augen war. Er hat sich zwar mit Händen und Füßen gewehrt, aber hatte gegen Vater keine Chance. Es tut mir Leid, dass ich dir das erst jetzt erzähle. Aber Johannes hätte dich freiwillig niemals verlassen!"

Das war das erste Mal, dass William das hörte. Wieso hatten sie ihm das nicht schon viel früher gesagt? Dann hätte er verschwinden können und zu Johannes gehen. Sie hätten zusammen fliehen können und ein neues Leben beginnen.

"Warum habt ihr mich alle belogen? Du, Katharina, Lisette?" Seine Worte klangen nicht halb so vorwurfsvoll, wie sein Blick es dagegen war.

"Weißt du wie ich mich jetzt fühle Lotte, wie ein billiges Flittchen!"

"Johannes wollte nicht, dass du weißt warum, ich denke er hatte Angst, dass du Streit mit Vater anfängst und genauso endest wie er. Aber du kannst dir jetzt doch bestimmt denken, warum wir nach Bad Wiessee fahren?" fragte sie und wandte den Blcik zu William.

Ja, mittlerweilen konnte er sich das wirklich denken und etwas Leben kehrte in seinen müden Blick zurück.

"Wir fahren zu Hannes?"

"Ja, verzeih mir das ich solange gewartet habe, aber es ergab sich keine günstige Gelegenheit" sagte Charlotte und blickte schuldbewusst zu William.

"Günstige Gelegenheit?" Ein leises Lachen entfuhr seiner Kehle.

"Die wird es nie geben. Aber warum ausgerechnet jetzt. Und warum lässt du Janosch wegen uns schon wieder allein Charlotte. Das macht mir ein schlechtes Gewissen, dass du nicht bei ihm bist."

"Denk bitte nach, bevor du lachst" ermahnte sie ihren Bruder und fuchtelte mit dem Zeigefinger herum.

"Er hat Verständniss dafür, er ist nicht so ein Menschenhasser wie Vater, er ist ein verständnissvoller Mensch! Und warum gerade jetzt? Es geht ihm immer schlechter und sein Arzt ist nicht im Land, eine gute Gelegenheit, uns bis zu ihm durchzuschlagen!" erklärte sie kurz.

Ein Stich durchfuhr Williams Herz. Es ging Johannes schlechter. Noch schlechter, als bei seiner Abreise. Jetzt bahnten sich die Tränen in seine Augen.

"Oh wie törricht war ich nur, nicht nach ihm zu suchen Lotte, sondern mich einfach meinem Schicksal zu ergeben. Meine Liebe für Johannes war doch immer so stark und jetzt? Sie ist es immer noch und trotzdem hab ich mich ohne zu Murren meines Vaters Willen ergeben. Hannes leidet doch noch viel schrecklicher darunter als ich."

"William!" sagte Charlotte scharf.

"Jetzt hör auf, Selbstmitleid hilft Johannes auch nicht, ich bin nicht umsonst mitten in der Nacht abgereist. Ich will, dass du dich zusammenreißt und mir zuhörst! Wir gehenn da rein und suchen ihn, es müsste nicht schwer sein, du ziehst dir den Umhang über das man dich nicht gleich erkennt und ich frage nach Johannes. Wir nehmen ihn mit und verschwinden nach Budapest! Ihr kommt zu mir, dort hat Vater keinen Einfluss mehr auf euch! Ihr seid doch meine Brüder, ist das nicht meine Aufgabe als große Schwester?" fragte sie und ihr Lächeln wurde warmherzig.
 

*~~+~~+~~+~~*
 

Charlotte war schon immer diejenige gewesen, die Gräfin Maria-Johanna in ihre Pläne eingeweiht hatte und der sie auch angewiesen hatte, stets auf ihre Brüder zu achten. Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter ereilte sie nur wenige Stunden danach. Die Brünette machte sich sofort auf dem Weg von Budapest nach Luttenberg. Die Fahrt dauerte ohne Pause fast eineinhalb Tage. Erschöpft kam sie dort an und wurde von ihrem Vater begrüßt. Dieser war äußerst niedergeschlagen wie es schien, doch er wusste, wie er mit der Trauer umzugehen hatte. Doch wie es den Zwillingen ging, das vermochte er ihr nicht sagen zu können.

Nachdem sich Charlotte etwas frisch gemacht hatte, ließ sie Lisette rufen. Die Hofdame ihrer Mutter und Person ihres Vertrauens trug, wie es sich gebührte, schwarze Trauerkleidung und einen schwarzen Schleier über dem bereits leicht ergrauten Haar. Anscheinend raubten ihr die Zwillinge doch etwas Kraft und Nerven, was ein Lächeln auf ihre Lippen huschen ließ. Man hatte die junge Gräfin gebeten, sich noch am selben Tag in der Gruf einzufinden, wo sie sich gebührend von ihrer Mutter verabschieden konnte.

Zusammen mit Lisette trat Lotte nun diesen Weg an. Alleine, denn ihr Mann Janosch hatte auf Grund von Regierungsgeschäften zu Hause bleiben müssen. Die junge Frau zitterte am ganzen Leib, als sie die marmornen Stufen nach unten stieg und sie konnte es kaum kontrollieren. Ihre Mutter war doch noch nicht einmal 40 Jahre alt gewesen. Wie konnte das Schicksal nur so grausam mit ihnen sein. William und Johannes waren noch Kinder, die ihre Mutter so dringend benötigten, wie niemand sonst auf dieser Welt. Es war erstaunlich kühl in der Gruft des Schlosses, eine Gänsehaut zog sich über den Körper der Brünetten. Lisette blieb am Eingang stehen, sie wollte den Anblick nicht nocheinmal ertragen müssen.

Mit langsamen, unwilligen Schritten trat Charlotte auf den offenen Sarg zu. Die Augen hatte sie bis zu letzt geschlossen, erwartete sie doch einen schrecklichen Anblick. Doch als sie bei Maria-Johanna ankam, schien es, als ob sie schlafen würde. Ein trauriges Lächeln trat auf das Gesicht der Siebzehnjährigen. Das letzte Mal als sie ihre Mutter lebend gesehen hatte war auf ihrer Hochzeit gewesen, vor gut einem halben Jahr und jetzt war sie zurück nach Luttenberg gekommen, um sie zu beerdigen. Wie grausam doch das Leben sein konnte. Sie fasste nach der Hand der Gräfin, welche äußerst kalt war. Noch immer hoffte Charlotte, dass sie die Augen öffnen würde, doch sie wusste, dass dies nie geschehen würde, egal wie sehr sie es sich wünschte. Stille Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sich über den Rand beugte und einen Kuss auf die kalte Stirn hauchte. Sie war die gütigste Mutter gewesen, die sie sich hätten wünschen können und nichts würde den leeren Platz in ihrem Herzen füllen können.

Die ungarische Gräfin bemerkte ihre große Schwester erst, als sie diese in den Arm nahm, tröstend in ihre Umarmung zog. Charlotte hatte nicht einmal bemerkt, wie sie hemmungslos zu weinen begonnen hatte. Katharina flüsterte beruhigende Worte in ihr Ohr, die jedoch nicht zu ihrem innersten vordrangen. Gemeinsam verließen sie nun diesen kalten Ort, so voller Tod.

Einen letzten Blick riskierte Charlotte dann doch, und es schien ihr, als ob hinter dem Kopf ihrer Mutter ihr Geist stehen würde und für sie lächelte. Unter Tränen lächelte Charlotte zurück. Nein, Maria-Johanna würde sie nie im Stich lassen, sie würde immer an der Seite ihrer Kinder bleiben.
 

*~~+~~+~~+~~*
 

Katharina klopfte leise an die Tür zu Johannes Zimmer. Paul hatte sie an der freien Hand. Da sie keine Antwort erhielt, öffnete sie die Tür und trat ein. Ihr Bruder war nicht im Zimmer und so ging sie mit ihrem Söhnchen nach draußen auf den Balkon, wo sie den Brünetten in eine Decke eingehüllt und auf dem Balkon sitzend vorfand.

"Johannes?" fragte sie vorsichtig.

Vor gerade mal zwei Stunden war sie hier angekommen, da auch Pauls Gesundheit nach einem zweiten Aufenthalt hier verlangte.

Keine Reaktion kam vom Angesprochenen. Er saß stumm dort auf der Bank auf dem Balkon und starrte Löcher in die Luft. Seine Haare waren gewachsen und mittlerweile zu einem Zopf gebunden. Einige Strähnen hingen ihm ins Gesicht, was den Brünetten aber nicht zu stören schien. Sein Blick war leer.
 

William versuchte seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen und lächelte Charlotte zu.

"Vater wird uns finden, egal wohin wir verschwinden werden. Er wird wissen, dass du dahinter steckst Charlotte und das will ich nicht riskieren. Es reicht mir, wenn ich Johannes sehen darf."

"Und wenn schon? Er kann euch nichts vorschreiben! Ihr seid beide 18, da dürft ihr selber entscheiden, außer du sorgst dich darum was andere sagen" erklärte Charlotte und schloss die Augen.

"Johannes ist sein Nachfolger. Er hat bereits eine Braut für ihn gewählt. Die Tochter des bayrischen Königs. Weißt du was das bedeutet Charlotte. Wir könnten zu großer Macht aufsteigen." William seufzte leise.

"Willst du das er einwilligt? Ist das dein Wunsch, William?" fragte Charlotte und öffnete die Augen wieder, sah zu ihrem Bruder und erwartete eine Antwort.
 

Katharina schickte Paul wieder nach drinnen, zum spielen, während sie sich auf den Stuhl neben Johannes sinken ließ. So war es bereits gewesen, als sie vor drei Monaten abgereist war. Von seinen Pflegern hatte sie sich ständig Bericht erstatten lassen, wie sein Zustand war, doch was sie dort gelesen hatte, hatte sie stets beunruhigt. Zögernd nahm sie die kalte Hand und streichelte sanft darüber.

"Johannes" sprach sie ihn erneut an.

"Ich habe Neuigkeiten für dich. William ist auf den Weg hier her."

Kurz wandterte sein Blick zu Katharina, fand sich jedoch wieder schnell am Himmel ein, wo er schon die ganze Zeit hing. Sein Atem ging leise, kaum hörbar. Seine Miene ließ nicht erkennen, ob er wahrnahm was seine Schwester ihm sagte oder ob es durch ihn durchging ohne jegliche Emotionen auszulösen.

"Oh Johannes ..." seufzte die Blonde.

Hoffentlich würde die Ankunft Charlottes mit ihrem jüngsten Bruder etwas an dieser Situation ändern. Doch zuvor musste sie Johannes wieder etwas auf Vordermann bringen. Im Zimmer fand sie eine Schere und machte sich daran, die viel zu langen Haare abzuschneiden und ihm die gleiche zerzauste Frisur zu verpassen, wie er sie noch vor einem Jahr gehabt hatte.

Sie schnitt einige Strähnen ab, dann fasste Johannes nach der Schere und hielt sie fest.

"Hör auf" sagte er und behielt ihre Hand mit der Schere in seiner und ließ nicht los.

Mit einen druchdringend ernsten Blick sah er sie an.

Er war doch noch immer rebellisch. Sie lächelte leicht und ließ die Schere sinken.

"Lass mich dir die Haare abschneiden Johannes. William soll dich doch sicherlich nicht so sehen."
 

"Natürlich will ich das nicht" antwortete William energisch.

"Aber was soll ich schon dagegen tun oder gar du oder Katharina? Es lässt sich nicht verhindern Lotte. Wir können unserem Schicksal nicht entfliehen."

Charlotte seufzte.

"Jetzt hör bitte auf so pesimistisch zu reden, du tust ja so, als ob Vater die ganze Welt gehört und er tun könnte was er will, natürlich es wird nicht einfach, aber wer nicht wagt der nicht gewinnt, oder?"

Auch William seufzte. Charlotte weiter zu wiedersprechen würde sicherlich nichts bringen. Er warf einen Blick aus dem Fenster.

"Wie lange brauchen wir noch?"

"Wir kommen bald an" versprach Charlotte und ließ auch ihren Blick aus dem Fenster schweifen.

William war bereits so nervös, dass er es kaum noch aushielt. Und die Kutsche fuhr so langsam. Er hoffte, dass Charlotte nicht nur versuchte, ihn zu beruhigen, sondern die Wahrheit sprach und sie bald in Bad Wiessee ankamen.
 

"Ich bin ich, mit oder ohne Haare, oder?" sagte Johannes und nahm Katharina dann vorsichtig die Schere aus der Hand.

Er fand keine Begründung dafür, dass er momentan dagegen war seine Haare zu behalten, aber er wollte es jetzt einfach nicht, noch nicht.

Wiederwillig ließ sie ihren Bruder dies tun. Sie fand ihn einfach nicht hübsch mit den langen Haaren, doch wenn er es nicht anders wollte, konnte sie ihn nicht zwingen. Man hatte ihn schon zu viel zu viel gezwungen. Am Weg zum Sanatorium war bereits eine Staubwolke zu erkennen. Ein Lächeln huschte auf die Züge der Blonden.

"Sie sind gleich hier."

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, stand Johannes auf und ging ins Zimmer. Er war bleich angelaufen und wirkte leicht nervös als er drei oder viermal hin und her lief. Katharina folgte Johannes, da schließlich auch Paul noch in dessen Zimmer war. Besorgt blickte sie ihren Bruder an. Freute er sich denn gar nicht, seinen Bruder wieder zu sehen? War es ihm so sehr zuwieder?

"Johannes? War das nicht dein Wunsch?"

Sie und Charlotte hatten gar nicht weiter darüber nachgedacht, dass Johannes das nicht möchten könnte.

"Doch, aber" Sein Blick wurde kurz schmerzverzerrt, bevor er sich zusammenriss und seine Augen kurz schloss.

"Ich hab hier nicht den ganzen Tag Blümchen gepflückt. Was glaubst du, warum ich hier war? Man hat mir täglich eingetrichtert, was für Hirngespinste das seien, ich fühle mich total umgekrempelt und alles wirkt so falsch, alles" sagte Johannes und starrte dabei auf seine Hände.

Sein rechtes Handgelenk wies lauter Schrammen und Kratzter auf, die unterm Hemd nicht sichtbar, bis hoch zur Armbeuge gingen. Das alleinsein und die täglichen Torturen hatten ihm schrecklich zugesetzt.

"Ich wünsche mir nichts mehr als William zu sehen, aber wie wird er reagieren? Und wie soll ich reagieren?" fragte Johannes verzweifelt.

Katharina nahm Paul auf den Arm, während ihr Bruder seine Gefühlswelt erklärte. Mit finsterem Blick sah sie nach draußen, wo die Kutsche mittlerweilen angehalten hatte und man die Türen hören konnte.

"Johannes, ich kann dir nur sagen, dass nichts an deinen Gefühlen zu William falsch ist. Er liebt dich und du ihn doch auch. Diese Menschen hier sind in ihrem Blickfeld einfach nur eingeschränkt und wollen nicht sehen, was für herrliche Gefühle das zwischen euch sind."

Sie seufzte leise und küsste Paul auf die Wange.

"Er freut sich bestimmt, dich zu sehen. Ich weiß von Lisette, dass es ihm genauso schlecht erging wie dir, im letzten Jahr. Sie hat sogar von langen Krankheiten gesprochen, zweimal. Ich kann dir nicht sagen, wie du reagiern sollst. Lass dich einfach von deinen Gefühlen leiten."

Zaghaft nickte Johannes und ließ sich auf sein Bett sinken.

"Ja du hast wohl recht" gab er zu und wartete. Mehr konnte er im Moment wohl nicht tun.

"Möchtest du alleine sein?" fragte Katharina schnell.

Es war das erste Mal seit Monaten, dass etwas Leben in Johannes gekehrt war.

"Ich könnte mit Paul und Charlotte spazieren gehen."

"Ja bitte" sagte Johannes und sah kurz auf.

"Danke Katharina" sagte er und nickte.
 

Schnell stieg Charlotte aus und stürmte zur Eingangstür.

"Komm, schnell!" Wie ein kleines Kind drängte sie William sich zu beeilen.

William zog sich die Kapuze über den Kopf und folgte seiner Schwester schnell.

"Lotte, ich hab nichtmal ein Hemd an!" bemerkte er nun.

Er hatte Schloss Luttenberg schließlich Hals über Kopf mit ihr verlassen.

"Das ist egal, du hast doch den Umhang, genier dich nicht" sagte sie und durchschritt schnell die großen leeren Hallen des Anwesens.

Bei diesen Worten zog er den Umhang noch etwas fester um seine Schultern, damit er ja nicht geöffnet werden konnte. Hoffentlich würde er bald bei Johannes sein, dann konnte er sich von diesem ein Hemd borgen.
 

"Nichts zu danken."

Katharina verließ mit ihrem Sohn auf dem Arm das Zimmer und fing Charlotte dort ab. Sie wusste, dass ich unter dem Umhang ihr jüngster Bruder befand und trat zur Seite.

"Er ist dort drin."

"Geh schon rein" drängte Charlotte ihren Brudernun und schupste ihn nach vorn.
 

Johannes saß noch still auf seinem Bett und wartete. William stolperte durch die halb offene Tür und sah sich erstmal um, ehe er die Kapuze vom Kopf zog. Schließlich musste er sicher gehen, dass er mit Johannes allein war. Bevor er zu seinem Bruder ging, den er auf dem Bett sitzend entdeckt hatte, schloss er die Türe und sperrte ab. Niemand sollte sie jetzt stören.

Eine riesige Woge von Liebe erfasste ihn plötzlich und nur mit großer Mühe konnte er sich beherrschen und Johannes nicht einfach küssend und liebkosend anzufallen.

"Hannes" kam es sehnsüchtig von seinen Lippen, als er neben diesen ans Bett trat.

Johannes ließ seinen Blick gesenkt und starrte hinab zu seinen Händen die offen in seinem Schoß lagen.

"Tut mir Leid" kam es leise von ihm.

Um Williams Schultern lag noch immer der Umhang, doch seine Hände lösten sich nun daraus, um Johannes Kopf anzuheben.

"Was tut dir Leid?"

Zu lange hatte er es vermisst in diese blauen Augen zu sehen, er hatte Johannes so schrecklich vermisst.

"Das ich weg bin. Es tut mir leid" sagte er und sah nun zu seinem Bruder auf.

Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Sie wirkten matt und leblos.

"Du hattest keine andere Wahl. Man hat dich dazu gezwungen Hannes."

Es tat ihm weh, seine Augen so glanzlos zu sehen. Ganz ohne Lebenswillen.

"Ich habe dich so schrecklich vermisst und so viele Dummeheiten begangen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob du mich wieder haben willst" meine William leise.

"Natürlich" sagte Johannes, machte eine Pause.

Dann fiel er William augenblicklich um den Hals und hielt sich an diesem fest.

"Natürlich" schluchzte er schon fast und drückte seinen Bruder ganz fest an sich. Erstaunt, aber gleichzeitig wahnsinnig erleichtert, schloss William Johannes in seine Arme, drückte den schmalen Körper fest an sich. Die Wärme seines Zwillings wieder zu spüren war einfach toll. Und diesesmal würde es niemand mehr schaffen, sie voneinander zu trennen. Er löste sich etwas von seinem Bruder und küsste ihn vorsichtig. Schließlich wusste er nicht, was man ihm alles angetan hatte, was er alles erlebt hatte. Doch egal was es war, William würde ihm alles nehmen, jeglichen Zweifel und die Angst.

"Hannes"

"Will" hauchte Johannes und blieb an seinem Bruder hängen.

Er wollte diesen auf keinen Fall wieder loslassen. Williams Stirn lehnte nun an der seines Zwillings.

"Verlass mich nie wieder, versprich es mir Hannes."

Er schloss kurz seine Augen und seufzte.

"Ich musste ständig an Mutter denken, die ganze Zeit als du nicht da warst. Ich ... habe fast nichts geschlafen und ... kurz nach deiner Abreise ... Lisette hab mich gefunden, beide Male."

Er hatte einfach das Verlangen, Johannes alles zu erzählen.

"Und egal wer bei mir schlief, niemand konnte die Albträume so gut verjagen wie du. Keiner konnte mir diese Liebe und Geborgenheit geben."

"Nie wieder" schwor Johannes und ließ seine Stirn kurz auf Williams Schulter liegen, bevor er ihn wieder hob.

"Was ist passiert?" fragte er und blickte erwartungsvoll zu William.

"Was ist passiert als ich weg war?" fragte er.

William sah auf seine Handgelenke, die von zwei langen Narben geziert wurden.

"Ich habe versucht mir das Leben zu nehmen. Gleich den Tag nach deinem Verschwinden und vier Monate später wieder. Lisette hat mich jedes Mal noch rechtzeitig gefunden. Sie konnte es sogar vor Vater geheim halten."Er seufzte leise.

"Und ich hatte einige Liebhaber. Bitte hasse mich nicht dafür Hannes. Aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Diese unerträgliche Leere in mir hat mich aufgefressen."

"Entschuldige dich nicht, es ist meine Schuld. Wenn ich nicht gegangen wäre, wär es nicht so weit gekommen" sagte Johannes und blickte wieder nach unten.

Seine Umarmung löste sich von William und er blieb wieder still neben ihm sitzen.

"Ich glaube diese 'Leere' hat mich überhaupt am Leben gehalten" flüsterte Johannes und wandte seinen Blick zu William.

Dieser sah aus dem Fenster, während er noch immer Johannes Hand hielt. Es hatte jetzt auch keinen Sinn mehr, in der Vergangenheit zu leben und sich deswegen zu grämen. Er war gekommen, um ein neues Leben zu beginnen, mit Johannes zusammen.

"Wir sollten das hinter uns lassen. Beginnen wir von vorne, wenn du es denn willst Hannes."

Er war wirklich bereit dazu, das alles liegen zu lassen.

"Lauf mit mir weg, so wie wir es vor einem Jahr vor hatten."

"Wir bleiben zusammen. Ich liebe dich, ich will bei dir bleiben. Ich habe an nichts anderes denken können" erklärte Johannes.

Nichts lieber würde er tun. Aber es war so viel passiert. Er wusste nicht recht, sollte er wirklich bei ihm bleiben, was wenn Williams Gefühle für ihn sich geändert hatten. Der Jüngere lächelte bei diesen Worten.

"Ich liebe dich auch, mehr noch als mein Leben. Ich will mir einfach nicht vorstellen, weiter ohne dich sein zu müssen."

Er schmiegte sich wieder an Johannes und küsste sanft dessen Hals. Wie sehr er ihn doch vermisst hatte. Die zarte Haut unter seinen Lippen. Das Gefühl, geliebt und erwünscht zu sein. Johannes seufzte.

"Ja" sagte er und nahm Williams Gesicht in die Hand.

Sanft, zaghaft berührte er die Lippen seines Bruders und ließ sie dann darauf ruhen. Dutzende Küsse landeten auf Williams Lippen und lösten sich schnell wieder. Williams Kopf lehnte nun wieder auf der Schulter seines Bruders und nur zu gern erwiederte er dessen sanfte, flatterhafte Küsse. Seine Hand schlang sich sanft um dessen Mitte und er vertiefte alles noch etwas mehr. Langsam ließ er sich nun mit Johannes in die weichen Kissen sinken, seine Augen hatte er dabei geschlossen. Genoss jede Sekunde, die er jetzt mit ihm war. Johannes lächelte und bevor er sich versah war er eingeschlafen. Er hatte so wenig geschlafen, vielleicht genauso wenig wie William, aber er konnte sich jetzt nicht mehr länger wach halten. Er war so erleichtert darüber das William wieder bei ihm war. Auch dem Jüngeren ging es nicht anders. Diese Vollkommenheit, die plötzlich wieder in ihm herrschte, ließ ihn erst merken, wie erschöpft er eigentlich war. Eng mit Johannes umschlungen war er eingeschlafen, seinen Kopf vorsichtig an dessen Schulter gebettet.
 

Katharina war mit Charlotte etwas spazieren gegangen.

"Du willst also mit den beiden nach Budapest reisen ja?"

"Ja, ich denke es wäre das Beste für beide wenn sie von all dem etwas Abstand haben würden oder? Meinst du nicht?" fragte sie und sah fragend zu ihrer Schwester.

"Natürlich ist es das Beste für sie. Aber für dich bedeutet es doch, einen Bruch mit Vater einzugehen."

Paul lief nun vor den Beiden und spielte mit einer kleinen Katze, die über ihren Weg gelaufen war.

"Versteh mich bitte nicht falsch Charlotte, ich würde das gleiche für sie tun, wenn ich könnte. Aber bist du dazu wirklich bereit? Und was sagt dein Gatte dazu?"

"Ich habe mit ihm gesprochen, er ist so ziemlich meiner Meinung. Ich bin dankbar dafür, er ist so ein gütiger Mensch und bestimmt auch guter Vater" sagte Charlotte und lächelte.

"Was sollen wir denn sonst tun? Zurück zu Vater? Das würden sie nicht verkraften oder weiter getrennt bleiben."

Katharina horchte auf.

"Vater?" fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.

"Willst du mir etwa etwas mitteilen liebste Lotte?"

Nein, die beiden getrennt zu halten, wäre sicherlich auch verkehrt. So war es fürs Erste wohl am Besten. Charlotte lächelte und nickte.

"Ich wollte eigentlich noch warten, aber seis drum. Ich erwarte ein Kind Katharina" sagte sie fröhlich und lächelte in sich hinein.

"Oh Lotte!" rief Katharina aus und herzte ihre Schwester liebevoll.

"Und dann nimmst du auch noch solche Strapazen auf dich, nur um Johannes und William zu helfen. Mutter wäre so stolz auf dich." Und das war ihr ernst.

Die Gräfin wäre mit Sicherheit stolz auf das Verhalten ihrer jüngsten Tochter gewesen. Charlotte war schon immer ein Freigeist gewesen, wo Katharina vernünftig war.

"Ich denke es ist doch meine Aufgabe oder?" lachte sie und wirkte vollkommen unbeschwert.

"Sie hat dir die Beiden anvertraut. Du warst es, von der sie sich wünschte, du sollst auf sie acht geben." Katharina lächelte tapfer bei der Erinnerung an ihre verstorbene Mutter.

"Sie fehlt mir so sehr" seufzte die Blonde.

"Mit ihr wäre das hier alles erst gar nicht passiert."

"Nein warscheinlich nicht, ich vermisse sie doch auch" sagte sie und nickte.

"Ich auch Katharina, sehr sogar"

Sie nahm Charlottes Hand und machte kehrt.

"Lass uns zurückgehen. Die Beiden haben sich sicherlich bereits ausgeredet und ihr könnt abreisen. Die Erklärung, wo Johannes abgeblieben ist, überlass bitte mir. Paul geht es nicht sehr gut, deshalb werde ich wohl wieder etwas länger hier sein." Sie grinste ein wenig.

"Außerdem kommt Alexander bald und besucht mich und seinen Sohn."
 

So gut es auch war, wieder an Johannes Seite zu schlafen und ihn wieder bei sich zu wissen, lange verweilte William nicht in diesem Zustand der Glückseeligkeit. Sich vorsichtig von seinem Bruder lösend, stand er auf und ging zu den Kleiderschränken, wo er sich ein Hemd herausnahm, dass er anzog und schließlich die Sachen von Johannes in eine naheliegende Tasche räumte. Sie sollten schließlich schnell verschwinden, nicht dass ihnen noch was dazwischen kam. Als er gepackt hatte, weckte er seinen Bruder vorsichtig.

"Hannes, wir müssen los, ehe dein Arzt zurückkommt. Komm, zieh meinen Umhang an, damit du unentdeckt bleibst."

Vorsichtig, als ob er irgendwelche Gebrechen hätte, setzte sich Johannes wieder auf und stellte sich dann auf die Beine. Er nickte zaghaft und nahm den Umhang von seinem Bruder und streifte ihn sich über.

"Glaubst du nicht, dass die dich erkennen?" fragte er.

William lächelte.

"Ich mag dein Zwilling sein, aber ich kann verdammt schnell laufen"

Er küsste Johannes flüchtig, ehe er ihn an der Hand nahm.

"Komm, lass uns gehen. Lotte und Rina warten sicher auch schon auf uns."

Erneut nickte Johannes und folgtr seinem Bruder.

"Die haben Schlagstöcker, da musst du ziehmlich schnell rennen" sagte er noch und öffnete dann die Tür.

"Keine Sorge, dass kann ich schon."

Er öffnete die Tür und ging vorraus. Als sie die Treppe nach unten gingen, kamen ihnen ihre Schwestern entgegen. Glücklich lächelnd trat William ihnen entgegen.

"Ich denke, wir sind bereit um abzureisen."

Johannes hielt den Blick gesenkt. Seine Stimmung war angespannt, immer noch war die Angst da, aufgehalten zu werden. Doch folgte er Charlotte, welche die beiden zur Kutsche führte. Erst als diese sich in Bewegung setzte, konnte er aufatmen. William stieg nach Johannes und Charlotte in die Kutsche, nachdem er sich von Katharina verabschiedet hatte, und kaum das er die Türen geschlossen hatte, setzte sie sich in Bewegegung.

"Wie lange wird es dauern, bis unser Verschwinden bemerkt werden wird?"

Charlotte lachte leise.

"Wenn Vater aufmerksam ist, hat er deines zumindest schon bemerkt. Das hier, solange Johannes Arzt nicht zurückkommt, wird es unbemerkt bleiben. Und Katharina wird sich darum kümmern. Bis wir die Grenze erreichen sind es noch zwei Tagesreisen. Aber das werden wir schon schaffen."

Erst jetzt wandte sie sich ihrem Bruder zu.

"Wie fühlst du dich Johannes? Du siehst so blass aus."

"Mir geht es gut, macht euch bitte keine Sorgen" bat Johannes.

Seine Stimme klang rau. Lange Zeit hatte er dort kein Wort gesprochen, denn es gab für ihn keinen Sinn noch weiter zu sprechen. Niemand war dort gewesen, mit dem sich eine Unterhaltung lohnen würde. Es ergab für ihn keinen Sinn. Seinen Blick hielt er weiterhin gesenkt. Er fühlte sich ein wenig unwohl, so von allen angestarrt zu werden. William setzte sich nun neben Johannes und nahm dessen Hand in seine.

"Es wird alles wieder gut werden Hannes. Wir sind jetzt wieder zusammen und nichts kann uns mehr trennen." Er lehnte seinen Kopf an den seines Zwillings.

"Ich liebe dich" hauchte er, nur für Johannes hörbar. "Vergiss das bitte nie!"

"Natürlich nicht" beteuerte er und nickte.

Doch es war viel zu einfach zu sagen, das nichts mehr geschehen konnte. Sie waren keine Kinder mehr. Die Regeln, die ihr Leben bestimmten, hatten sich geändert. Es war nichts mehr so einfach wie man es sich wünschte.

"Hör zu Johannes. Mein Mann ist ein sehr einflussreicher Mensch, der es sich leisten kann, mit einem Grafen, wie unserem Vater in Streit zu geraten. Und sollte dieser Ungarn mit Krieg drohen, weiß er auch, dass wir Österreich und Bayern auf unserer Seite haben. So leicht wird man es ihm sicherlich nicht machen."

Charlottes Worte sollten beruhigend auf die Zwillinge wirken, doch selbst bei William lösten sie einen kalten Schauer aus, der ihm über den Rücken lief. Einen Krieg wollte er sicherlich nicht riskieren. Doch von Johannes getrennt zu sein, war mehr, als er ertragen konnte. Johannes überlegte und seufzte.

"Wir können doch keinen Krieg riskieren? Da können wir doch nicht das ganze Land mit hineinziehen" sagte Johannes und hob den Blick.

"Hannes hat Recht Lotte, das wäre zu viel des Guten." stimmte auch William zu, der sich noch immer an Johannes gekuschelt hatte.

"Keine Sorge, Vater droht sicherlich nur damit und bei Verhandlungen zieht er automatisch den Kürzeren. Alexander und Janosch sind ziemlich gnadenlos und sehr überzeugend."

Johannes seufzte.

"Das hab ich garnicht verdient, dass ihr euch so um mich sorgt" gestand er und zog sich dann die Kapuze vom Kopf.

Vorsichtig strich er sich durch die Haare und seufzte erneut.

"Natürlich hast du das!" antworteten seine Geschwister unisono.

Doch nur William sprach weiter.

"Was würde ich denn ohne dich tun Hannes? Mein Leben hätte keinen Sinn und ich würde mich leer und einsam fühlen. Wenn du nicht mehr wärst, wüsste ich nicht, ob ich noch weiterleben will."

Erneut strich Johannes sich einige Strähnen aus dem Gesicht, die ihm immer wieder vor die Augen fielen. Leise fluchte er, da ihn dies wirklich störte. Warum hatte er nur Katharina davon abeghalten sie zu trimmen?

"Sag sowas nicht. Selbst wenn ich nichtmehr bin, darfst du gar nicht daran denken!" sagte Johannes und nickte sich selbst zustimmend zu.

"Egal warum, egal du darfst sowas nicht sagen und denken, dass will ich nicht" fügte er hinzu.

William seufzte. Er wollte aber ohne Johannes nicht mehr leben, aber jetzt würde er ihn ja nicht mehr verlassen.

"Du bleibst ja jetzt auch bei mir. Also brauch ich über sowas gar nicht nachdenken."

Er lehnte sich wieder an seinen Bruder und streichelte über dessen Arme. Katharina war eingeschlafen und ihr Kopf lag an der Lehne ihrer Sitzbank. William strich schließlich über die feinen Narben und sah sie sich an.

"Woher hast du die?"

Johannes blickte zu William.

"Willst du das wirklich wissen?" fragte er.

William nickte. Er hatte zwar jetzt schon ein seltsames Gefühl dabei, aber er wollte es hören.

"Du weißt ja auch, was ich getan habe."

"Ja, grob" antwortete er.

"Es ist ähnlich wie bei dir denke ich. Das war ich selber, aber das ist noch nicht alles. Ohne Hemd seh ich noch schlimmer aus" gestand Johannes und senkte seinen Blick wieder.

Noch schlimmer? Fragend wanderte Williams Augenbraue nach oben.

"Was genau hast du getan Johannes? Was haben sie dir angetan?" Seine Stimme schwang voller Verzweiflung und Sorge.

"Nichts, mach dir darüber keine Gedanken, es geht mir gut. Außerdem ist es mir viel wichtiger wie es dir geht" sagte er und strich William über die Wange. William grummelte leise.

"Es geht mir nur so gut, wie es dir geht. Merkt man wohl, dass wir Zwillinge sind. Ich hab zweimal versucht mir die Pulsadern aufzuschneiden. Aber Lisette scheint ja immer noch ein unverbesserliches Gespür für unser Befinden zu haben und hat mich gefunden."

"Ja das hat sie." Johannes fing an zu erzählen.

"Anfangs hab ich mich oft mit den Pflegern angelegt, man hat mich behandelt, als hätte ich eine ansteckende Krankheit oder wär ein rohes Ei. Das hat mich so gestört" erklärte Johannes.

Johannes war der sanfteste Mensch auf Erden. William konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, auf welche Art und Weise er sich mit denen angelegt haben könnte.

"Sie haben dir wehgetan" stellte er schlichtweg fest.

Das war in seinen Augen die einzige Möglichkeit, woher die Narben kamen.

"Natürlich, ich bin nicht der Größte oder Kräftigste und wenn Worte nicht mehr halfen, da mussten sie wohl zuschlagen. Ich glaube die haben Gefallen daran gefunden, wenn ich mich darüber aufgeregt hab, das ich garnicht hier sein wollte. Irgendwann kamen die einfach so und haben mich schikaniert" meinte Johannes.

Seine Augen waren fast geschlossen und wirkten glanzlos. Die Erinnerung an diese Zeit, wo er sich so allein und verloren gefühlt hatte, war fruchtbar. Er fühlte sich unvollkommen, denn seine bessere Hälfte, William, fehlte ja. Dieser schauerte bei dem Gedanken.

"Nach meinem ersten Selbstmordversuch war ich sechs Wochen lang ans Bett gefesselt. Lisette hat mich nicht aus den Augen gelassen und erst als sie befand, dass es mir wieder besser ginge, durfte ich alleine etwas unternehmen. Ich kann es nicht fassen, dass Vater von alldem nichts bemerkt hat." Er schlang seine Arme um Johannes

"Aber sie haben dich nicht angefasst, also ich meine, auf sexueller Ebene" Seine Stimme war leiser geworden.

Johannes Blick wanderte nach draußen.

"Nein, warum?" fragte er und blickte William in die Augen.

Diese Frage weckte leise Zweifel in ihm. Wollte sein Bruder ihm damit etwas sagen? Hatte diese Frage etwas Bestimmtes zu bedeuten? Ohne es wirklich zu wollen, fing er an zu überlegen.

"Katharina hatte in einem der Briefe erwähnt, dass die Pfleger nicht äußerst freundlich zu dir wären. Und ich hatte mir Sorgen gemacht, dass sie dich vergewaltigen würden oder so." Er schmiegte sich wieder an seinen Bruder.

Er hatte sicherlich keine Zweifel in diesem hegen wollen. Doch er merkte, dass ihm das gerade sehr gut geglückt war.

"Das hätten sie bestimmt gerne" sagte Johannes und lehnte sich dann gegen die Wand.

Er seufzte leise und schloss die Augen.

"Ja" knurrte William.

Allein bei dem Gedanken daran, bekam er eine Wut in seinem Bauch, die unglaublich heftig war. Aber Johannes würde es sicherlich nicht anders ergehen, wenn er ihm von den vielen Liebschaften berichtete. Obwohl, es waren ja nur drei oder vier gewesen. Aber keine hatte er lang für sich gehabt. Er duldete nunmal niemand anders in seinem Bett, als seinen Bruder.

"Ich will wieder mit dir zusammen sein Johannes."

Johannes seufzte.

"Ich auch. Ich hab mir nichts anderes die ganze Zeit gewünscht." Sie verharrten in dieser Postion.

Johannes überlegte in sich hin und her, ob William sich woanders die Liebe gesucht hatte, die er vermisste. Die Zweifel plagten ihn, aber er wollte seinen Bruder danach auch nicht fragen. Dieser jedoch spürte die Unruhe deutlich, die von Johannes ausging.

"Was hast du auf dem Herzen? Sags mir" forderte er liebevoll.

"Nichts, mir gehts gut, ich bin glücklich. Ich bin nur müde" antwortete Johannes.

Es war ja die Wahrheit, auch wenn er dabei einiges verschwieg.

"Hannes" flehte William, sich der Nähe von Charlotte nur deutlich bewusst.

"Ist es das, was ich vorhin bei dir sagte? Dass ich Liebhaber hatte?"

Genauer wollte Johannes jetzt gar nicht darüber nachdenken. Denn wenn er das tat, dann würde er wahrscheinlich ausrasten. Nicht weil er sauer auf William war, sondern weil er eher sauer auf sich selbst war. Er war derjenige den er nicht leiden mochte, er hasste sich selber, das er schuld war an dieser ganzen Situation.

William hauchte einen zarten Kuss auf die Wange seines Zwillings.

"Lass uns heute Nacht zusammen verbringen. Ganz allein in einem Zimmer und einem Bett" hauchte er.

"Lass uns erstmal abwarten, wie weit wir kommen" sagte Johannes und blieb so an die Wand gelehnt, er war so müde.

"Schlaf Liebster" flüsterte William.

"Du hast es verdient."

Er schlang seine Arme um Johannes und wartete, bis dieser eingeschlafen war. Anschließend wanderte sein Blick wieder nach draußen auf die Landschaft. Er kannte den Weg nach Budapest nicht so gut, aber wie es ihm schien, kamen sie doch gut vorran. Und so wie er Charlotte kannte, hatte sie sicherlich nicht vor, eher zu halten, als die Nacht über sie hereingebrochen war. Tief schlief Johannes. Nach langer Zeit mal wieder erholsamer und ruhiger Schlaf. Nichts trübte seine Träume, sie waren verwirrend und auf nichts konkretes gerichtet. Vielerlei Bilder flogen vor seinem inneren Auge vorrüber, streiften sanft sein Bewusstsein. Es war ewig her, das er im Schlaf nicht schreiend aufwachte.



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