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Drachenkind

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, hier haben wir schon mal wieder ein neues Kapitel. So lange hat es gar nicht gedauert, wie ich erwartet habe.^^ Wie lang hat es denn gedauert? ^^°
Jedenfalls... Viel Spaß beim lesen. XD


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Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier haben wir auch schon das nächste Kapitel.^^ Noch geht es recht schnell mit dem Hochladen, aber ich denke, dass Tempo kann ich nicht mehr lange halten. Irgendwann muss ich ja doch mal anfangen, etwas für meine Hausarbeiten zu tun (auch wenn ich lieber etwas anderes machen würde).

Viel Spaß damit.

maidlin

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal hat es ein weniger länger gedauert und ich bitte um Entschuldigung.^^° Ein paar Wochen Uni muss ich noch schaffen und dann geht es (vielleicht) wieder schneller. Ich will nicht zu viel versprechen.

Viel Spaß, jetzt erst mal.

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich denke der Titel wird viele neugierig machen. Ob sich eure Erwartungen erfüllen oder nicht, müsst ihr schon selbst lesen.

Wie immer viel Spaß dabei. XD

maidlin

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich für die lange Wartezeit und hoffe ihr vergebt mir. *bibber*
Jetzt bin ich mit der Uni erst mal fertig und werde hoffentlich mehr zum schreiben kommen. (Wenn sich nicht jemand anderes ein paar Aufgaben für mich einfallen lässt. Mir könnte es ja zu gut gehen. *grummel*)

Jetzt erst mal viel Spaß und wir lesen uns am Ende nochmal.
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich werde dieses Mal nichts am Ende sagen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich glaube es ist besser, wenn die Worte für sich wirken und sprechen.

Hier möchte ich Danke sagen und zwar an alle, die die FF lesen, sie als Favos habe und mir Kommis schreiben. Ich hoffe, dass bleibt auch weiterhin so.^^

Aber nun will ich auch nicht weiter aufhalten. Viel Spaß.

lg maidlin

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe hier wird Dracos Reaktion verständlich.^^ Ich habe es zumindest versucht und der Wille zählt ja auch. ~.~

Viel Spaß mit dem neuem Kapitel.

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir schrecklich, schrecklich leid, dass es so lange gedauert hat, bis zu diesem Kapitel. T.T
Bitte vergebt mit!!!

Es kam ständig etwas „dazwischen“. Erst war ich krank, dann war Geburtstag, dann Ostern, dann hab ich angefangen mit Arbeiten und meine VK FF wollte auch nicht so, wie ich wollte. Ich hoffe, ich bekomme jetzt das mit dem Zeitmanagement hin. Ich geb mir zumindest Mühe.

Ansonsten hoffe ich das dieses Kapitel wenigstens ein bisschen entschädigt, auch wenn das ein oder andere etwas überraschend kommen sollte... *ähem*

Viel Spaß beim Lesen und bis zum nächstem Mal!

lg maidlin


EDIT: Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war, aber ich hab jetzt doch noch ein paar mehr Fehler gefunden, als ich erwartet hätte. Hab versucht sie zu korregieren, aber es könnten natürlich immer noch welche drin sein. Wenn ich sie irgendwann erwischen sollte, kommen die auch noch weg.
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie lange hat es dieses Mal gedauert?
Ich hoffe nicht zu lange. Aber das werdet ihr sicher anders sehen. -.^
Außerdem hoffe ich, dass nicht wieder so viele Fehler wie beim letzte Mal drin sind. Ich habe noch mal nachgelesen, aber man weiß ja nie! Wenn doch, dann tut’s mir leid und sagt mir das bitte auch. Ein paar sind verständlich, aber wenn es dann schon keinen Sinn mehr macht (Macht hier überhaupt etwas Sinn?) wird’s kriminell. O.o

Viel Spaß!

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin endlich mal wieder zurück!!
Na, habt ihr mich auch alles vermisst? Wohl eher Annie und Draco... Ja, die beiden haben mich mal wieder schön an den Rand der Verzweiflung getrieben. Dieses Mal besonders Annie. *seufz*

Nun denn... viel Spaß erst Mal.
Und immer dran denken... man liest sich immer zwei Mal! XP

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Jaha... ich melde mich dann auch mal still und leise zurück.^^; Hoffe mich hat noch keiner vergessen. *hüstel* Aber dafür hab ich ja auch ein neues Kapitel mitgebracht, nicht wahr? Also, alles wieder gut.

In diesem Kapitel habe ich versucht eine andere Seite der Charaktere zu zeigen. Keiner von ihnen ist so, wie es auf den ersten Blick zu seien scheint. Zumindest war das meine Absicht.^^; In den meisten Jugendbüchern ist es ja so, dass die Hauptfigur nur minimale Fehler hat, wenn überhaupt. Ich wollte das etwas anders machen. Ob es mir aber gelungen ist, liegt an euch mir zu sagen.
Aber vielleicht wisst ihr ja auch gar nicht was ich meine, dann ignoriert diesen Teil hier bitte.^^;

Also viel Spaß beim Lesen.

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Vorwort zu diesem Kapitel:
ENDLICH!!!
Ich weiß, ich weiß, ich weiß! Es ist schon über einen Monat her, dass es ein neues Kapitel gab. Es tut mir schrecklich, doll leid. ;_;
Ich bin endlich umgezogen, aber noch immer dabei mich hier einzuleben. Aber das ist nicht das, was euch interessiert.

Zum Kapitel selbst, kann und will ich noch nichts sagen. Wie immer hoffe ich nur, dass alles nachvollziehbar ist. Zum größten Teil ist es aus Dracos Sicht geschrieben und dieser Mann bringt mich des öfteren zum Verzweifeln. Das er immer so viel überlegen muss... @.@

Ich hoffe wie immer, dass ihr trotzdem Spaß habt.

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach mehr als vier Wochen gibt es endlich wieder ein neues Kapitel. Es tut mir leid! Aber anscheinend trifft meine Vermutung doch zu. Je länger ich brauche, desto länger werden die Kapitel. Ich weiß nicht, ob mich das beruhigen soll oder nicht. ^^° Zu dem Kapitel will ich mich nicht äußern, ganz einfach deswegen, weil ich selber noch nicht weiß, was ich davon halte. Ich weiß auch nicht... Ich bin komisch.

Gut, dass wir das dann auch mal geklärt haben.

Jetzt wünsche ich euch mal viel Spaß beim Lesen!

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Zu meinen Jubiläen gibt es ein neues Kapitel.
Aber das hätte es auch so gegeben. XD Wie bin ich mit euch?
Tjaha... ich will mir auch nicht lange aufhalten.

Viel Spaß beim Lesen!

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hätte nicht gedacht, dass ich es wirklich noch in diesem Jahr schaffe! Ich bin begeistert! >.<
Ich hoffe das Kapitel gefällt und ihr habt Freude beim lesen.

Eines muss ich noch sagen: Ich hab keine Ahnung von Pferden.^^° Man möge mir verziehen, denn zum nachschlagen hatte ich keine Zeit und hier bei meinen Eltern hab ich auch kein Internet, wo ich mal schnell hätte schauen können. =P
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Schallömchen!
Hoffe, euch geht es gut und ihr seid noch frisch und munter.
Dann will ich mich auch nicht länger aufhalten, sondern wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir leid!!!
Ich weiß, ich bin viel zu spät mit dem Kapiteln und wenn ich mich zurück erinnere, weiß ich gar nicht, warum ich nicht schon eher gepostet habe! Irgendwas hat mich aufgehalten! Das Üblich wohl – Arbeit und Seminar. Vergebt mir!
Mit meiner Vampire Knight FF ist es das Gleiche. Ich schäme mich. Ich hoffe auf das nächste Kapitel, muss nicht wieder so lange gewartet werden! Ich gebe mir wie immer die größte Mühe!
Dieses Kapitel ist eigentlich... spontan entstanden und nichts davon war geplant.^^; Ich weiß noch nicht, ob das gut oder schlecht ist. Wenn ich mir das dann allerdings so durchlese, frage ich mich echt, was ich gegen meine Charaktere habe. Eigentlich nichts! Aber trotzdem... *seufz*
Im nächsten Kapitel geht es dann rasant (haha... doch nicht bei mir!) weiter und der Grundstein für das Ende wird gelegt (wenn nichts dazwischen kommt) Hätte ich das vielleicht nicht sagen sollen? O.o

Viel Spaß beim lesen!

lg maidlin
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier haben wir also ein neues Kapitel und da ich heute nicht sonderlich gesprächig bin, mach ich es kurz und schmerzlos:
Viel Spaß beim Lesen!

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Mmh... was soll ich sagen? Ich weiß es nicht... Ich denke das Kapitel erklärt sich von selbst... hoffe ich mal.
Also wünsche ich euch recht viel Spaß! Wir lesen uns wie immer am Ende!

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Was lange währt, wird endlich gut. Leider trifft, das auf dieses Kapitel nicht zu. Zumindest bin ich nicht völlig damit zufrieden, aber das wird auch nichts mehr.^^°
Dieses Kapitel enthält so gut wie keinen Dialog... Ich bete, dass es nicht zu langweilig wird. >.<

Trotzdem viel Spaß und ich melde mich am Ende, wie immer noch mal.

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe in diesem Kapitel über ein paar Dinge geschrieben, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe und auch im Internet nicht wirklich etwas Befriedigendes gefunden habe. Bitte verzeiht mir diese Stellen also – wenn sie euch denn auffallen. Wenn nicht, dann habe ich nichts gesagt. *pfeif* Und nun viel Spaß!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein neues Kapitel ist endlich da und dieses Mal hat es nicht so lange gedauert, bis ich es geschrieben hatte, sondern die Korrektur. ;_; Ehrlich... ich weiß auch nicht... und dann werden ja immer noch so viele Fehler darin sein... ich geb mir aber immer Mühe. Nur sieht man dann den Wald vor lauter Bäumen nicht. Verzeiht mir...
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Vorwort zu diesem Kapitel:
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Tja... und nun? Was passiert nun?
Lassen wie uns überraschen und hoffen, dass ich es schaffe, ein weiteres Kapitel noch in diesem Jahr online zu bringen. Ich bete zumindest dafür! Vielleicht zum zweijährigem Jubiläum? Mal schauen...^^° Ich geb mir Mühe und verspreche... erst einmal nichts... ich weiß nämlich gerade nicht, was im nächsten Kapitel geschehen soll. Ist schon zu lange her, dass ich darüber nachgedacht habe. Muss erst mal nachschauen. Inzwischen hoffe ich aber, dass ihr mit dem her Spaß hattet.

lg maidlin
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Da bin ich nun endlich wieder!!!
Jaaaaha... es hat lange gedauert, sehr lange und es tut mir auch wirklich schrecklich leid... sehr leid! ;_; Verzeiht mir...
Die gute Nachricht ist, dass meine Prüfungen vorbei sind und ich endlich – ENDLICH – fertig bin! Hab mein 2.Staatsexamen in der Tasche! *_*
Und ich war nicht untätig. Auch wenn es kein neues Chap gab, habe ich fleißig weiter geschrieben. Im Moment bin ich bei Kapitel 28 und habe dieses aber nach 24 Seiten und 17.000 Wörter „abgebrochen“. (Ich habe beschlossen, dass es fertig ist, um es mal so zusagen.)
Wie dem auch sei... Ich hoffe, das neue Chap gefällt auch wenn ich hierfür nicht unbedingt sagen will, was lange währt wird endlich gut. Aber es ist annehmbar...

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Wieder hat es so lange gedauert, aber das liegt nur daran, dass die anderen Kapitel, die folgen werden, einfach kein Ende fanden.^^° Aber jetzt ist es nur noch eines , das noch mal ein harter Brocken zu schreiben wird und der Epilog und dann... Hehe... geschafft. Aber ich sollte mich nicht zu früh freuen, noch ist es ja nicht so weit.
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich werde das Kapitel heute mal unkommentiert lassen, denn es spricht für sich selbst und ich weiß nicht, was ich noch dazu sagen sollte. Ach ja... vielleicht das noch: Ich habe aus einem Kapitel 2 gemacht. 17000 Wörter wollte ich dann doch niemandem antun. Der Rest kommt dann also beim nächsten Mal. -.^
Wünsche euch viel Spaß beim Lesen.

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin mir bei dem letzten Abschnitt über Draco nicht sicher. Ich glaube, es wäre besser gewesen ihn wegzulassen, weil er sonst für Verwirrung sorgt. Was meint ihr?
Trotzdem wünsche ich euch viel Spaß. Im nächsten Jahr werde ich diese Geschichte auf jeden Fall abschließen. Außerdem hab ich noch zwei weitere Ideen zu ein paar Special im Kopf, aber mal schauen, wann ich die umsetzen kann. Ich werde mich nicht hetzen lassen.

Hoffe wir lesen uns wieder.

LG Maidlin

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ist wieder ein neues Kapitel für euch. Ich hoffe, ihr habt Spaß daran. Ich darf sagen: Endlich wird es spannend. *_*
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Zwar mit etwas Verspätung, aber trotzdem voller Freude, präsentiere ich euch das vorletzte Kapitel. Ich hätte dieses Kapitel an mehreren Stellen enden lassen können, aber dann wäre es nur an die 2000 Wörter lang gewesen. Das wollte ich dann doch nicht. Außerdem sind es schon mehr Kapitel, als ich überhaupt je geplant hatte. Für den Moment wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und hoffe, dass wir uns auch im aller letzten Kapitel wieder lesen werden.
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Der Anfang...

Als diese Geschichte ihren Anfang nahm, war es einer dieser schönen Herbstmorgenden, an denen die Sonne mit ihren Strahlen langsam die Erde wach küsste. Tau war noch auf den Blättern und nach und nach begann der Wald sich mit Leben zu füllen. Die Vögel begannen ein herrliches Morgenlied zu singen. Ein Lied, welches einem das Herz leichter machte und jedes Gemüt fröhlich stimmte. Auch die anderen Bewohner des Waldes kamen aus ihren Höhlen, Büschen und anderen Unterschlüpfen gekrochen und streckten und reckten sich, um den Schlaf aus ihren Gliedern abzuschütteln.

Auch der einzige Mensch, der in diesem – momentan erwachendem – Wald lebte, erwachte so langsam aus einem friedlichen Traum. Sie gähnte herzhaft und streckte sich ebenfalls. Allerdings war sie nicht so verschlafen, wie manch Vogel oder Wildkatze, sondern eher ein Frühaufsteher, der keinen Moment eines herrlichen Tages versäumen wollte. Sie konnte nicht wissen, dass dieser eine Morgen, der noch sie unschuldig und rein, wie ein Neugeborenes vor ihr lag, ihr ganzes Leben verändern würde.

Nachdem sie sich angekleidet hatte, öffnete Annie – das ist der Namen unserer Heldin und die Abkürzung für Anaina – die Tür ihrer kleinen Hütte und trat mit nackten Füßen auf den frischen Tau. Ihre bescheidene Behausung stand inmitten des Waldes, auf einer kleinen Lichtung, fernab von der nächsten Stadt oder gar dem nächsten Schloss.

Annie liebte diese Momente, wenn der Tag langsam erwachte; wenn sie noch beobachten konnte, wie die Sonne hinter dem Wald aufging und immer weiter in den Himmel emporstieg. Zudem konnte sie sich an dem warmen Orange, in das die Welt dabei getaucht wurde nicht satt sehen. Für Annie gab es keine schönere Farbe und sie wünschte sich hin und wieder, dass man sie einfangen könnte, damit sie sich immer wieder anschauen konnte, wann immer ihr danach war. Aber vielleicht war auch dies der Grund warum sie die Farbe so sehr liebt, weil man sie eben nicht einfangen konnte. So konnte sie sich jeden Tag aufs neue darauf freuen und die Gefahr, dass sie diesem Schauspiel oder dieser ganz besonderen Farbe überdrüssig wurde, bestand auch nicht.

Aber hier, mitten im Wald, war sie die meiste Zeit allein. Ihr machte diese Abgeschiedenheit nichts aus, hatte sie sie doch freiwillig gewählt und ihre Entscheidung nicht ein einziges Mal bereut. Manchmal glaubte sie sogar, dass es die beste Entscheidung in ihrem bisher erst neunzehnjährigen Leben gewesen war, die sie je allein getroffen hatte. War es doch immer noch besser, als gegen den eigenen Willen mit jemanden verheiratet zu werden oder als alte, verschrobene Jungfer verspottet zu werden, die am Ende noch in ein Kloster ziehen musste. Denn in der Zeit, in der Annie lebte, war es üblich die Mädchen bereits mit vierzehn Jahren zu verheiraten und man glaubte, dass jedes Mädchen, welches bis spätestens achtzehn noch nicht erwählt worden war, niemals mehr einen Bräutigam finden würde und dass sie sowieso irgendwie seltsam sein musste. Um ihrer Familie diese Schmach zu ersparen, entschied sie sich allein in diesem Wald zu leben. Er gehörte ihrer Familie, niemand würde sie von ihr vertreiben können und sie würde auch niemanden stören. Das alles geschah vor mehr als einem dreiviertel Jahr und inzwischen hatte sie sich sehr gut eingelebt.

Sie nahm sich einen Krug, der noch vom Vortag vor der Hütte stand und ging damit an den kleinen Bach, der sich unmittelbar in der Nähe ihrer Hütte befand, um Wasser zu holen. Sie würde sich dann gleiche in Feuer machen und einen Tee bereiten. Denn was gab es Schöneres als einen wunderbaren Tag mit einem wunderbaren, wohlschmeckenden Tee zu beginnen?

Annie war schon ein wenig in den Wald hineingegangen als sich der Himmel über ihr plötzlich verdunkelte. Ein seltsames Rauschen drang in ihre Ohren und schlagartig setzt ein heftiger Wind ein. Sie sah mehr als verdutzt nach oben und konnte nicht so recht glauben, was sie da erblickte. Zuerst glaubte sie sogar, sich verschaut zu haben.

Sie sah keinen Himmel mehr, sondern nur einen riesigen grauen Schatten.

Es war etwas, was sie noch nie in ihrem Leben zuvor gesehen hatte und sie glaubte schon einige seltsame Dinge gesehen zu haben. Das Ding – anders konnte sie es nicht bezeichnen - flog hoch im Himmel und musste in etlichen Metern Entfernung über ihr fliegen. Es musste einfach riesig sein, denn auch wenn es so hoch über ihr flog, verdeckte es die Sonne hinter sich gänzlich. Ihre Augen folgten diesem Etwas und als sie es beobachtete, wurde ihr auf einmal bewusst, dass es immer schneller wurde und immer mehr an Höhe verlor. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe sie realisierte, dass es drohte zu Boden zu stürzen. Sie rannte sofort los, immer dem riesigen Schatten vor ihr folgend, als es plötzlich aus ihrer Sicht verschwand und wenige Augenblicke später ein lauter Krachen zu hören war. Sie konnte hören, wie Bäume brachen, sogar entwurzelt wurden und zahlreiche Äste knickten. Es war so laut und heftig, dass die Erde unter ihren Füßen bebte und sie stehen bleiben musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schlagartig ließ sie ihren Wasserkrug fallen und lief so schnell sie konnte zu der Stelle, an der sie das Wesen vermutete. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp gebahnt hatte, doch je näher sie der Absturzstelle kam, desto mehr Licht drang in den Wald und sie fand ihren Weg schneller. Als sie aber endlich erkannte, was da vom Himmel gefallen war, stockte ihr der Atem.

Auf der soeben entstanden Lichtung, lag ein riesiger Drache.

Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie viel größer dieser Drache war, als sie selbst. Doch das Erste, was ihr auffiel, war seine seltsame Farbe. Das Blätterdach, welches er bei seinem Sturz zerrissen hatte, ließ das Sonnenlicht direkt einfallen und seine Schuppen erstrahlten in einem seltsamen Ton. Auf den ersten Blick hätte sie gedacht, dass es weiß war, aber je länger und je genauer sie hinsah, erkannte sie, dass sie silbern schimmerten. So beängstigend es auch sein mochte, dass direkt vor ihr ein ausgewachsener Drache lag, konnte sie nicht umhin zu denken, wie wunderschön dieser Anblick gleichzeitig war.

Sekundenlang war sie nur von dem Schimmern seiner Schuppen gebannt, doch als sie ihren Blick weiter über seinen Körper gleiten ließ, trat Entsetzen auf ihr Gesicht. Das was sie bisher gesehen hatte, war nur der lange Schwanz des Tieres und ein Teil seines Rückens. Jetzt sah sie, dass fast sein gesamter Körper mit Blut überströmt war. Sie trat einen Schritt auf das Tier zu. Ihre Beine zitterten, ihre Nerven waren flatterig und doch setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie an der Seite des Wesens stand.

Erst da sah sie es genau. Auf dem Rücken und Bauch des Tieres sah sie riesige Fleischwunden, die unvorstellbar tief und schmerzhaft sein mussten. Noch immer quoll Blut daraus und lief seinen Körper hinab. Überall konnte sie tiefe und lange Wunden entdecken. Sie sah wieder an ihm hinauf und sah seine Schwingen, die in einem seltsamen Winkel voneinander abstanden und deren Haut gerissen war.

Annie nahm all ihren Mut zusammen und ging um das Geschöpf herum, bis sie vor dem Kopf des Drachen stand. Die Nasenflügel blähten sich in unregelmäßigen Abständen auf. Sein Maul stand etwas offen und zeigte eine Reihe weißer, messerscharfer Zähne, von denen manche fast so groß waren, wie sie selbst. Die Augen hatte das Tier geschlossen und etwas anderes fiel ihr auf. Dort zwischen seinen Augen, begannen größere Schuppen sich über seinen Körper auszubreiten, die nach hinten immer größer wurden. Außerdem schienen sie sehr viel härter, als die Übrigen. Sie wuchsen seinen Kopf, über den Nacken, den Rücken entlang und bildeten so etwas wie ein Kamm.

Es lassen sich nicht genügend Worte finden, um diesen Anblick, der sich ihr bot, zu beschreiben. Er war schön und beängstigend zu gleich. Schön, weil sie schon immer davon geträumt hatte, einen Drachen zu sehen und beängstigend, weil dieser Traum auf einmal wahr geworden war. Wahr aber so ganz anders, als sie es sich erhofft und vielleicht auch vorgestellt hatte. Zudem musste sie die Befürchtung haben, dass er jeden Moment erwachen könnte. Trotz des Abstandes den sie hielt, konnte sie seinen warmen Atmen auf ihrer Haut spüren. Doch mit jedem Atemzug, den sie verspürte, schwand ihre Angst. Der Atem des Tieres wurde immer schwächer und kürzer, je länger sie ihn beobachtet. Sie realisierte, dass er sie nicht mehr angreifen würde; dass er stattdessen sterben würde. Hier direkt vor ihren Augen, würde er qualvoll an seinen Verletzungen zu Grunde gehen.

Sie entschied sich innerhalb weniger Sekunden und wusste, was zu tun war. Es war nicht ganz einfach und Annie war sich ihrer Sache nicht sicher, hatte sie so etwas doch noch nie getan, aber sie wollte keines Wegs zusehen, wie dieses Geschöpf vor ihren Augen verendete. Sie würde es wenigstens versuchen und musste hoffen, dass es ihr gelang.

Langsam begann sie etwas vor sich hinzumurmeln. Immer und immer wieder sprach sie scheinbar ein und die selben Worte. Wiederholte immer wieder den gleichen Satz. Es war eine Zauberformel, die ich hier nicht wieder zu geben vermag. Annie hatte das Handwerk der Zauberei von kleinauf gelernt und war bereits fast eine Meisterin darin.

Ihre Augen waren fest geschlossen und um sie herum nahm sie nichts mehr wahr. Vor dem einem inneren Auge sah sie nur das Bild des verwundeten Drachens und vor dem anderen, dass was sie zaubern wollte.

Ein paar Sekunden später wurde der sterbende Drache, in ein weißes, gleißendes Licht gehüllt. Es war so hell, dass es einen erblinden lassen konnte. Annie mummelte diese unverständlichen Worte weiter und mit jeder Wiederholung schien das noch Licht heller zu werden. Doch dann wurde die Lichtkugel plötzlich wieder kleiner und sehr viel schwächer. Es war ein sehr langwieriger Prozess, bis das Licht gänzlich verschwunden war. Die Lichtkugel leuchtete noch einmal glühend hell auf und dann war sie weg. Mit der Lichtkugel, war auch der Drache verschwunden.

Doch jetzt war höchste Eile geboten. Schnell musste sie seine Wunden versorgen. Vor Annie lag nun ein junger nackter Mann, dessen Haare so blond – beinahe silberweiß – wie die Schuppen des Drachens waren.

Schmerz und Angst

Langsam neigte sich dieser Tag, der so verträumt begonnen hatte, seinem Ende.

Annie war es gelungen, den verwundeten Drachen – jetzt in Menschengestalt – in ihre Hütte zu bringen. Sie hatte eine Decke und eine Art Trage heraufbeschworen und dann den Wald - so gut sie es vermochte - mit Zauberei in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzt, um die Spuren seines Absturzes zu verdecken. Den Rest würde die Natur machen müssen.

Ja, Annie war eine Hexe. Seit Generationen wird diese Gabe bereits in ihrer Familie weitergegeben und dies würde wohl auch noch Generationen nach ihr so sein, ganz besonders, wenn es nach ihren Eltern und Großeltern ginge. Annies Familie war erfüllt von strengen Traditionen, Bräuchen, und Regeln, nach denen man sich strikt zu richten hatte. Eine dieser Regeln war es, dass man ausschließlich Personen heiratete, die einen magischen Stammbaum vorzuweisen hatten und natürlich ein hohes Vermögen und Besitztümer besaß. Allerdings waren Familien, die all diese Kriterien erfüllten, in ihrer Zeit sehr rar gesät und sie hätte vielleicht einen Mann heiraten müssen, der drei Mal so alt gewesen wäre, wie sie selbst. Das war einer der anderen Gründe warum sie die Einsamkeit und Abgeschiedenheit bevorzugt hatte.

In ihrer Hütte war es bereits dunkel, nur noch ein einzelner Lichtstrahl fiel durch die Holztür. In dem gusseisernen Ofen prasselte ein Feuer und erwärmte den kleinen Raum, der Küche und Schlafplatz zugleich war. Denn obwohl die ersten Herbsttage im Oktober noch heiß und schwül wie Sommertag waren, waren die Nächte doch bereits kalt und feucht.

Annie versorgte sofort die Wunden des ehemaligen Drachens, so gut sie es vermochte und es gelang ihr sogar einen Kräutertee einzuflößen, der seine Schmerzen ein wenig lindern sollte. Sonst bewegte er sich nicht oder gab ein anderes Lebenszeichen von sich. Hätte Annie nicht gesehen, wie er atmete, hätte sie wohl schon mehr als einmal gedacht, dass er bereits gestorben sei.

Die Tage verstrichen ohne das sein Zustand sich änderte. Für Annie war dies nicht unbedingt ein negatives Zeichen, denn immerhin ging es ihm nicht schlechter. Aber es ging ihm auch nicht besser und das machte ihr sorgen. Es schien als würde die Medizin nur sehr langsam bei ihm wirken, wenn sie das überhaupt tat und sie fragte sich, ob er vor dem Wintereinbruch noch genesen würde - zumindest ein bisschen. Annie wusste nicht, was sie im Winter tun sollte, ginge es ihm noch immer nicht besser. Sie versuchte sich einzureden, dass er in der Zwischenzeit schon drei Mal erwacht war, aber sie beizweifelte, dass er dies überhaupt selbst realisiert oder gar verstanden hatte. Sie hatte diese kurzen Momente nur dazu genutzt, um ihm weiter etwas zu trinken zu geben. Dass er sich daran erinnern würde, glaubte sie weniger.
 

Langsam ließ die Dunkelheit, in der er so lange gefangen war, ihn wiederwillig gehen. Er spürte, wie er sie immer weiter hinter sich ließ und es um ihn herum grau wurde. Es dauerte lange und er empfand es als anstrengend, denn viel zu verlockend war die Dunkelheit, die ihm Sicherheit und Frieden versprach und ihn so sehr anzog. Dennoch wusste er, dass er gehen musste, wollte er nicht für immer ihr Gefangener sein. Doch je weiter er vor drang, weg von der Dunkelheit und hin zu dem rötlichen Licht, desto mehr konnte er einen Schmerz verspüren, den er nicht richtig zuordnen konnte. Erst war es nur ganz dumpf und kaum weiter störend, aber schon bald – mit jedem neuem Atemzug den er bewusst machte - wurde auch der Schmerz stärker. Er musste von seinem eigenen Körper aus kommen, realisierte er schwach. Aber warum? Warum hatte er Schmerzen? Was war geschehen?

Der Schmerz wurde stärker und sein gesamter Körper schien davon betroffen. Der Schmerz war überall; in seinem Kopf und seinem Körper.

Er musst die Augen öffnen. Er musste wissen, was mit seinem Körper geschah; woher diese Schmerzen kamen, die ihn unaufhaltsam in die Dunkelheit zurückzogen und gegen die er sich kaum wehren konnte.

Er wollte die Augen öffnen, sehen wo er war – doch es gelang nicht. Zu verlockend war die Dunkelheit, die immer lauter nach ihm rief. Seine Augenlider fühlten sich immer schwerer an und er fiel ihm schwer weiter einen klaren Gedanken zu fassen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass er sich erinnern müsste; dass die Erinnerung der Schüssel war, um zu begreifen, woher diese Schmerzen kamen. Mühsam gelang es ihm ein paar Erinnerungsfetzen zusammenzusetzen.

Sie hatten ihn gejagt... und dann... dann war er gefallen. Schneller und schneller... dann... Nichts... Dunkelheit und Leere.

Er musste ihnen irgendwie entkommen sein, überlegte er. Irgendwie... auch wenn er es sich nicht erklären konnte. Aber vielleicht hatten sie ihn doch gefangen...

Lebte er noch?

Er musste noch am Leben sein. Der quälende Schmerz, der ihn peinigte, war sein bester Beweis. Aber vielleicht wartete sie nur auf sein Erwachen, um ihn dann endgültig zu vernichten.

Noch einmal versuchte er die Augen zu öffnen. Er musste wissen wo er war und was mit ihm geschehen war. Dieses Mal gelang es ihm, doch er sah nicht viel.

Alles was in seinem Blickfeld lag, war verschwommen. Er blinzelte und versuchte sich ein wenig zu bewegen. Er wollte den Kopf aufrichten, als ein stechender Schmerz seinen Hals abwärts, durch seinen Köper fuhr. Ein Keuchen entrann seiner Kehle und er ließ sich sofort auf den Boden fallen. Ein paar Sekunden lang wagte er es nicht sich zu bewegen und wartete, dass der stechende Schmerz wieder schwächer wurde.

Trotzdem wollte er sich nicht erneut der Dunkelheit hingeben. Er wollte sich nicht so einfach seinem Schicksal ergeben. Sein Überlebensinstinkt war noch vorhanden, schwach aber er war noch da. Noch einmal öffnete er die Augen, ließ sich aber dieses Mal mehr Zeit und langsam begann er besser zu sehen. Er befand sich in irgendeinem Raum, der merkwürdig orange erleuchtet war. Dieses Licht musste es gewesen sein, was ihn von der Dunkelheit fortgelockt hatte. Es war warm und angenehm und irgendwie erinnerte es ihn an etwas, an eine längst vergangene Zeit. Er ließ seinen Blick weiter schweifen und stellte fest, dass der Raum nicht sehr groß war. Er war vielmehr viel zu klein für seine eigene Größe. Er konnte sich nicht erklären, wie er trotzdem darin Platz fand.

Äußerst vorsichtig drehte er nun den Kopf ein wenig. Er wollte wissen, wo dieser Schmerz herkam; wo sie ihn verletzt hatte. Doch er sah nichts. Alles was er sah, waren zwei Menschenbeine.

Neben ihm schlief also ein Mensch. Selbst in diesem Zustand würde das keine Schwierigkeit für ihn sein, dachte er. Den Menschen der dort lag, würde er mit einem einzigen Hieb seiner Klaue vernichten und dann würde er fliehen

Er versuchte sein Gewicht zu verlagern, um besser zuschlagen zu können, doch als sich bemühte seine eigenen Beine zu bewegen, bewegten sich auch die des Menschen vor ihm und abermals spürte er einen starken Schmerz in seinem Körper. Auch beim zweiten Mal geschah es so. Bewegte er seine Beine, bewegte auch der Mensch seine Beine und zwar genauso, wie er es getan hatte. Jetzt wollte er eine Klaue nach diesem Menschen ausstrecken. Es war ihm egal wie, er wollte ihn nur noch vernichten. Er streckte sie nach dem Menschen aus und dann... hörte er auf zu atmen.

Das was er da sah, war nicht seine Klaue... Es war die Hand eines Mensche, die sich bewegte; die er ausgestreckt hatte. Sein Atem setzte hastig wieder ein und sein Herz begann zu rasen. Seine Augen weitete sich, als er immer mehr begriff.

Das konnte nicht sein...

Was hatten sie mit ihm gemacht?

Hatten sie ihn wirklich in den Körper eines Menschen gebannt? Was war mit seinen Körper geschehen? Wo war sein Körper? War das etwas sein Körper?

Die Fragen rasten ihm durch den Kopf und doch konnte er sich keine Antwort geben. Die Verletzungen, die er trug konnte er nun deutlich spüren. Sie befanden sich an der gleichen Stelle, wie die, die ihm die Jäger zugefügt hatten.

Und doch...

Welches Monster hatte ihn in einen Menschen verwandelt? Warum hatten sie ihn nicht gleich getötet? Waren die Menschen wirklich so grausam, wie es die Geschichten erzählten?

Ein plötzliches Rascheln ließ ihn zusammenfahren und seine momentanen Gedanken vergessen. Er war nicht allein, bemerkte er plötzlich? Dann vernahm er Schritte, die auf ihn zu kamen. Sie waren leicht und klangen nicht bedrohlich, doch er wusste nun zu gut, dass die Menschen anders waren. Sein Atem beschleunigte sich immer mehr und er hatte das Gefühl, dass sein Herz bei einem weiteren Atemzug zerspringen könnte. Anscheinend war er ihnen doch nicht entkommen, dachte er.

Wieder wollte er sich aufrichten, wollte sich verteidigen und wenn ihm das nicht gelingen sollte, wollte er wenigstens fliehen. Doch wie auch schon zuvor, durchfuhr ein stechender, brennender Schmerz seinen Körper, lähmte ihn augenblicklich und zwang ihn auf den Boden zurück. Er würde gezwungen sein zusehen, wie dieser Mensch auf ihn zu kam und vernichten würde.

„Du bist wieder wach.“, sagte jetzt eine Stimme, die höher war, als alle anderen, die er bisher gehört hatte. Sie war sanfter und klarer, nicht so rau und laut, wie die der anderen Menschen - wie die derer, die ihn gejagt hatten. Doch davon würde er sich nicht täuschen lassen. Er zwang sich die Augen geöffnet zu lassen, auch wenn sein Bewusstsein bereits wieder in die Dunkelheit zurückkehren wollte. Ihm war als würde der Schmerz überall in seinem Körper sein. Jetzt sah er den Menschen in seinem Blickfeld und konnte ihn erkennen.

Es war eine Frau.

Hinter ihr brannte das orange Licht und verlieh ihr einen seltsamen Schein. Alles was er ausmachen konnte, waren dunkle Augen und Haare, die ihr Gesicht einrahmten. Ihr Gesicht konnte er nicht deuten, hätte er es aber gekonnt, hätte er gemerkt, dass sie ihn sanft und besorgt zugleich ansah.

In seinem Kopf schrie es, er sollte davon laufen, doch er wusste, dass sein Körper nicht gehorchen würde. Dies war nicht sein Körper und er erkannte mit Schrecken, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als sich seinem Schicksal zu ergeben.
 

Annie betrachtete ihn einen Augenblick. Sie hatte gesehen, wie er versucht hatte sich aufzurichten und der Schmerz in wieder zu Boden gezwungen hatte. Sie konnten sehen, wie schwer sein Atem ging. Er hatte Angst vor ihr. Hatte er bereits gemerkt, was sie getan hatte? Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen ja. Darin erkannte sie nur eine Regung und nur einen Gedanken: Hass.

Er hasste sie, das konnte sie ganz deutlich erkennen und obwohl sie damit gerechnet hatte, erschreckte es sie. Sie schüttelte leicht den Kopf. Davon durfte sie sich jetzt nicht verwirren lassen, sagte sie sich. Sie hatte ihn irgendwie retten müssen und dies war der einzige Weg gewesen, der ihr eingefallen war. Er würde es sicher verstehen, wenn es ihm besser ging. „Scht... beweg dich nicht.“, Sagte Annie schließlich. „Ich werde mich um dich kümmern und deine Wunden versorgen, also Hab keine Angst. Ich will dir nur helfen.“

Er schien sie nicht zu verstehen, denn noch immer sah er sie hasserfüllt an und sie wusste, dass, wenn er noch könnte, sie sofort getötet hätte.

Annie rief sich abermals zur Ordnung. Es war zu spät, sagte sie sich. Nun rückte sie noch ein Stück näher an ihn heran und schob vorsichtig einen Arm unter seinen Kopf. Er wehrte sich nicht. Wahrscheinlich kann er gar nicht, dachte sie. Doch er ließ seinen Blick nicht von ihrem Gesicht. Mit der anderen Hand, griff Annie hinter sich und nahm einen Tonbecher, den sie zuvor dort abgestellt hatte, auf.
 

Sein Herz schlug noch schneller, so als wollte es noch ein letztes Mal vor dem unausweichlichen Ende, das Blut durch seine Adern pumpen. Gleich würde mit Sicherheit der Todesstoß folgen.

Doch das, was der Mensch da hervor holte, war kein Messer oder Dolch, sondern ein anderes Gefäß, welches sie an seine Lippen setzte. Was hatte sie mit ihm vor?

Er konnte sehen, dass sich irgendeine Flüssigkeit darin befinden musste. Wahrscheinlich wollte sie ihn nun vergiften, dachte er. Er schloss den Mund zu einer schmalen Linie. Nie würde er dieses Gebräu zu sich nehmen.
 

„Bitte, du musst es trinken. Es wird dir gut tun und deine Schmerzen lindern.“, redete Annie auf ihn ein. Sie ließ den Becher dort wo er war und hoffte, dass sein Wiederstand bald nachgeben würde. Sie winkelte den Becher noch etwas weiter an, so das etwas von dem Kräutertee auf seine Lippen tropfte.
 

Sein Körper begann zu zittern und er wusste, dass er nicht mehr länger in dieser Position verharren könnte. Der Schmerz wurde immer stärker und schien nun ausschließlich in seiner Brust zu sitzen. Er konnte die Flüssigkeit riechen. Er kannte den Geruch nicht und doch war er ihm nicht unangenehm. Nun spürte er, wie auch seine Lippen zu zittern begannen und etwas von der seltsamen Flüssigkeit tropfte darauf. Erst jetzt wurde er sich seinem Durst bewusst und wie sehr seine Kehle und seine Körper nach Wasser verlangten. Und doch hielt sein Widerstand einigen weitere Momente, doch mit dem ersten Tropfen, der dennoch einen Weg in seinen Mund fand, schien sein Körper regelrecht nach der Flüssigkeit zu schreien. Das Verlangen, dieses warme Nasse seine Kehle herunterlaufen zu spüren, diesen unerträglichen Durst zu stillen, besiegte schließlich seinen letzten Widerstand.
 

Als sie sah, dass er den Mund nun doch ein wenig mehr geöffnet hatte, ließ sie mehr von dem Kräutertee hinein fließen.

Begierig schluckte er es und das Verlangen wurde langsam gestillt.

Als er ausgetrunken hatte, setzte sie den Becher ab und legte seinen Kopf sacht auf das bescheidene Bett. Noch immer sah er sie unverwandt an und noch immer lag der Hass in seinen Augen.

Doch plötzlich wurde er erneut müde und die Dunkelheit zog ihn unerbittlich mit sich. So sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte, es schien als führte er einen aussichtslosen Kampf. Ihm war als würde ein Nebel seine Sinne umhüllen und den Schmerz mit sich nehmen. Er schien auf einmal so weit weg und nicht zu ihm gehörend, ein angenehmes Gefühl nach all der Qual.
 

Annie sah, wie seine Atmung flacher und ruhiger wurde und doch wünschte sie sch mehr für ihn tun zu können. Sie sah wie er sich gegen den drohenden Schlaf wehrte, auch wenn er verlockend für ihn sein musste.

Dann erinnerte sie sich an etwas, was ihre Amme immer bei ihr getan hatte, hatte sie in der Nacht einen schlechten Traum gehabt. Sie streckte die Hand nach ihm aus und bemerkte, wie er zusammenzuckte, als sie seine Stirn berührte. Sacht begann sie darüber zu streichen. Sie machte ruhig, kreisförmigen Bewegungen und hoffte, dass es ihn beruhigen würde.
 

Er spürte ihr Hand, doch er konnte sie nicht als unangenehm empfinden. Sie war weich und angenehm kühl. Ungewollte beruhigten ihn die gleichmäßigen Bewegungen beruhigten ihn und er konnte sich der Dunkelheit und dem Schlaf nicht länger entziehen. Sein letzter Gedanke galt aber den Geschehnissen im Wald, die er immer noch nicht begreifen konnte.
 

Am nächsten Tag als Annie erwachte und nach dem verwandelten Drachen sehen wollte, erschrak sie sich. Er hatte über Nacht schrecklich hohes Fieber bekommen und sie sah den Schweiß auf seinem Körper. So schnell sie es vermochte nahm sie einen Krug und eilte damit zum Bach, um ihn mit Wasser zu füllen. Sofort lief sie zurück und goss das Wasser in eine Schüssel. Sie nahm ein frisches Tuch, tauchte es in das kalte Nass und begann in abzureiben, beständig darauf gedacht, seine Wunden nicht noch mehr aufzureisen. Wie konnte sie nur so unvorsichtig gewesen sein und hatte sich selbst schlafen gelegt?, schallte sie sich. Nun war sie sich sehr sicher, dass er verstanden hatte, dass er einen anderen Körper – einen menschlichen Körper – besaß. Dass das Fieber auch von den Schmerzen herrührte, die er gestern um so stärker empfunden haben musste, beeinflusste seinen Zustand wohl ebenso. Vielleicht hätte sie ihn gestern einfach erst einmal in Ruhe lassen sollen, überlegte sie ärgerlich. Sie hatte ihn gestern wohl zu viel auf einmal zugemutet. Sie war ja so dumm gewesen!

Sie brauchte lange, um den Schweiß abzuwischen und er schwitzte sehr, so dass es ihre zeitweise als ein aussichtsloses Unterfangen erschien. Als sie fertig war, kleidete sie ihn mit frischen Sachen ein. Die, die sie ihm vorher gegeben hatte, waren vollkommen durchgeschwitzt. Schließlich befeuchtete das Tuch noch einmal an und legte es ihm auf die Stirn. Dann lief sie erneut zum Bach und füllte noch zwei weitere Krüge. Sie würde sie brauchen.

Als sie zurück kam erschrak sie abermals. Er lag zusammen gekrümmt auf der Seite und sein Atem war zittrig. Erneut befeuchtete sie das Tuch und legte es ihm wieder auf die Stirn. Es schien ihm wieder etwa besser zu gehen, doch Annie wusste, dass es nicht von Dauer sein würde.

Dann bereitete sie einen Tee zu, den sie versuchte ihm einzuflößen, doch es gelang nicht. Was sollte sie nur tun? Er hatte schon seit Tagen nichts gegessen. Wenn sie ihm nicht wenigstens etwas Tee geben konnte, würde er wirklich sterben. genau hier in ihrer Hütte und vor ihren Augen!

Sie versuchte es erneut und dieses Mal gelang es sogar ein bisschen. Es waren wieder nur ein paar Tropfen, doch es war immer noch besser als nichts. Doch was sollte sie ihm gegen seine Schmerzen geben? Das Schmerzmittel in dem Tee, dem sie ihn gestern gegeben hatte, wirkte anscheinend nicht mehr. Sie ging zu der Anrichte, in der sie ihre Kräuter, Salben und andere Heilmittel aufbewahrte. Sie nahm eine kleine braune Glasflasche heraus. Sie wusste selbst nicht mehr, warum sie es mitgenommen hatte. Ihre Familie musste wohl darauf bestanden haben - oder besser gesagt ein Familienmitglied -, als sie fortgegangen war. Sie hatte es für überflüssig gehalten, doch nun war sie dankbar dafür. In dem kleinen Olitätenfläschchen befand sich ein starkes Schmerzmittel, gebraut aus geheimen Kräutern. Mit vor Angst zitternden Fingern, zog sie den Minikorken aus der Flasche.

Erneut ging sie zu ihm, hob seinen Kopf abermals ein wenig an und dieses Mal öffnete sie selbst seine Mund ein Stück weit. Dann träufelte sie ihm ein paar Tropen davon hinein und er schluckte es. Annie hoffte, dass es baldigst wirkte.

Erneut rieb sie ihn mit einem neuen Tuch ab und nach und nach, konnte sie sehen, dass er ruhiger wurde. Sein Körper schien sich zu entspannen und das beruhigte sie sehr. Dennoch... Das Mittel half nur gegen die Schmerzen und nicht gegen das Fieber.

Den ganzen Tag ging es so. Er schwitzte sehr und immer wieder rieb sie ihn ab, doch die Temperatur ging nicht nach unten. Am Abend ging sie noch einmal zum Bach und holte zum vierten Mal an diesem Tag Wasser. Doch als sie zurückkam stockte ihr erneut der Atem. Nun schwitzte er nicht mehr, sondern er war schrecklich kalt und zitterte.

Sie deckte ihn mit einer weiteren Decke zu und heizte den Offen weiter an, so dass es für sie selbst beinah unerträglich wurde. Aber so lange sie ihm damit helfen konnte, war es ihr gleich. Sie setzte sich neben ihm, sah in sein Gesicht. Der Schein der Offenklappe, die sie, wie fast immer, geöffnet hatte, ließ seine Haare irgendwie golden erstrahlen. Seine Gesichtzüge, dass war ihr gleich zu Beginn aufgefallen, waren sehr fein und zart. Das passende Wort, ihn wohl am besten beschrieb, war anmutig. Und das waren sie selbst jetzt noch. Etwas, was sie von so einem Wesen, welches er ursprünglich war, nicht erwartete hätte. Als sie ihn verwandelt hatte, hatte sie sich keine genauen Vorstellungen gemacht, wie er aussehen würde, umso erstaunter war sie dementsprechend über das Resultat gewesen.

Annie seufzte. Vielleicht hätte sie sich nicht in das Schicksal einmischen dürfen. Von Anfang an, hatte man ihr beigebracht, dass solch ein Zauber, wie sie ihn ausgeübt hatte, verboten war. Sie hatte sich immer gefragt, warum das so war, doch nun wurde ihr die Antwort langsam bewusst. Es war ein Fehler in das Schicksal einzugreifen. Das erkannte sie jetzt und doch war es zu Spät. Sie konnte nur noch beten, dass man ihr verzeihen konnte und er es überlebte. Er würde es schon schaffen. Er musste es einfach schaffen, dachte sie, während er von einem weiteren Fieberanfall geschüttelt wurde.

Kälte und Wärme

Acht Wochen waren bereits vergangen, seitdem Annie diesen Drachen im Wald gefunden und in einen Menschen verwandelt hatte. Es waren die letzten Tage eines goldenen Herbstes und die Tage wurden schnell immer kürzer. Je kürzer die Tage waren, desto kälter waren sie auch. Bald würde der erste Schnee fallen, das wusste Annie.

Sein Fieber war erst nach drei Tagen gesunken und es hatte noch einmal eine ganze Woche gedauert, bis es ganz verschwunden war. Sie hatte in diesen Tagen kaum geschlafen und immer nur gebetet, dass es er schaffen würde. Als es ihm wirklich langsam besser gegangen war, war sie so erleichtert, dass sie nur noch selten an ihrer Entscheidung zweifelte. Bis zu jenem Tag, als er das erste Mal seit langem seine Augen wieder geöffnet und sie angesehen hatte.

Es war nicht so sehr der Hass, der sie erschrocken hatte, sondern das Anklagende und Hilflose, was sie noch darin gesehen hatte. In diesem Moment war ein Schauer durch ihren Rücken gelaufen und ihr war kalt geworden. Er würde ihr niemals vergeben und sie wusste plötzlich ganz genau, dass er lieber den Tod gewählt hätte, als in dieser Gestalt gefangen zu sein.

So war es auch jetzt noch. Jetzt ging es ihm wirklich schon besser. Er krümmte sich nicht mehr vor Schmerzen und auch seinen neuen Körper konnte er ein wenig benutzen.

Sobald es ihm besser gegangen war, hatte Annie ihm hin und wieder gezeigt, wie er diesen Köper gebrachen konnte. Doch täglich konnte sie sehen, wie unwohl und unsicher er sich in dieser Gestalt fühlte; wie verhasst ihm jede einzelne Bewegung war. Sie hatte ihm doch nur helfen wollen, dachte sie dann manchmal fast verzweifelt. Sie hatte doch nur sein Leben retten wollen. Ihr Herz zog sich bei diesem Anblick jedes Mal zusammen. Trotzdem wollte sie ihn nicht gehen lassen. Er war noch immer nicht vollständig genesen und es würde auch noch lange dauern, bis es soweit war. Aber selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie es nicht gekonnt. Sie hatte den Zauber so gesprochen, dass er mindestens ein Jahr halten würde. So lange hatte sie geschätzt, würden seine Wunden, zu heilen brauchen. So lange mussten sie eben mit einander auskommen, auch wenn es ein sehr langes und schwieriges Jahr zu werden schien.

An diesem frühen Abend kam Annie gerade vom Wasserholen zurück – dick eingemummelt in ein dickes Kleid und einen noch dickeren Mantel – als sie ihren neuen Mitbewohner vor der Tür sitzen sah. Für einen Moment hatte sie den Gedanken, dass er vielleicht auf sie gewartete hatte.

Unwahrscheinlich, dachte sie. Aber sie betrachtete es bereits als kleinen Erfolg, dass er diesen Körper benutze. Es hatte sie sehr überrascht zu erfahren, wie schnell er lernte. Sie brauchte es ihm nur einmal zu zeigen und er schien es in seinem Gedächtnis verankert zu haben. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie selbst geglaubt, dass er schon immer ein Mensch war. Sie sprach auch mit ihm, doch nie hatte er ein Zeichen gegeben, dass er sie verstand oder gar auch die Worte erlernte. Doch das war ihr auch nicht wichtig. Das versuchte sie sich zumindest einzureden.

Aber egal, wie lange er nun schon bei ihr war, wie sehr er sich erholte oder gar diesen Körper gebrauchte, sein Gesichtsausdruck ihr gegenüber änderte sich nie. Er war immer ausdruckslos, verschlossen und zeigte keinerlei Regung oder gar Emotion. Nur seine Augen schienen mit ihr zu sprechen und sie wünschte sich manchmal, dass sie es nicht sehen würde. Manchmal versuchte sie es zu ignorieren, doch meistens gelang es nicht. Trotzdem versuchte sie das Beste daraus zu machen.

„Draco, was machst du denn vor der Tür? Es ist doch kalt!“, schellte sie ihn sanft. Sie ging auf ihn zu und kniete sich vor ihn, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Hatte er denn kein Kälteempfinden?

Draco, so hatte sie ihn benannt, nachdem das Fieber endlich gesunken war. Annie fand es sehr passend und ein anderer, vor allem passender Name, war ihr nicht so schnell eingefallen.

Wieder einmal sah er sie nur stumm und ausdruckslos an. Seine stahlblauen Augen blickten unverwandt in ihre rehbraunen und in solchen Momenten überkam Annie immer das Gefühl, dass er sie doch irgendwie verstehen konnte. Zumindest ein kleines bisschen. Doch bestimmt irrte sie sich.

„Du musst aufpassen, dass du dich nicht erkältest. Ein weiterer Fieberanfall würde deinen Körper wieder sehr schwächen und du würdest vielleicht... nicht mehr gesund werden.“, sagte sie die letzte Worte leiser und biss sich auf die Lippen. An solch eine Vorstellung wollte sie gar nicht erst denken.

„Na, komm schon. Ich bereite uns etwas zu Essen.“, sagte sie noch, bevor sie in der Hütte verschwand. Er folgte ihr wenige Augenblick später und setzte sich neben den Ofen, an die Stelle, an der er auch das erste Mal bewusst erwacht war. Er beobachtete sie sorgsam dabei, wie sie irgendetwas schnitt, in etwas hineinwarf und dabei vor sich hinsummte.

Um genügend Lebensmittel für sie beide, musste sich Annie zum Glück keine Gedanken machen. Hinter ihrer Hütte hielt sie ein paar Hühner, in einem kleinen Verschlag. Die konnte sie notfalls schlachten – auch wenn ihr der Gedanke nicht sehr gefiel. Ihr Bruder hatte ihr zudem immer wieder bei seinen Besuchen etwas mitgebracht, was sie lange und gut lagern konnte. Darunter Kartoffel und Getreide zum Brot backen. Sie selbst hatte Möhren angebaut, die sie nun in einen Bottich voll Sand lagerte und somit über den Winter brachte.

Hätte sie bereits geheiratet, müsste sie sich um diese Dinge keine Gedanken machen, dachte sie einen kurzen Moment, als sie eine weitere Kartoffel schälte und anschließend schnitt. Aber lieber so ein Leben, als das einer Gefangenen im goldenen Käfig.

Das Feuer war inzwischen heiß genug, so dass sie den Topf mit Wasser aufsetzen und nach dessen Kochen, die Kartoffeln hinzugab. Während des Kochprozesses, war Annie immer so sehr in Gedanken versunken, dass sie von dem, was um sie herum geschah, nicht viel mitbekam. Dann störte es sie nicht, dass er sie die ganze Zeit beobachtete und weiter anschwieg. Wenn sie dann aber aßen, bedrückte sie das Schweigen hingegen sehr. Beide waren in ihre eigenen Gedanken versunken und Annie, war es gewohnt ihre Gedanken immer zu teilen, wenn sie sich mit einer weiteren Person im Raum befand.

Wenn er doch nur verstehen könnte, was ich sage! Dann könnte ich mich wenigstens mit ihm unterhalten!, dachte Annie, als sie ihn wieder einmal ansah.

Aber vielleicht war es auch gut so, dass er nicht sprechen konnte. So konnte sie ihn in aller Ruhe beobachten. Seine weiß-blonden Haare, die ihr am Anfang noch silbern erschienen, glänzen nun leicht golden im schwachen Schein der Kerze, wohingegen sie im Mondschein wieder einen silbernen Schimmer annahmen. Sein Gesicht war schmal, aber keines weg knochig, und seine Haut sehr blass. Aber am meisten faszinierten sie seine Augen. Diese eisblauen Augen schafften es jedes Mal, sie aus der Ruhe zu bringen. Sie lagen unter dicken langen Wimpern, die ihn so unschuldig und zerbrechlich wirken ließen, mehr noch als es bei einem Kind der Fall gewesen wäre. Dennoch war dieses Blau von solch eine Intensität, dass sie glaubte, sie würde in ein kaltes Meer schauen und unwillkürlich liefen ihr dann jedes Mal Schauer über den Rücken. Manchmal war Annie, als würde von ihnen eine seltsame Kraft ausgehen, die sie magisch anzuziehen schien; die sie immer tiefer mit sich zog und sie bereits mehr als einmal befürchtet hatte, sie könnte sich eines Tage für immer darin verlieren.

Doch immer, wenn sie ihn ansah und in seine Augen blickte, war auch die Traurigkeit unverkennbar.

Nach dem bescheidenen Mahl, räumte sie die Teller weg. Es war inzwischen sehr dunkel draußen geworden und an diesen Tagen blieben sie nie lange auf. Die Kälte, die in die Hütte einzog, nachdem das Feuer herunter gebrannt war, weckte sie schon immer recht früh. Zudem stand sie gern mit dem Sonnenaufgang auf und im Winter war dieser noch eindrucksvoller, als im Sommer. Außerdem war es ihr immer schlichtweg zu kalt, um noch länger liegen zu bleiben.

„Es wird Zeit ins Bett zugehen. Schlaf gut, Draco.“, sagte sie und blies die Kerze aus.

Draco sah sie an. Er beobachtete Annie dabei, wie sie sich ihr eigenes Bett bereitete und sich neben dem Ofen in eine Decke einkuschelte und zusammenrollte. Dann legte auch er sich hin. Er lauschte dem knistern und knacken des sterbenden Feuers, wie er es bisher jede Nacht getan hatte. Er hörte ihren Atmen und es dauerte nicht lange und er schlief ein. Auch wenn es selbst spüren konnte, dass es seinem Körper nach und nach besser ging, so fühlte er sich doch immer noch nicht sicher in diesem Körper. Er kannte dessen Kraft nicht; dessen Können und Fähigkeiten. Es war nicht sein Körper.

Annie hingegen konnte nicht so leicht einschlafen. Sie fror noch immer. Auch wenn sie wusste, dass es in der Hütte angenehm warm war, so wollte sich dieses Gefühl nicht bei ihr einstellen. Ihr war so kalt, wie lange nicht mehr und sie fragte sich, ob sie vielleicht krank würde. Immerhin müsste doch auch die Suppe sie gewärmt haben, aber sie fühlte sich so kalt, als wäre sie gerade er nach Hause zurückgekehrt. Wenn es so kalt war, dann konnte der Schnee nicht mehr weit sein, überlegte sie kurz.

Nach einer Ewigkeit wie es ihr schien, richtete sie sich wieder auf. Sie konnte nicht schlafen. Nicht so lange sie noch so fror, aber wie warm werden? Sie sah kurz zu Draco. Dieser schlief anscheinend schon tief und fest und Annie beneidete ihn ein wenig darum. Auch schien er nicht gefroren zu haben, als er am späten Nachmittag draußen gesessen hatte. Vielleicht hatte er wirklich ein anderes Kälteempfinden. Vielleicht war ihm ganz warm. Ach könnte sie doch auch nur etwas von dieser Wärme haben, dachte sie resignieren.

Plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke und sie sah noch eindringlicher auf seine schlafende Gestalt. Sie drehte und wendete diesen Gedanken in ihrem Kopf, wog ihn sorgsam ab, viel sprach dafür und zu viel dagegen. Dann gab sie sich schließlich einen Ruck. Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet und er würde sie schon nicht gleich umbringen.

Also nahm Annie ihre Decke und wickelte sie sich um den Körper. Dann ging sie so leise sie konnte zu Dracos Schlafplatz und legte sich sacht neben ihn. Er lag mit den Rücken zu ihr, so dass sie nicht sein Gesicht sehen konnte. Sie wusste, dass, wenn dies der Fall gewesen wäre, sie keinen Schlaf mehr gefunden hätte. Zu sehr hätte sie dieser Anblick fasziniert. Doch so rückte sie so nah wie möglich an seinen Rücken. Sie wusste nicht, ob es wirklich so war oder sie es sich nur einbildete, aber sie fühlte sich gleich viel wärmer und geborgener und ließ den Schlaf bereitwillig über sich kommen.
 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte Annie sich ausgeschlafen und seltsam erholt. So hatte sie schon nicht mehr geschlafen und sie fragte sich einen Moment, woran das gelegen haben könnte. Dann sah sie aber auf und bemerkte, dass sie noch immer neben Draco lag.

Stimmt, ja., dachte sie, als sie sich erinnerte.

Draco hatte sich in der Nacht wohl umgedreht, während sie noch so dalag, wie zu dem Zeitpunkt als sie eingeschlafen war. Nun konnte sie aber sein Gesicht sehen. Es war dem ihren genau gegenüber und Annie fiel auf, dass sie noch nie so wirklich die Gelegenheit dazu gehabt hatte, sein Gesicht bisher zu betrachten. Am Anfang war es immer nur von Schmerz und Qual gezeichnet gewesen und oft hatte sie sich gewünscht, es einmal anders zu erleben. Sollte sie jetzt wirklich die Chance dazu haben? Aber war es nicht besser, gleich aufzustehen, so lange er noch schlief? Bevor er etwas bemerkte?

Annie war hin und her gerissen. Aber am Ende siegte ihr Neugier mehr, als ihr Verstand. Wer wusste schon, wann sich ihr die nächste Gelegenheit dazu bieten würde? Und vielleicht würde er auch noch etwas länger schlafen und sie konnte sich vorher unbemerkt davon stehlen. Außerdem wollte sie ja nur einen ganz kurzen Blick, nicht mehr...

Ihr fiel auf, dass seine Haut makellos rein und weiß, wie Porzellan, war. Eine hellblonde Haarsträhne hing ihm ins Gesichte und es verlieh ihm etwas kindlich – unschuldiges. Sie könnte ihn ewig so ansehen, dachte sie. Aber sie wagte es nicht ihn zu berühren, auch wenn das Verlangen danach unaufhaltsam anwuchs. Stattdessen versuchte sie sich jedes Detail seines Gesichts einzuprägen.

Seine Gesichtszüge waren weich und nichts darin ließ etwas von seiner wahren Gestalt erahnen. Annie fragte sich einen Moment, ob er als Drache ebenso anmutig und rein gewirkt hatte. Sie konnte es nicht sagen, war er doch bei ihrer ersten Begegnung, so gut wie dem Tode geweiht gewesen. Ihre Augen wanderte zu den seinen und sie konnte die feinen blauen Äderchen erkennen, die sich auf seinen Augenlidern zeigten. Seine Augen darunter, bewegten sich nur langsam, ja beinahe gar nicht. Ob er wohl auch träumte?, fragte sie sich einen Augenblick.

Seine Augenbrauen waren fließen und zeigten kaum einen Bogen. Ihre Farbe war nur einen geringen Ton dunkler, als seine Haarfarbe. Draco besaß eine recht schmale Nase, deren Spitze aber abgerundet war. Annie fand, dass sie perfekt in sein Gesicht und zu ihm selbst passte. Und seine Lippen... Es kam ihr selbst schon unhöflich vor, wie lange sie darauf starrte. Für sie sahen sie unglaublich weich und sanft aus. Sie waren leicht geschwungen und die Oberlippe ein wenig schmaler, als sie untere. Sein Mund war ein wenig geöffnet und sein warmer Atem blies leicht gegen ihr Gesicht.

Selbst sein Atem erschien ihr himmlisch süß!

Für Annie war er wie ein Engel, der vom Himmel gefallen war und nun bei ihr Unterschlupf ersuchte.

Nun, in gewisser Weise stimmt das vielleicht auch, nur dass er wohl wahrlich kein Engel war.

Annie war so sehr in ihrer Beobachtung versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie Draco langsam erwachte. Erst als sie zwei eisblaue Augen anstarrten und regelrecht durchbohrten, stellte sie mit erschrecken fest, dass sie sich hinreisen lassen hatte.

Ihr Herzschlag wurde schneller und leichte Angst stieg in ihr auf. Der Blick mit dem Draco sie ansah, hatte nichts freundliches.

Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen schienen Funken zu sprühen. Sie sah das Mistrauen und die Feindseligkeit, die sie sprachen.

„Ich... Ehm...“, begann sie zögerlich und richtete sich langsam auf. Sie hatte die Befürchtung, dass er sie bei einer schnellen Bewegung vielleicht angreifen würde. „Mir war gestern Nacht so kalt und ich wollte mich bei dir wärmen.“, sagte sie verlegen. Bei dem Wort kalt, hatte sie über ihre Arme gerieben, um ihm deutlich zu machen, was sie meinte. Doch noch immer starrte er sie an und Annie fand, dass es besser war sich nun endlich zu erheben. Auch dabei ging sie bedacht vor und wollte ihn mit einer unerwarteten Bewegung nicht erschrecken.

Ohne ihn noch einmal anzusehen, schürte sie das Feuer im Ofen und innerhalb weniger Sekunden leckten die Flammen über das Holz, welches sie aufgelegt hatte. Draco war noch nicht aufgestanden, aber sie wusste, dass er jede ihrer Bewegungen mit den Augen gefolgt war. Das konnte sie spüren. Doch um es zu verdrängen, ging sie zu Tür und öffnete sie einen Spalt. Als sie dann aber einen Blick nach draußen warf, wäre sie am liebsten wieder unter ihre Decke verschwunden. In der Nacht hatte es sehr viel geschneit und es herrschte noch immer das reinste Schneechaos. Zudem sah es nicht so aus, als würde sich das Wetter bald wieder beruhigen. Schnell schloss sie die Tür und legte noch ein wenig mehr Holz nach. Wahrscheinlich würde sie dafür sorgen müssen, das es auch die ganze Nacht durch brennen würde. Es hatte nicht danach ausgesehen, als wäre Draco begeistert über ihren „Besuch“ gewesen.

Bald darauf, wurde es schon mollig warm und schnell vergaß sie die Temperaturen, die draußen herrschten. Erst einmal musste sie sich um das Frühstück kümmern. Jeder bekam eine Scheibe Brot und dazu Butter und Marmelade. Es war nichts besonderes, aber es schmeckte gut und machte satt.

Nach dem Frühstück und nachdem sie alles wieder weggeräumt hatte, ging Annie wieder zum dem Schrank, in dem ihre Salben und Tinkturen lagerten. Dort nahm sie eine Schüssel heraus mit einer festen gelben Substanz darin. Diese Stellte sie erst einmal auf den Schrank und ging dann zu der Truhe in der sie ihre Kleidung aufbewahrte. Von dort nahm sie ein hölzernes Kästchen heraus.

Als Draco begriff, was sie da tat, wusste er was als nächstes geschehen würde. Er streifte sich das Hemd über den Kopf und entblößte seinen – noch immer von Wunden gekennzeichneten und verbundenen – Oberkörper.

Annie wollte seine Verbände wechseln, so wie jeden zweiten Tag und trotzdem wollten die Wunden nicht schneller heilen.

„Es ist seltsam. Obwohl ich ein paar Heilsprüche benutzt habe, heilen deine Wunden nur sehr langsam. Bei einem richtigen Menschen wären sie, trotz der Tiefe, schon längst verheilt.“, überlegte Annie laut, als sie die Verbände entfernte. Andererseits hätte ein normaler Mensch wohl gar nicht so lange überlebt, hängte sie in Gedanken an.

Dann ging sie schnell zum Wasserkrug und füllte etwas Wasser in eine weitere Schüssel ab. Im Anschluss begann sie die Wunden leicht abzutupfen und sie abermals zu reinigen. Sie ging sehr vorsichtig in ihrem Tun vor. Da er nicht sprach oder sonst einen Laut von sich gab, hatte sie jedes Mal Angst ihm wehzutun, ohne dass sie es merkte. Sie konnte noch immer keine weiteren, sichtbaren Verbesserungen wahrnehmen, aber im Vergleich zum Anfang, war der Heilungsprozess schon enorm vorangeschritten. Insgeheim war sie zudem dankbar dafür, dass die Verletzungen nicht auch noch zu eitern begonnen hatten. Dennoch erstaunte es sie jedes Mal, wie sehnig und muskulös er war. Seine Schultern schienen noch immer voller Kraft zu sein und es schien ihm auch keine Schwierigkeiten zu bereiten, den Rücken gerade zu halten. Musste er dabei nicht Schmerzen empfinden?, fragte sie sich. Anscheinend nicht so sehr. Vielleicht empfand er seine eigenen Verletzungen gar nicht mehr als so schlimm und spürte auch deren Schmerzen nicht, wie sie vielleicht die ganze Zeit vermutete.

Nachdem sie mit seinem Rücken geendet hatte, ging sie um ihn herum und setzte sich vor ihn. Jetzt würde sie die gleich Prozedur wiederholen. Doch hatte sie schon sein Rücken beeindruck, dann machte sie sein Oberkörper einfach sprachlos. Jedes Mal musste sie sich von neuem darauf konzentrieren, dass sie ihn nicht stundenlang anstarrte. Seine Brust- und Bauchmuskeln waren klar zu erkennen und doch war es keineswegs übertrieben oder einschüchternd. Vielmehr hatte sie das Gefühl, als würden sie sie regelreicht einladen, sich dagegen zu lehnen und sich an ihn zu schmiegen. Sein Körper wirkte kraftvoll, fest und doch war seine Haut so unglaublich weich und zart, dass sie jedes Mal eine Gänsehaut überkam und ihre Finger leicht zitterten, wenn sie ihn berührte. Annie war sich äußert sicher, dass jeder Muskel den er besaß, er auch schon am Tag seiner Verwandlung besessen hatte. Es war so ganz anders, als man vielleicht bei einem Menschen mit diesen Verletzungen erwartete hätte. Und er war so ganz anders, als sie sich einen Mann vorgestellt hatte.

Dies war nicht das erste Mal, dass Annie diese Gedanken hatte und sie schämte sich selbst dafür. Aber seit dieser Drache bei ihr lebte und sie immer mehr an ihm entdeckte, war es ihr, als würde ihre gute Erziehung nach und nach verloren gehen. Sie wusste sehr wohl, dass es äußerst unanständig war, einen Mann so lang zu betrachten, ganz zu schweigen von den Gedanken, die sie dabei hatte. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte absolut nichts dagegen tun. Ihr war, als gingen ihre Gedanken eigene Wege und verließen kurzzeitig sogar ganz und gar ihren Körper.

„Ich denke, dir werden ein paar große Narben bleiben.“, murmelte sie nach einer kurzen Zeit und sie bemerkte nicht, dass Draco sie dabei kurz ansah. Sie erwartete nicht, dass er sie verstand. Danach kehrte wieder Schweigen ein und Annie erledigte einigermaßen konzentriert den Rest. Behutsam trug sie die Ringelblumensalbe auf und legte die neuen Verbände an. Die anderen würde sie waschen müssen. Etwas was bei diesen kalten Temperaturen kein Vergnügen war. Zumindest würde der Bach nicht zufrieren, da dessen Quelle stark genug war, versuchte sie das positive daran zu sehen. Aber auch beim Verbandanlegen, wusste sie nicht, ob es zu fest oder zu locker war. Bisher schien sie es dem ungeachtet, richtig gemacht haben. Als sie den Verband auf Dracos Rücken verschloss, lehnte sie plötzlich ihre Stirn an seinen Rücken und verharrte so ein paar Sekunden. Draco hingegen war erstarrt und Annie wusste, dass ihre Nähe ihm nicht behagte.

„Ach Draco, ich wünschte, du könntest verstehen was ich sage. Sich mit jemandem zu unterhalten, wäre wirklich mal eine nette Abwechslung.“, sagte sie leise. Gerade die Wintertage kamen ihr immer sehr einsam vor, wusste sie doch, dass sie auch von ihrem Bruder keinen Besuch zu erwarten hatte.

Dann ließ sie von ihm ab und räumte alles wieder weg. Im Anschluss zog sie ein weiteres Kleid an, welches sie aus ihrer Kleidertruhe holte und begann sich in ihren Mantel zu wickeln. Sie wollte zwar nur die Hühner füttern, aber sie sie hatte das Gefühl, dass sie nicht warm genug angezogen sein konnte, wenn sie sich der Natur stellte. Wasserholen würde sie auch noch müssen, dachte sie resigniert.

Ohne ein weiteres Wort an Draco zu richten, öffnete sie die Tür und schritt hastig hinaus. Sie wollte die Kälte nicht auch noch hinein lassen.
 

Draco war ihr wieder mit seinen Blicken gefolgt. Er sah kurze Zeit später zu dem kleinen Fenster und sah Annie vorbei huschen. Dann richtete er seinen Blick wieder auf den Ofen und lauschte abermals dem Knistern des Feuers.

Mich mit dir unterhalten? Ich wüsste nicht wieso.

Frühlingserwachen

Annie schien es, dass der Winter länger und sehr viel kälter war, als alle Winter, die sie bisher erlebt hatte. Sobald sie die Hütte verließ, um Wasser zu holen, hatte sie das Gefühl Nase und Mund würden ihr gefrieren und sie beeilte sich schnell zurückzukehren. Allerdings musste sie dabei aufpassen nicht zu stolpern oder auszurutschen. Und nun machte sie sich doch sorgen, um den Bauch. Bei diesen Temperaturen würde auch die stärkste Quelle zufrieren. Sie hatte schon überlegt, was sie dann tun würde, aber wenn sie sich den Schnee ansah, fand sich schnell eine Lösung. Sie würde ihn schmelzen müssen, sollte ihr das Wasser verwehrt bleiben. Aber auch um ihre Hühner sorgte sie sich. Sollten sie Temperaturen weiter fallen, würden sie wohl erfrieren. Da würde noch so viel Stroh und Heu nicht helfen können.

Es verging kein Tag an dem kein Schnee fiel und den Wald in ein weißes Kleid hüllte. Immer, wenn Annie ihre Hütte verlassen musste, kuschelte sie sich hinterher jedes Mal sofort in eine Decke und setzte sich neben den Ofen.

Draco beobachtete sie dabei und dann begann Annie sich ein wenig zu ärgern. Körperlich schien es ihm besser zu gehen und doch verrichtete sie die ganze Arbeit. Das würde sie ändern müssen. Er konnte sich schließlich auch sein Brot verdienen, dachte sie und wollte es bei der nächsten Gelegenheit aussprechen. Irgendwie würde sie ihn schon dazu bringen, sie zu verstehen.

Doch dann geschah etwas, was sie ihre Meinung über ihn ändern ließ.
 

Es war der kälteste Tag dieses unerbittlichen Winters und Annie hätte es am liebsten nicht gewagt die Hütte zu verlassen. Wasser genug hatte sie in weiser Voraussicht gestern schon geholt, so dass ihr der Weg erspart blieb. Lediglich die Hühner musste sie versorgen, aber auch wenn der Stall hinter der Hütte stand, erschien ihr der Weg viel zu weit. Aber es musste getan werden. Vom Rückweg brachte sie Feuerholz mit, mit die ordentlich zu heizen begann. Es war warm in der Hütte, dass wusste sie, und doch schien sie von dem kurzen Weg in den Stall so verfroren zu sein, dass sie einfach nicht mehr warm werden wollte oder konnte. Selbst der Tee oder die heißen Kartoffeln wollten sie nicht von innen wärmen und so ging es den ganzen Tag. Immer wieder begann sie zu frösteln und wenn ihre Zähne einmal aufeinander schlugen, sah Draco sie aus seinen blauen Augen an, die trotz der helle, die sie normalerweise hatten, im Dämmerlicht, wie Saphire funkelten. Dann schenkte sie ihm ein kurzes Lächeln und wandte sich wieder dem Herz zu, in den sie am liebsten hineingekrochen wäre, wenn sie gekonnt hätte. Die Tür und das Fenster und jeden anderen kleinen Ritz, durch den die kalte Luft hätte ziehen können, hatte sie bereits mit einem Tuch oder anderem abgedeckt.
 

Draco hatte sie wie immer den ganzen Tag beobachtet und wunderte sich, dass sie so wenig sprach. Sie stand immer nur am Ofen und hielt die Handflächen darüber. Er musste sich eingestehen, dass er sich gegen seinen Willen an ihre Stimme und Plappern gewöhnt hatte und es ihm seltsam und ungewohnt still vorkam, wenn sie nicht sprach. Zudem konnte er mit diesem Schweigen keine neuen Wörter lernen und auch wenn er sich weigerte noch menschlicher zu werden, so wollte er doch wissen, was sie sagte. Er vertraute ihr nicht und gerade deswegen musste er wissen, was sie dachte und sprach. Immerhin kannte er nun auch den Namen, den sie ihm gegeben hatte und dessen Bedeutung.

Und noch etwas war ihm aufgefallen. Sie hatte sich verändert. Ihre Haut war blasser geworden und ihr Gesicht schmaler. Unter den Augen sah er dunkle Ringe und sie wirkte müde.

Die meiste Zeit war nur das Knistern des Feuers zu hören und hin und wieder ein seltsames Klappern, dass irgendwie von ihr zu kommen schien. Er sah genauer hin und stellte fest, dass dieses Geräusch dann entstand, wenn ihre Zähne aufeinander schlugen. War ihr wirklich so kalt?, fragte er sich. In der Hütte war es doch warm.

Auch hier musste er zugeben, dass auch ihm die kalten Temperaturen etwas zu schaffen machten. Das Feuer konnte nicht immer auf voller Flamme brennen und besonders des Nachts, war es spürbar kälter. Annie legte zwar ab und nach, aber es reichte nicht, um sie beide zu wärmen.
 

Die Nacht in der sich das folgende ereignete, war aber noch viel kälter, als es der Tag gewesen war. Annie hatte sich erneut früh schlafen gelegt und versuchte den Schlaf zu finden, während Draco an die Decke starrte und die Schatten beobachtet, die die Flammen des Ofens mit seiner offenen Ofenklappe, warfen.

Mit Decke war ihm wärmer und er sagte sich selbst, dass er schon sehr viel kältere Winter überstanden hatte. Winter in denen Annie noch nicht einmal gelebt hatte. Er würde auch diesen überstehen.

Er hing seinen Gedanken und Erinnerungen nach, lauschte dem Knistern des Feuers, welches eine beruhigende und einschläfernde Wirkung auf ihn ausübte. Er war bereits auf den Weg in das Reich des Schlafes, als ihn ein erneutes Klappern zurückholte. Draco hob leicht den Kopf und horchte in die Nacht hinein. Abermals war das Geräusch zu hören und er erhob den Oberkörper nun ganz, wusste er doch woher dieses Geräusch kam und wie es anscheinend entstand. Schlief sie nicht schon?, fragte er sich und richtet den Blick auf ihren Körper. Sie lag zusammengerollt neben dem Ofen und er sah das starke zittern ihres Körpers.

Leise stand Draco auf und ging zu ihr. Er betrachtete ihren Körper, sah die zusammengekrümmte Gestalt und deren Beben, was die Kälte anscheinend verursachte.

War ihr denn wirklich so kalt?

Vorsichtig beugte er sich zu ihr herunter und berührte kurz ihre Wange, das einzige was nicht von Stoff bedeckt war. Sie war so kalt, dass er erschrocken zurückzuckte.

Es ist egal, sagte er sich. Es ist nicht meine Angelegenheit. Ich bin nicht verpflichtet mich um sie zu kümmern.

Er wollte sich gerade umdrehen und sich wieder hinlegen, als er noch einmal das Zusammenschlagen ihrer Zähne höre. Er blieb stehen und hielt inne.

Sein Körper war warm, das spürte er.

Nur wie sollte er sie wärmen?

Er erinnerte sich an den Morgen, als er erwacht war und Annie neben ihm gelegen hatte. Sie hatte gesagt, ihr war kalt gewesen. Hatte sie sich bei ihm wärmen wollen?

Würde sie sein Körper wärmen können?

Aber warum sollte er das tun?

Weil sie dir das Leben gerettet hat, antwortete sein Gewissen prompt. Auch wenn er kein Mensch war, so wusste er sehr wohl, dass er ihr etwas schuldig war. Ohne sie wäre er schon längst Tod – auch wenn er dafür diesen Körper in Kauf nehmen musste.

Wäre er am Anfange lieber gestorben, als in dieser Gestalt zu sein, so wusste er nun, dass es besser war zu leben. Er war dem Tod lange – zu lange – Nahe gewesen und er wusste, dass er ihn irgendwann holen würde. Doch noch hatte er Zeit. Außerdem war er überzeugt, schon bald wieder in seiner wahren Gestalt zu sein. Es musste einfach so sein.

Während er nachdachte, hatte er Annie weiterhin beobachtet. Sie zitterte noch immer und schließlich gab er sich und vor allem seinem Stolz einen Ruck.

Er holte seine Decke und legte sich schließlich neben sie. Draco breitete die Decke über sie beide aus. Doch auch, wenn er ihr seine Nähe zugestand, so achtete er sehr genau darauf ihrem Körper nicht zu Nahe zu kommen. Es würde auch so gehen müssen und wenn nicht, dann hatte er sich keinen Vorwurf zu machen.

Erst kurze Zeit später merkte Draco, dass er den Duft ihrer langen schwarzen Haare einatmete. Ein wohlriechender und sehr angenehmer Duft. Betört von diesem Geruch schlief auch er kurz darauf ein.

Als Annie am nächsten Morgen langsam aus dem Reich des Schlafes erwachte, fühlte sie sich behaglich, warm und vor allem geborgen. So hatte sie sich das letzte Mal in diesem Winter gefühlt, als sie sich zu Draco geschlichen hatte. Etwas was schon lange her war. Sie wolle tief ein und ausatmen, als sie das Gewicht bemerkte, welches auf ihrem Köper lag.

Dass sie einen Schreck bekam, muss an dieser Stelle nicht erste erwähnt werden.

Langsam drehte sie den Kopf ein wenig und erblickte einen Arm, der auf ihrem Körper lag. Jetzt war sie noch verwunderter. Was war in der Nacht geschehen?

Gleich darauf bemerkte sie einen warmen Luftzug, der an ihrem Nacken vorbeistrich und in ihrem Körper eine Kribbeln auslöste.

Ihr Atem stocke und sie überlegte krampfhaft, ob sie in der Nacht nicht doch wieder zu Draco gewandert war. Doch sie konnte sich an nichts erinnern. Aber eine andere Erklärung konnte es doch nicht geben oder? Sie sah sich mit den Augen ein wenig um und musste feststellen, dass sie noch immer an der Stelle lag, auf der sie auch eingeschlafen war: direkt neben dem Ofen. Vorsichtig und mit so wenig Bewegungen, wie es ihr möglich war, dreht sie sich um und blickte direkt in Dracos schlafendes Gesicht. Stutzig blickte sie ihn an.

Was machte er hier? Wie kam er neben sie? War er nicht gestern an seiner Schlafstelle eingeschlafen?, schoss es ihr durch den Kopf.

Doch bevor sie weiter überlegen konnte oder sich auch nur rühren konnte, erwachte auch Draco und schlug die Augen auf. Annie hielt den Atem an. Das letzte Mal war seine Reaktion unmissverständlich, doch zuerst einmal geschah nichts weiter. Er sah sie mit seinen blauen Augen durchdringend an und erst dann schien er zu bemerken, dass sein Arm noch immer um ihren Körper lag. Ruckartig zog er ihn zurück und Annie wusste nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte. Das sie eine Erklärung von ihm bekommen würde, schloss sie gleich aus.

Weitere Sekunden sahen sie sich an, ohne das sich einer von ihnen bewegte und ohne das sich ihre Blicke von einander lösten. Noch einmal hatte Annie das Gefühl, dass sie in diesen blauen Augen zu versinken drohte, doch bevor diese geschah, riss sie sich davon los und tat ein paar tiefe Atemzüge, ehe sie sprach. Dass seine Augen trotzdem immer noch auf ihr lagen, entging ihr nicht.

„Morgen.“, sagte sie zögerlich. „Hast du mich die ganze Nacht gewärmt? Ich danke dir. Du hast mich wohl vor dem erfrieren gerettet.“ Bevor Draco reagieren konnte, küsste sie ihn zum Dank sanft auf die Stirn. Doch trotz der Überraschung, konnte er diese Geste nicht als unangenehm empfinden.
 

Seit diesem Morgen beklagte sich Annie nicht mehr darüber, dass sie alle Aufgaben allein erledigen musste. Viel lieber nahm sie seine Wärme an, die er ihr von da an jede Nacht spendete und würde sich hüten ihn durch etwas anderes zu verschrecken. Denn bei diesen einem kalten Tag war es nicht geblieben, sondern es waren weitere gefolgt. Außerdem kam eine neue Sorge hinzu: das Feuerholz würde schnell zu Ende gehen, wenn der Winter weiter so anhielt. So war es ihr nur sehr recht, wenn sie sich gegenseitig wärmen konnten.
 

Es war wahr, dass Draco sich nun jede Nacht, nachdem sie eingeschlafen war, zu ihr legte. War es in der ersten Nacht noch aus Mitleid und vielleicht auch Schuldbewusstsein geschehen, so tat er es jetzt, weil ihm selbst kalt war. Er war überrascht aber auch schockiert gewesen, wie kälteempfindlich dieser Körper doch war und somit auch wie schwach. Annie hatte ihm erklärt, dass das Feuerholz bald zur Neige ging, wenn sie weiter so viel heizte und sie wussten schließlich nicht, wie lange dieses Wetter noch anhalten würde. Also würde sie weniger Holz auflegen und dafür doppelt so viel Stricken. Vielleicht würde sie in ein paar Tagen noch eine weitere Decke geschafft haben, die sie wärmen könnte. Für Draco würde sie dann auch noch eine anfertigen.

All das erzählte sie Draco in dem Glauben, dass er sie nicht verstand. Doch er verstand sehr gut. Er hatte begriffen, dass das Holz nur begrenzt zur Verfügung stand und des es von nun an kälter in der Hütte sein würde. Aber das er es verstanden hatte, zeigte er ihr nicht.
 

Irgendwann nach fast einen Monat sehr kalten und eisigem Wetters hatte die Natur doch Mitleid mit den zwei menschlichen Bewohnern des Waldes. Anfang März wurde das Wetter so langsam wieder wärmer und Annie konnte gar nicht genug von der Sonne bekommen, die zwar noch lange brauchte, bis sie durch das kleine Fenster der Hütte schien, aber dennoch etwas von ihrer Wärme abgab. Das Feuerholz hatte gerade so gereicht und Annie hoffte, dass der nächste Winter weniger unerbittlich sein würde.

Dracos Wunden waren nun fast vollständig verheilt. Die eisigen Temperaturen schienen dem Heilungsprozess nichts angehabt zu haben und Annie trug nur noch etwas von der Salbe auf, ohne die Verbände wieder anzulegen. Doch noch immer war sie die einzige die sprach.

Aber es hieß nicht, dass Draco sie nur versehen konnte. Er konnte die Worte, die er von ihr lernte auch sehr wohl sprechen. Wenn Annie nicht da war, murmelte er leise vor sich hin und wiederholte Wörter und Sätze, die er bei ihr gehört hatte und prägte sich die Aussprache ein.

Obwohl er sein jetziges Dasein verabscheute und am liebsten wieder zu dem geworden wäre, was er eigentlich war, so war er ein wissbegieriges Wesen. Alles Neue und Fremde interessierte ihn und seiner Natur verschuldet, musste er es auch ausprobieren. So war er schon immer. Doch Sprechen würde er noch lange nicht. Warum sollte er auch? Es war Zufall, dass er sie nun doch verstand und irgendwann würde er wieder zu einem Drachen werden. Dann würde er die menschliche Sprache sowieso nicht mehr benötigen. Es war also überflüssig erst damit anzufangen.
 

An einem der wenigen warmen Tage, die es seit langem wieder gab, kehrte Annie ganz aufgeregt vom Bach zurück. Draco hatte in der Küche auf sie gewartete und konnte ihren Worten zuerst nicht richtig folgen, da sie so schnell sprach.

„Draco, du glaubst nicht was ich eben im Wald gefunden habe! Das musst du dir unbedingt ansehen!“

Ohne ein weiteres Wort und ohne zu zögern, packte sie ihn am Arm. Mit einem Ruck stand er auf seinen Beinen und sie zerrte ihn hinter sich her. Nur widerwillig ließ er es geschehen, doch seine Neugier wollte wissen, was sie so in Aufregung versetzt hatte. Deswegen wehrte er sich nicht weiter dagegen.

Ungeduldig und in höchster Eile führte Annie ihn auf eine kleine Lichtung inmitten des Waldes und blieb dann völlig außer Atem stehen. Sie ließ seine Hand los und ging langsam auf etwas zu, was Draco selbst noch nicht sehen konnte. Etwas 15 Schritte weiter blieb sie stehen und kniet sich hin.

„Komm her!“ forderte sie ihn auf und winkte mit der Hand. „Das ist fantastisch!“

Verwirrt sah er sie an und fragte sich, was sie eigentlich tat. Dann folgte er ihrer Bewegung und kniete sich neben sie. Seine Augen hatte an ihrer Sehkraft nichts eingebüßt und er sah sofort, was sie so faszinierte. Ein kleines, winziges, grünes Etwas war zwischen all dem verblieben Schnee zu sehen.

„Siehst du das?“ fragte sie ihn mit leuchtenden Augen, sprach aber gleich weiter: „Das ist ein Schneeglöckchen. Zumindest ist es auf dem Weg dahin eines zu werden.“

Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Weißt du, was das bedeutet? Es wird Frühling! Der Winter ist nun endgültig vorbei und alles wird wieder anfangen zu blühen und zu grünen!“ Als sie das sagte, sah sie ihn freudestrahlend an. Er erwiderte den Blick und betrachtete ihr Gesicht.

Vom schnellen Laufen, der Aufregung und der Freude glühten ihre Wangen in einem kräftigen rot. Ihre rehbraunen Augen strahlten vor Glück und Vorfreude und ihr langes schwarzes Haar, bildete einen perfekten Kontrast zu dem vielen Weiß um sie herum. Zum ersten Mal in diesen fünf Monaten die er bei ihr war, dachte Draco, wie schön sie doch eigentlich war.
 

Und Annie sollte mit ihrer Prophezeiung recht behalten.

Nur wenige Wochen später war der gesamte Schnee geschmolzen und alles begann von neuem zu wachsen und zu leben. Sie waren jetzt öfters an der frischen Luft und jeden Tag brachte Annie aufs neue einen Strauß Frühblüher mit, die sie in einer Wasserschüssel sammelte, so lange bis ein kleiner Blütenteppich entstanden war. Die Nächte wurde ebenfalls wärmer, doch noch immer schliefen sie beiden nebeneinander. Aber warum, wusste keiner mehr von ihnen so genau. Auch sonst hatte sich nicht viel geändert. Sie gingen jeder ihren Beschäftigungen nach. Annie kümmerte sich um das Essen, die Wäsche und auch die Tiere, während Draco sie dabei beobachtete.

Doch hin und wieder ging er allein in den Wald. Am Anfang hatte Annie noch befürchtet, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Doch als er es auch nach dem dritten Mal tat, wurde sie ruhiger. Vielleicht wusste er auch einfach nur nicht, wo er sonst hin sollte, dachte sie dann wehmütig und wünschte sich, dass er ihr wenigstens vertrauten würde. Aber das würde ihr wahrscheinlich niemals gelingen. Allerdings hatte Annie auch keine Ahnung, was Draco eigentlich stundenlang allein im Wald machte. Sie hatte gar nicht erst versucht ihm heimlich zu folgen, aus Angst, dass die Situation dann noch verkrampfter werden könnte, wenn er es erst einmal herausfand.

Was Draco aber im Wald tatsächlich tat, hätte sie sehr überrascht.

Er tat nichts anderes als seinen Körper auszuprobieren, dessen Grenzen zu ertesten. Zudem war er kein Wesen, was sich immer nur ruhig verhalten konnte. Allein aus diesem Grund, waren die letzten Monate eine zusätzliche Qual gewesen. Waren es am Anfang die Schmerzen, war es dann das Wetter, was in eingeschränkt hatte. Zu erst begann es mit einem einfach gehen, mit der Zeit wurde er aber immer schneller. Doch nie das Gefühl, diesen Körper schon voll auszulasten. Er lief so lange und schnell, dass die Bäume an ihm vorbei zogen und verschwammen. Trotzdem war es ihm nicht schnell genug. Er lief so schnell, wie es ein menschlicher Körper überhaupt nur konnte. So lange, bis ein stechender Schmerz in seiner Brust ihn zum stehen zwang.

Mit zitternden Händen faste er sich an die Brust. So lange war er doch gar nicht gerannt, dachte er und versuchte sich zu beruhigen. Seine Atmung war flach und abgehakt und trotzdem hatte er das Gefühl, dass er nicht genug atmete. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen und seine Knie gaben nach. Was geschah mit ihm?

Hielt dieser Körper wirklich nicht mehr aus? In seiner wahren Gestalt, war er noch viel schneller gewesen, hoch über den Wolken und selbst bei langen Flügen hatte er nie solch einen Schmerz empfunden. Oder war er vielleicht nur so geschwächt, weil er sich in den letzten fünf Monaten kaum beweg hatte?, gingen seine Gedanken weiter, während er noch immer die Augen geschlossen hatte.

Er würde es ausprobieren müssen. Draco nahm sich vor, von nun an jeden Tag in den Wald zu gehen und diesen Körper zu erproben. Auch wenn er ihn nicht mehr lange besitzen würde, so konnte er das Gefühl der Schwäche noch weniger ertragen. Er musste sich schützen können, sollte er es einmal brauchen.

So geschah es auch.
 

Es war ein Tag im April, als Draco am späten Nachmittag aus dem Wald zurückkehrte. Kurz bevor er die Hütte aber sehen konnte, blieb er plötzlich stehen. Er hatte etwas seltsames gehört. Etwas, was sich der Hütte näherte und dann plötzlich zum Schweigen kam. Leise ging er weiter, bis die Hütte in Sicht kam. Hinter einem Baum versteckt, beobachtete er die beiden, konnte sie aber nicht hören. Er konnte Annie sehen, die gerade einen Mann umarmte. Sie schien sich aufrecht zu freuen ihn zu sehen, hielt die Umarmung doch länger an und auf ihren Lippen zeigte sich ein herzliches Lächeln.

„Alexander, was machst du denn hier? Mit dir hätte ich nicht gerechnet!“ rief Annie vor Freude.

„Na, ich muss doch mal nach meiner Lieblingsschwester sehen und schauen, ob sie den Winter auch gut überstanden hat.“, war seine Antwort und er lachte, was sich anhörte wie ein Reibeisen.

Alexander, Annie älterer Bruder, war breitschultrig und von kräftiger Statur. Er trug elegante Kleidung in Schwarz und auch sein Pferd war eindrucksvoll besattelt. Seine Haare waren genauso schwarz, wie die seiner Schwester. Er trug einen stattlichen Vollbart, was ihn furchteinflößend erscheinen lassen hätte, wenn nicht seine braunen Knopfaugen, wie die eines kleinen Jungen gestrahlt hätten.

„Danke der Nachfrage. Es geht mir gut, wie du sehen kannst. Was führt dich zu mir? Du wirst dich wohl nicht schon wieder versuchen mich zu verheiraten? Wenn das deine Absicht ist, kannst du gleich wieder nach Hause gehen.“, sagte sie bestimmt.

„Nein, nein!“, wehrte er ab. „Das habe ich schon lange aufgeben. Ich wollte dir nur mitteilen, dass du seit zwei Monaten eine Schwägerin hast.“ Bei diesen Worten wurde sein Grinsen noch breiter, als es von Natur aus schon war.

„Oh Alexander, das ist ja wunderbar! Ich gratuliere euch herzlich!“, sagte sie und freute sich aufrichtig für ihren Bruder. Sie wusste, dass er ein guter und treuer Ehemann sein würde. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie ihn geheiratet.

„Vielen Dank. Ich werde es ausrichten. Ich wollte dir aber noch etwas geben.“ Er zog einen kleinen Sack aus seinem Umhang und warf ihn Annie zu. Als sie ihn auffing, hörte sie etwas metallenes gegeneinander schlagen.

„Du weißt, dass ich das nicht annehmen kann und will. Ich lebe dieses Leben, damit ich von niemandem abhängig bin. Da brauche ich dein Geld auch nicht.“

„Ich dachte mir schon, dass du so etwas sagst. Aber ich werde es auf keinen Fall wieder mit mir nehmen. Geh damit auf den Markt und kauf dir ein paar Nahrungsmittel. So dünn wie du bist, kannst du es gebrauchen.“

„Vielen Dank auch.“, sagte sie und streckte ihm die Zunge heraus, was ihn wieder kräftig auflachen ließ. Annie wusste, dass das seine letzten Worte diesbezüglich sein würden und eigentlich konnte sie das Geld auch gut gebrauchen. Zwei Münder essen schließlich mehr als einer, dachte sie.

„Außerdem habe ich noch ein paar Lebensmittel. Mehl, Schinken und vor allem Kartoffeln.“, sagte er dann weiter und stand schon bei seinem Pferd, um es abzuladen.

„Danke, dass ist lieb von dir.“ Annie überlegte einen Moment, ob sie ihm von Draco erzählen sollte, entschied sich dann aber erst einmal dagegen. Auch wenn er sie liebte, so wusste sie, dass auch ihr Bruder es nicht gutheißen würde, wenn sie allein mitten im Wald mit einem Mann zusammen lebte. Noch dazu mit einem, der nicht mal ein echter Mann war.

„Hab vielen Dank und noch mal alles Gute für euch beide.“, sagte sie zum Abschied, als die das Pferd von seiner Last befreit war und die Lebensmittel verstaut.

„Mach’s gut, Schwesterchen und dieses Mal werde ich wirklich bald noch einmal kommen, um dich zu besuchen. Ich verspreche es.“

„Das hast du das letzte Mal schon gesagt und es hat sechs Monate gedauert.“, neckte sie ihn, war aber nicht böse. Sie lebten jetzt nun mal ihre eigenen Leben.

Draco sah, wie die beiden sich noch einmal liebvoll umarmten, der fremde Mann dann auf sein Pferd stieg und davon ritt. Er konnte sehen, wie Annie ihm noch einen Moment hinterher sah und dann mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht in die Hütte ging.

Bei diesem Anblick breitet sich ein Gefühl in Draco aus, was er nicht kannte. Es fühlte sich an, als würde das Blut in seinen Adern zu kochen beginnen und sein Herzschlag beschleunigte sich um das doppelte. In seiner Magengegend wurde es warm und alles in ihm begann sich zu verkrampfen.

Wer war das? Ich habe ihn noch nie vorher hier gesehen und Annie hat auch nie einen anderen Menschen erwähnt! Nicht seitdem ich diese Sprache kann!, dachte er ärgerlich.

Das Gefühl schien sich wie Gift in seinem Körper auszubreiten und er brauchte nur an das Gesicht des Mannes zu denken und es schien ihm schlimmer als zuvor.

Immer und immer wieder sah er das Bild vor seinen Augen, wie sie ihn liebevoll umart hatte, wie sie gestrahlt hatte, als sie ihn erkannt hatte.

Draco versuchte sich einzureden, dass es ihm egal sein konnte, wer dieser Mann war und er versuchte auch, dieses neue, unbekannte Gefühl zu verdrängen. Aber es schien übermächtig zu sein. Fast so als würde es ihn von innen zerfressen.

Nicht nur, dass er dieses Gefühl nicht kannte, aber die Macht, die es auf seinen Körper ausübte, beunruhigte ihn. Als Drache hatte er nie so empfunden.

Langsam ging er zu Hütte zurück. Noch immer versuchte er das ihm unbekannte Gefühl zu unterdrücken. Aber es gelang ihm einfach nicht. Er erreichte die Tür und öffnete sie langsam.

Wer war das? Was machte er hier? Woher kannte sie ihn?, fragte eine Stimme immer wieder in seinem Kopf und er hatte das Gefühl verrückt zu werden, wenn es nicht bald aufhörte.

Wer war das? Was machte er hier? Woher kannte sie ihn?, wiederholte die Stimme monoton und von vorn. Sein Kopf fing an zu schmerzen und jeder weitere klare Gedanken entglitt ihm. Diese drei Fragen schienen mit einmal sein ganzes Denken auszufüllen und das ärgerte ihn noch mehr. Immer und immer wieder hörte er es, ohne das er etwas dagegen tun konnte.

Es sollte aufhören!

Jetzt sofort!

Doch die Stimme hörte nicht auf ihn, schien ihn weiterhin quälen zu wollen, bis er eine Antwort gab. Doch er konnte keine Antwort geben.

Verdammt noch mal „Wer war das?!“

Vertrauen?

Das Nächste, was Draco hörte war ein Aufschrei und das Zerbrechen von Geschirr. Erschrocken hielt er inne und sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Annie stand in der kleinen Küche, die Hände an den Mund gepresst und die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Ein paar Sekunden sah er sie verwirrt an.

Warum sah sie ihn so an? Mit einem Blick, den er noch nie gesehen hatte und der so ganz anders war, als all die Gesichtsausdrücke, die er bisher bei ihr gesehen hatte. Was war geschehen?

Noch einmal ging er in Gedanken die letzten Sekunden durch. Er hatte sich über diesen fremden Mann geärgert. Er hatte etwas seltsames gefühlt, ein Gefühl, dass er nicht zuordnen konnte. Dann war er in die Hütte gegangen und wurde noch aufgebrachter, weil er dieses Gefühl nicht kannte; weil er es nicht verschwinden lassen konnte. Er hatte sich gefragt, was... Schlagartig wurde ihm klar, was er getan hatte.

Er hatte gesprochen!

Er hatte die letzten Worte nicht gedacht, sondern laut ausgesprochen!

Er hatte wirklich gesprochen!

Dabei war dies doch das Letzte was er hätte tun wollen!

Warum hat er das nur getan?! Wie konnte das geschehen!?
 

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und nun auch seine Fassungslosigkeit in seinem Gesicht erkennbar war, stand Annie noch immer wie vom Blitz getroffen da und starrte ihn an. Langsam ließ sie die Hände vom Mund sinken und ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie ein paar Worte sprechen. Doch kein Ton kam heraus.

Sie starrten sich gegenseitig an und niemand schien in der Lage überhaupt etwas zu sagen oder gar zu denken. Annie, weil sie es einfach nicht glauben konnte, dass er sprach und Draco, weil er seine eigene Dummheit nicht begreifen konnte.

„Oh mein Gott!“, war das Erste, was Annie nach ein paar weiteren, scheinbar endlosen Sekunden hervorbrachte.

„Oh mein Gott!“, wiederholte sie noch einmal. „Du kannst sprechen?! Wieso? Weshalb? Warum?“, fragte sie dann, ohne wirklich Luft zwischen den einzelnen Worten zuholen.

Doch Draco konnte noch immer nicht reagieren. Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können? Er konnte sich selbst nicht verstehen. Warum hatte er sich nicht beherrschen können? Er hasste diese menschlichen Körper, den er nicht verstand und der ihn Dinge gegen seinen eigenen Willen tun ließ. Er hatte geschworen nie mit ihr zu sprechen und doch hatte er es getan. Warum?!

Er wusste nicht wen er mehr hassen sollte: diesen Körper oder dieser fremde Mann? Dieser Mann hatte irgendetwas mit ihm gemacht, dessen war er sich sicher. Er hatte dieses seltsame Gefühl in ihm ausgelöst, was er nicht bestimmen und kontrollieren konnte.

Aber ihr Antworten? Nein, niemals. Warum auch?

Sobald er wieder einen anderen klaren Gedanken fassen konnte, wollte er nur noch weg von ihr. Er wollte weg von diesen Augen, die ihn so... entsetzt, und ungläubig und... da war noch etwas anders, doch Draco konnte es nicht richtig benennen.

Sie sah verletzt aus.

Er wollte sich umdrehen und diesem Blick entrinnen, doch Annie ahnte was er vorhatte und packte ihn am Handgelenk.
 

Wütend starrte sie ihn an. Er hatte gesprochen! Sie hatte es klar und deutlich gehört! Wahrscheinlich konnte er sie auch verstehen! Und sie hatte mit ihm gesprochen, ohne dass er ihr auch nur einmal geantwortet hatte!
 

Erst sprach er einfach, dann wollte ihr nicht antworten und jetzt wollte er einfach davon laufen, ohne ihre eine Erklärung gegeben zu haben?!, fragte sie sich fassungslos.

Nein, so schnell würde er ihr nicht davonkommen! Sie wollte Antworten und die würde sie auch bekommen!

Noch nie war sie so wütend in ihrem Leben gewesen! Noch nie hatte sie sich so hintergangen gefühlt! Er hatte sie die ganze Zeit betrogen und belogen!

Ohne weiter nachzudenken oder zu wissen, was sie eigentlich tat, holte sie mit ihrer rechten Hand aus und schlug mit aller Kraft zu. Sie traf seine Wange so hart, dass ein lauter Knall zu hören war.

Draco wusste gar nicht wie ihm geschah. Der Schlag traf ihn so heftig, dass er geschockt zur Seite sah. Es schmerzte und die Stelle an der sie ihn getroffen hatte wurde heiß. Verwundert legte er die Hand auf seine Wange. Es war wirklich warm und er konnte immer noch ihre Hand auf seiner Haut zu spüren.

Was war passiert? So etwas hatte er nicht erwartet und schon gar nicht von ihr.

Was hatte sie getan?

„Seit wann?“, fragte sie mit lauter und wütender Stimme.

Draco zuckte kurz zusammen. So hatte er ihre Stimme noch nie gehört.

Das alles sollte sein Sprechen ausgelöst haben?

Wie konnte so etwas triviales, so etwas bei ihr auslösen? Sie so verändern?

Trotzdem antwortete er nicht. Nie im Leben würde er sich einem Menschen beugen. Egal welchem!

„Antworte mir! Ich weiß, dass du mich verstehst! Dass du sprichst! Du hast es ja gerade eindrucksvoll bewiesen!“ Während sie sprach überschlug sich ihre Stimme mehrmals und sie hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Weinen wollte sie auf keinen Fall! Nicht vor ihm! Sie hatte ihm vertraut. Sie hatte geglaubt, er sei auf ihre Hilfe angewiesen. Doch die ganze Zeit hatte er sich nur über sie lustig gemacht! Die ganze Zeit hatte er sie verstanden! Ihr nicht geantwortet, wenn sie mit ihm sprach!

Sie kam sich so dumm vor. So unsagbar dumm.

Als Draco den Klang und Tonfall ihrer Stimmer hörte, erschrak er noch einmal. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie so... sein konnte. Und trotz der Mühe, die er hatte sie zu verstehen, konnte er ahnen, was sie sagte.

Jetzt sah er ihr zum ersten Mal direkt in die Augen, noch immer fest entschlossen ihr nicht zu antworten. Aber ihr Anblick erschreckte ihn noch mehr. Dieser Mensch, diese Frau, die immer ein Lächeln auf den Lippen trug, deren Augen bereits bei den kleinsten Dingen zu leuchten begannen, blickte ihn nun tieftraurig an. Das Lächeln war ebenso verschwunden und eine Träne lief ihre Wange her runter. Aber Draco konnte es noch nicht bezeichnen.

Doch der Anblick gefiel ihm ganz und gar nicht.

Seitdem er das erste Mal gedacht hatte, wie schön sie doch eigentlich war, hatte sich diese Meinung auch nicht geändert. Stattdessen hatte sie Tag für Tag zugenommen. Mit ihren langem, schwarzen Haar und den braunen Augen, übte sie schon seit längerem eine starke Faszination auf ihn aus. An dem Bild, was er jetzt aber sah, war etwas ganz und gar falsch. Und trotzdem wirkte sie immer noch schön auf ihn, auch wenn er nicht umhin konnte zu denken, dass er ihr Lächeln lieber sah.

„Was ist? Bekomme ich jetzt eine Antwort von dir?“, fragte sie ihn scharf, nachdem er sie bisher nur stumm angeschaut hatte. Sie vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten, aber es war ihr im Moment egal, was er dachte oder in ihm vor ging. Jetzt wollte sie keine Rücksicht auf ihn nehmen. Er hatte es ja schließlich auch nicht getan.

„Drei Monde.“, brachte er schließlich gepresst und nur wiederwillig hervor. Ihrem Blick wich er aus und sah stattdessen auf einen Punkt an der Wand.

Warum er ihr nun aber doch geantwortet hatte, wusste er selbst nicht so recht. Vielleicht war es wegen dem Gesichtsausdruck, den er irgendwie nicht ertragen konnte. Und vielleicht hoffte er mit seiner Antwort, diesen wieder von ihrem Gesicht zu wischen.

„Drei Monde? Was soll das-“, doch sie brach ab, als ihr die Antwort klar wurde. „Das sind ja drei Monate! Solange machst du dich schon lustig über mich! Ich rede ständig mit dir und wünschte, dass du mich verstehen kannst und dabei kannst du das schon lange! Ich kann nicht glauben, dass ich nichts gemerkt habe! Ich habe geglaubt, du bräuchtest meine Hilfe!“

Annie merkte selbst, wie sie mit jedem Satz lauter wurde. Blanke Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Auch wenn sie sah, wie sehr er über ihr Verhalten erschrocken war, so konnte sie sich einfach nicht zügeln. Er hatte sie schlichtweg benutzt und verraten.

Ihre Stimme war anklagend. Er kannte nicht von jedem Wort die Bedeutung, aber er konnte spüren, dass sie ihn beschuldigte und Vorwürfe machte. Etwas was er sich nicht bewusst war und auch nicht einsah.

„Ich weiß zwar nicht, was all diese Worte genau bedeuten, aber du kannst dir sicher sein, dass ich das nicht tue.“, sagte er nun. Auch seine Stimme wurde lauter und schärfer.

„Warum hast du dann bisher nicht mit mir geredet?“, fragte sie ihn und bemühte sich sehr, ihre Stimme wieder ruhiger werden zu lassen. Etwas was ihr sehr schwer viel und auch nicht richtig gelang.

„Warum sollte ich?“, stellte er nun die Gegenfrage. „Du hast mich zwar gerettet, aber das bedeutet nicht, dass ich dir deswegen zu irgendwas verpflichtet bin.“

Draco sprach so, wie ihm die Worte in den Sinn kamen, ohne richtig darüber nachzudenken, wie diese Worte in ihren Ohren klingen konnten; was sie für sie bedeuteten. Er war viel zu irritiert davon, dass ihr Gesichtsausdruck irgendwo in seinem Inneren einen tiefen Schmerz verursachte, den er sich aber doch nicht erklären konnte. Fast schien es ihm, als wäre dieser Schmerz schlimmer, als alles körperliche Leiden, was ihm bisher widerfahren war.

Annie konnte nicht gleich antworten. Zu viele Emotionen vermischten sich in ihr. Denn neben ihrer Wut, war die Enttäuschung über seine Antwort, die Größte mit der sie zu kämpfen hatte.

„Verstehe.“, war alles was sie schließlich hervorbrachte und hatte Mühe ein Schluchzen zu unterdrücken. „Entschuldige bitte meine maßlose Dummheit.“

Ihre Stimme war gebrochen und sie wusste, dass sie jetzt gehen musste, wollte sie sich nicht auch noch auf diese Art und Weise vor ihm lächerlich machen. Sie ließ seinen Arm los und ging hinaus in den Wald.

Die Abendsonne tauchte alles in ein feuriges Rot und man hätte den Eindruck gewinnen können, dass der ganze Wald in Flammen stand. Doch Annie war ganz und gar nicht danach, das Schauspiel der Natur zu beobachten. Sie musste jetzt allein sein. Tränen stiegen in ihr hoch und ein dicker Klos bildete sich in ihrem Hals. Aber noch konnte sie es zurückhalten.

Erst als sie an dem kleinen Bach ankam, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Noch nie hatte sie sich so tief verletzt und enttäuscht gefühlt. Aber vor allem wusste sie nun nicht, wie sie ihm noch gegenüber treten sollte. Ihr war klar, dass sie nicht mehr so weiter machen konnte, wie bisher und sie würde auch nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Sie hatte seine Stimme gehört. Sie war klar und samtigweich. Sehr angenehm, hätte sie wohl unter anderen Umständen sofort gedacht. Doch so… Draco würde noch ein paar Monate bei ihr bleiben und bis dahin würden sie mit einander auskommen müssen. Sie bezweifelte, dass er verschwunden war, wenn sie zurück kam. Wenn der das vorgehabt hätte, dann hätte er schon lange gehen können. Er würde sich mit ihr unterhalten müssen, dachte sie. Ob er nun wollte oder nicht. Sie würde keine Selbstgespräche mehr führen, wenn sie genau wusste, dass er sie verstehen und sogar antworten konnte!
 

Draco starrte auf die Stelle des Waldes, in der sie verschwunden war. Er wusste nicht was zu tun war. Er konnte nicht einmal ganz nachvollziehen, warum sie so wütend war. Er fand seine Haltung und Handlung gerechtfertig und sah nicht ein, irgendetwas daran zu ändern. Zumindest wollte er das glauben. Das Gefühl aber, welches sich um sein Herz gelegt hatte, verschwand dabei nicht. Tief im Inneren wusste er, dass er es war, der diesen durchsichtigen Tropfen, die sich aus ihren Augen gestohlen hatten, verursacht hatte. Der Gedanke daran, behagte ihn nicht sehr. Schließlich drehte er sich um und ging in die Hütte zurück. Sie würde schon zurückkommen.
 

Erst nach Einbruch der Dunkelheit, beruhigte sie sich und erst jetzt wurde sie sich der Kälte bewusste, die inzwischen über sie hereingebrochen war. Auch wenn die Tage wärmer wurden, so wurden es die Nächte noch nicht. Annie wusch sich noch schnell das Gesicht im Bach. Sie wollte gar nicht wissen, wie verheult und verquollen ihr Gesicht wohl aussah. Dann kehrte sie zur Hütte zurück, ließ sich dabei aber mehr Zeit als gewöhnlich. Plötzlich fühlte sie sich erschöpf und müde und wollte sich nur noch an ihren Lieblingsplatz neben dem Ofen legen. Noch langsamer betrat sie die Hütte. Sie war ängstlich ihm wieder gegenüber treten zu müssen. Noch immer wusste sie nicht, was sie tun sollte. Zwar hatte sie sich entschlossen, mit ihm zu reden, aber es war immer noch leichter einen Entschluss zu fassen, als diesen auch in die Tat umzusetzen. Doch als sie die Hütte betrat, sah sie im schwachen Licht des Feuers und des Mondes, dass er selbst bereits schlief.

Aber sie irrte sich. Draco war noch immer wach und hörte sehr genau, wie sie eintrat und sich kurz darauf ebenfalls hinlegte.

Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen?, fragte sich Annie, bevor sie kurz darauf sofort einschlief.
 

Draco hingegen konnte noch lange nicht schlafen. Zu viele Gedanken versuchte in diesem begrenzten, menschlichen Kopf Platz zu finden. Es konnte ihm doch egal sein, was dieser Mensch erwartet hatte; was sie dachte oder fühlte. Es ging ihn nichts an. Doch je länger er auf den Schlaf wartete, desto mehr realisierte er, dass es ihm doch nicht egal war. Würde es ihm wirklich egal sein, dann würde er doch nicht weiter darüber nachdenke oder? Stattdessen musste er immer wieder an ihren traurigen und verletzten Gesichtsausdruck denken, der ihn zu gleich so fasziniert und erschreckt hatte.

Keiner der beiden konnte in dieser Nacht ruhig schlafen. Zu groß waren die aufgewühlten Gefühle und Emotionen.
 

Als Annie erwachte, fühlte sie sich so schlecht, wie wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben. Die ganze Nacht hatte sie kaum geschlafen und hatte nun wohl die Konsequenzen zu tragen. Zudem war wohl auch ihr langes Fortbleiben im Wald schuld.

Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen und ihr ganzer Körper schien zu schmerzen und zu brennen. Zu erst wusste sie nicht einmal, wo genau sie sich befand und nur langsam kehrten die Geschehnisse des vorangegangen Tages zurück. Annie versuchte herauszufinden, ob sie noch wütend auf Draco war oder sein sollte. Doch ihr Körper und ihr Geist fühlten sich so kraftlos und matt an, dass ihr dafür einfach kein Platz zu sein schien. Was sollte sie auch noch wütend sein? Sie konnte es nicht mehr ändern.

Stattdessen versuchte sie aufzustehen und drehte den Kopf ein wenig. Aber auch das ließ sie gleich bleiben. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie musste sich wieder hinlegen. Sie stöhnte auf.

„Wasser.“, krächzte sie und wusste doch, dass sie keine Hilfe erwarten konnte. Selbst wenn er sie jetzt verstand. Er hatte seinen Standpunkt gestern sehr deutlich klar gemacht. Aber wo war Draco überhaupt, dachte Annie träge.

Bevor sie eine Antwort darauf finden konnte, hörte sie, wie etwas neben sie gestellt wurde. Müde und doch neugierig öffnete sie die Augen und sah auf einen Becher mit Wasser darin. Verwundert ließ sie ihre Augen nach oben wandern und blickte in Dracos Gesicht, der sie von oben herab ansah.

Wie passend, dachte sie kurz.

Stattdessen murmelte sie ein „Danke“ und richtete sich abermals langsam auf. Es wurde ihr zwar wieder schwindlig, aber sie war darauf vorbereitet gewesen und hielt entsprechend in ihrer Bewegung inne. Als sie es geschafft hatte, den Becher an ihre Lippen zu setzen, trank sie begierig das Wasser und spürte, wie es ihr gut tat.

Sie stellten den Becher wieder ab und ließ sie im Anschluss gleich wieder auf ihr bescheidenes Bett sinken, die Augen geschlossen und der Kopf scheinbar leer.
 

Draco hatte sie den ganzen Morgen beobachtet. Unruhig hatte sie sich hin und her gewälzt, als würde sie ihm Schlaf etwas schlechtes sehen und auch ihr Atem war nicht so regelmäßig wie sonst. Nun war es bereits Mittag und sie lag immer noch da. Etwas was Draco seltsam vorkam, holte sie um die Zeit doch schon längst frisches Wasser oder machte irgendwas anderes im Wald.

Aber auch nachdem er ihr das Wasser gegeben und sie es getrunken hatte, sah es immer noch nicht danach aus, als würde sie bald aufstehen. Vielmehr hatte Draco den Eindruck, dass sie weiter schlafen wollte.

Warum sollte sie das tun wollen?, fragte er sich und konnte ihr Verhalten nicht richtig nachvollziehen.

„Was ist mit dir?“, überwand er sich endlich zu fragen.

„Warum?“, antwortete sie kaum hörbar. Selbst die Bewegung ihrer Lippen kostete sie ungemeine Anstrengung.

Draco ärgerte sich ein wenig über diese Antwort. Sie beantwortet seine Frage nicht und außerdem, musste er noch einmal mit ihr Reden.

„Es ist fast Mittag. Sonst bist schon immer munter und holst Wasser.“

Bevor Annie eine Antwort in ihrem müden Geist formulieren konnte, wunderte sie sich noch wie gut er das Sprechen beherrschte. Hatte er das wirklich alles in so kurzer Zeit gelernt? Doch dann versuchte sie ihren Gedanken wieder auf eine Antwort zu konzentrieren und die Wörter zu ordnen.

„Ich fühle mich nicht gut. Ich kann heut kein Wasser holen.“

Er war sich nicht sicher, was der erste Teil ihrer Antwort bedeutete, aber sie hatte nicht die klare und reine Stimme wie sonst. Sie war rau und kratzig. Das Sprechen schien ihr schwer zu fallen und sie klang müde. All das beunruhigte ihn auf merkwürdige Weise. Noch bevor er sich dazu entschlossen hatte oder gar darüber nachgedacht hatte, beugte er sich zu ihr herunter und betrachtet ihr Gesicht. Er konnte sehen, wie blass sie war und wie ihr kleine Schweißperlen auf der Stirn standen.

Als Annie spürte, dass er sich ihr näherte, öffnete sie kurz die Augen und Draco konnte sehen, dass sie ausdruckslos waren und doch erfüllte sie ein seltsamer Glanz. Er streckte eine Hand aus und berührte sie, wollte er doch wissen, was das auf ihrer Stirn war. Kurz nachdem er sie aber berührt hatte, zog er seine Finger sofort wieder zurück. Es erschrak ihn, wie heiß sie war.

„Ich habe wahrscheinlich Fieber.“, erklärte Annie matt, die seine Reaktion sehr wohl bemerkte hatte. „Geh zum Bach und hole neues Wasser. Bitte“, flüsterte sie, bevor sie die Augen wieder schloss.

Draco sah sie stumm an. Warum sollte er das tun? Doch ein weiterer Blick auf Annie ließ ihn diesen Satz herunterschlucken. Es sah so aus, als würde ihm nicht anders übrigbleiben. Immerhin hatte sie sich auch um ihn gekümmert. Aber war das nicht schon lange her? Hatte er seine Schuld diesbezüglich nicht schon längst beglichen?

„Bitte.“, hörte er sie noch einmal wispern. Annie konnte ahnen, was in ihm vor ging. Aber sah er denn nicht, dass es ihr schlecht ging und sie dieses Mal seine Hilfe brauchte?

Draco atmete einmal scharf aus und erhob sich dann. Er nahm einen Krug aus dem Schrank und lief damit zum Bach. Er kannte den Weg und deswegen dauerte es auch nicht lange, bis er zurückkehrte.
 

Annie schlief noch nicht, als er wieder eintrat. Zu sehr hatte sie husten müssen, als dass sie hatte an Schlaf denken können. Er stellte den Krug Wasser vor sie und sah sie abwartend an.

„Gibt mir bitte ein Stück Stoff aus der Truhe.“, sagte sie dann und versuchte ihre Augen zu öffnen. Mühsam richtete sie sich noch einmal auf. Auch diese tat Draco, wenn auch nur wiederwillig.

Er reichte es ihr. Annie nahm das Tuch und tauchte es in den Wasserkrug. Dann rang sei es aus und ließ sie sich wieder auf den Rücken fallen. Das nun nasse Tuch, legte sie auf ihre Stirn und spürte gleich, wie die Kälte von ihrem Kopf aus, langsam durch ihren Körper kroch. Ihre Kopfschmerzen waren kurz darauf nicht mehr ganz so stark und sie merkte, wie sie langsam wieder einschlief.
 

Draco beobachtet ihr Handeln und begriff schnell, was sie tat und warum. Das Wasser war kalt und klar und es würde helfen ihren Kopf zu kühlen.

Er konnte beobachten, wie ihr Atem langsam wieder ruhiger wurde. Noch einmal öffnete sie die Augen und schien ihm etwas sagen zu wollen, da sich ihre Lippen bewegten. Genervt von dieser beinahen Verständlichkeit mit der sie sein Verstehen nun behandelte, beugte er sich zu ihr herunter.

„Danke.“, flüsterte sie und ihr heißer Atem streifte sein Ohr.

Als ihr heißer Atem sein Ohr berührte, durchflutete ihn plötzliches Kribbeln. Es war so heftig, dass ihm fast schwindelig wurde. Entsetzt wich er zurück.

Was war das?!

Noch so ein Gefühl, was er nicht kannte oder benennen konnte.

Sein Herz raste wie wild und sein Atem ging stoßweise.

Er versuchte es mit dem Gefühl vom Vortag zu vergleichen, doch er fand nichts, in dem sie sich vielleicht ähnlich waren. Schien das Gefühl gestern aus seinem Herzen gekommen zu sein, so kam dieses irgendwo tief aus einer anderen Stelle diese Körpers. Wollte das Gefühl gestern am liebsten den fremden Mann zerstören, so wollte dieses etwas anderes. Etwas was er ebenso nicht benennen konnte. Empfand der das andere Gefühl, als unangenehm, abstoßend und unkontrollierbar, so war es dieses Neue ganz und gar nicht. Wollte er das andere Gefühl nicht noch einmal verspüren, so begann er sich im Laufe des Tages beinah nach dem Neuem zu sehnen...
 

Am Abend erwachte Annie erneut und fühlte sich bereits wesentlich besser.

Sie fasste an ihre Stirn und nahm das Tuch herunter. Es war immer noch feucht und kalt. Hatte sie gar nicht so lange geschlafen? Hatte er ihr ein neues auf die Stirn gelegt?

Als sie kurz aus dem Fenster sah, sah sie, dass der Himmel bereits dunkler wurde. Sie hatte wohl wirklich lange geschlafen. Doch Annie merkte schnell, dass diese Gedanken ihre Kopfschmerzen wieder stärker werden ließ und beließ es erst einmal dabei.

Wieder versuchte sie sich aufzusetzen und ihr wurde nicht mehr schwarz vor Augen oder schwindlig. Anscheinend ging es ihr wirklich besser, dachte sie kurz.

Sie blickte sich einem Moment um und sah dann Draco in der hinteren Ecke der Hütte sitzen. Den Kopf gegen das Holz gelehnt und die Augen geschlossen.

War er etwa im Sitzen eingeschlafen? Sie bewegte sich etwas und das Stroh unter ihr raschelte. Doch Draco rührte sich nicht. Er schlief wirklich.

Stumm sah sie zu ihm und wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte? Sie fühlte sich zwar besser, aber sie würde dennoch lieber liegen bleiben. Trotzdem faszinierte sie seine schlafende Gestalt aufs neue.

Während sie ihn betrachtete, erinnerte sie sich auch wieder klar und deutlich an die Geschehnisse – an sein Sprechen.

Er hatte tatsächlich gesprochen! Er hatte sie getäuscht! Die ganze Zeit über konnte er sie verstehen und hat ihr nicht einmal geantwortet!

Aber er hat sich anscheinend um mich gekümmert, dachte sie im nächsten Augenblick. Das hätte er ja nicht tun müssen, wenn er sich mir gegenüber zu nichts verpflichtet fühlt. Ich möchte zu gern wissen, was er wirklich von mir denkt. Oder lieber doch nicht?

Annie schüttelte den Kopf. Sie musste es einfach akzeptieren und sich jetzt noch darüber zu ärgern, würde ihr auch nichts bringen. Das wusste sie.

Langsam stand sie auf. Auch wenn sie sich noch immer Müde fühlte, hatte sie das Bedürfnis sich zu bewegen.

Leise ging sie auf ihn zu und kniete sich vor ihn. Er schien einen friedlichen Schlaf zu haben. Diesmal fiel ihr auf, dass seine Haut nicht nur makellos rein und seltsam blass war, sondern auch irgendwie durchscheinende. Denn wenn sie genauer hinsah, konnte sie die kleinen feinen Äderchen unter seine Haut entdecken. Trotz ihres Ärger, den sie eigentlich noch immer auf ihn verspüren sollte, war er für sie einfach nur wunderschön und sehr zerbrechlich. Und auch seine Stimme, an die sie sich sehr genau erinnert, bestätigte sie darin. Sie war so wunderschön.

Plötzlich fing es in ihrem Hals an zu kratzen und Annie spürte, wie sie einem Hustenanfall nahe war. Sie versuchte ihn zu unterdrücken, hinunter zu schlucken, doch es gelang ihr nicht. Aber unter keine Umständen, wollte sie ihn wecken. Also ging sie schnell zur Tür und trat hinaus. Sie atmete die klare Abendluft und hoffte, dass sich das Kratzen beruhigen würde. Doch das tat es nicht. Sie konnte nicht mehr an sich halten und ließ dem Husten freien Lauf.

„Was machst du?“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sie fragen.

Als ihr Hals sich wieder ein wenig beruhigt hatte, drehte sie sich überrascht um und sah in Dracos fragendes Gesicht.
 

Eigentlich erwartete er, dass sie wieder laut werden würde, doch erst einmal sagte sie gar nichts. Dann zogen sich merkwürdigerweise ihre Mundwinkel nach oben und sie lächelte ihn an.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“, sagte sie und lächelte noch immer.

Ausdruckslos starrte er sie an. Hatte er verstanden, was ihre Worte bedeuteten?

„Ähm... Was ich meine ist... Also entschuldigen, ist, wenn man etwas getan hat, was einem-“

„Ich weiß was das ist.“, unterbrach er sie schroff.

Überrascht sah Annie ihn an. Hatte sie das Wort schon einmal benutzt? Möglich. Aber woher wusste er dann trotzdem, was es bedeutete?

„Geht es dir besser?“, war es nun er, der die Frage stellte und ihr gleichzeitig die Möglichkeit nahm, weiter darüber nachzudenken.

„Ja. Danke, dass du Wasser geholt hast. Ich fühle mich schon besser, aber ich glaube ich sollte mich wieder hinlegen. Hier draußen ist es doch noch zu kalt.“

Draco folgte ihr ohne ein weiteres Wort. Dieser Mensch war ihm einfach unbegreiflich. Er verstand sie einfach nicht.

Annie machte für sie beide einen Tee und anders als sonst erklärte sie Draco dabei, was sie tat und warum, auch wenn sie sich eigentlich ziemlich sicher war, dass er es wahrscheinlich auch so wusste. Seine Auffassungsgabe war wohl sehr groß und schnell, dachte sie, während sie wartete, bis das Wasser kochte. Dann reichte sie ihm einen Tonkrug und sie setzte sich auf ihre Schlafgelegenheit.

„Warum hast du nicht schon vorher was gesagt?“, wollte sie jetzt wissen. Draco sah sie wieder stumm an und es hatte nicht den Anschein, als wollte er wieder mit ihr sprechen.

„Draco, ich weiß, dass du mich verstehst. Ich habe dir immerhin dein Leben gerettet und mich um dich gekümmert! Du bist mir das schuldig!“, sagte sie und hoffte, dass wenigstens ihre Stimme selbstischer klang. Sie selbst, war es nämlich nicht.

Seine Augen funkelten, als er sie ansah und Annie hielt den Atem an. Wenn er ihr jetzt nicht antwortete, dann wohl nie mehr.

„Ich hatte keinen Grund dazu.“, sagte er schließlich und Annie rutschte das Herz in die Knie. Sie hatte nicht wirklich daran geglaubt. „Auch wenn du mein Leben gerettet hast, heißt das nicht, dass ich mit dir sprechen muss.“, war seine Antwort.

Annie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen und versuchte sich vorzustellen, dass das hier eine ganz normale Unterhaltung, wie jede andere war.

„Trotzdem war meine Wut berechtigt. Ich habe die ganze Zeit geglaubt, du würdest mich nicht verstehen. Ich dachte, du würdest mir vertrauen.“

„Was ist das?“

„Was?“, fragte sie irritiert.

„Dieses Vertrauen. Was ist das?“

„Ähm...“ Annie sah ihn sprachlos an. Was sollte sie denn darauf antworten? Wie definierte man „Vertrauen“? „Na ja... Vertrauen bezeichnet das Gefühl, wenn man sich auf eine andere Person verlässt, ihr glaubt und... uhm... vielleicht etwas mit sich geschehen lässt, was man sonst nicht tun würde und... ehm... wenn man davon überzeugt ist, dass das was der andere tut, schon irgendwie gut ist oder eine gute Wendung nimmt.“, stammelte Annie und fragte sich gleichzeitig, was sie da erzählte.

Draco versuchte ihr zu folgen, aber konnte es nicht richtig. Das alles ergab für ihn noch weniger Sinn. Dennoch berührte etwas seinen Gedanken, doch er konnte es nicht richtig greifbar machen.

„Wer war der Mann?“, fragte er sie weiter, ohne eine ihrer Fragen beantwortet zu haben.

„Mein Bruder.“, war ihre knappe Antwort. Sie sah in seinem Gesicht, dass er wieder nicht verstand. „Alexander ist mein Bruder. Wie haben die gleiche Mutter und den gleichen Vater. Er kennt mich schon von dem Zeitpunkt an, als ich geboren wurde. Wir sind eine Familie.“, versuchte sie es kurz zu erklären. Aber jetzt war sie es, die weiter fragte: „Warum hast du ausgerechnet da gesprochen?“

Draco schwieg einen Moment und rief sich noch einmal das Gefühl in Erinnerung.

„Ich weiß nicht. Mir wurde plötzlich ganz warm und ich habe nicht verstanden wer es war. Ich wollte ihn... Ich atmete schneller und...“

Annie überlegte einen Moment. Was wollte er ihr sagen? Was hatte er empfunden.

„Warst du wütend?“, versuchte sie es, doch dieses Wort schien er auch noch nicht zu kennen. „Man ist wütend, wenn man sich über etwas ärgert... wenn man etwas sieht oder etwas geschieht, was einem nicht gefällt. Dann wird einem schon ganz warm und man möchte am liebsten irgendetwas kaputt machen...“

Draco nickte kurz und wiederholte in Gedanken das Wort. Es war gut, dass er diese Emotion jetzt benennen konnte. Nun schien sie ihm nicht mehr ganz so fremd und beherrschend, wie zuvor.

„Ich war gestern wütend.“, nuschelte sie. „Tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe.“ Dann fasste sie sich kurz an die Stirn und schloss die Augen. „Ich glaube ich leg mich wieder hin. Die Kopfschmerzen werden wieder stärker.“

Sie stellte den Becher auf den Schrank und wollte sich gerade hinlegen, als sie ein lautes Grummeln vernahm.

Fragend sah sie Draco an.

„Hast du das gehört?“

„Ja.“

„Was-“

Wieder grummelte es. Diesmal stärker und lauter.

Annie sah ihn verwundert an.

Ein erneutes Grummeln.

Plötzlich brach sie in schallendes Gelächter aus.

„Haha... oh, man, dass kann ja wohl nicht wahr sein!“, rief sie dann aus und hielt sich den Bauch.

Verwirrt sah Draco sie an und fragte sich, ob etwas nicht mit ihr in Ordnung war.

Annie hingegen musste noch immer so sehr lachen, dass sie sich verschluckte und einen erneuten Hustenanfall bekam. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich wieder beruhigt hatte. Draco hatte sie die ganze Zeit angesehen und sich einmal mehr über die Natur der Menschen gewundert. Er würde sie nie verstehen.

„Draco, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“, brachte sie schließlich hervor.

„Gestern.“

Wieder musste sie lachen.

„Das Geräusch was du hörst, kommt aus dir.“

Sie blickte in ein fragendes Gesicht.

„Verstehst du nicht? Das, was du die ganze Zeit hörst, ist ein Magenknurren und man bekommt es, wenn man Hunger hat.“

„Ich habe Hunger?“, fragte er sie mit ernstem Gesicht.

„Ja!“ Wieder musste sie anfangen zu lachen. Das war einfach zu komisch!

„Wenn du etwas isst, wird es aufhören.“

Sie ging zu dem Schrank in dem sie die Lebensmittel lagerte und reichte ihm ein Stück Brot und ein Glas selbstgemachte Marmelade. Draco sah sie verständnislos an. Konnte es der menschliche Körper nicht einmal ohne Essen aushalten? Entstand bei Hunger dieses seltsame Geräusch und ließ seinen Bauch schmerzen?

Wie schwach.

„Hier, iss das. Ich werde mich jetzt wieder hinlegen.“, sagte sie und reichte ihm beides.

Er nahm es in die Hand und beobachtete sie, wie sie sich wieder in ihre Decke kuschelte. Anscheinend ging es ihr wirklich besser und seltsamerweise beruhigte ihn dieser Gedanke.

Die Liebenden

Nun, da Annie wusste, dass Draco sprechen konnte und sie verstand, redete sie fast ununterbrochen auf ihn ein. Es war ihr dabei sogar manchmal egal, ob er ihr antwortete – das tat er meistens sowieso nicht – aber sie freute sie zu wissen, dass sie jemanden hatte der ihr zuhörte, aber vor allem, dass er das, was sie sagte und erklärte auch lernte. Schnell hatte sie herausgefunden, dass Draco äußerst wissbegierig war und hin und wieder benutzte sie auch mit Absicht ein paar Wörter, von denen sie wusste, dass er sie nicht kannte und die sie ihm dann auch erklären musste.

Ihre Fragen aber beantwortete er so gut wie nie. Dabei gab es so viele Dinge, die sie wissen wollte. Von vier Fragen, die sie ihm eines Tages gestellt hatte, hatte er gerade einmal eine beantwortet.

Die erste Frage war gewesen, wie es sich anfühlte ein Drache zu sein.

Die zweite Frage war, wie er als Drache gelebt hatte.

Bei ihrem nächsten Versuch, hatte sie wissen wollen, wie alt er war und da hatte sie dann auch eine Antwort bekommen. Allerdings wusste sie nicht, ob ihr diese gefiel oder nicht.

Nachdem sie ihre Frage ausgesprochen hatte, hatte er einen Moment lang angesehen und sie dann gefragt: „Wie alt bist du?“

„Ähm... Neunzehn Jahre.“, hatte Annie auf diese unterwartete Frage geantwortet.

„Was sind Jahre?“, hatte er zurückgefragt.

„Ein Jahr besteht aus zwölf Monaten. Und ein Monat ist soviel wie ein voller Mond.“, hatte sie ihm erklärt.

Wieder sah er sie an und Annie hatte schon nicht mehr mit einer weiteren Antwort gerechnet. Sie hatte nicht vermocht zu sagen, was in seinem Kopf vorgegangen war, aber seine plötzliche Antwort hatte sie beinah schockiert.

„Ich habe den Mond so oft gesehen, wenn er am schönsten ist, dass ein Mensch es nicht zählen könnte.“, hatte Draco schließlich geantwortete.

Annie hatte ihn verwundert angesehen. Sie wusste nicht, was sie mehr überrascht hatte. Dass er den vollen Zustand des Mondes als schön bezeichnet hatte oder das es scheinbar eine solch lange Zeitspanne war.

„Was bedeutet das?“, hatte sie weiter gefragt.

Wieder sah er sie einen Moment an und Annie hatte zu wissen geglaubt, dass er überlegt, ob er ihr erneut antworten sollte.

„Als ich geboren wurde, gab es diesen Wald noch nicht.“, sagte er dann und Annie meinte für einen Moment, sein wahres Wesen in seinen Augen zu erkennen.

Dies war die Antwort, die ihr ein seltsames Gefühl vermittelte. Sie wusste, dass es diesen Wald seit mehr als 500 Jahren gab. Dieses Gebiet war seit dieser Zeit in Familienbesitz, aber auch bereits davor hatte es den Wald bereits gegeben – zumindest Ansätze davon. Sollte er wirklich so alt sein?, fragte sie sich fassungslos.

„Wie werden die Drachen geboren?“, hatte sie als nächstes gefragt, doch da hatte er ihr nicht mehr geantwortete, sondern den Blick abgewandt und war in den Wald gegangen.

Danach hatte Annie es lange nicht mehr versuche, näheres über ihn zu erfahren. Sie hatte das Gefühl, dass sich hinter der Grenze, die sie voneinander trennte, eine Welt verbarg, zu der sie keinen Zutritt haben durfte. Für die sie sich selbst noch nicht bereit genug fühlte. Also beließ sie es dabei. Dennoch konnte sie manchmal nicht umhin zu denken, dass er ihr trotzdem kleine Einblicke in seine Welt gestattete. Nicht unbedingt durch Worte, aber dann, wenn er sie ansah.
 

Inzwischen kehrte der Sommer ein. Es war Ende Mai und die Tagen war nun so war, dass Annie oft nicht richtig glauben konnte, dass sie vor wenigen Monaten noch überlegt hatte, wie sie den Winter am Besten überstand.

Für Draco war es der erste Sommer in dieser Gestalt. Auch wenn er diese Gestalt noch immer nicht richtig akzeptieren wollte, so war er doch fasziniert davon, wie schnell sich die Natur veränderte. Alles war immer grüner geworden und jeden Tag waren scheinbar neue Pflanzen aus dem Boden gesprossen. Außerdem war ihm so, als hätte sich der Wald an sich verändert. Es raschelte mehr in den Büschen und Bäumen, er hörte und sah mehr Tiere unterschiedlicher Größe. Doch diese waren schnell zu einem alltäglichen Erscheinungsbild geworden und nachdem Annie ihm erklärt hatte, wie man sie benannte, fühlte sich Draco zufriedener, hatte er doch wieder etwas gelernt. Trotzdem gab es für ihn so viel zu entdecken, zu sehen, zu hören und zu lernen, dass er darüber hinaus manchmal vergaß, was er eigentlich war und was er wieder sein wollte.

Es war ganz und gar nicht so, dass er als Drache nicht auch ein feines Gehör hatte, gute Augen, mit denen er auch kleine Lebewesen gesehen hatte. Aber es aus der Perspektive eines Menschen zu sehen, ließ alles so ganz anders erscheinen. So viel größer und eindrucksvoller, bewundernswerter. Als Drache war das nichts von Bedeutung für ihn gewesen. Es war etwas, was existierte, aber weit unter ihm. Kleiner und unbedeutender. Zudem schienen ihn auch die verschiedenen Gerüche zu überwältigen. Alles roch süßlicher und verführerischer.

So hatte er es niemals als Drache empfunden. Vielleicht hatte er sich geirrt, überlegte er bei einem seiner Streifzüge durch den Wald.

Von diesen Dingen aus betrachtet, war ihm sein menschliches Dasein weniger verhasst. Er lernte diese Dinge zu schätzen. Er konnte neue Erfahrungen machen und die Erinnerungen daran, würden nicht verloren gehen. Nicht so lange er lebte...

Noch immer ging er oft allein in den Wald, um seinen Gedanken nachzuhängen. Hin und wieder begleitet er Annie, die ihm immer etwas neues zeigen wollte. So hatte er unterschiedliche Pflanzennamen kennengelernt und auch die Früchte des Waldes, von denen sie einige sogar essen konnte. Ganz besonders aufgeregt war Annie gewesen, als sie ihm ein paar halb rote Früchte gezeigt hatte. Sie hatte ihm erklärt, dass es sich dabei um wilde Himbeeren und Erdbeeren handelte und dass sie nur noch ein paar Tage zu warten bräuchten, bis sie reif seien und sie die ersten essen konnten. Draco hatte nicht ganz verstanden, was daran so besonders sein sollte, doch ihre Freude machte ihn irgendwie selbst glücklich.

Von den unterschiedlichen Plätzen im Wald gab es einen, der ihm aber der Liebste war. Etwas was auch Annie bemerkte, denn immer häufiger traf sie ihn dort an. Es war der Teich, der fast in der Mitte des Waldes lag. Mit Eintreten des Frühlings und des Sommers, hatte die Bäume Knospen bekommen und als die Blätter gewachsen waren und sich das Sonnenlicht, welches von oben durch die Baumkronen fiel, darin brach, tauchten sie alles in ein leuchtendes Grün, welches er so noch nie gesehen hatte.

Die Bäume um den Teich standen in einem gewissen Abstand vom Ufer. Nur eine riesige Trauerweide stand direkt am Wasser. Es hatte nicht lange gedauert bis Draco herausgefunden hatte, dass sich unter den schützenden Zweigen und Blättern die flachste Stelle des Ufers befand, die direkt in den Teich hineinführte. Sie war moosbewachsen und im Schatten der Weide saß er oft an dieser Stelle und starrte auf die Wasseroberfläche. Annie glaubte, dass er die Fische beobachtet, aber sie irrte sich. Vielmehr sah er sein eigenes Spiegelbild an. Er wusste, dass er äußerlich ein Mensch war, doch was er in der glatten Oberfläche des Wassers erblickte, war nicht das Gesicht eines Menschen. Dies gab ihm die Sicherheit, dass er noch nicht verschwunden war.
 

Es war einer der ersten heißen Tage dieses Sommers, als Draco vor der Hütte saß und sich von der Sonne wärmen ließ. Annie war gerade in dem kleinen Hühnerstall und versorgte die Tiere, als plötzlich der fremde Mann auf der Lichtung stand, an dessen Gesicht sich Draco nur zu gut erinnern konnte. Er war der Grund dafür gewesen, dass er überhaupt gesprochen hatte. Sofort stand er auf und sah diesem Alexander direkt ins Gesicht. Wieder beschlich ihn dieses seltsam Gefühl, welches Annie damals als Wut bezeichnet hatte und er verstand nicht warum. Er wusste doch nun, wie die beiden zueinander standen.

Alexander stieg von seinem Pferd und betrachtete Draco misstrauisch. Er hatte diesen Mann noch nie gesehen und er konnte sich nicht erklären, warum er gerade hier war, wo doch niemand wusste, dass seine Schwester hier lebte, wo doch niemand weiter Zutritt zu diesem Wald hatte.

Alexanders braune Augen schauten in die von Dracos und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, denn das was er in dessen eisblauen Augen ganz klar erkennen konnte, war pure Feindseligkeit. Aber noch etwas anderes. Etwas was er nicht zu deuten vermochte, aber sein erster Gedanke war, dass es nicht menschlich war.

„Alexander! Du kommst mich ja doch eher besuchen!“

Annies Stimme riss die beiden Männer voneinander los und Alexanders Gesicht hellte sich sofort auf, als er seine Schwester wohlauf sah.

„Annie! Ich habe es doch versprochen!“, sagte er entrüstet und umarmte seine Schwester herzlich. Dracos Blicke konnte er dabei deutlich in seinem Rücken spüren und das machte ihm diesen Mann noch unsympathischer.

„Wie geht es dir?“, fragte er seine Schwester und versuchte den stechenden Blick zu ignorieren.

Annie hingegen war etwas verwirrt aber auch ängstlich, dass sich ihr Bruder und Draco anscheinend schon kennengelernt hatte. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass ihr Bruder wirklich so schnell zurückkommen würde. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was Alexander dachte. Noch dazu entging selbst ihr nicht der Blick, mit dem Draco ihn ansah.

„Gut, danke.“, sagte sie schließlich und wollte auf das zu sprechen kommen, was Alexander mitgebracht hatte, in der Hoffnung weitere Fragen zu umgehen, aber er kam ihr zuvor.

„Annie, willst du uns nicht vorstellen? Mir scheint du kennst ihn, wenn er hier vor deiner Hütte sitzt.“, fragte Alexanders höflich, aber die Missgunst konnte Annie bereits jetzt schon hören.

„Äh ja... Alexander, das ist... Draco. Er... war verletzt, als er unseren Wald durchquerte und ich habe mich um ihn gekümmert. Zum Dank hilft er mir ein bisschen, bis seine Schuld beglichen ist.“, antwortete sie. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust und sie hoffte, dass er ihr glauben würde. Gleichzeitig fragte sie sich aber selbst, warum sie ein schlechtes Gewissen bekam. Nichts davon war gelogen.

„Aha...“, sagte Alexander nach einer kleinen Pause. „Draco. Eine sehr seltsamer Name, nicht wahr?“ Diese Frage war an Draco selbst gerichtet und Annie fragte sich für einen Moment, ob er wohl antworteten würde.

Natürlich tat er das nicht.

„Ähm... er kommt nicht von hier.“, ging Annie hastig dazwischen. „Und er... spricht nicht.“, hängte sie an.

Das war nicht gerade etwas, was Alexander beruhigte. „Versteht er uns?“, fragte er seine Schwester weiter.

„Ja, sehr gut sogar.“ Jetzt löste Draco zum ersten Mal den Blick von Alexander und sah Annie an. Sie konnte seinen Blick nicht deuten, aber als seine Augen wieder zu Alexander wanderten, schienen sie regelrecht zu brennen - mit solch einer Intensität sah er ihn an.

„Eh... Alexander, warum hast du eigentlich zwei Ziegen dabei?“, fragte Annie und hoffte damit, ihren Bruder von Draco abzulenken. Für einen kurzen Moment gelang ihr das sogar.

„Oh, ich dachte mir, dass du dich vielleicht darüber freuen wirst. Sie geben sehr gut Milch und ich dachte mir, dass du vielleicht auch mal etwas anderes Essen willst, als immer nur Eier, Brot, Kartoffeln und was du sonst noch da hast.“, antwortete er und grinste sie breit an.

Annie verstand den Seitenhieb sehr gut, erwiderte aber nichts darauf. Sie sah kurz zu Draco, der die beiden Tiere interessiert musterte. Wahrscheinlich sah er zum ersten Mal Ziegen. Aber es erleichterte sie zu sehen, dass das Feuer aus seinen Augen verschwunden war und sie sich stattdessen mit Fragen gefüllt hatten. Er würde sie später auf jeden Fall danach fragen und dass er mit ihr sprechen würde freute sie.

„Außerdem habe ich noch gepökeltes Fleisch und ein bisschen Kuhmilch für dich. Anscheinend kannst du es ja brauchen.“, sprach Alexander und sah Draco erneut feindlich an.

Dieser bemerkte seinen Blick nicht einmal oder ignorierte ihn gekonnt, dachte Annie. Dabei entging doch niemanden so leicht, dieser Blick. Auch wenn ihr Bruder recht sanftmütig war, so konnte er doch sehr wütend werden und wenn er das einmal war, dann war er durchaus furchteinflößend. Annie hatte im Moment das Gefühl, dass Draco ihn sehr wütend machte. Allerdings schien das diesen nicht sehr zu interessieren.

Annie und Alexander brachten die Lebensmittel mit zu den anderen, in den zweiten Verschlag. Das Fleisch legte Annie in ein Holzfass, damit es kühl lagern konnte und die Milchkanne stellte sie erst einmal auf den Ofen. Im Sommer war dieser nie an und dort stand die Kanne auch niemanden im Weg. Die Ziegen konnten erst einmal draußen bleiben und grasen. So würden sie noch mehr Milch geben.

„Sollte er dir nicht helfen.“, stellte Alexander spitz fest, als Draco sie die ganze Zeit beobachtet hatte.

„Ja... er... er vertraut Menschen nicht sehr und er kennt dich auch nicht. Aber keine Angst, ich werde ihm schon sagen, was er zu tun hat, wenn du weg bist.“, sagte sie leicht und lächelte ihn an, um ihre Worte zu bekräftigen.

„Ich mag ihn nicht.“, sagte Alexander gerade heraus und Draco sah ihn sofort an.

„Alexander! Er kann dich verstehen!“, wies sie ihren Bruder zurecht. Es war ihr unangenehm, wenn er so über Draco sprach. Sie war froh, dass er ihr langsam zu vertrauen schien und sie wollte das auf keinen Fall durch solch eine Bemerkung verderben.

„Das soll er auch.“, antwortete ihr Bruder trocken.

„Ja, schon gut.“, wehrte Annie ab. Es würde nichts bringen Draco weiter zu verteidigen, so lange ihr Bruder nicht den wahren Grund für dessen Verhalten wusste.

Alexander musterte Draco noch einmal von Kopf bis Fuß. Irgendetwas gefiel ihm an diesem Menschen nicht, doch er konnte nicht benennen was es war. Vielleicht war es auch nur sein Aussehen, das ihn so fremdartig vor kam. Denn selbst er, als Mann konnte nicht anders, als zu denken, dass Draco eine gewisse Faszination ausstrahlte. Wunderschön und doch gleichzeitig so gefährlich, dass man Angst bekam.

Plötzlich beschlich ein andere Gedanke ihn. Was, wenn Annie dieser Faszination ebenso erlegen war? Was, wenn sie die Gefahr nicht bemerkte? Sie war eine Frau und noch dazu vollkommen allein im Wald. Es wäre ein leichtes für diesen Draco sie zu überwältigen, dachte Alexander mit Schrecken. Wie konnte seine Schwester nur so leichtsinnig sein!?

„Mir gefällt es nicht, dass er bei dir lebt.“. sprach er seine Gedanken so fort aus. „Du weißt nicht, zu was er alles fähig ist.“

Perplex sah Annie ihren Bruder an. Woran dachte er gerade? Doch da ging Alexander schon auf Draco zu und baute sich in voller Größe vor ihm auf. Draco hingegen blickte ihn verwundert an. Er fragte sich, was dieser Mann nun wollte aber vor allem, wann er endlich gehen würde.

Annie betrachtete das Schauspiel mit gemischten Gefühlen. Sie wusste, dass die zwei Männer nicht nur optisch starke Gegensätze waren - ihr Bruder massig und muskulös, sein Gesicht zeugte von Ernst und Autorität, während Draco dagegen fast wie ein unschuldiges, zartes Kind wirkte, was ihm weit unterlegen war. Aber es verwunderte Annie immer mehr, dass Draco nicht zurück wich. Sie hatte viele starke und mutige Männer gesehen, die sich mit ihrem Bruder hatten anlegen wollen und die allein schon bei diesem Anblick davon gelaufen waren. Verspürte er denn keine Angst?

In diesem Moment, verspürte Draco das wirklich nicht. Zu sehr war er noch immer mit dieser Wut beschäftigt, die ihn gefangen hielt. Er hatte das Gefühl sie würde ihn innerlich zerfressen. Die unverschämten Worte dieses Mannes hatten sie nur noch mehr angefacht und Draco musste sich zusammennehmen, dass er dieser Empfindung nicht noch einmal unterlag.

„Ich warne dich.“, sagte Alexander nun mit drohender Stimme. „Wenn du meiner Schwester auch nur das kleinste Bisschen zu nahe kommst, werde ich dich persönlich umbringen.“

Draco zuckte nicht einmal mit der Wimper und auch sonst war keine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Er schaute ihn einfach nur an. Etwas was Alexander nur noch mehr erzürnte.

„Mach dir keine Sorgen, Alexander. Das wird nicht passieren.“, ging Annie dazwischen, die die Worte ebenso gehört hatte und dabei leicht rot geworden war.

„Woher willst du das wissen?“, fragte dieser seine Schwester scharf.

„Er... Er würde so etwas nicht tun.“

„Warum nicht? Du lebst mit ihm allein. Niemand könnte dir helfen.“

„Weil...“ Annie sah kurz zu Draco und dieser schaute sie aufmerksam an. Anscheinend wusste er nicht so recht, worum es gerade ging, dachte sie kurz. „Vertrau mir bitte, ja? Ich weiß, was ich tue. Draco wird mir ganz sicher nichts tun und er wird auch nicht mehr lange bei mir bleiben. Vielleicht ist er das nächste Mal schon nicht mehr da, wenn du mich besuchen kommst.“, versuchte sie seine Gedanken zu zerstreuen.

Zweifelnd sah er seine kleine Schwester an.

„Bitte.“, hängte sie noch einmal an und Alexander konnte nicht mehr wiedersprechen. Sie hatte schon immer gewusst, was es brauchte, um ihn zu überzeugen.

„Wie du meinst. Aber ich werde jetzt noch öfter kommen. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Das musst du doch auch sehen.“

Annie erschrak einem Moment. Hatte er etwas gemerkt? Immerhin besaß auch ihr Bruder Magie.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“, antwortete sie lächelnd. „Was aber deine Besuche angeht, so würde ich mich sehr freuen, dich öfters zu sehen. Besonders, wenn du mir immer so etwas schönes mitbringst.“

Jetzt musste Alexander laut lachen. „Das ist typisch für dich!“, rief er aus und schien gleich besser Laune zu haben. „Wie du meinst. Ich habe mich gefreut dich wieder zu sehen.“, sagte er zum Abschied. Er umarmte seine Schwester noch einmal und stieg auf sein Pferd. Bevor er davon ritt, sah er Draco noch einmal warnend an. Dann stieß er seinem Pferd die Stiefel in die Flanken und er ritt davon.

„Gott sei Dank.“, stieß Annie erleichtert aus. „Du hättest ruhig etwas netter zu ihm sein können.“, beschwerte sie sich sofort bei Draco.

„Was meinte er?“, fragte dieser zurück und Annie stöhnte leicht auf. Warum nur umging er immer ihre Fragen und sie musste seine beantworten?

„Er hat nur Angst um mich. Er glaubt, dass du mir irgendetwas antun könntest, das du mir wehtun würdest, Schmerzen zufügst.“, erklärte sie knapp.

„Wenn ich das wollte, hätte ich es schon längst getan.“, sagte Draco sachlich und Annie wusste, dass er jedes Wort so meinte. Wieder einmal wurde ihr klar, dass er noch immer über ihr stand.

„Was hat er da alles mitgebracht?“, fragte Draco weiter.

„Das... Draco, wenn du willst, dass ich dir weiterhin Fragen beantworte, wirst du mir auch welche beantworten müssen.“, sagte sie schließlich. Vielleicht konnte sie ihn ja so ködern. Sie wusste, wie sehr er sich für wirklich alles interessierte. Warum war ihr das nicht schon früher in den Sinn gekommen?

Er schwieg eine Weile und sah sie ausdruckslos an. Er hasste es, wenn sie von ihm so etwas verlangte. Es bedeutete sich ihrem Willen zu beugen und doch musste er diese Antworten haben. Es würde ihm sonst keine Ruhe lassen!

„Was willst du wissen?“, sprach er schließlich.

Verblüfft sah Annie ihn an. Sie konnte kaum glauben, was sie gehört hatte.

Vor ein paar Wochen hätte er doch niemals so geantwortet, oder? Hatte er sich verändert und es war ihr noch gar nicht richtig aufgefallen. Vielleicht sah er sie ja doch nicht mehr von oben herab an, überlegte sie. Vielleicht ließ er sich nun doch auf dieses Leben ein, wenn auch nur ein bisschen.

Doch schnell schob sie diese Gedanken beiseite. Wenn sich jetzt schon einmal die Gelegenheit bot, würde sie sie auch nutzen. Fieberhaft dachte sie an eine Frage, die sie schon lange beantwortet haben wollte. Aber ihr fielen so viele ein, dass sie gar nicht wusste, welche sie als erstes stellen sollte. Dann erinnerte sie sich an seinen Blick, mit dem er ihren Bruder angesehen hatte und eine Frage kam ihr in den Sinn, die sie sich selbst noch nie gestellt hatte.

„Was denkst du über die Menschen?“

Draco neigte den Kopf ein wenig nach links, als würde er erst darüber nachdenken müssen, doch seine Antworte kam schnell und sicher.

„Sie sind schwach. Sie lassen sich von ihren Gefühlen lenken.“

„Was-“, meinst du damit, wollte Annie fragen, denn sie verstand es nicht ganz, doch Draco machte ihr schnell klar, dass ihre Frage bereits beantwortet war.

„Was hat er mitgebracht?“, fragte er sie erneut. Annie seufzte noch einmal, antwortete dann aber geduldig. Vielleicht hatte sie ja jetzt eine Möglichkeit gefunden, mehr über ihn zu erfahren. Sie war sich sicher, dass es noch viele Dinge gab, die sie erklären müsste.

Draco wollte alles sehr genau wissen und als Annie ihm dann erklärte, dass man aus der Milch auch Käse oder Butter machen konnte, sollte sie ihm dies ebenso erklären. Annie beschloss auf diese Erklärung zu verzichten und zeigte es ihm lieber und innerlich triumphierte sie ein wenig, dass sie Draco damit anscheinend faszinieren konnte und er sich mit ihr beschäftigte.
 

Am nächsten Tag wollte Annie ihm dann noch etwas anderes zeigen.

„Draco erinnerst du dich noch an die Himbeeren und Erdbeeren, die ich dir gezeigt hatte?“, fragte Annie ihn nach dem Frühstück.

Er nickte.

„Wir werden heute welche sammeln. Sie müssten inzwischen reif sein und dann werden wir sie mit der Milch essen, die wir noch haben.“, erklärte sie ihm.

Skeptisch blickte Draco sie an. „Sieh mich nicht so an. Du wirst sehen, dass schmeckt wirklich toll. Und du wirst mir helfen.“, machte sie ihm klar. „Die Beeren wachsen an unterschiedlichen Stellen im Wald und so geht es schneller. Na, los komm schon.“, sagte sie energisch, als Draco sich noch immer nicht erhoben hatte. Sie zog ihn am Handgelenk nach oben und Draco wehrte sich auch nicht. Etwas, was sie ebenfalls verwunderte. Manchmal wusste Annie nicht, wie weit sie bei ihm gehen durfte, aber anscheinend war diese Berührung inzwischen in Ordnung. Während des Winters hätte er sich nie so von ihr anfassen lassen. Er hatte sich wirklich verändert, griff sie den Gedanken vom Vortag noch einmal auf.

Sie liefen gemeinsam ein Stück im Wald, bis Annie stehen blieb.

„Geh du nach rechts und ich nach links. Weißt du noch, wo ich dir die Erdbeeren gezeigt habe?“, fragte sie ihn. Ein knappes Nicken war die Antwort. Annie sah, dass Draco diese Aufgabe nicht sehr gefiel, aber so lange, wie er es tat, wertete sie es als gutes Zeichen. Nur das warum, konnte sie sich nicht ganz erklären. Was hatte zu diesem plötzlichen Sinneswandel geführt oder ging das schon länger so?

Während sie nach links ging versuchte sie sich zurückzuerinnern. Wenn sie genau darüber nach dachte, dann kam es ihr so vor, als hätte sich sein Verhalten seit dem Tag geändert, als es ihr so schlecht gegangen war. Ein Umstand an dem er nicht unbeteiligt gewesen war. Damals hatte er Wasser für sie geholt und das feuchte Tuch gewechselt, dessen war sie sich sicher. Sollte es wirklich möglich sein, dass er einen Schritt auf sie zu ging? Aber warum?

Darauf fand sie keine Antwort und als sie die Himbeersträucher gefunden hatte, vergaß sie auch den Gedanken daran. Zu sehr musste sie sich zusammenreisen, um nicht alle Himbeeren selbst zu essen, denn sie waren wirklich verlockend rot und dufteten einfach verführerisch.
 

Draco fand die Stelle, die sie ihm gezeigt hatte schnell wieder. Die Pflanzen erstreckten sich in einem großen Umkreis auf dem Boden und trotz des Schattens, den die Bäume warfen, trugen sie doch reichlich Früchte.

Anders als Annie befand er, dass die kleinen roten Dinger, die da über dem Boden wuchsen, zwar ganz nett anzusehen waren und auch gut dufteten, aber mehr konnte er der Sache nicht abgewinnen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das man diese... Erdbeeren wirklich essen konnte und dass sie auch gut schmecken sollten. Als er eine weitere pflückte hielt er inne und betrachtete sie. Er sah die vielen kleinen Kerne, die die Frucht sprenkelten und wurde noch misstrauischer. Dann hielt er sie etwas näher und der Geruch stieg ihm noch intensiver in die Nase.

Schließlich überwand er sich dazu eine zu essen und seine Bedenken wurden so gleich zerstreut. Sie schmeckte herrlich süß und frisch und er konnte nun in gewisser Weise nachvollziehen, warum Annie sich so darauf gefreut hatte. Wieder etwas, was er als Drache nicht gekannt hatte.

So wie es Annie ihm vorher erklärt hatte, pflückte er nur die roten Früchte und ließ die anderen hängen. Schnell füllte sich der Korb, den er bei sich hatte und bald machte er sich auf den Weg zurück. Er wusste nicht, ob er mit Annie zusammentreffen würde, aber er kannte den Weg selbst. Wenn er sie nicht traf würde er noch etwas für sich sein können. Auch wenn er ihre Stimme mochte, ja sogar ihre Anwesenheit - wenn er es sich ehrlich eingestand - so war er doch gern für sich allein und hing seinen eigenen Gedanken und seinen Erinnerungen nach.

Auf seinem Rückweg musste er unweigerlich an dem Teich vorbei. Doch dieses Mal lag dieser nicht so ruhig und friedlich da, wie er es gewöhnt war, sondern... Draco glaubte seinen Augen nicht zu trauen... darin schwammen zwei Menschen.

Ruckartig blieb er stehen und beobachtete das Schauspiel. Sie schwammen ein paar Züge und immer wieder konnte er ein Lachen und Kichern hören. Anhand der Stimmen – die eine hoch und die andere tiefer – erkannte er, dass es sich wohl um eine Frau und einen Mann handeln mussten.

Es dauerte nicht lang und die beiden stiegen aus dem Wasser. Draco hielt den Atem an, als er sah, dass beide nackt waren. Jetzt konnte er seinen Blick noch weniger von diesen Personen lösen. In seinem Kopf gab es nur eine Frage, die nach Tausenden von Antworten verlangte: Warum?

Aber dann taten sie etwas, was ihn nur noch mehr verwirrte. Er beobachtete, wie der Mann, die Frau an sich zog, die Arme um sie legte und dann ihre Lippen mit den seinen berührte.

Der Frau schien das nichts auszumachen. Stattdessen legte sie die Arme um den Nacken des Mannes und zog ihn ebenso an sich. Sie ließen sich zu Boden gleiten. Die Frau lag im Frühlingsgras und der Mann war über sie gebeugt. Immer noch berührten sich ihre Lippen und sie seufzte kurz auf. Draco sah, wie seine Hände ihren nackten Körper entlang glitten und ihn sanft liebkoste. Dann lösten sich seine Lippen von den ihren, nur um sich gleich darauf auf ihren Hals zu setzen, diesen hinunter zu wandern, bis sie sich um die zarte Knospe ihres Busens schlossen.

Er hörte sie aufstöhnen und Gänsehaut überkam ihn. Noch nie hatte er von einem Menschen solch ein Laut gehört. Draco glaubte für einen Moment, dass die Frau Schmerzen empfand. Doch er musste sich irren, denn sie presste sich noch ein wenig mehr an den Männerkörper, während ihre Hände seinen Körper streichelten. Die Hände des Mannen berührten nun den Busen der Frau und diese warf den Kopf zurück. Erneut konnte Draco ein Stöhnen hören, dieses Mal kam es auch von dem Mann. Draco sah, wie sich der Mann auf sie legte und wieder ihren Mund küsste, lang und intensiv. Die Frau schlag die Beine um seine Hüften und die Arme um seinen Hals.

„Draco, was machst du da?“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich und erschrocken drehte er sich um. Annie erschrak bei seinem Anblick. Sein Gesicht verriet Angst und Verwirrung.

„Was ist denn los?“, fragte sie sofort besorgt und richtete nun den Blick auf die Stelle, die er die ganze Zeit beobachtete hatte. Wenn er sie nicht einmal gehört hatte, musste es ja etwas wichtiges sein.

Aber als sie wahrnahm, was er genau gesehen hatte und was sich gerade vor ihren Augen abspielte, lief sie so rot an, wie noch nie in ihrem Leben.

„Draco, dass kannst du doch nicht machen!“, zischte sie gleich darauf. Doch er sah sie nur fragend an. Plötzlich hörten sie ein lautes Stöhnen von beiden und unwillkürlich sahen sie erneut in die Richtung.

„Was-“

„Weg hier!“, rief Annie und packte ihn am Handgelenkt und nahm hastig beide Körbe auf. Sie ließ ihn nicht eher los, bis sie wieder bei der Hütte waren. Dort angekommen, konnte Annie immer noch nicht glauben, was sie da gerade gesehen hatte. Schwer atmend stellte sie die Körbe ab und versuchte den Anblick aus ihren Gedanken zu verdrängen.

„Was haben die da gemacht?“, fragte Draco sofort.

„Was?“, fragte Annie verständnislos zurück. Sie konnte ihm nicht ganz folgen. Sie war zu sehr damit beschäftig, das Ganze selbst erst einmal zu verdauen.

„Der Mann und die Frau. Was haben die gemacht? Warum... Warum haben sie diese Geräusche gemacht? Nur weil sie sich berührt haben?“

Das konnte doch nicht wahr sein!, schrie Annie in Gedanken. Sie hätte damit rechnen müssen! Wie zum Teufen sollte sie ihm so etwas erklären?!

„Tja, weißt du... ähm... also... ehm, dass ist... also, dass ist so...“, begann sie zu stottern. Konnte er sie nicht etwas anderes fragen?! Irgendwas?!, dachte sie verzweifelt. Annie holte tief Luft und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Vielleicht würde es genügen, wenn sie erst einmal mit den einfacheren Dingen anfing.

„Also, um genau zu sein: Die beiden haben sich geküsst.“, antwortet sie und hoffte inständig, dass er sich damit schon zu Frieden geben würde. Nebenbei widmete sie sich sehr intensiv ihren Erd- und Himbeeren, damit sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Sie füllte sie in eine große Schüssel und goss dann Wasser darüber.

„Geküsst?“ Draco stellte sich neben sie und versuchte ihr in die Augen zu sehen. Annie richtete ihren Blick stur auf die Erd- und Himbeeren, damit sie ihn nicht ansehen musste. „Was ist das? Warum und wie?“

Annie holte tief Luft. Ihr würde es nicht erspart bleiben. „Also ein Kuss ist, wenn sich die Lippen von zwei Menschen berühren. Meistens tut man es, wenn man sich liebt.“ Gab er jetzt vielleicht Ruhe?

Draco schwieg einen Moment und schien über ihre Antwort nachzudenken. Das hatte er beobachten können und das nannte man also einen Kuss, dachte er. „Was ist Liebe?“, war seine nächste Frage.

„Ach Gott!“, rief sie resignierend aus. „Du stellst Fragen! Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es dafür eine Erklärung gibt. Ich war noch nie verliebt. Wenn man jemanden liebt, dann hat man ihn sehr gern. ... Es heißt Liebe sei ein Gefühl, das dich unglaublich glücklich macht und du die Person, die du liebst, die ganze Zeit bei dir haben möchtest. Man will ihr nah sein, sie berühren und sie eben auch küssen. So, wie es die beiden am See gemacht haben.“

Wieder dachte Draco einige Sekunden über diese Antwort nach. Er wusste jetzt zwar, was Liebe war, aber unter einem Kuss konnte er sich immer noch nichts vorstellen.

„Wie fühlt sich ein Kuss an?“

„Du gibt’s wohl niemals ruhe, was?!“ Annie rollte kurz die Augen und schaute ihn verschmitzt lächelnd an. Etwas in seinem Herzen regte sich, doch Draco ignoriert es.

„Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich noch nie verliebt war und somit auch noch niemanden geküsst habe. Das ist eine Erfahrung, die jeder für sich selbst machen muss.“

Annie säuberte weiterhin ihre Früchte und glaubte nun, dass sich Draco damit zufrieden gab. Von dem, was die beiden noch gemacht haben, wollte sie lieber gar nicht erst anfangen. Das würde sie nicht so einfach erklären können, da war sie sich sicher.

„Muss man dabei keine Kleider tragen?“, wollte er als nächstes wissen.

Perplex sah Annie ihn an. Er bedachte wirklich alles.

„N-Nein.“, antwortete sie unsicher. „Man kann dabei auch Kleidung tragen. Dann ist es immer noch ein Kuss. Wenn man sich sehr, sehr gern hat, dann kann man es auch ohne Kleidung machen.“

Erneut trat Schweigen ein und Annie hoffte wirklich, dass es dieses Mal dabei bliebe. Konnte er sie nicht noch etwas über den Wald oder die Tiere fragen? Egal was, nur nicht das!

„Sollen wir uns küssen?“

Vor lauter Schreck verschluckte sich Annie an der Erdbeere, die sie sich gerade genüsslich in den Mund geschoben hatte. Sie musste so sehr Husten, dass ihr die Tränen kamen und nur langsam konnte sie sich beruhigen. Sie hatte sich gerade verhört! Ganz bestimmt hatte sie sich verhört, redete sie sich ein.

„Was?!“, fragte sie deshalb noch mal nach.

„Sollen wir uns küssen?“, fragte er noch einmal und so, als wäre es etwas selbstverständliches. Es war ihm ernst mit dieser Frage, das konnte sie sehen.

„Wie kannst du mich das fragen? Ich habe dir doch gesagt, dass man das nur macht, wenn man sich sehr mag.“, fragte sie ihn nun mit leicht vorwurfsvollem Tonfall. Seine Ehrlichkeit war etwas was ihr eigentlich gefielt, aber im Moment fragte sie sich wirklich, ob er wusste, was er sie da gefragt hatte.

„Aber ich mag dich.“

Nun schaute sie ihn nur noch vollkommen entgeistert an. Noch nie hatte er so etwas in der Art gesagt, geschweige denn sie irgendwie spüren lassen. Annie wusste gar nicht was sie darauf erwidern sollte, so überrumpelt war sie von diesem Geständnis. Aber was für eine Bedeutung hatte es für ihn?, fragte sie sich. Sie wusste es nicht und wahrscheinlich wusste er das nicht einmal selbst.

„Lass uns jetzt die Beeren essen, solange sie noch frisch sind.“, sagte sie schließlich und lächelte ihn an.

Verwundert sah Draco ihr hinterher. Warum hatte sie seine Frage nicht beantwortet? Er hatte angenommen, dass ein Kuss etwas schönes war oder etwa nicht? So zumindest sah es bei den beiden so aus und warum sollte man es sonst tun? War es denn wirklich nur ein Kuss, den die beiden am See austauschten? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich hinter so einem kurzen Wort, solch eine Handlung verbarg. Schweigend folgte er ihr in die Hütte, doch der Gedanke daran ließ ihn auch in den nächsten Tagen nicht los.

Himbeerlippen

Die Tage vergingen und Draco hatte sie nicht wieder auf das Pärchen am See angesprochen. Somit glaubte Annie, dass er sich mit ihren Antworten zufrieden gab und sie hatte auch nicht die Absicht, von sich aus noch einmal davon anzufangen. Doch seine Ehrlichkeit, die er in diesem Moment gezeigt hatte, seine Worte, nagten regelrecht an ihr.

Er mochte sie! Sie konnte es nicht glauben. Sie konnte sich genau daran erinnern, wie er es gesagt hatte, wie seine Stimme geklungen hatte und wie sein Gesichtsausdruck dabei war. Es war wirklich passiert. Sie wusste es. Sie war dabei. Es war real...

Trotzdem konnte sie es einfach nicht wahrhaben. Auch wenn sie es sich noch so oft in Erinnerung rief. Dass er sie mögen könnte, würde und nun sogar tat... Das hätten sie aus seinem Verhalten, welches er ihr bisher größtenteils entgegengebracht hatte, niemals vermutet. Sie wäre nicht im Traum darauf gekommen.

In Momenten in denen sie es aber glauben konnte, hüpfte ihr Herz wie wild in ihrer Brust und sie hatte das Gefühl, es könnte jeden Moment herausspringen. Doch das war noch nicht so schlimm, wie der Schwindel und die Atemnot, die sie überfielen, dachte sie an seine Frage nach einem Kuss. Aber auch dies konnte noch schlimmer werden, sah sie ihn bei dem Gedanken daran an.

Draco selbst hatte den Gedanken an einen Kuss noch nicht verloren. Er hatte ihre Erklärung verstanden, das war ohne Zweifel. Dennoch... er konnte nicht verstehen, wie so ein kleines Wort, so... sein konnte, dass es so etwas bedeutete, wie er beobachtet hatte. Hatte sie ihm wirklich die Wahrheit erzählt? Er wusste es nicht. Er musste sich darauf verlassen, was sie ihm sagte und doch... Er wollte es selbst erfahren. Er wusste zwar, wie ein Kuss entstand, aber ihre Erklärungen konnten ihm nicht sagen, wie sich ein Kuss anfühlte. Sie selbst hatte es noch nicht erlebt, wie sie gesagt hatte. Aber wie fühlte es sich an?, ging ihm diese Frage zum wiederholten Male innerhalb weniger Tage durch den Kopf. Und mit jedem Tag, der verging wuchs seine Ungeduld und Neugier darauf.

Draco hasste sich selbst dafür.

Er wusste, was es bedeutete, wenn er eine Antwort haben wollte. Er würde sie... Einem Menschen so nahe zu kommen, das war einfach... Nein, dass konnte er nicht! Allein die Vorstellung daran, war ihm zu wider. Auch wenn er sie vielleicht danach gefragt hatte. Er hatte nicht darüber nachgedacht, war sich der Bedeutung nicht bewusst gewesen, anders als jetzt. Meist war er froh, dass sie es nicht getan hatte. Aber die Momente, in denen seine Neugier und Wissbegierigkeit so sehr anstieg, in denen ihm egal war wie ein Kuss entstand, wurden immer häufiger. So schlecht kann ein Kuss nicht sein oder? Die Menschen am See schienen es doch genossen zu haben.

Noch gelang es ihm, sich zurückzuhalten und wieder daran zu denken, was und wer er war und vor allem was es für ihn bedeuten würde, würde er so... menschlich werden.
 

Nicht nur die Tage wurden immer wärmer, sondern auch die Nächte. An manchen war es bereits so Schwül, dass sie beide unruhig schliefen. Auch wenn sich in den letzten Monaten viel verändert hatte - besonders die Beziehung zwischen Annie und Draco - gab es eine Sache, die auf unerklärliche Weise gleich geblieben war: Draco und Annie schliefen immer noch jede Nach beieinander.

Auch wenn es in den Nächten schon lange nicht mehr so kalt war, wie im letzten eiskalten Winter, legte Draco auch jetzt noch neben sie, wenn sie eingeschlafen war. Wenn Annie am nächsten Morgen erwachte, lag er hin und wieder noch neben ihr und schlief länger. Dann verbrachte sie die Minuten damit ihn anzusehen und wenn er erwachte und sie ihn seine eisig blauen Augen blickte – etwas, was ihr nach dieser einen gewissen Frage immer schwerer fiel -, war es nicht mehr Feindseligkeit, die sie darin sah. Ihr war als würde sie ein wenig hinter diese Maske schauen, die er so sorgfältig aufrechterhalten hatte und sie sah etwas von seinem wahren Wesen. Ein sanftes Wesen, dachte sie beim ersten Mal.

Auch jetzt, wo die Nächte heiß und schwül waren, verbrachten sie also Seite an Seite. Es war als könnten sie gar nicht mehr ohne den anderen die Nacht verbringen.

Doch in der heißesten Nacht, die es bisher in diesem Sommer gab, schlief Annie so unruhig, dass sie mitten in der Nacht erwachte und sich verschlafen umblickte. Sie schlug die Decke zurück, damit sich ihr Körper abkühlen konnte. Sie schloss dabei die Augen und lauschte den Geräuschen der Nacht. Sie hörte hin und wieder einen Uhu und was sie am meisten erfreute und die Unterbrechung des Schlafes vergessen ließ, eine Nachtigal. Ihr Klang war herrlich und rein und ein wenig verwunderte es Annie, dass der kleine Vogel jetzt noch sang. Aber sie genoss es umso mehr.

Sie wollte Draco wecken, damit er auch in den Genuss dieses Singvogels kam, doch als sie sich umdrehte, musste sie feststellen, dass Draco nicht neben ihr lag. Verwundert richtete sich Annie auf und sah sich in der Hütte um. Das Licht des Vollmondes fiel nur spärlich durch das kleine Fenster und doch reichte es, um zu erkennen, dass Draco überhaupt nicht in der Hütte war.

Annie stand auf und trat nach draußen. Gleich neben der Tür, an das Holz gelehnt, sah sie Draco sitzen. Er starrte zum Mond.

„Draco, was machst du hier? Konntest du auch nicht mehr schlafen?“, sprach sie ihn mit gedämpfter Stimme an Sie setzte sich neben ihn und sah ebenfalls zum Mond. Er war wunderschön und Annie erinnerte sich an Draco Ausdruck, ‚wenn der Mond am schönste ist’.

Er schien ihr Anwesenheit nicht einmal zu bemerken. Unverwandt schaute er nach oben. Erst als sie ihn nach wenigen Minuten sanft am Arm berührte, schien er aus seiner... Trance, hätte sie es wohl genannt, zu erwachen.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. Im ersten Moment war sein Blick noch verschwommen, so als würde er sie gar nicht sehen, doch das verschwand schnell.

Er nickte kurz uns sah dann wieder nach oben.

„Warum siehst du den Vollmond an?“, fragte sie erneut. Allerdings wollte er im Moment keine eigene Frage beantwortet haben, also machte sie sich nicht allzu große Hoffnungen auf eine Antwort.

„Es erinnert mich an etwas.“, antwortete er doch zu ihrer großen Überraschung.

„An was?“

„Warum ich bin.“

Verständnislos sah Annie ihn an. Was sollten diese Worte bedeuten? Sie wusste es nicht.

„Draco, was...“, wollte sie fragen, doch ihre Gelegenheit war vorbei.

„Annie...“, sprach er sanft und ihr Herzschlag setzen für einen Moment aus. Das war das erste Mal, dass er sie beim Namen genannt hatte und dann auch noch auf diese Art und Weise... „Dieser Kuss... sind die Menschen, die einzigen Wesen, die das tun?“, fragte er sie nachdenklich und sah erneut zum Mond.

Jetzt war sie noch perplexer. Sie hatte geglaubte und gehofft, dass dieses Thema bereits abgeschlossen sei. Dass er immer noch darüber nachdachte und anscheinend so intensiv, überraschte sie sehr.

„Ehm... Nein, ich denke nicht.“, antwortete sie zögerlich. Sie musste selbst erst einmal über eine Antwort nachdenken. Jetzt blickte er sie direkt an und schien auf weitere Erklärungen zu warten. „Die Menschen... sind die einzigen Wesen, so weit ich weiß, die die Lippen nutzen, um sich zu küssen. Aber auch die Tiere küssen sich auf eine gewisse Art und Weise.“

Verwirrt sah er sie an. Er konnte ihr nicht ganz folgen.

„Die Wildkatzen oder Wölfe, die du schon gesehen hast, küssen sich, indem sie sich mit ihren Nasen berühren. Bei Vögeln entsteht ein Kuss durch das gegenseitige Berühren der Schnäbel. ... Küsse gibt es also überall. Es ist nicht nur eine Eigenart der Menschen.“

Mit undefinierbarem Blick sah er sie nun an und Annie beschlich ein seltsames Gefühl. Trotzdem konnte sie regelrecht sehen, wie er über ihre Worte nachdachte. Doch worüber genau, dachte er nach? Das vermochte sie nicht zu beantworten oder zu erahnen.

Ohne ein weiteres Wort erhob sich Draco und ging wieder in die Hütte. Annie folgte ihm und sah, wie er sich wieder hinlegte. Dieses Mal auf seinen Schlafplatz und Annie fühlte dabei einen Stich in ihrem Herzen. Sie wollte die Nacht nicht ohne ihn an ihrer Seite verbringen. Seit er neben ihr schlief, fühlte sie sich nachts so sicher, wie noch nie zuvor. Auch wenn sie vorher allein gelebt hatte, des nachts hatte sie immer so ein seltsames Gefühl beschlichen, war sie doch am schutzlosesten, wenn sie schlief.

„Draco?“, fragte sie leise.

Er antwortete ihr nicht, also sprach sie weiter. „Darf ich mich neben dich legen?“

Annie hörte, wie er scharf ausatmete. Sie sah schließlich ein kurzen Nicken, was sie als ja deutete. Leichtfüßig legte sich sie neben ihn und wusste nicht, was sie davon halten sollte, als er ihr den Rücken zudrehte.

Draco wollte eigentlich für sich sein. Seinen Gedanken nachhängen, denn das, was er gerade erfahren hatte, veränderte seine Sicht der Dinge. Es war nicht nur eine Unart der Menschen, sondern etwas, was alle Wesen zu teilen schienen...
 

Obwohl er die ganze Nacht nicht hatte richtig schlafen können, erwachte Draco früh. Die Vögel sagen bereits ihr Morgenlied und dies machte es ihm unmöglich weiter zu schlafen. Normalerweise mochte er den Gesang der Vögel, doch an diesem Morgen empfand er ihn als lärmend. Müde drehte er sich um und öffnete langsam die Augen. Er schaute direkt in Annies schlafendes Gesicht.

Das, was sie ihm gestern erzählt hatte, war der Grund gewesen, warum er nicht hatte schlafen können. Nicht nur die Menschen verhielten sich so...

Die ganze Nacht hatte er darüber nachgedacht und wenn er sich richtig besann, wenn er sich erinnerte, dann gab es auch unter seines Gleichen so etwas wie einen Kuss. Nicht mit der Nase oder den Lippen, aber es war vergleichbar mit der Geste, wenn sie ihre Köpfe aneinander schmiegten. Es bedeute Zuneigung, und in der Sprache der Menschen wohl Liebe. Aber er selbst hatte so etwas noch nie erlebt.

Er betrachtete ihr schlafendes Gesicht und richtete sich ein wenig auf, um es besser sehen zu können. Er beobachtet ihren Schlaf. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, die weichen Züge und die samtene Haut, bis er schließlich an ihren Lippen hängen blieb. Wie so oft in den letzten Tagen, wenn er sie angesehen hatte, ohne das sie es bemerkt hatte.

Ihre Lippen sind so wunderschön und rot. Sie haben fast die Farbe von Himbeeren. Schmecken sie dann auch wie Himbeeren?, fragte er sich.

Vorsichtig streckte er einen Arm aus und seine Finger nährte sich ihren roten Lippen. Doch bevor er sie berührte, zog er seine Hand zurück. Er hatte Angst, dass diese Geste sie aufwecken könnte und das wollte er auf keinen Fall. Also sah er sei weiterhin an. Ihre Lippen sahen sanft und weich aus. Abermals fragte er sich, wie es sich anfühlen mochte, wenn er sie mit den seinen berührte, wenn er sie küsste. Würden sie wirklich so weich sein, wie sie aussahen? Wie würde es schmecken? Wirklich nach Himbeeren, wenn sie doch die gleiche Farbe hatten? Was würde er fühlen, wenn er es tat? Was würde er denken? Was würde mit ihm geschehen?

Ohne es zu bemerkten, hatte er sich ein wenig mehr über sie gebeugt, war ihrem Gesicht ein Stück näher gekommen. So nah, dass er sogar ihren Atmen auf seiner Haut spüren konnte und ein kleines Kribbeln ihn durchfuhr. Draco erinnerte sich, wo er dieses Kribbeln schon einmal gespürt hatte. Damals als sie krank war, und ihm ins Ohr geflüstert hatte. Es war weit intensiver gewesen und hatte sich rasch über seinen gesamten Körper ausgebreitet. Wenn er sich ihr noch ein wenig mehr näherte, würde er es dann wieder spüren können? Genauso intensiv?

Er wollte es herausfinden und beugte sich noch ein Stückweiter nach unten.

Doch als er realisierte, was er im Begriff war zu tun, hielt er abrupt inne.

Was tue ich hier eigentlich?! Ich bin kein Mensch!

Ruckartig stand er auf und verließ die Hütte. War er wirklich gerade im Begriff gewesen, sich einem menschlichen Gefühl hinzugeben? War er wirklich darauf aus gewesen, ein menschliches Gefühl hervorzurufen, weil es ihm gefiel?!

Unmöglich.

Er war kein Mensch! Er sollte nicht darüber nachdenken, ganz egal, wie sehr seine Neugier ihn trieb!

Draco lief geradewegs zum See, zu der Stelle unter der Weide, die er schon so oft besucht hatte. Sofort sah er auf die Wasseroberfläche und was er erblickte, war noch immer nicht das Gesicht eines Menschen. Das beruhigte ihn. Noch hatte er sich selbst nicht verloren und so lange, wie er diesem Verlangen und Gefühlen nicht nachgab, sich nicht von ihnen lenken ließ, würde das auch nicht geschehen. Das Jahr von dem Annie sprach, musste bald umsein. Er brauchte also nicht mehr lange zu warten. Nur noch ein bisschen.

Nach einer Stunde, in der er diese Gedanken immer wieder in seinem Kopf herumgewälzt hatte, kehrte er zurück und fand Annie dabei vor, wie sie das Frühstück bereitete.

„Wo warst du denn?“, fragte sie und sah kurz zu ihm, als sie ein paar Tonteller aus dem Schrank nahm.

„Am See.“, antwortete er kurz und sah sie aber nicht an.

„Bei dem Wetter muss es dort ja noch recht kühl sein. Die Bäume stehen eng zusammen und geben viel Schatten. Vielleicht sollten wir dort den ganzen Tag verbringen. Ich könnte dir das Schwimmen beibringen.“, plapperte sie fröhlich, ohne den Unterton in seiner Stimme bemerkt zu haben.

Sie bekam ein Brummen als Antwort, was sie aber nicht weiter beachtete. Immerhin antwortete er ihr auf diese Art häufiger.

Aber Annie brachte ihm nicht das Schwimmen bei. Nicht an diesem Tag. Nach dem Frühstück legte sich Draco gleich wieder hin und bedeckte die Augen mit seinem Arm. Er war erschöpft von der schlaflosen Nacht und den wirren Gedanken, die am Morgen seinen Kopf beherrscht hatten. Zudem kehrten sie in ihrer Anwesenheit ständig zurück und hämmerten mehr gegen die Oberfläche seines Kopfes, als wenn er allein war. Sein Kopf schmerzte und sogar ihre Stimme wurde ihm an diesem Tag zu viel. Er antwortete ihr kaum und war dankbar, wenn sie die Hütte verließ.

Annie wunderte sich schon über sein Verhalten, aber sie hatte inzwischen gelernt, dass es manchmal einfach besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Zwar fragte sie sich was geschehen war, dass ihn so verstimmte oder ob sie vielleicht etwas getan hatte, was Schuld daran hatte, doch sie konnte es sich einfach nicht erklären. Also beließ sie es dabei.
 

Den ganzen Tag verbrachte Draco in der Hütte und Annie fragte ihn hin und wieder, ob alles in Ordnung sei, doch sie bekam keine Antwort. Am Abend legte sie sich schlafen und überlegte, ob Draco sich wohl wieder neben sie legen würde, so wie er es in den vergangenen Monaten getan hatte. Aber er lag noch immer auf seiner Schlafstelle und rührte sich nicht. Sie hatte das Gefühl, dass sie in dieser Nacht ohne ihn einschlafen müsste und den Gedanken daran, mochte sie nicht sehr.

Draco hatte auch nicht die Absicht diese Nacht neben ihr zu verbringen. Er musste erst dieses Verlangen verschwinden lassen, diese Gedanken abschütteln, bevor er noch etwas tat, was er vielleicht verfluchte. Außerdem hatte er die Befürchtung, dass er wieder so handeln könnte, wie am Morgen und er sich dann nicht zurückhalten könnte. Denn irgendwo, in einer winzig kleinen Stelle seiner Gedanken, bereute er, dass er es nicht getan hatte. Doch das versuchte er noch stärker zu verdrängen.
 

Am nächsten Morgen ging Draco direkt zum See, ohne dass er sie noch einmal angesehen oder geweckt hatte. Er blieb am See sitzen und starrte auf die Wasseroberfläche, um dort vielleicht ein paar Antworten auf seine Fragen zu finden und das Bild was er dabei sah, half ihm sein Verlangen zu unterdrücken. Aber er wusste, dass es ihm nur so lange möglich war, wie er sich selbst – sein altes Selbst – als Spiegelbild sah. Wenn er zurückkehrte, würde es anders sein. Dann würde es von neuem beginnen. Aber wie konnte er es gänzlich stoppen? Er beobachtete gerade eine Libelle, die seinen Blick kreuzte und nun um ihn herum schwebte, als er etwas im Gehölz knacken hörte. Draco drehte sich um und sah Annie, die auf ihn zukam.

„Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finden würde.“, sagte sie und schenkte ihm eines der Lächeln, die sein Herz ein klein wenig höher schlagen ließen. „Warum hast du mich nicht geweckt?“

Sie stellte sich neben ihn und sah ebenfalls einen Moment auf die Wasseroberfläche. Annie aber sah nur das Bild zweier Menschen, die sich darin spiegelten. Noch einmal lächelte sie ihn an und raffte dann ihr Kleid ein wenig nach oben. Draco beobachtete sie und fragte sich, was sie jetzt schon wieder machte. Annie verließ das Ufer und ging wenige Schritte in den See hinein.

„Und du willst wirklich nicht, dass ich dir das Schwimmen beibringe?“, fragte sie ihn und ging noch ein Stück weiter. Das kalte Wasser war nach so einer weiteren schwülen Nacht einfach herrlich auf ihrer Haut. Auch wenn sie sich würde umziehen müssen, aber ein paar Runden im kühlen Nass erschienen ihr zu verlockend.

„Das ist wieder ein herrlicher Morgen, findest du nicht?“, redete sie weiter und das Wasser reichte ihr nun schon bis zu den Knien. „Ich wünschte es könnte immer so sein. Nur in den Nächten könnte es etwas kühler sein.“

Draco schwieg und Annie ging tiefer in den See hinein. Solange bis ihr das Wasser bis über die Hüften reichte. Würden sie weiter gehen, könne sie nicht mehr stehen und würde schwimmen müssen.

„Komm doch rein?“, fragte sie ihn noch einmal, aber Draco schüttelte nur leicht den Kopf.

„Ach komm schon.“, sagte sie bittend und sah ihn mit großen Augen an. Er erwiderte ihren Blick stumm und fragte sich, warum sie es nicht einfach bei einer Antwort bleiben lassen konnte. Doch während er sie ansah, bemerkte er nicht, wie sich ihre Hände mit Wasser füllten und ihn im nächsten Augenblick damit bespritzte.

Als das Wasser ihn traf, sah er sie überraschte an. Doch dieser Blick änderte sich schnell in einen wütenden Ausdruck.

„Nun schau nicht so. Es ist nur Wasser und es ist nicht einmal besonders kalt.“, sagte sie keck. Sie wusste nicht warum oder wieso, aber an diesem Tag war sie sehr übermütig. Vielleicht reichte es ihr auch einfach nur, dass er sich seit gestern so seltsam benahm. Noch einmal bespritze sie ihn mit Wasser und sein Blick wurde stechender.

Vielleicht hatte sie es doch übertrieben.

Ohne ein Wort zu sagen, erhob sich Draco und ging ebenfalls in Wasser. Er ging auf sie zu und Annie war so von seinem Blick gefesselt, dass sie sich nicht zu rühren vermochte. Sie spürte nur, wie er sie plötzlich nach oben hob und sie weiter in den See hineintrug. Erst da wurde ihr klar, was er vorhatte.

„Draco lass mich runter! Das kannst du doch nicht machen!“, sagte sie schnell. „Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich dich nass gemacht habe, aber dass...“ Sie versuchte sich noch an ihm festzuklammern, aber genau in diesem Moment ließ er sie los. Annie spürte wie die Wassermassen ihren Körper umschlossen und mit einmal war sie vollkommen durchnässt. Ihr hatte zwar der Sinn nach ein wenige Abkühlung gestanden, aber bestimmt nicht so.

Sie kämpfte sich an die Wasseroberfläche zurück und tat sofort ein paar tiefe Atemzüge. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie sah wie er das Wasser wieder verlassen wollte, doch so leicht würde er ihr nicht davon kommen. Sie watete durch das Wasser, bis er in ihrer Reichweite war und dieses Mal holte sie so weit mit dem Armen aus, dass sie eine recht große Welle zustande brachte, die ihn genau traf. Seine Haare und der Rücken waren nun ebenfalls nass, wie sie zufrieden feststellte.

Doch als er sich dieses Mal umdrehte, war seine Miene hart und undurchdringlich. Annie erkannte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Noch einmal kam er auf sie zu, ohne den Blick von ihr zu lassen und Annie war wieder nicht in der Lage sich zu rühren. Erst als er nur wenig entfernt vor ihr stand, erwachte sie und versuchte an ihm vorbei zu kommen – ohne Erfolg. Er hielte sie am Arm fest und mit einem Ruck zog er sie zurück und Annie landete erneut im Wasser.

Wieder schnappte sie nach Luft, als sie auftauchte. Draco stand noch immer in voller Größe vor ihr. Wahrscheinlich wollte er nur wissen, ob sie nicht endlich genug hatte, dachte sie. Sie ersann eine kleine List.

„Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht ärgern. Entschuldige.“, sagte sie reumütig. Draco sah sie prüfend an, drehte sich um und wollte das Wasser nun endlich verlassen.

„Verzeihst du mir?“, fragte sie noch einmal. Sie folgte ihm hastig und stellte verärgert fest, dass ihre Bewegungen im Wasser nicht so leicht und geschmeidig aussahen, wie die seine.

„Ja.“, antwortet er ihr endlich.

„Dann gibt mir deine Hand, als Zeichen der Versöhnung.“, forderte sie ihn auf. Annie sah, wie er die Augen verdrehte, als er sich umdrehte. Er reiche ihr die Hand und Annie nutzte diese Gelegenheit. Sie nahm nicht seine Hand, sondern umarmte ihn stürmisch.

„Danke!“, rief sie freudig aus und wusste genau, was das Wasser an ihrem Körper dabei bei seinem bewirkte. Es sorgte dafür, dass er nicht sehr viel trockener den See verlassen würde, als sie.

Im nächsten Augenblick stieß er sie von sich und Annie glaubte etwas von „Unmöglich“ zu hören. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie fand sie diese Sache äußerst komisch. Sie fing an zu lachen und spritze ihn noch einmal mit Wasser voll.

„Es hat dir wohl nicht gereicht?“, knurrte er schließlich.

„Ich bin schon nass.“, antwortete sie frech. „Aber du noch nicht ganz.“ Und mit diesen Worten holte sie noch einmal mit den Armen aus.

Noch einmal blitzen seine Augen auf. Sie sollte sehen, was sie davon hatte und nun war er es, der sie mit Wasser bespritze. Hin und her ging es bei den beiden und Annies Lachen wurde dabei immer lauter und heftiger. Nie hätte sie einmal vermutet, dass sie mit ihm so etwas tun würde, auch wenn er es nicht ganz freiwillig tat. Wieder lernte sie eine neue Seite an ihm kennen, denn hin und wieder glaubte sie auch bei ihm ein Lächeln auf den Lippen zu sehen.

Irgendwann aber hatte sie vom vielen Lachen solche Bauchschmerzen und war so erschöpft, dass sie einfach nicht mehr konnte.

„Hör auf.“, sagte sie keuchend und immer noch lachend. „Ich gebe mich geschlagen. Du hast gewonnen. Ich werde dich nicht mehr ärgern.“, gestand sie ihre Niederlage ein. Denn ihm hatte das ganze offensichtlich nichts ausgemacht. Annie schleppte sich nur noch zum Ufer und Draco ließ sie nicht aus den Augen. Sie hatte ihn schon einmal getäuscht und sie könnte es wieder tun.

Erschöpfte ließ sich Annie in Gras fallen und so langsam verschwand ihr Lachen, doch ein Lächeln blieb auf ihren Lippen. Draco folgte ihr schließlich und setzte sich neben sie ins Gras.

„Das sollten wir öfter machen.“, sagte Annie, nachdem sie sich einigermaßen erholt hatte. „Ich fühle mich jetzt richtig erfrischt.“ Sie sah ihn kurz an und sein Blick, der Bände sprach, ließ sie erneut kichern. Anscheinend war er von der Idee nicht sehr angetan.

Annie schloss die Augen und ihr Atem beruhigte sich wieder. Draco betrachtet sie unverwandt von oben bis unten, was Annie aber nicht bemerkte. Ihr nasses Kleid, betonte die weichen Konturen ihres Körpers, ihre Hüfte, Taille und Busen. Die Wassertropfen schienen auf ihrem Körper zu glitzern und machte ihn nur noch schöner. Draco ließ sich ebenfalls in das Gras gleiten und versuchte sich auf die Baumkronen über ihm zu konzentrieren, doch er konnte nicht lange den Blick von ihr abwenden. Er stützte den Kopf auf den Arm und sah sie an. Sein Blick glitt ihren Körper entlang und sein Herzschlag wurde schneller. Der nasse Stoff gab viel von ihrer zarten Haut preis. Erneut stieg das Verlangen sie zu berühren in ihm auf. Er verfluchte sich dafür. Zum einem wusste er noch immer nicht, was es bedeutete und zum anderen konnte er sich nicht dagegen wehren. Wie die Wut schien es von seinem Körper Besitz zu ergreifen und seinen Verstand zu benebeln.

Abermals hob er die Hand und anders als am vorherigen Morgen, zog er sie nicht zurück. Ohne das er es lenken konnte, strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Nun sah er sie in ganzer Schönheit.

Annie aber, war bei dieser Berührung kurz zusammengezuckt. Sie konnte es nicht glauben. Hatte er sie wirklich berührt? Er, der sonst beharrlich darauf achtete, ihr nicht zu Nahe zu kommen? Sie zwang sich die Augen geschlossen zu halten und so ruhig wie möglich weiter zu atmen. Auf keinen Fall wollte sie, dass er aufhörte, denn seine Berührung war warm und sanft gewesen.

Er hatte ihr nur diese Haarsträhne aus dem Gesicht streichen wollen, um es besser sehen können, doch nun, da er sie einmal berührt hatte, konnte er seine Hand nicht mehr zurückziehen. Er wusste nicht was er tat oder warum, aber er konnte auch nicht aufhören. Ihre Haut war wirklich so weich, wie er gedacht hatte. Behutsam strich er über ihre Stirn, dann die Wange entlang. Sie waren leicht gerötet und Draco musste feststellen, dass sie bei jeder seiner Berührung noch ein wenig roter wurde. Ein Anblick der ihm gefiel. Er betrachtete ihr Gesicht und berührte sanft ihre Augenbrauen, fuhr ihre Nase mit dem Zeigefinger entlang, wieder über ihre Wange, bis er nur wenige Millimeter vor ihren Lippen inne hielt. Auf ihnen lang noch ein letzter Wassertropfen. Wieder verspürte er den Drang diese zu berühren, zu erfahren was ein Kuss war und dieses Mal schien dieser Wunsch so stark, dass er sich kaum dagegen wehren konnte. Draco hatte das Gefühl, dass das Verlangen nach ihr mit jedem Atemzug den er tat stärker wurde. Er würde verlieren...

Sein Atem zitterte, doch nicht so sehr wie seine Finger, als er das kostbare Rot berührte. Mit dem Daumen strich er den kleinen Wassertropfen von ihren Lippen und stellte mit Erstaunen und gleichzeitig auch mit Erschrecken fest, dass ihr Mund wirklich so warm und weich war, wie er vermutet hatte.

Als Annie spürte, wie er plötzlich ihre Lippen berührte erstarrte sie für einen Moment. Dann öffnete sie die Augen und sah ihn fragend an.

„Was tust du da?“, flüsterte sie gegen seine Finger, während er sanft über ihre Unterlippe fuhr.

Er antwortete ihr nicht gleich und Annie wusste nicht einmal, ob er ihre Worte überhaupt gehört hatte. Aber sie konnte oder wollte seine Finger nicht zurückweisen.

„Draco, was-“, versucht sie es erneut, doch da antwortete er ihr.

„Ich weiß es nicht.“, wisperte er.

Seine Stimme war gleichzeitig zärtlich und doch glaubte sie ein Zittern daraus zu hören. Ein Kribbeln durchfuhr ihren gesamten Körper.

„Dann solltest du besser aufhören.“, sprach sie mühsam.

Er schüttelte leicht den Kopf und nun sah er ihr in die Augen. Annie konnte nicht anders, als seinen Blick zu erwidern. Seine Augen leuchteten von so einer Intensität, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie hatte nur diesen einen Gedanken: Sie konnte nicht mehr zurück. Sie verlor sich darin. Annie realisierte nur unbewusst, wie ihr Herz immer schneller schlug und ihr eigner Atem zittrig wurde. Nicht vor Angst, wie sie hinterher feststellte, sondern vor Aufregung und Erwartung.

Erst als Draco von ihren Lippen ließ, schien sie wieder klar denken zu können, doch noch immer konnte sie ihm eine Berührung nicht verwehren.

Seine Hand wanderte ihren Hals hinab, nur um gleich darauf wieder nach oben ihr Ohr entlang zu streichen und kehrte dann zum Hals zurück. Ein angenehmes Schaudern durchlief sie.

Seine Hand verharrte an ihrem Hals, während er sich ein Stück nach unten beugte. Annie spürte seinen Atmen auf ihrer Haut und das Kribbeln in ihrem Körper wurde stärker und schien förmlich nach einer weiteten Berührung zu schreien.

„Was tust du?“, fragte sie kaum hörbar ein zweites Mal.

Doch dieses Mal antwortetet er nicht. Auch nicht nach einem Zögern. Seinen Lippen kamen den ihrem immer Näher und erneut roch er ihren süßlichen Duft. Ihr heißer Atmen auf seiner Haut verursachte bei ihm Gänsehaut. In seinen Köper breitete sich ebenfalls ein Kribbeln aus, was sich durch seinen gesamten Körper zog und das er als äußerst angenehm empfand. Er war darin gefangen, nicht fähig es loszulassen.

Noch immer war Annie von seinen Augen gefesselt, nicht in der Lage das unvermeidbare abzuwenden. Ihr Kopf war leer und es gab nicht weiter als diese unglaublichen blauen Augen, die sie zu verschlingen drohten. Er war ihr nun so nah, wie noch nie zuvor. Ihren Lippen bebten, genauso wie die seinen - vor Kälte, vor Anspannung, vor Aufregung.

„Ich will wissen, wie es sich anfühlt.“, flüsterte er gegen ihre Lippen, bevor er sie mit seinen eigenen verschloss.

Danach...

Es war wie eine Explosion, die er auf seinen Lippen fühlen konnte und mit jeder neuen Bewegung, mit jeder neuen Berührung, geschah es wieder und wieder. Es war ein Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte. So unbeschreiblich, so unwirklich und doch spürte er es tief in sich. Ein Gefühl, dass er nicht wieder gehen lassen konnte und wollte.

Ihre Lippen waren so zart, so weich und so warm... so viel süßer, als es Himbeeren je sein konnten.

Dracos Hand berührte ihre Taille und er zog sie ein wenig an sich. Dann fuhr er mit der Hand nach oben und fasste sie am Rücken. Ihr Körper war trotz des nassen Kleides ebenfalls unglaublich warm und sie zu berühren, fühlte sich unter seinen Fingerspitzen so gut an, dass er sich unwillkürlich fragte, wie es wohl sein würde, wenn er ihre bloße Haut berührte. War sie genauso weich wie ihre Lippen? Unter seinen Fingern prickelte es genauso heftig, wie in seinem Körper. Er wollte mehr davon und doch wusste er nicht, wie er es bekommen sollte. Also küsste er sie weiter und hoffte dieses andere Verlangen, welches in ihm aufstieg, irgendwie befriedigen zu können.
 

Annies Kopf drehte sich. Er schien wie leer und doch wurde er nur von diesem einen Gedanken erfüllt: Er küsste sie.. und sie erwiderte es! Das war... Das ist... sie konnte nicht klar denken. Alles was sie spüren und fühlen konnte, waren die Lippen auf ihren Mund und die Berührung seiner Finger auf ihrem nassen Kleid. Wie wunderschön es sich anfühlte, wie sehr sie es genoss...
 

Der Kuss selbst war vorsichtig und zärtlich. Beide ertasteten die Lippen des anderen, als würden sie von einer unbekannt Frucht kosten, die sie sofort verführte. Ihre Körper begannen zu zittern, doch keiner vermochte zu sagen, ob es nun wegen des Kusses selbst oder der Kälte wegen war, die langsam durch ihre nasse Kleidung kroch.

Nach einer Ewigkeit, wie es den beiden schien, lösten sie sich voneinander. Ihre Lippen bebten und nur zögerlich sahen sie sich in die Augen. Annie wusste noch immer nicht, was sie denken sollte. Er hatte ihr den ersten Kuss geraubt und doch bereute sie es nicht. Schöner konnte es nicht sein. Aber... warum hatte er es getan?
 

Draco war überwältigt von der Erfahrung, die er gerade gemacht hatte. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ein Mensch so empfinden konnte, dass ein Kuss so sein würde. Er wollte sie noch einmal schmecken. Es war ihm, als könnte er nie genug davon bekommen. Draco beugte sich erneut über sie und wollte gerade seinen Mund auf ihren senken, als sie ein plötzliches Grollen und Donnern auseinander riss.

Gleichzeitig sahen sie nach oben und starrten auf eine schwarze, bedrohliche Wolkendecke. Sie hatten nicht bemerkte, wie sich der Himmel über ihnen verdunkelt hatte.

Im nächsten Moment sahen sie einen hellen Blitz den Himmel durchzucken und ruckartig richten sie sich auf. Einzelne Tropfen begannen von Himmel zu fallen, die sich rasch vermehrten und immer härter auf dem Boden aufschlugen. Es wurde schnell zu einem Wolkenbruch.

„Wir müssen zurück!“, schrie Annie durch ein weiteres Donnergrollen. Bei diesem Wetter, im Wald, zwischen all den Bäumen zu sein, war die reinste Gefahr für sie beide. Zu leicht könnten sie von einem Blitz getroffen werden.

So schnell sie konnten liefen sie in die Hütte zurück, wobei Draco ihr voraus war. Doch Annie dachten während all der Zeit nur an das, was geschehen war. Sie fragte sich nach dem warum. Warum hatte er sie geküsst? Wusste er überhaupt was er getan hatte? Was es bedeutete? Was es für sie bedeutet? Sicher er mochte sie, aber reichte dieses Gefühl bereits für einen Kuss? Was empfand sie?

Als sie die Hütte endlich erreicht hatten und Annie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, kannte sie die Antwort auf die Frage nach dem warum. Draco hatte es doch selbst gesagt. Er hatte nur wissen wollen, wie es sich anfühlte. Er wollte endlich wissen, was ein Kuss war. Deswegen hatte er es getan.

Hastig ging sie zum Ofen, um ein Feuer zu entwachen, doch ihre Gedanken beherrschten sie. Er hatte es nur aus Neugier getan. Ganz gewiss nicht, weil er sie begehrte oder gar... liebte, wagte sie zu denken.

Sie wurde wütend. Er hatte sie nur benutzt!

Zornig warf sie die Holzscheide in den Ofen und entzündete es mit einem einzigen Wort. Sie hatte nicht die Kraft, das Feuer auf nicht-magische Weise anzuzünden, wie sie es sonst bevorzugte. Die Ofenklappe schlug sie mit einem lauten Knall zu.

Draco hatte sie beobachtete und gesehen, wie sich ihre Augenbrauen immer mehr zusammengezogen und sich kleine Fältchen auf ihrer Stirn gebildet hatte. Er hatte diesen Ausdruck schon einmal bei ihr gesehen. Damals als er das erste Mal sprach. Sie war wütend gewesen, aber warum jetzt?

„Bist du jetzt endlich zufrieden?!“, schrie sie ihn dann fast an und Draco zuckt für einen winzigen Augenblick überrascht zusammen. „Weißt du jetzt endlich, was ein Kuss ist?!“

Fassungslos starrte Draco sie an. Er konnte sich ihren Gefühlsausbruch und ihre Wut nicht erklären.

„Das darf nie wieder passieren! Nie wieder! Hast du verstanden?!“, sagte sie eindringlich.

„Warum?“, fragte er sie mit monotoner Stimme. Draco verstand sie nicht. Was war geschehen? Dieser... Kuss... Sie hatte ihn doch... sie hatte es zugelassen oder nicht... Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Kuss, der sich für ich so gut angefühlt hatte, der für ihn so unbeschreiblich schön war, für sie so etwas schreckliches gewesen sein sollte.

„Weil... weil ich... Ich möchte es nicht! Du hast mich nur benutzt! Du wolltest nur wissen, wie es sich anfühlt, nicht weil du... Ich... Nie wieder!“

„War es denn so schrecklich für dich?“, fragte er sie gerade heraus. Seine Miene verhärtet sich, dass sah sie ganz deutlich. Seine Augen begannen zu funkelt und Annie erkannte, dass er ebenfalls wütend wurde. Aber es war ihr egal. Es war wahr, was sie sagte und doch... wünschte sie, dass er ihr wiedersprechen würde. Dass er ihr sagen würde, dass er es nicht nur wegen seiner Neugier getan hatte. Sie wünschte sich, dass er ihr sagte, dass er...

Oh..., fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hatte sich... Wann... Wieso... Warum... fragte sie sich durcheinander.

„Annie!“, sagte er und es war eindeutig, dass er eine Antwort verlangte. Annie fand sogar noch den Gedanken, zu bemerken, dass es das erste Mal war, dass er regelrecht eine Antwort von ihr forderte. Bisher hatte er das nie getan. Doch das war unwichtig.

„Das...“, begann sie zaghaft und wusste nicht so recht was sie antworten sollte. Dabei hatte sie die Antwort doch gerade gefunden. Aber was brachte es ihr, es ihm zu sagen? Er würde es vielleicht nicht einmal verstehen. Wie sollte sie ihm antworten, ohne ihn zu belügen? „Das hat damit nichts zu tun!“, antwortete sie schließlich und wurde erneut lauter. Dieses Mal unbeabsichtigt. „Du hast mich nur benutzt, um deine Neugier zu befriedigen. Du weißt jetzt, was ein Kuss ist und das reicht. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen! Ich will nicht mehr darüber reden.“ Ihre Stimme brach bei den letzten Worten, denn sie spürte, wie sehr sie sich damit selbst verletzte und sie sah vor allem, wie sehr sie ihn damit verletzte. Etwas in ihrer Brust schnürte sich zu.

„Denkst du ich würde es nicht verstehen?“, hörte sie ihn mit eisiger Stimme fragen. Schockiert hob sie den Kopf und sah in seine kalten Augen, die sie zu durchbohren drohten. Ein Blick, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.

„Nein,... Ich... Ich verstehe es doch selbst nicht. Dass...“, sagte sie stockend und wandte den Blick von ihm ab.

„Wie du meinst.“, sagte er schneidend und drehte sich dann ebenfalls um. Erneut fühlte sie ein Stechen in ihrer Brust. Annie setzte sich neben den Ofen und hoffte, dass ihre Kleidung schnell trocknete. Sei wusste, dass es klüger wäre die Sachen zu wechseln. Auch Draco sollte das tun. Doch gleichzeitig wusste sie, dass es aussichtslos war jetzt mit ihm darüber zu reden. Sie hatte nicht die Kraft dazu, es ihm zu erklären und sie bezweifelte, dass er ihr überhaupt zuhören würde. Also saß sie weiterhin neben dem Ofen.

Schnell begann sie zu zittern. Nicht, weil ihre Kleidung nicht trocknete, sondern wegen dem was vorgefallen war. Vielleicht hat er es doch getan, weil er mehr für sie empfand... Das versuchte sie sich einzureden und doch gelang es ihr nicht. Sie wusste inzwischen sehr gut, dass Draco immer sprach, was er dachte. Er war immer ehrlich.

Warum musste das alles passieren?, fragte sie sich. Warum konnte nicht alles so bleiben, wie es war? Warum musste sie sich in ihn... Warum hatte sie sich auch küssen lassen? Sie war ja selbst schuld! Sie spürte noch immer seine Lippen und erneut durchfuhr sie dieses Kribbeln. Ein so schönes Gefühl, dass für sie von nun an wohl immer einen bitteren Beigeschmack haben würde.
 

Draco verstand wirklich nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Aber was das schlimmste für ihn war, war, dass er selbst nicht wusste, warum er es getan hatte. Er erinnerte sich, wie sie im Gras lag, wie schön sie ausgesehen hatte, wie rot ihre Lippen gewesen waren... Er hatte sie berühren wollen... Doch warum hatte er sie geküsst? Sie war so schön...

Er hatte es nur getan, weil er wissen wollte, was ein Kuss war. Aus keinem anderen Grund!, sagte er sich selbst.

Aber er hätte nie erwartet, dass es so sein würde. Er musste sich eingestehen, dass ein Kuss der Menschen, durchaus etwas schönes und angenehmes war. Etwas, was es bei seiner Art nicht gab. Er bereute die Erfahrung nicht und doch ärgerte es ihn, dass sie so reagiert hatte. Ihre Worte nagten an ihm. Warum? Sie hatte doch recht. Er hatte es doch wirklich nur getan, um zu erfahren, was ein Kuss ist.

Oder etwa nicht?
 

Den Rest des Tages verbrachten sie größtenteils schweigend und auch in der Nacht stand es außer Frage, dass sie neben einander schliefen. Doch Annie konnte kaum schlafen, zu sehr beschäftigen sie ihre eigenen Gefühle, denen sie sich an diesem Tag bewusst geworden war. Wie hatte es so weit kommen können? Was sollte sie jetzt tun? Sie war den Tränen nahe. Es war aussichtslos. Warum gerade er?

Der Regen hatte aufgehört und sie musste heftig schlucken. Konnte sie noch ein paar weitere Monate mit ihm zusammenleben? So wie sie es bisher getan hatten? Sie wusste es nicht. Was sollte sie erst tun, wenn er nicht mehr bei ihr war? Sie würde ihn schrecklich vermissen, das wusste sie jetzt schon. Wie schnell doch ein Jahr vergehen konnte...

Also war es wohl doch besser, wenn sie diese Gefühle nicht zu ließ, wenn sie sie für immer in ihrem Herzen einschloss, in der Hoffnung, dass sie irgendwann verschwinden würden. Gegen ihren Willen entrann ihr ein Schluchzen und mit der Hand wischte sie die Träne weg, die sich doch hatte aus ihrem Auge stehlen können. Sie sah kurz zu Draco, bevor sie sich umdrehte und endlich einschlief.

Doch Draco schlief noch nicht. Er hatte sie gehört. Er wusste, dass sie geweint hatte. Doch er wusste nicht warum. War es wirklich wegen dem Kuss? Fand sie es wirklich so schlimm? War es, weil sie nicht miteinander sprachen? Aber sie war doch diejenige, die wütend gewesen war. Nein, er verstand sie nicht. Doch ihr Weinen, schmerzte ihn selbst und er wünschte sich, dass er es beenden könnte. Aber warum sollte er das tun? Wie sollte er das tun? Es war besser, wenn sie sich erst einmal nicht mehr so Nahe kamen. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn es so wäre. Das Verlangen nach einen weitern Kuss, war im Verlauf des Tages stärker geworden. Draco konnte es sich nicht erklären. Er wusste doch nun, was ein Kuss war. Warum wollte er es dann noch immer? Was war das für ein Gefühl, das ihn beherrschte?

Er schloss die Augen. Bald, schon bald, würde er wieder er selbst sein, würde er das sein, was er wirklich war. Er wusste, dass er die Erinnerung an diese Gefühle mitnehmen würde und doch glaubte er, dass sie ihn dann nicht mehr beherrschen würden. Das würde er nicht zulassen.
 

Am nächsten Tag war ihr Verhältnis noch immer sehr angespannt. Sie wechselten kaum ein Wort miteinander und sie schafften es schon gar nicht sich gegenseitig in die Augen zu sehen. Zumindest war es Annie, die seinem Blick immer wieder auswich. Doch wenn sie sich für einen Moment ansahen, dann waren seine Augen meist so kalt, wie zu Beginn und sie wusste, dass sie daran Schuld hatte.

Möglicherweise hatte sie ihn doch ungerecht behandelt. Er konnte schließlich nicht dafür. Sie hatte ihn ja in einem Menschen verwandelt. Es war doch nur verständlich, dass er wissen wollte, wie die Menschen funktionierten, was sie taten und wie. Immerhin würde er noch ein paar Monate ein Mensch bleiben. Außerdem wusste sie doch, dass er alles immer ganz genau wissen wollte. Vielleicht sollte sie sich einfach bei ihm entschuldigen. Sie würde diese Spannung zwischen ihnen nicht mehr länger ertragen können, dass wusste sie. Ihre Gefühle würde sie in Zaum halten müssen. Das konnte sie. Er würde nichts merken. Es würde so sein wie vorher, überlegte sie.

Gleichzeitig wusste sie aber, dass das nicht möglich war. Jetzt, da sie wusste, was sie für ihn empfand, würde sie ihn immer mit anderen Augen sehen. Aber es nicht mehr lange. Dann würde er aus ihrem Leben verschwinden und sie würde wieder allein sein. Allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Traurigkeit.

Es war nach Mittag und Draco war noch in der Hütte. Er schlief, was Annie sehr verwunderte, aber vielleicht machte ihm auch nur das heiße Wetter zu schaffen, versuchte sie sich weiszumachen. Dabei wusste sie sehr genau, dass es eher ihr Verhalten gewesen war, was ihn verwirrte. Sie hing gerade die Wäschen zum Trocknen auf, als sie plötzlich Pferdehufen hören konnte. Annie fragte sich für einen Moment, ob das möglicherweise Alexander war, der ja einen früheren Besuch versprochen hatte. Doch es waren zu viele Pferdehufen, die sie hören konnte. Sie ließ die Arme sinken und sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Schon bald konnte sie die Pferde nicht nur hören, sondern auch sehen.

Es waren vier Pferde, die alle von prunkvoll gekleideten Männern beritten wurden. Annie bemerkte, dass der Mann, der etwas weiter vor den anderen ritt, noch prächtiger gekleidet war, als seine Begleiter. Er trug ein schimmerndes blaues Gewand und um seinen Hals und an den Fingern, konnte sie Gold aufblitzen sehen. Verwunderte blickte sie die Männer an, die vor ihr zum stehen kamen.
 

In der Hütte erwachte Draco schlagartig. Er hatte die Pferde gehört. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Leise richtete er sich auf und lauschte den Geräuschen draußen. Sein Herz schlug auf einmal schneller und er wusste, dass etwas nicht stimmte.
 

Die vier Herren standen nun mit ihren Pferden genau vor Annie und nachdem sie sie einen Moment gemustert hatten, stiegen sie von ihren Pferden. Der Link von ihnen wollte auf sie zugehen, doch eine Handbewegung des ersten Reiters – der in der prunkvollen und edlen Kleidung - ließ ihn stehen bleiben. Annie wusste nicht recht, was genau geschah. Noch nie hatte sie diese Personen gesehen. Der erste Reiter kam nun auf sie zu und je näher er kam, desto bessre konnte Annie ihn erkennen. Mit dem ganzen Gold, was ihn und seine Kleidung schmückte, wirkte er reichlich überladen und Annie konnte nicht anders, als zu denken, dass es ihn noch rundlicher, um nicht zu sagen dicker, wirken ließ und vor allem unsympathischer.

„Guten Tag die Dame. Mein Name ist Sir John Barrington.“, begrüßte er sie höfflich aber mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme.

„Sehr erfreut mein Herr. Mein Name ist Annie.“, antwortete sie ebenso höflich und verbeugte sich leicht. Sie hatte das Gefühl, dass es vielleicht besser war, ihm nicht ihren richtigen Namen zu nennen. Sie sah ihm das erste Mal ins Gesicht und sie begann sich unweigerlich vor ihm zu ekeln. Nicht nur dass es völlig aufgequollen und mit lauter Schwielen und Narben versehen war, es war überseht von Pickeln. Einige davon waren bereits eitrig. Manchen waren anscheinend mit dreckigen Fingernägeln aufgekratzt worden und Annie sah die Bluttröpfchen, die sich darauf gebildet hatten. Seine Augen waren sehr klein, aber vor allem wässrig und trüb und dennoch wirkten sie gefährlich auf sie. Seine Nase war dagegen zu groß und zudem leicht schlief. Der Mund war fleischig und als er sprach hatte sie seinen schlechten Atem riechen können. Wahrscheinlich hatte er nicht einen gesunden Zahn mehr im Kiefer, dachte sie kurz. Alles in allem, fand sie diesen Mann einfach nur abstoßend. Doch man sollte Menschen auch nicht nach ihrem äußeren beurteilen, ermahnte sie sich selbst. Vielleicht täuschte dieser Eindruck auch nur. Sie wusste nicht, dass es noch schlimmer kommen würde.

„Ihr Name ist mir bekannt. Ich habe viel von ihnen gehört.“, gab Barrington zurück.

Erstaunt blickte Annie ihn an. Nur ihre Familie wusste, dass sie hier lebte und auch nur sie kannte den Weg zu ihr.

„Woher denn, wenn ich fragen darf, Sir?“

„Nun, ich habe ihren Bruder vor einer Weile kennengelernt und er hat oft von seiner schönen Schwester erzählt, die allein im Wald lebt. Was die Schönheit betrifft, so hat er in keinster Weise übertrieben.“, schmeichelte er ihr.

Bei diesen Worten wurde Annie stutzig. Warum hatte Alexander ihr nicht davon erzählt? Und warum gab er sich mit solch einen Mann ab? Ihr Bruder pflegte nur einen angemessenen Umgang für ihre Familie und Annie schien es, als gehörte dieser Mann nicht dazu.

„Vielen Danke, Sir.“, antwortete sie und senkte leicht den Kopf, „Aber sagt, was verschafft mir die Ehre eures Besuches?“

Barrington lachte kurz auf. Ein Lachen, dass ihr überhaupt nicht gefiel und schlecht in ihren Ohren klang. „Nun, um ehrlich zu sein, ich hoffte, dass sie mir vielleicht in einer Angelegenheit behilflich sein könnten. Ihr Bruder erzählte mir, dass sie schon länger in diesem Wald leben, stimmt das?“

„Ja, Sir. Wie kann ich ihnen helfen?“ Ihre Stimme war noch immer höflich, doch je länger dieser Mann vor ihr stand, desto weniger Sympathie konnte sie für ihn aufbringen. Ihr fielen seine fettigen und ungepflegten Haare auf und er selbst roch, als hätte er schon länger kein Wasser und Seife mehr gesehen.

„Nun, es verhält sich so, dass ich im letzten Jahr einen Drachen jagte. Ein prächtiges Exemplar und fast hätte ich ihn auch erlegt, doch leider ist es mir doch irgendwie entkommen. Ich hatte ihn bereits schwer getroffen und es war noch eine Frage der Zeit, bis wir ihn endgültig bezwungen hätten, doch plötzlich war er verschwunden. Ich gehe davon aus, dass er hier im Wald irgendwo zum Absturz gekommen ist. Den ganzen Winter und Frühjahr habe ich bereits nach ihm gesucht oder besser gesagt, nach dem was von ihm übrig ist. Viel kann es nicht mehr sein.“ An dieser Stelle musste er über seinen eigenen Witz lachen, während aus Annies Gesicht immer mehr die Farbe verschwand. „Leider war ich erfolglos, aber dann traf ich ihren Bruder und er sagte, dass sie schon seit mehr als einem Jahr hier lebten. Ich habe gehofft, sie haben dieses Tier vielleicht gesehen, seinen Kadaver vielmehr. Bei der Größe müsste es ihnen doch aufgefallen sein.“

Annie schluckt heftig und schüttelte mühsam den Kopf. Sie wusste genau worum es hier ging. Nein, um wen es hier ging.

„Nein, ich... Es tut mir leid...“, stammelte sie. Sie atmete einmal tief durch und sprach dann gefasst und so sicher wie möglich weiter. „Wenn sie mich fragen, ob ich einen Drachen gesehen habe – ob nun tot oder lebendig – muss ich sie enttäuschen. Ich habe nichts der gleichen gesehen. Das ganze Jahr über nicht. Mir ist nichts ungewöhnliches aufgefallen.“, Nun war ihre Stimme nicht mehr so höflich, wie zuvor. Sie wollte, dass dieser Mann so schnell wie möglich verschwand und betet inständig, dass Draco noch schlafen würde.

„Schade. Ich dachte ich hätte ihn endlich. Sie waren meine letzte Hoffnung. Trotzdem vielen Dank.“, sagte er und lächelte falsch. Diese Antwort war alles andere, als er erwartet hatte.

Er war gerade im Begriff wieder zu seinem Pferd zu gehen, als Annie ihn noch einmal zurück hielt.

„Was für ein Drache war es denn?“, sprach sie hastig. „Dann werde ich in Zukunft Ausschau halten.“, fügte sie ruhiger hinzu.

„Es war ein ganz besonderer Drache.“, antwortete Barrington und seine Stimme geriet in Verzückung. „Einer der seltenen Monddrachen. Seine Schuppen glänzen im Schein das Mondlichtes wie reines Silber. Er ist etwas ganz besonderes und ich muss ihn haben!“ Seine Augen funkelte und Annie bekam Angst. Ihre nächste Frage bereute sie bereits, noch bevor sie sie überhaupt gestellt hatte. Es schnürte ihr die Kehle zu.

„Was werden sie mit ihm machen, wenn sie ihn endlich haben?“

„Ich will den Kopf!“ Seine Stimme überschlug sich vor Erregung fast dabei. „Ich will ihn mir in meinen Empfangssaal hängen. Jeder soll sehen, wie mächtig, stark und unbezwingbar Sir John Barrington ist. Aus seinen Schuppen werde ich mir eine Rüstung machen lassen, um in jeder Schlacht unbesiegbar zu sein. Meine Gegner sollen allein bei dem Anblick erzittern und begreifen, dass sie dem Untergang geweiht sind. Aus seinen Zähnen will ich eine Waffe machen lassen, die jeden meiner Feinde mit einem einzigen Hieb bezwingen wird und sein Fleisch...“ Annie konnte sehen, wie sich Barrington genüsslich über die Lippen lenkte. „Drachenfleich soll köstlich sein. Es soll so weich und zart sein, das es auf der Zunge zergeht. Oh, wie sehr ich mich schon darauf freue, es zwischen meinen Zähnen spüren zu können. Und die Knochen... Ich will sie mahlen lassen. Sie sollen bei Krankheiten helfen und noch dazu die Manneskraft stärken. Ich will nichts von diesem Drachen verkommen lassen. Viel zu wertvoll ist er dafür! Sie sehen also, dieser Drache würde mir gute Dienste leisten.“, sagte er süffisant. Das hässlichen Grinsen auf seinem Gesicht war noch breiter geworden und bei jedem seinen grausamen Worte, funkelten seine Augen noch ein wenig mehr. Allein die Vorstellung dieser Grausamkeiten, schien ihm bereits sichtlich Freude zu bereiten.

Annie verachtete diesen Mann. Allein bei der Vorstellung seinen Kopf – Dracos Kopf – tot und ohne seine unglaublich eisblauen Augen irgendwo aufgehängt zu wissen, wurde ihr Speiübel. Sie hätte sich auf der Stelle übergeben können. Ihre Knie wurden weich und abermals stiegen Tränen in ihr auf. Innerhalb von wenigen Sekunden begann sie diesen Mann abgrundtief zu hassen. So sehr, dass sie sich sogar seinen Tod wünschen würde, könnte sie Draco damit das Leben retten. Sie schloss die Augen, um Kraft zu sammeln bevor sie weiter sprach.

„Ich werde mein bestes geben und darauf achten. Wenn ich diesen Drachen finden sollte, werde ich ihnen Bescheid geben.“

„Ich danke ihnen, schöne Frau,“, sagte er und wollte ihr Hand nehmen. Annie ließ es geschehen und mit seinen dicken Lippen, drückte er einen feuchten Kuss darauf. Am liebsten hätte sie ihre Hand sofort gewaschen. Mühsam bestieg er sein Pferd und sah sie noch einmal von oben an.

„Sie sind wirklich sehr schön.“

„Vielen Dank, Sir. Ich fühle mich von euren Worten geschmeichelt.“, presste sie gerade so heraus und knickste leicht.

„Ich hoffe wir sehen uns bald einmal wieder.“, sagte Barrington noch, bevor er sein Pferd wendete und mit seinen Begleitern davon ritt.

„Das hoffe ich doch nicht.“, murmelte Annie. Sie sah den Herren hinterher. Als sie sie zumindest nicht mehr sehen konnte, nahm sie sich eines der frisch gewaschenen Kleidungsstück und wischte sich damit über die Hand. Aber egal wie oft sie das tat, sie hatte immer noch das Gefühl, als könnte sie seinen ekelhaften Mund auf ihrer Haut spüren. Und dieses Gefühl, was so ganz anders, als sie es bei Draco empfunden hatte.

Hastig hängt sie die anderen Kleidungsstücke auf, während sie dem Verklingen der Hufschläge lauschte. Sie war dankbar, dass sie die Männerkleidung nicht gesehen hatten. Sonst hätte sie dies noch erklären müssen und Annie wusste, dass sie nicht so verständnisvoll wie ihr Bruder gewesen wären.

Sobald die Geräusche verklungen waren, ging sie eilig zur Hütte zurück. Sie hoffte, dass Draco noch schlafen würde, dass er es nicht gehört hatte.

Doch er hatte.

Als Annie die Tür öffnete, sah sie Draco sitzen an die Wand gelehnt und ihr blieb das Herz stehen. Die Arme hatte er um den Körper geschlungen. Sein Gesicht war bleich und starr, sein Atem flach und schnell. In seinen Augen sah sie... blanke Angst.

„Draco.“, flüsterte sie entsetzt und lief zu ihm. Sie ließ sich auf die Knie fallen.

„Draco, was ist mit dir?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Sein Blick war leer und schien in weiter Ferne zu sein. Ohne zu überlegen umarmte sie ihn so fest sie konnte. Noch nie hatte sie ihn so gesehen. Er war immer stark, unnahbar und scheinbar unbezwinglich. Ihn jetzt so zu sehen, ließ ihr Herz schmerzen, machte ihr Angst. Er war so kalt und noch immer rührte er sich nicht.

„Draco, bitte... sag was. Was ist passiert?“, fragte sie verzweifelt. Sie konnte es sich nicht erklären. War es wirklich dieser Mann gewesen, der Schuld daran hatte? Tränen bahnten sich den Weg aus ihren Augen und sie merkte, wie sie ihr die Wange herunter liefen. Ihr war, als wäre sein Schmerz auch der ihre.

Annie erstarrte einen Moment, als er sich endlich bewegte. Seine Hände fasten sie an ihrer Taille, umarmten sie und zogen sie fester an seinen kalten Körper.

„Draco, was...“

„Er wird mein Tod sein.“, wisperte er gegen ihr Ohr.

Die Monddrachen

Entsetzen trat auf ihr Gesicht, als sie seine Worte vernahm und sie erstarrte. Immer wieder halten sie in ihrem Kopf nach, wie ein nie enden wollendes Echo. Seine Stimme zittrig und voller Angst, genauso wie ein Gesicht und seine Augen. Sein Körper war kalt und klamm. Wie ein verängstigtes kleines Kind wirkte er auf sie. Nichts war mehr von der Stärke zu spüren, die ihn sonst umgab.

„Wa-Was meinst du damit?“, brachte sie schließlich hervor.

Draco schien kurz zusammenzuzucken und seine Umarmung lockerte sich. Annie sah ihn an und sein Blick war... anders. Nicht so fest und klar, wie sie ihn kannte, sondern seltsam verschleiert.

„Ich meine es so wie ich es sage. Dieser Mann wird mich töten.“, antwortete er ihr, doch seine Stimme klang bereits fester.

„Woher willst du das wissen? Du kannst es nicht,...“

„Ich weiß es.“, unterbrach er sie. „Er wird nicht ruhen, bis er mich gefunden hat.“

Jetzt bekam auch sie Angst. Wie konnte er sich dessen so sicher sein? Als hätte sie diesen Gedanken laut ausgesprochen, sprach er weiter: „Es wäre ihm fast schon einmal gelungen und damals war ich noch... ich. Wenn du mich nicht gerettet hättest, hätte er mich bereits getötet. Ich bin jetzt ein Mensch, nur ein schwacher Mensch...“

Annie verstand langsam. Das war das erste Mal, dass sich Draco bedroht fühlte. Das erste Mal, dass er sich seiner Überlegenheit nicht sicher war, dass er das Gefühl hatte schwächer zu sein. Für ihn war dieser menschliche Körper sein größter Schwachpunkt. Ein Körper, den er niemals haben wollte und noch immer nicht richtig akzeptiert hatte. Er kannte diesen Körper nicht, wie seinen eigenen, wusste nicht was er vermochte.

Noch einmal umarmte sie ihn. „Hab keine Angst.“, flüsterte sie beruhigend. „Ich werde dich beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut. Dieser Mann weiß nicht, wo du bist und er weiß auch nicht, was du momentan bist. Er wird dich nicht finden.“

„Angst? Ist es das was ich empfinde?“

„Ja, ich glaube schon.“ Wieder sah sie ihn einen Moment an. „Draco, wenn du mir diesen Gedanken erlaubst, aber... Vielleichte wäre es besser, wenn du ein Mensch bliebest. Barrington sucht nach einem Drachen, nicht nach einem jungen Mann. Wenn du-“

„Auf keinen Fall!“, wiedersprach er sofort und erhob sich hastig. „Ich werde wieder zu dem, was ich wirklich bin. Ich bin kein Mensch und ich werde ganz gewiss nicht davon laufen. Wenn er mein Schicksal ist, dann soll es so sein. Wenn ich meine wahre Gestalt wieder habe, wird er es sein, der Angst verspürt.“

Annie senkte traurig den Kopf. Mit so einer Reaktion hatte sie gerechnet. Wenn sie ehrlich war, war dies nicht das erste Mal, dass sie an diese Möglichkeit gedacht hatte. Lange vor dem... Kuss, hatte sie es in Erwägung gezogen, doch bisher hatte sie es nicht gewagt es auszusprechen.

„Natürlich, du hast recht.“, sagte sie deswegen leise. Sie erhob sich ebenfalls und als sie Draco nun in die Augen blickte, schien nichts mehr von der Angst übrig, die ihn vor wenigen Momenten noch beherrscht hatte.

„Draco, kann ich dich noch etwas fragen?“, begann sie zaghaft.

„Was?“

„Er nannte dich... Monddrache oder so ähnlich. Warum? Ich meine, warum habt ihr gerade diesen Namen?“, fragte sie und hoffte ihn somit endgültig von Barrington ablenkten zu können.

Draco legte den Kopf ein wenige schief und musterte sie. Annie wusste nur zu gut, dass er überlegte, warum er ihr antworten sollte und wenn, dann überlegte er bereits, wie viel er ihr erzählen wollte.

„Ich erkläre es dir heute Nacht.“, sagte er kurz, doch gleich darauf fuhr sein Kopf herum. Er schien bereits ein Geräusch zu hören, was Annie noch verborgen blieb. Doch wenige Sekunden später konnte auch sie es wahrnehmen. Es war erneut der Klang von Pferdehufen und Annie dachte für eine Schreckenssekunde, dass Barrington noch einmal zurückkehrte. Erleichtert atmete sie auf, als sie erkannte, dass es sich nur um ein Pferd handelte.

Sie trat vor die Tür und war überrascht ihren Bruder auf den Rücken seines braunen Pferdes zu sehen.

„Alexander, was...“, fragte sie verwundert. Er hatte zwar gesagt, dass er nun häufiger vorbeischauen würde, aber diese Häufigkeit überraschte Annie dann doch. Denn ‚öfters‘ hatte bei ihrem Bruder meist eine ganz andere Bedeutung, als es gewöhnlich der Fall war.

„Annie, hör zu, ich muss dich warnen.“, sagte ihr Bruder gleich, kaum dass er vom Pferd gestiegen war.

„Warum und wovor?“, fragte Annie irritiert und war sofort besorgt. Sie bemerkte nicht einmal, dass Draco hinter sie trat.

„Es kann sein, dass du bald besuch bekommen wirst. Von einem gewissen John Barrington. Er sucht... Was ist?“, hielt er inne, als er Annies Gesichtsausdruck bemerkte.

„Er war schon da. Gerade eben, kurz vor dir.“, sagte sie und war noch eine Spur blasser geworden. Wenn sogar ihr Bruder sie vor diesem Menschen warnen wollte, dann war mit ihm wirklich nicht zu spaßen.

„Verdammt! Ich bin also schon zu spät?“, stieß Alexander aus. „Haben sie ihn gesehen?“, fragte er und zeigte auf Draco.

„Was? Nein haben sie nicht. Alexander, was ist denn eigentlich los?“

„Wenigstens etwas.“, erwiderte er ein wenig erleichtert. „Annie, hör zu. Barrington ist sehr einflussreich. Es heißt er würde beim König ein und ausgehen, wie es ihm beliebt. Er hat die Aufgabe dieses Land hier zu verwalten.“

„Aber gehört es denn nicht uns?“, fragte sie verwirrt.

„Ja, schon. Aber auch wir müssen uns ihm beugen. Wenn er Zugang zu unseren Land begehrt, müssen wir ihm das gewähren, wenn er ein Teil davon kaufen will, müssen wir es ihm verkaufen.“

„Warum? Er hat doch kein Anrecht darauf. Wir müssen nicht tun, was dieser Mann vielleicht verlangt.“

„Wenn man nicht auf dem Schafott oder dem Scheiterhaufen landen will, dann schon.“, sagte Alexander und rieb sich über das Gesicht. Erst jetzt viel ihr auf, wie Müde ihr Bruder wirkte.

„Alexander, ich verstehe nicht. Was hat das alles zu bedeuten?“

„Ich sagte doch, dass Barrington sehr einflussreich ist. Das und äußerst grausam. Er nimmt sich, was er will. Ganz egal mit welchen Mitteln und Methoden. Du hast keine Ahnung, was für Verurteilungen es bereits gegeben hat, nur weil es jemand gewagt hatte, sich im zu wiedersetzen und sich ihm nicht zu beugen. Tagtäglich finden Anklagen unter Scheingründen statt und die Verurteilungen stehen bereits vorher schon fest.“

„Deswegen hast du dich mit ihm eingelassen? Aber wieso? Können wir nicht...“

Alexander schüttelte den Kopf, noch bevor sie ausgesprochen hatte. „Nein, wir können nichts tun, egal ob wir unsere magischen Kräfte einsetzen oder nicht. Ich habe eine Familie zu versorgen, meine Frau und ich möchten gern Kinder. Ihm jetzt zu wiedersprechen oder in ihm auch nur den Verdacht aufkommen zu lassen, wer wir sind oder was wir können, ist unser sicherer Tod. Es wurden schon viele wegen Hexerei und Teufelei verbrannt und die wenigsten davon beherrschten die Magie überhaupt. Außerdem weißt du sehr genau, dass wir unser Kräfte nicht gegen Menschen richten können.“, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme. „Ich bin gekommen, um dich vor ihm zu warnen. Er erzählte mir, dass er einen Drachen suchte und unseren Wald durchsuchen wollte. Anscheinend ist er sich gar nicht sicher, wo er diesen Drachen aus den Augen verloren hat. Ich wusste, dass er früher oder später dabei auf dich treffen würde. Also habe ich ihm gleich von dir erzählt, allerdings nicht von Draco.“, ergänzte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Er wollte plötzlich alles von dir wissen und beschloss dann dich aufzusuchen.

„Ich wollte schon früher kommen, dir sagen, dass du in nächster Zeit auf keinen Fall deine Magie gebrauchen sollst und vor allem, dass sie Draco nicht sehen sollen. Aber ich bin wirklich zu spät. Ich konnte nicht ahnen, dass er seine Worte schon so bald umsetzen würde.“

Annie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte gespürt, dass von diesem Mann eine Gefahr ausging, aber dass sie so groß war, hätte sie nicht für möglich gehalten. Wenn sogar schon ihr Bruder ihm nicht zu wiedersprechen drohte, dann musste dieser Barrington sehr gefährlich sein. Sie dachte mit Schrecken daran, wie sie gestern so leichtfertig ihre Magie gebraucht hatte. Was, wenn er sie gesehen hätte?

„Nein, du kannst beruhigt sein. Ich habe heute keine Magie benutz und Draco haben sie auch nicht gesehen.“

„Ich bin froh, dass zu hören. Aber Annie, er sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, er bringt dich nur noch mehr in Gefahr.“

„Aber das kann ich nicht-“

„Warum? Warum soll ich gehen?“ Annie blieb das Herz stehen, als sie Dracos Stimme hörte. Warum sprach er denn ausgerechnet jetzt?

Alexander war weit mehr überrascht, als seine Schwester. Das erste Mal an diesem Tag sah er den blondhaarigen Mann genau an. Noch immer hatte er dieses Blitzen in den eisigen Augen, was ihn bereits das letzte Mal erschaudern lassen hat und doch... irgendetwas schien sich verändert zu haben. Nicht in seinem Gesicht, das war noch genauso makellos und schön, wie er verärgert feststellte, aber war da nicht noch etwas anderen in seinen Augen? Etwas was beim letzten Mal noch nicht da gewesen war oder irrte er nur?

„Er kann ja doch sprechen.“, sagte Alexander schließlich und sah dabei aber seine Schwester eindringlich an.

„Das... uhm... ist... Er... ähm...“, stotterte Annie zurecht. „Ich sagte ja auch nicht direkt, dass er nicht spricht. Er... sprich nur nicht... mit Fremden.“

Alexander musterte seine Schwester noch einmal scharf und sah dann zu Draco. Er machte einen Schritt auf diesen zu, bis er vor ihm stand. Wie auch schon beim ersten Mal, wich Draco nicht einen Schritt zurück, sondern erwiderte seinen Blick unerschrocken. Doch dieses Mal wollte Annie nicht warten, bis Alexander ihm abermals drohte und ging gleich dazwischen.

„Alexander, ist schon gut. Ich sagte dir doch, dass er Menschen nicht sehr vertraut und fremden anscheinend schon gar nicht. Mit mir hat er ja auch lange Zeit nicht gesprochen.“ Bei diesem Worten warf sie Draco einen bösen Blick zu. Das hatte sie ihm immer noch nicht ganz verziehen. „Aber ich möchte es auch gern wissen. Warum soll er gehen? Du weißt, dass seine Schuld erst nach einem Jahr beglichen ist.“

„Ist dass denn nicht offensichtlich? Er ist ein Mann und er-“

„Ich sagte dir doch, dass du dir deswegen keine Sorgen machen brauchst.“, unterbrauch ihn Annie gleich. Gleichzeitig musste sie aber an das Ereignis vom Vortag denken. Ihr Bruder hatte vielleicht doch keine schlechte Intuition.

„Auch, wenn du das vielleicht sagst und glauben willst, so kann ich es nicht und Barrington schon gar nicht, wenn er ihn sieht.“

Jetzt war Annie noch verwirrter. „Barrington ist sehr gläubig, zumindest was das Verhalten von anderen betrifft. Bei sich selbst macht er gern eine ziemliche Ausnahme. Wenn eine Frau mit einem Mann zusammenlebt, der nicht zu ihrer Familie gehört und sie nicht verheiratet sind, kommt das für ihn einem Packt mit dem Teufel gleich. Das wäre für ihn die größte Sünde. Eine Frau hat keusch und rein zu sein, sich dem Mann zu unterwerfen und nur nach seinen Wünschen zu leben. Sollte Barrington herausfinden, dass du mit einem Mann zusammenlebst – aus welchen Gründen auch immer – und ihr nicht verheiratet seid, würde er dich sofort in den Kerker werfen lassen und so lange foltern, bis du von deinen Sünden gereinigt bist. Das wäre noch eine milde Strafe für dich. Ich will dir gar nicht erst erzählen, was sie mit ihm machen würden.“

Entsetzt sah Annie ihren Bruder an. Ihr war es eiskalt den Rücken hinuntergelaufen und das atmen fiel ihr schwer. Was für ein Monster war dieser Barrington eigentlich? Woher nahm er sich das Recht, so über die Menschen bestimmen zu können? Warum hielt ihn niemand auf? Sie sah kurz zu Draco, doch sein Gesicht war verschlossen. Wahrscheinlich verstand er all diese Worte gar nicht und vielleicht war das sogar besser so, sagte sie sich.

„Wie... Wie kommt es, dass ich von all dem nichts weiß?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

Alexander atmete einmal resignierend aus. „Ich wollte es dir nicht sagen. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich dachte, dass du hier in deiner Abgeschiedenheit sowieso niemals damit in Berührung kommen wirst. Es tut mir leid, ich hätte es dir doch früher erzählen sollen.“

Annie schüttelte leicht mit dem Kopf. „Ist schon in Ordnung. Du wolltest das Beste für mich. Danke für deine Warnung, aber ich... ich kann Draco nicht einfach wegschicken.“ Allein schon der Gedanken daran, sich jetzt schon von ihm zu trennen, ließ ihr Herz schmerzen. Am liebsten wollte sie ihn nie mehr gehen lassen, auch wenn sie wusste, dass er ein Leben als Mensch wohl niemals akzeptieren würde.

„Warum denn nicht?“, fragte ihr Bruder sofort.

„Er... ist fremd hier und kennt sich nicht aus und... seine Verletzungen sind noch immer nicht vollständig geheilt.“, log sie ihn an. Sie bemerkte Dracos Blick in ihrem Rücken, doch diesen versuchte sie zu ignorieren.

Alexander aber bemerkte die Lüge seiner Schwester. Aufmerksam sah er von Draco zu Annie und wieder zurück. Warum sollte seiner Schwester ihn wegen jemandem wie IHN belügen? Hatte sie dafür einen besonderen Grund? Bisher hatte es doch nichts gegeben, was sich zwischen sie gestellt hatte, was sie vor ihm verheimlicht hatte und dieser Mann sollte jetzt der Auslöser sein? Warum? War es wirklich so, wie Annie sagte oder gab es noch einen anderen Grund? Er sah, wie Dracos Blick auf Annie ruhte und ihm kam etwas in den Sinn, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Gleich darauf verwarf der den Gedanken auch schon wieder. Das war einfach absurd. Seine Schwester, die sich so sehr gegen die Ehe gesträubt hatte, würde doch nicht.... Nicht mit so einem dahergelaufenen...

„Verstehe.“, erwiderte Alexander und seine Stimme war kälter geworden. „Wie du meinst. Trotzdem ist es besser, wenn er verschwindet. … Bevor noch etwas anderes passiert.“ Mit diesen Worten sattelte er wieder auf.

„Was meinst du damit?“, fragte Annie verwirrt.

„Denk an meine Worte, Annie. Er ist nicht gut für dich. Bis bald.“, verabschiedete er sich knapp und ritt davon.

„Alexander!“, rief Annie, doch er hörte sie schon lange nicht mehr. Warum war er plötzlich so abweisend? Das war kein Abschied, wie sie ihn gewohnt war. Er würde nicht gut für sie sein? Was sollte das heißen? Hatte Alexander etwas erkannt, was Draco für sie war? Nein, dass war eigentlich ausgeschlossen. Woher sollte er das bemerkte haben? Sie hatte sich nichts anmerken lassen.

„Ich bin eine Gefahr für dich?“, hörte sie Draco fragen und sie drehte sich zu ihm um.

„Ähm... Nein,... nur, wenn Barrington dich bei mir findet. Aber das wird er nicht, sei also unbesorgt.“ Bei ihren Worten wurde ihr selbst mulmig zu mute. Konnte sie das wirklich garantieren?

Ja. Es würde schon alles gut gehen. Es musste einfach.

„Was meinte er mit all den anderen Dingen, von denen er gesprochen hat? Warum wäre es so schlimm, wenn Barrington herausfindet, dass ein... Mann bei dir lebt?“ Es war das erste Mal, dass er das Wort Mann benutzt und sich selbst damit meinte. Es fühlte sich seltsam für ihn an.

„Lass uns rein gehen, dort erkläre ich dir alles. Es ist vielleicht besser, wenn wir von jetzt an vorsichtiger sind. Vielleicht kommt er ja doch noch einmal zurück, auch wenn ich es nicht hoffe.“, murmelte sie und ging voraus. Draco folgte ihr und warf noch einmal einen Blick zurück. Er zweifelte nicht mehr daran. Dieser Barrington würde sein Schicksal besiegeln.
 

„Gleich wird die Sonne untergehen, aber es ist noch immer sehr bewölkt.“, sagte Annie, als sie vor der Hütte saßen. Sie war aufgeregt. Als die Sonne langsam begonnen hatte unterzugehen, war Draco nach draußen gegangen und hatte sie gefragt, ob sie noch immer wissen wolle, woher die Monddrachen stammen. Natürlich hat sie nicht einen Moment gezögert. Allein die Vorstellung seiner Stimme beim Erzählen zu zuhören, bereitete ihr unglaubliche Vorfreude. Vor allem, weil er es freiwillig tat und nicht, weil er sich dazu verpflichtet fühlte oder eine Gegenleistung erwartete. Woher dieser plötzliche Sinneswandel bei ihm führte, konnte sie sich nicht erklären, aber sie würde ihn auf keinen Fall danach fragen.

„Das macht nichts.“, antwortete er ihr. „Der Mond ist immer da, auch wenn man ihn nicht sieht. Er leuchtet hell und unerreichbar. Es ist beruhigend das zu wissen, auch wenn wir ihn mit den Augen nicht sehen können“

Verwunderte sah sie ihn an. Woher kam diese starke Bindung zum Mond? Sollte das wirklich nur den Namen verschuldet sein? Sie hoffte in dieser Nacht eine Antwort zu finden.

Schweigend beobachteten sie, wie sich der Himmel von brennendem Rot zu Lila und schließlich Schwarz verfärbte. Annie sah nach oben und versuchte den hellen Schein des Mondes auszumachen. Würden sie ihn wirklich nicht sehen können? Sie richtete ihren Blick nach links, weil sie glaubte dort den Mond immer zuerst gesehen zu haben, nachdem es dunkel geworden war.

„Wo siehst du hin?“, hörte sie Draco leise fragen und sie zuckte überrascht zusammen.

„Ich suche den Mond.“, antwortete sie etwas bissig. Das war doch nun offensichtlich.

„So wirst du ihn nie finden.“

„Was?“

„Annie, sieh nach oben und durch die Wolken hindurch.“

Verwirrte folgte Annie seinem Blick. Er sah direkt nach oben, also tat sie es ihm gleich. Aber wie sollte sie durch die Wolken sehen? Sie starrte wie gebannt, auf die Stelle im Himmel auf die auch er sah und wünschte sich doch nichts mehr, als dass die Wolken sich verziehen würden. Auch wenn sie wusste, dass der Mond immer da war, so fiel es ihr schwer, ihn anzusehen, wenn er hinter Wolken versteckt war.

„Kannst du ihn sehen?“, fragte er sie leise.

„Nein.“, antwortete sie ehrlich.

„Er ist nicht mehr so voll, aber immer noch in seiner schönsten Pracht. Du musst genau hinsehen.“

Annie warf Draco noch einmal einen kurzen Blick zu und dieser schien noch immer gebannt, von dem was er sah. Sie richtete die Augen wieder nach oben und weitere Sekunden verstrichen, ohne das sie etwas von dem Mond sehen konnte. Sie wollte es auch sehen! Aber sie sah nur eine schwarze Wolkendecke. Doch plötzlich traute sie ihren Augen nicht richtig. Die Wolken schienen irgendwie heller zu werden. Sie sah kurz nach rechts im Himmel und dort waren die Wolken noch immer dick und undurchdringlich. Als sie dann wieder auf die Stelle sah, kam sie ihr noch heller vor.

Staunend beobachtete sie, wie sich die Wolken langsam teilten und nach rechts und links schwebten, um schließlich den hell erleuchteten Mond preiszugeben. Majestätisch stand er über der Nacht. Er war genau an der Stelle zu sehen, die Draco die ganze Zeit beobachtete hatte. Hatte er ihn wirklich bereits hinter den Wolken gesehen?

Annie ließ den Anblick auf sich wirken und nur Draco Stimme, die sie leise erzählen hörte, fesselte sie noch mehr.

„Wir wurden geboren in der tiefsten Finsternis der Erde, weit weg von Tag und Sonnenlicht. Es gab nur Dunkelheit und das glühende Gestein. So wie die Umgebung war, in der wir lebten, so waren auch wir: dunkel und schwarz. Jahrhunderte lang lebten wir unter der Erde, geschützt und sicher. Nie verließen wir diesen Ort, denn selbst wenn wir uns der Oberfläche näherten, gab es dort nichts, als die gleiche Dunkelheit. Niemals sahen wir den Tag.

„Doch dann,... eines nachts sahen wir ihn, den Mond. Er leuchtete so hell, dass wir unseren Blick nicht von ihm nehmen konnten. Sein kühles Licht war angenehm, im Gegensatz zu dem Feuer, welches uns sonst umgab. Die Sterne im Himmel bemerkten wir nicht einmal. Doch jedes Mal verschwand der Mond irgendwann aus unseren Augen. Wir wussten nicht warum, aber von da an warteten wir Nacht für Nacht darauf, ihn von neuem sehen zu können, uns von seinem kalten Licht kühlen zu lassen. Wir merkten, dass der Mond sich veränderte, dass er mit jeder Nacht anders aussah. Wir bewunderten ihn so sehr, dass unsere Faszination zu Sehnsucht wurde.

„Es genügte uns schon bald nicht mehr den Mond aus der Sicherheit der Erde heraus zu sehen. Wir wollten ihm näher sein. Also verließen wir des Nachts den Ort unserer Geburt und beobachtete den Mond. Immer von der gleichen Stelle aus und wenn der Mond weiter gezogen war, kehrten wir in die Erde zurück und warten voller Ungeduld auf seine Rückkehr.

Aber auch das reichte uns schon bald nicht mehr. Je länger wir ihn beobachteten, desto näher wollten wir ihm sein. Einer von uns wagte es. Das erste Mal gebrauchte er seine Schwingen oberhalb der Erdoberfläche und er flog höher und höher in den Nachthimmel hinein. Doch egal, wie hoch oder wie lange er flog, der Mond schien in immer weitere Ferne zu rücken und wurde immer unerreichbarer.

„Dennoch wollte er nicht aufgeben. Zu groß war das Verlangen dem hellen und klaren Licht näher zu kommen, einzutauchen und darin zu versinken. Aber er erreichte sein Ziel nie. Er starb vor Erschöpfung und fiel zur Erde zurück. Während seines Falls, wurde er in das Licht des Mondes getaucht und als es ihn traf, wandelte sich sein Aussehen. Mit einem heftigen Schlag fiel er auf die Erde.

„Als wir anderen ihn sahen, war da nicht mehr die Schwärze, die sie bis dahin gezeichnet hatte. Er hatte die Farbe des Mondes und seine toten Augen strahlten die gleiche Kälte aus, wie der Mond selbst. Voller Neid standen wir vor ihm. Jeder von uns wollt ebenso ein Teil des Mondes haben. Wir wollten so aussehen wie er. Wir glaubten somit, dem Mond näher sein zu können.“

Draco brach ab und sah gedankenversunken zum Mond. Annie ging es nicht anders. Wie war es möglich, dass sich die Farbe der Schuppen geändert hatte? War es wirklich durch den Mond geschehen? Sie wusste es nicht und sie würde wohl nie eine Antwort erhalten, doch der Mond besaß viele Kräfte. Er beeinflusste das Leben auf der Erde in jedem Augenblick. Wenn ihre Sehnsucht wirklich so groß gewesen war...

„Was haben sie getan?“, wisperte Annie leise.

Draco wandte den Blick vom Mond ab und sah ihr in die Augen. Sein Blick war kalt und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Blick des Drachens gewesen sein musste, der für seine Sehnsucht mit dem Leben bezahlt hat.

„Wir haben ihn gefressen.“

Voller Entsetzen sah sie ihn an und zog scharf die Luft ein. Sofort sah sie Bilder in ihrem Kopf, wie große schwarze Drachen, Ungeheuern gleich, den ersten wirklichen Monddrachen zerrissen und voller Gier sein Fleisch fraßen. Ein Schauer durchlief sie und die feinen Härchen auf ihrem Köper stellten sich auf.

„Ha-Haben sie bekommen was sie wollten?“, fragte sie mit erstickter Stimme.

„Du hast mich gesehen. Du kennst die Antwort.“, antwortet er und die Intensität seines Blickes ließ sie schwindelig werden. Abermals durchlief sie ein Schauer. Ja, sie kannte die Antwort. Aber dass sich so eine Geschichte dahinter verbarg, hätte sie sich nie vorstellen können. Wahrscheinlich war die Farbe der Drachen auch der Grund für ihren Namen bei den Menschen gewesen. Sie hatten die Farbe des Mondes.

„Indem wir das taten begingen wir... Die Menschen würden sage, wir begingen eine Sünde, denn wir fraßen einen von uns. einen. Wir wussten, dass wir dafür bestraft werden würden. Trotzdem taten wir es.“, erzählte Draco weiter, was Annie ein wenig verwunderte.

„Wie wurdet ihr bestraft?“

„Wir wurden nicht bestraft, bis zu dieser Zeit nicht. Ich bin es, der jetzt dafür bestraft wurde.“, flüsterte er.

Ruckartig setzte sie sich auf und schaute ihn fassungslos an. Sie musste ihn nicht extra fragen, was er meinte. Für ihn gab es nichts Schrecklicheres, als das Dasein eines Menschen. Es war die schlimmste aller Strafen. Aber er wusste doch, dass er kein Mensch bleiben würde. Es war nur vorrübergehend. War selbst das eine Jahr, bereits mehr als er ertragen konnte?

Annie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also fragte sie vorsichtig weiter: „Was ist dann passiert?“

„Nichts. Wir leben wie die anderen Wesen. Wir erwachen nachts und schlafen tagsüber in der Sicherheit der Erde, zumindest war es sicher...“

„Was meinst...“ Sie wollte fragen, was er meinte, doch irgendwie glaube sie die Antwort bereits zu kennen.

„Er hat dich am Tage gefunden, als du geschlafen hast...“, flüsterte sie.

Draco sah sie kurz an und nickte.

„Ich weiß nicht, wie sie mich gefunden haben, aber sie haben mich vollkommen überrascht. Ich konnte ihnen kaum entkommen. Des tags sind wir... wir sind nur für die Dunkelheit geschaffen.“

„Aber als Mensch bist du...“

„Die Menschen sind anders als wir. Sie leben am Tag und ruhen in der Nacht. Deswegen bin ich... kann ich...“

Sie schwiegen eine Weile. Anscheinend fiel es Draco schwer darüber zu reden und sie verfluchte sich ein wenig, dass sie ihn erneut daran erinnert hatte. Sie wollte ihn gern wieder auf anderen Gedanken bringen.

„Das ist eine interessante Geschichte, schön und gleichzeitig furchtbar.“, sagte sie schließlich.

„Eine Geschichte? Es ist keine Geschichte. So ist es geschehen.“, widersprach er scharf. Wie konnte sie es wagen, die Wahrheit seiner Worte anzuzweifeln?

„Du meinst... du... das… Bist du... Du warst einer von ihnen?“, fragte sie kaum hörbar. Das konnte und wollte sie sich gar nicht vorstellen. Sie erinnerte sich daran, wie sie überlegt hatte, wie alt er war. Mehr als fünfhundert Jahre, hatte sie errechnet. Es war also möglich und hatte er nicht immer in der Mehrzahl gesprochen? Aber das konnte auch bloß seine Ausdrucksweise sein. Das hoffte sie wirklich.

Wieder sah Draco sie an. „Nein, es geschah lange vor mir.“

„Woher weißt du es dann?“, wollte sie wissen, konnte die Erleichterung aber nicht verbergen.

„Ich erinnere mich.“

Jetzt war sie noch verwirrter und genauso sah sie ihn auch an.

„Wa-Was meinst du damit? Ich dachte du... Du hast doch gesagt, dass du da noch nicht... gelebt hast, wie kannst du dich daran erinnern?“

Draco schüttelte leicht den Kopf. Es würde keinen Sinn haben es ihr zu erklären. Sie würde es nicht verstehen.

„Draco, bitte sag es mir. Du kannst doch so etwas nicht einfach sagen und es mir dann nicht genauer erklären.“

Er öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Warum sollte er ihr es weiter erklären? Sie hatte es ihm doch gestern auch nicht erklärt, warum sollte er es also tun? Genau das war es, was auch Annie in seinem Gesicht lesen konnte.

„Draco, bitte?“, flehte sie ihn fast an und kam ihm unwillkürlich näher.

„Wir... werden mit dieser Erinnerung geboren.“, begann er zaghaft. Er wusste selbst nicht, wie er es in Worte fassen sollte und noch immer sah sie ihn verständnislos an. „Wir vergessen es nicht. Wenn wir geboren werden, besitzen wir diese Erinnerungen bereits. Diese und all die anderen, die wir gemacht haben.“

„Du meinst ihr erinnert euch an alles, ab dem Moment euer... Entstehung. An alles? Von allen?“, fragte sie dumpf. Das ganze überstieg ihre Vorstellung.

„Nein.“, antwortet er kurz. Annie atmete erleichtert aus. Es wäre auch zu verrückt gewesen. Das musste schließlich vollkommen unmöglich sein, selbst wenn die Drachen ihnen noch so sehr überlegen waren. Sie hatte sich bestimmt nur verhört.

„Wir alle teilen die Erinnerung an unserer Entstehung, wie du es nanntest, an den Moment, als er den Mond erreichen wollte. Aber wir teilen auch die Erinnerung unserer... Linie. Ich wurde mit den Erinnerungen meiner... Ich weiß nicht, wie ihr es nennt. Ich kenne das Wort dafür nicht...“

Annie überlegte einen Moment. Das ganze war ihr zu viel. Sie hatte doch nur wissen wollen, woher der Name kommt. Aber, was sie nun erfuhr überwältigte sie geistig.

„Du erinnerst dich an alles, was deine Ahnen... Vorfahren getan haben? Also die Drachen von denen du... abstammst?“, fragte sie fassungslos.

„Vorfahren... Ahnen...“, wiederholte er ihren Worte leise. „Ja,.. ich trage ihre Erinnerungen in mir. Sie werden niemals vergessen.“

„Ihr... Die Monddrachen haben eine ewige Erinnerung... ein... ein... ewiges Gedächtnis?“, fragte sie kaum hörbar. Wir viele Erinnerungen mochten das sein? Abertausende... Millionen... und mit jedem neuem Nachkommen, wurden es immer mehr...

„So ist es... Wir erinnern uns für die Ewigkeit.“

„Oh...“, war alles was sie dazu sagen konnte. Es schien ihr selbst eine Ewigkeit zu dauern, ehe ihr Kopf das alles irgendwie erst einmal hingenommen hatte. Sie würde später darüber nachdenken, auch wenn sie das Gefühl hatte, es niemals verstehen zu können.

„Ihr habt dies Erinnerungen bereits mit eurer Geburt, ab dem Moment in dem ihr das Ei verlasst?“, fragte sie dann schließlich noch einmal. Natürlich war ihr die Antwort schon längst klar, doch sie konnte es einfach nicht glauben. Das war unvorstellbar, doch jetzt war es Draco, der sie verwundert ansah.

„Du glaubst wir würden, wie die Küken eines Huhnes, aus dem Ei kommen?“, fragte er sie und seine Stimme klang ein wenig beleidigt.

„Ehm... Ja, ich meine, ich habe davon gehört, dass Drachen aus Eiern schlüpfen.“, antwortete sie irritiert.

Er musste kurz lächeln, etwas vollkommen untypisches für ihn. Was war so lustig gewesen?

„Die Menschen habe keine Ahnung von uns. Sie glauben an Dinge, die sie doch nie gesehen haben.“, sagte er leise und sprach eher zu sich selbst. „Es stimmt, dass es Drachen gibt, bei denn das so ist. Aber wir gehören gewiss nicht dazu. Nur die, die nichts wissen, wenn sie die Welt das erste Mal sehen, entstehen in Eiern. Mühsam müssen sie neu lernen. Wir müssen nicht erst neu lernen, wir wissen es bereits.“

„Aber... wie werdet ihr dann geboren, wenn nicht...“

„So, wie allen anderen Tiere auch.“, beantwortete er ihr Frage, bereits und es klang so, als wäre es etwas selbstverständliches. Fassungslos starrte sie ihn an. Die Drachen... die Monddrachen sollten so geboren werden... so entstehen, wie... wie ein Wolf, eine Wildkatze oder ein Hase, wie ein Mensch?! Das konnte sie noch weniger glauben.

„Du glaubst mir nicht.“, stellte er fest, als er in ihr Gesicht sah.

Annie schüttelte den Kopf. „Nein... Doch...Aber, dass... ich kann das einfach nicht... begreifen. Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass... Ich... bin verwirrt.“ Noch immer war die Ungläubigkeit in ihrem Gesicht zu sehen, was Draco abermals den Mund zu einem spöttischem Lächeln verziehen ließ. Das war das erste Mal, dass er sie so durcheinander sah und er musste zugeben, dass ihm dieser Anblick auf gewisse Art und Weise gefiel. Annie kratzte sich verstohlen am Hinterkopf. „Ich meine, dass... Ich kann mir das gar nicht alles vorstellen.“

„Nein, du bist auch nur ein Mensch.“, antwortete er.

„Ja, ich fürchte damit hast du wohl recht.“ Vielleicht war sie als Mensch wirklich nicht in der Lage, das zu begreifen. Vielleicht reichte ihr Geist nicht aus, um all das zu verarbeiten. „Kann ich dich noch etwas fragen?“, sagte sie dann etwas zögerlich.

Draco atmete einmal scharf aus. Er hatte ihr bereits mehr erzählt, als er beabsichtigt hatte, trotzdem nickte er leicht.

„Wenn du... wenn du wieder ein Drache bist... und selbst... wenn es Nachkommen von dir gibt... also, wenn du selbst einmal ein Ahne bist... werden sie sich dann... werden sie deine Erinnerungen als Mensch haben?“

Draco sah sie eindringlich an, bevor er antwortete. „Ja. … So wie ich mich immer daran erinnern werde, werden auch sie sich erinnern. Sie werden sich an alles erinnern, was ich als Mensch getan, gesagt... und gefühlt habe.“ Er senkte seine Stimme am Ende und Annie glaubte kurz etwas in seinen Augen zu sehen, was sie nicht einordnen konnte.

Wieder einmal wusste Annie nicht, was sie darauf erwidern sollte, also schwieg sie. Ihr schwirrte der Kopf. Sie ließ sich gegen das Holz sinken und schloss die Augen. Das alles war zu viel für sie. Plötzlich war sie schrecklich müde. Sie überlegte noch, dass sie aufstehen und in die Hütte gehen sollte, doch ihre Beine wollten sich nicht bewegen.

„Draco, warum hast du mir das alles erzählt?“, murmelte sie leicht und befand sich bereits im Halbschlaf.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete er ehrlich. Er verstand sich selbst nicht mehr.

Annies Körper rutschte ein wenig zu Seite und dann spürte sie nur noch etwas weiches, an das sie sich lehnte. Es war warm und angenehm. Sie würde ganz sicher von dem träumen, was Draco ihr gerade erzählt hatte, dachte sie noch, bevor plötzlich alles um sie verschwand. Nur wenige Atemzüge später, schlief sie tief und fest.
 

Erschrocken hatte Draco den Kopf gedreht, als er auf einmal etwas auf seiner Schulter spüren konnte. Er blickte in ihr schlafendes Gesicht und wusste nicht, was er tun sollte. Ihre Nähe fühlte sich unglaublich gut an, besonders wenn er daran dachte, wie sie am gestrigen Nachmittag kaum miteinander gesprochen hatten. Ihr Köper war warm und erinnerte ihn an dem Moment, als er diese Angst verspürt hatte. Auch wenn es ihm schwer fiel, es zuzugeben, aber er war froh gewesen, das sie ihn umarmt hatte. Er hatte sich haltlos und verloren gefühlt. Sie hatte ihn mit dieser Geste und ihren Worten wieder Sicherheit gegeben. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass es ein noch stärkeres Gefühl, wie die Wut geben konnte. Es hatte ihn zutiefst erschüttert. Die Menschen waren noch viel schwächer, als er bisher geglaubt hatte und doch...

Er beobachtete sie weiterhin und erinnerte sich an ihr Gespräch von vor wenigen Augenblicken. Er wusste selbst nicht, warum er ihr all dies erzählt hatte, aber es fühlte sich nicht falsch an. Auf gewisse Weise empfand er es sogar als angenehm, diese Gedanken mit jemand geteilt zu haben, auch wenn sie sie vielleicht nicht richtig begreifen konnte.

Ja, er würde sich immer an sein Leben als Mensch erinnern. Er versuchte es als Bereicherung zu sehen, als eine Erfahrung, die nie jemanden anderem unter Seinesgleichen vergönnt sein würde. Trotzdem konnte er das beklemmende Gefühl nicht verdrängen. Er würde sich wirklich an alles erinnern können: an das Entsetzen, als er bemerkte, ein Mensch zu sein, an die Art und Weise wie er Dinge gelernt hatte, er würde die menschliche Sprache verstehen, er würde sich an die Wut erinnern, die Angst und an... sie, an das Verlangen nach ihr.

Noch immer wollte er sie noch einmal spüren, ihre Lippen auf den seinen. Selbst die Nacht und der Schlaf hatten dieses Begehren nicht verdrängen können. Warum?, fragte er sich. Er wusste doch bereits was ein Kuss war. Aber diese Erfahrung, die bloße Erinnerung daran, ließ das Verlangen noch stärker werden. Das Gefühl des Kribbelns begann sich in ihm auszubreiten und hielt ihn gefangen. Es war die gleiche Sehnsucht, wie sie seine Vorfahren damals nach dem Mond verspürten, genauso mächtig und unstillbar.

Draco wusste nicht, ob er als Drache mit diesen Verlangen würde leben können und wie es ein würde, damit zu leben. Er war sich sicher, dass er sich immer nach ihr sehen würde, egal wie viele Jahrhunderte er noch leben mochte. Er würde dieses Verlangen selbst dann noch spüren, wenn sie schon lange nicht mehr war.

Ohne dass er es bemerkte, näherte er sich ihrem Gesicht ein wenig mehr. So lange, wie er ein Mensch war, konnte er dieses Verlangen stillen. Anders als seine Ahnen, würde er das bekommen können, dem nahe sein können, was er begehrte. Sollte er es sich dann nicht so lange nehmen, wie er konnte? Wenn seine Sehnsucht dadurch nur ein bisschen gestillt werden konnte, sollte er es tun oder nicht?

Aber sie wollte es nicht. Sie hatte es deutlich gesagt.

Und wenn er es sich einfach nahm? Sie würde sich nicht gegen ihn wehren können. Doch wollte er das wirklich? Sollte er gegen ihren Willen handeln? Wenn er es tat, würde es seine Sehnsucht nicht noch mehr steigern, sie noch unerträglicher werden lassen, wenn er wieder ein Drache war und es sich nicht mehr nehmen konnte? Je mehr Erinnerungen er besaß, desto mehr könnten sie ihn später quälen, realisierte er. Müsste es dann nicht leichter für ihn sein, wenn er weniger Erinnerungen hatte? Er hatte sie einmal geschmeckt, kannte nun das Gefühl, wie es war, das Begehrte zu erreichen, das Verlangen zu stillen. Mehr brauchte er nicht und doch wusste er, dass dieser Kuss ein ganz anderes Verlangen in ihm ausgelöst hatte.

Draco schloss die Augen und atmete noch einmal tief ihren Duft. Schon allein dieser genügte, um seine Gedanken zu verwirren und alles, was er vorher noch bedacht hatte, verschwand plötzlich. Gleich würde sich ihre Lippen berühren, würde er seinen Kopf noch ein wenig tiefer senken. Ihm war als könnte er ihr Süße bereits schmecken und sein Körper zitterte vor Erwartung. Noch einmal sah er sie an du ihm wurde bewusst, was er im Begriff war zu tun. Er konnte es nicht. Er durfte es nicht, auch wenn es sich ein Teil von ihm noch so sehr ersehnte.

Seine Ahnen hatten ihrem Verlangen nachgegeben und er musste die Strafe dafür tragen. Würde er seinem Begehren nachgeben, würde auch er sündigen. Er war kein Mensch. Wer würde die Strafe für sein Vergehen tragen müssen?

Der "Antrag"

Langsam erwachte Annie aus ihrem tiefen Schlaf. Das Erste, was sie spürte, war ein stechen ich ihren Schultern. Als sie sich bewegte, zog sich dieses schmerzende Gefühl durch ihren gesamten Oberkörper. Mühselig öffnete sie die Augen und sah das Grün der Sträucher, die vor ihrer Hütte wuchsen. Allmählich erinnerte sie sich. Er hatte ihr gestern etwas über die Monddrachen erzählt und sie musste wohl kurz darauf eingeschlafen sein. Anscheinend im Sitzen, wie sie an den Schmerzen in ihrem Körper feststellen konnte.

Unter einem Stöhnen richtete sie sich auf und lehnte sich erschöpft gegen das Holz. Dann sah sie zu ihrer rechten und war keineswegs überrascht Draco dort nicht mehr vorzufinden. Annie schloss die Augen wieder und döste noch ein wenig vor sich hin. Am liebsten wäre sie wieder eingeschlafen, wenn der Schmerz es ihr erlaubt hätte.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, Schritte, die sich ihr näherten und sie blinzelte leicht, als sie die Gestalt vor sich ansah.

„Morgen.“, sagte sie müde und unterdrückte ein Gähnen. „Du hättest mich wecken sollen, nachdem ich eingeschlafen war. Mir tut alles weh.“, murmelte sie.

Doch sie bekam keine Antwort. Stattdessen musterte Draco sie stumm und sah sie aus unergründlichen Augen an.

„Ah, ich verstehe.“, sagte sie zu sich selbst. Er hatte ja gestern länger mit ihr gesprochen, als jemals zuvor. Es sollte sie also nicht wundern, wenn er jetzt erst einmal schwieg. Sie schloss die Augen erneut und bemerkte nur wage, dass Draco sich abwandte und ging. Aber es interessierte sie momentan nicht einmal, wo er hinging.

Vielmehr kreisten diese unglaublichen Dinge, die sie gestern erfahren hatte, in ihrem Kopf. Immer noch hörte sie seine weiche und klare Stimme leise erzählen und abermals liefen ihr bei der Vorstellung daran Schauer über den Rücken.

Alles was sie geglaubt hatte zu wissen, erschien ihr plötzlich zweifelhaft. Sie hatte nichts über die Drachen gewusst. Sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass es die Monddrachen überhaupt gab! Wie konnte sie – oder irgendein anderer Mensch – sich anmaßen zu glauben, er wüsste etwas über solche Dinge? Sie wussten nichts! Sie waren kein Teil davon. Also konnten sie es auch nicht vollkommen begreifen. Alles, was ein Mensch wissen konnte, dessen er sich sicher sein konnte, war das Wissen über sich selbst. Aber selbst da hatte Annie, was sie selbst betraf, hin und wieder ihre Zweifel. Sie glaubte nicht, dass sie sich selbst kannte. Es gab immer wieder Dinge an ihr, die sie überraschten, die sie in Frage stellte und die ihr merkwürdig erschienen. Erst kürzlich hatte sie diese Erfahrung machen müssen – in dem Moment, als sie sich ihrer Gefühle ihm gegenüber bewusst geworden war.

Dracos Geschichte faszinierte sie und machte ihr auch gleichzeitig Angst. Was machten die Drachen mit all den Erinnerungen, mit dem all dem Wissen? Was würde Draco damit machen, wenn er – nur einmal angenommen – ein Mensch bleiben würde? Was würde er als Drache mit dem Wissen machen, was er als Mensch erfahren hatte? Wie würde es sich auf sein Leben auswirken?

Die Antworten waren wohl unendlich und sie wusste, dass sie – ein einfacher Mensch, wenn auch in der Lage Magie zu gebrauchen – wohl niemals eine Antwort finden würde.

Annies Kopf begann von neuem zu schwirren und sie musste es hinnehmen, dass ihr Geist wirklich zu klein schien, um alles zu begreifen. Sie würde es einfach akzeptieren müssen und sie hoffte. Sie hoffte, dass sie nie vergessen würde, was er ihr erzählt hatte. Irgendwann einmal wollte sie diese Geschichte weiter erzählen. Auch wenn man ihr wohl niemals glauben würde.
 

Der Vormittag verlief ohne weitere, besondere Vorkommnisse und Annie war dankbar dafür. Ihr Kopf tat weh und auch das Schwimmen im Teich, von dem sie gehofft hatte, es würde sie ein wenig beleben, hatte ihr nicht helfen können. Viel mehr hatte sie sich hinterher noch erschöpfter gefühlt. Das Essen hatte sie nur herzlos zusammengekocht und selbst den Löffel zu halten, schien ihr unglaubliche Kräfte abzuverlangen.

Es verwundert also nicht, dass sie sich nach dem Essen noch einmal hinlegte und gleich darauf wieder einschlief.
 

Natürlich fand Draco ihr Verhalten seltsam, aber er fragte sie nicht danach. Es ging ihm schließlich nichts an. Er hatte ihr gestern mehr erzählt, als er selbst jemals für möglich gehalten hatte. Dennoch bereute er es auch einen Tag später nicht. Er verstand sich selbst nicht mehr. Sein ganzes Verhalten erschien ihm unerklärlich – besonders, wenn er daran dachte, was er fast getan hätte. Wie hatte er bloß daran denken können?

Jetzt, da er einigen Abstand von ihr hatte, fiel es ihm leichter, so zu denken. Dennoch genügt es bereits sie nur anzusehen, um sein Herz auf merkwürdige Weise schneller schlagen zu lassen. Nun, da sie schlief und er ihre unschuldige Gestalt betrachtete – die roten Himbeerlippen leicht geöffnet, das Gesicht entspannt, eine schwarze Haarsträhne ins Gesicht hängend – spürte er es nur umso heftiger.

Was geschah mit ihm? Auch wenn er wusste, dass der Drache in ihm noch immer da war, konnte er die Veränderungen spüren. Die Oberfläche des Sees, an dem er am Morgen war, hatte ihm zwar immer noch das Bildnis eines Drachens gezeigt, aber es war nur sein äußeres. Das wusste er. Es zeigte ihm nicht sein inneres. Die menschliche Seite in ihm war stärker geworden. Nicht erst seit letzter Nacht. Aber seit letzter Nacht konnte er es nicht mehr leugnen.

Stattdessen war es im Laufe des Tages noch schlimmer geworden – und wieder war sie es, die Schuld daran trug!, dachte er verärgert.
 

Draco war recht lange am See geblieben, immer nur auf das Wasser starrend und in seinen Gedanken gefangen. So sehr, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich auch Annie dem See genähert hatte. Erst als er ihre Schritte hatte klar und deutlich hören können, war er sich ihrer Gegenwart bewusst geworden. Er war so leise er konnte zwischen den Ästen der Weide verschwunden und vom Ufer weg. Nur kurz hatte er sich umgedreht und war plötzlich wie erstarrt stehen geblieben. Er hatte gesehen, wie sich Annie das dünne Leinenkleid von den Schultern gestreift hatte und es lautlos auf den Waldboden geglitten war. Dem folgte ihre Unterwäsche und sie hatte nackt am See gestanden. Das lange schwarze Haar hatte ihren Rücken bedeckt. Trotzdem hatte es nichts von ihren feinen Rundungen verbergen können.

Draco war von diesem Anblick gefesselt. Er war nicht in der Lage gewesen den Blick abzuwenden, sich zu bewegen, geschweige denn zu atmen. Wie gebannt hatte er auf ihre Gestalt gestarrt und war ihr mit den Augen gefolgt, als sie den See betreten und das Wasser sich langsam an ihren Körper geschmiegt hatte.

Wie ein wildes Tier war das Begehren in ihm erwacht! Er hatte nur einen Gedanken gekannt: Er wollte sie berühren, wollte diese weiße Haut unter seinen Fingern spüren, wie nichts anderes auf der Welt. Noch nie wollte er etwas so sehr. Selbst ein Kuss war ihm in diesem Moment unbedeutend erschienen.

Erst als ihr Körper ganz vom Wasser verborgen worden war, war es ihm möglich gewesen endlich zu gehen. Ihm war gleichzeitig heiß und kalt gewesen. Nur langsam hatte er den Weg zurück finden können. Sein Blick war verschleiert von dem was er gesehen hatte.
 

Auch jetzt noch.

Aber warum?!

Warum hatte es so eine Wirkung auf ihn?!, fragte er sich fast verzweifelt, während er versuchte, das Bild aus seinem Kopf zu verdrängen. Etwas von dem er zunehmend wusste, dass es ihm nie gelingen würde.

Er hatte doch schon einen Frauenkörper gesehen! Damals, als er das Paar beobachtet hatte! Warum reagierte er jetzt so anders? Annie war nichts anderes, als diese Frau. Sein Verstand wusste das, wollte es unbedingt akzeptieren und doch sträubte sich etwas in ihm dagegen.

Sie war nur ein Mensch!, redete er sich ein. Nur ein unbedeutender Mensch!

Wie konnte sie solche Macht über ihn haben? Wie gelang es ihr, ihn so zu beeinflussen? Ihn Dinge tun zu lassen – empfinden zu lassen – von denen er niemals geahnt hätte, dass er dazu fähig war? Wie konnte er das zulassen? Warum konnte er es nicht aufhalten?

Draco fühlte sich, als könnte er ihren Anblick nicht ertragen. Aber wenn er die Augen schloss, war alles was er sah, sie.

Er wusste nicht, was sie mit ihm gemacht hatte, dass er so dachte und handelte, aber es gefiel ihm nicht. Es verwirrte ihn und vielleicht machte es ihm auch Angst. Er, ein Drache, sehnte sich nach einem Menschen! Er wollte wieder ein Drache sein! Dann würde auch dieses unstillbare Verlangen ein Ende haben, hoffte er.
 

Sie schlief einen langen, traumlosen Schlaf, ruhig und entspannt, bis sie plötzlich unsanft geweckt wurde. Jemand schüttelte ihren Körper.

„-nie. Annie.“, hörte sie eine Stimme ihren Namen rufen und nur langsam erkannt sie, dass es Dracos war. Was wollte er?, dachte sie müde und wollte weiter schlafen. Doch er ließ nicht von ihr ab. Er schüttelte sie weiter an der Schulter.

Nur schwer gelang es ihr die Augen zu öffnen. Verschlafen sah sie ihn an. „Was ist?“, nuschelte sie.

„Barrington!“, zischte er leise.

Noch nie war Annie so schnell wach gewesen. Ruckartig richtete sie sich auf und blickte ihn aus großen Augen an.

Sie wollte fragen, was er meinte doch da hörte sie es bereits. Hufschläge näherten sich der Hütte und sie erkannte, dass es mehrere Pferde waren.

Ihr Herz begann zu rasen. Sie erhob sich so schnell, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde.

„Du bleibst hier.“, flüsterte sie zu Draco. Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, ging sie zur Tür, strich sich noch einmal durch die Haare und trat dann dem Mann entgegen, den sie am wenigsten wiedersehen wollte.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, kam Barrington mit seinen Männern aus dem Dickicht der Bäume geritten und kurz darauf blieben sie vor ihr stehen. Annie senkte ihr Haupt vor ihnen – allerdings nicht mehr, als es nötig war.

„Wie schön sie wieder zu sehen.“, begrüßte Barrington sie mit seiner öligen Stimme und bemühte sich von seinem Pferd. „Es kommt mir so vor, als wäret ihr heute noch schöner als gestern.“

„Ihr schmeichelt mir sehr, Sir.“, antwortete Annie und verbeugte sich noch einmal. „Was verschafft mir die Ehre eures zweiten Besuches? Sucht ihr noch immer nach eurem Drachen? Wenn ja, dann muss ich euch enttäuschen. Ich habe keine neue Nachricht für euch.“

Barrington lachte ein lautes Lachen und Annie wich vor Schreck einen Schritt zurück. Sie hasste dieses Lachen.

„Ich habe die Suche nach ihm zwar noch nicht aufgegeben, aber er ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Vielmehr seid ihr es, die mich heute in den Wald gelockt hat.“

Auf sein Gesicht legte sich ein schiefes Grinsen, welches Annie erschaudern ließ. Dieser Mann bedeutete nichts Gutes. Alles, was sie für diesen Mann noch empfinden konnte, war Abscheu und Verachtung. Jedes seiner Worte löste in ihr einen Brechreiz aus und wenn sie es gekonnt hätte, dann hätte sie ihn auf der Stelle zurecht gewiesen. Aber sie vergaß Alexanders Warnung nicht. Dieser Barrington war wohl zu mächtig, um sich ihm zu wiedersetzen.

„Ich versteh nicht ganz.“, antwortete sie schließlich und atmete unsicher aus. Was mochte dieser Mann von ihr wollen?

Barrington kam auf sie zu und legte den Kopf ein wenig schief. Annie sah wie seine Augen erst ihr Gesicht betrachteten und dann langsam ihrem Körper hinunter wanderten. Sie hielt still und sprach auch nicht, aber der Blick mit der er sie ansah machte ihr Angst. Sie fühlte sich wie ein Tier, was von einem Jäger ins Visier genommen wurde.

„In der Tat, meine Entscheidung war genau richtig. Ich habe mich nicht geirrt.“, sagte Barrington schließlich. Noch immer konnte Annie ihm nicht folgen. Wovon sprach dieser Mann?

„Sir, bitte, aber ich kann ihnen nicht ganz folgen.“

Abermals zeigte er dieses süffisante Grinsen, welches Annie ihm am liebsten aus dem Gesicht gekratzt hätte.

„Ihr dürft euch glücklich schätzen, genauso wie ihre Familie. Euch kommt das große Glück zu Teil meine Frau zu werden. Eurer Schönheit und Anmut kann einfach kein Mann wiederstehen. Ich werde euch zu meiner Braut machen!“
 

Es gibt keine Worte, die beschreiben könnten, was Annie in diesem Moment empfand. Es war wie ein harter Schlag gewesen, der jeden einzelnen Nerv in ihrem Köper lähmte. Sie konnte nicht denken, konnte nicht sprechen, konnte sich nicht rühren.

„Das... ich... Ihr...“, stammelte Annie. Das konnte nicht sein ernst sein.

„Ich wusste, dass es euch vor Begeisterung die Sprache verschlagen würde. Es ist eine Ehre meine Braut zu sein und es freut mich, dass ihr das zu schätzen wisst.“, sprach John Barrington weiter und grinste noch immer.

Annie hörte seine Worte, doch sie konnte sie absolut nicht begreifen. Sie zwang sich dazu durchzuatmen, daran zu denken, wer sich in ihrer Hütte befand und wer dieser abscheuliche Mann vor ihr war und vor allem versuchte sie zu verstehen, was er gesagt hatte.

„Es tut mir leid, Sir.“, sagte Annie und versuchte ihre Stimme fester klingen zu lassen, als sie eigentlich war. Dennoch kam es ihr so vor, als könnte Barrington das Entsetzen daraus hören. „So sehr ich ihr Angebot auch schätze, aber ich kann es unmöglich annehmen. Ich bin ihrer nicht würdig. Außerdem habe ich mir geschworen mich nie zu verheiraten. Es tut mir leid, aber ich muss ablehnen.“ Am Ende ihrer Worte hatte sie ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen. Dieser Mann würde sie nicht dazu zwingen können.

Sie stand aufrecht, den Rücken gerade und mit einem festen Blick in den Augen. Niemals würde sie diesen Mann heiraten. Lieber würde sie sterben.

Wieder musste Barrington lachen und Annies Selbstsicherheit geriet ins Schwanken. Doch dieses Gefühl wich schnell der Beleidigung, die sie nun empfand. Wie konnte er sich über ihre Worte lustig machen?!

„Ich habe bereits mit einer solchen Antwort gerechnet. Auch darüber hat ihr Bruder mich informiert.“

„Dann verstehen sie meine Entscheidung sicher.“, versuchte sie trotz allem noch eine gewisse Höflichkeit zu bewahren.

„Ja. Aber was wäre, wenn ich sie umstimmen könnte?“, fragte er sie und wieder trat dieses Blitzen in seine Augen, was ihr eine Gänsehaut verursachte.

„Ich verstehe nicht ganz.“, fragte sie verwirrt.

„Ich bin sicher, ich kann etwas finden, was sie umstimmen wird. Etwas, bei dem sie gar nicht anders können, als meine Frau zu werden. Etwas bei dem sie mir noch dankbar sein werden, an meiner Seite sein zu können. Ich bin überzeugt, dass es so etwas gibt und dass ich es finden werde.“

Jetzt hatte er kein Blitzen mehr in den Augen. Stattdessen waren sie dunkel und unheimlich. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, was ihr das Blut in den Adern gefror. Wieder musste sie an Alexanders Worte denken. Barrington ist äußerst einflussreich, grausam und nimmt sich was er will – immer und egal wie. Sie bekam Angst. Jetzt wusste sie, wie Draco sich gefühlt hatte.

„Ich werde etwas finden, was sie umstimmen wird.“, sagte John Barrington abermals und es klang wie ein Versprechen, das sie niemals wollte. Sie konnte nicht antworten, sondern sah nur zu, wie er es irgendwie schaffte mit seiner Körperfülle auf sein Pferd zu steigen und dann davon ritt – nicht, ohne ihr noch einmal einen Blick zuzuwerfen. Sie kannte diesen Blick. Es war die gleiche Begierde, die er auch schon gezeigt hatte, als er über seinen Drachen gesprochen hatte. Er würde erst dann zufrieden sein, wenn er hatte, was er wollte. Das galt für den Drachen, wie auch für sie.
 

Mit starrem Blick und Entsetzen auf dem Gesicht, ging sie in die Hütte zurück. Draco sah es und war erschrocken. Was war da draußen passiert?

„Annie?“, fragte er sie, doch sie schien es nicht einmal zu hören.

Sie musste sich setzen. Ihre Beine waren weiche und ihr war übel.

„Annie?“, fragte er noch einmal und folgte ihrer Bewegung mit den Augen.

Er sah sie an und wartete auf eine Antwort, doch sie sagte nichts. Stattdessen starrte sie nach unten und versucht das Alles zu begreifen.

Draco setzte sich ebenfalls und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Sie war bleich, ihre Augen weit aufgerissen und kleine Wassertropfen standen auf ihrer Stirn.

„Er... Er will, dass ich ihn heirate.“, sagte sie tonlos und so, dass sie selbst es kaum hörte. Draco verstand ihre Worte, kannte ihre Bedeutung aber nicht. Verwirrt sah er sie an.

„Barrington?“, fragte er. Ihr Verhalten war so ganz anders als sonst.

Langsam nickte sie. Draco schwieg und hoffte, dass sie mehr erzählen würde. Er wollte sie nicht fragen, doch sie sprach auch nicht weiter.

Nach einer Weile rang er sich schließlich zu einer Frage durch: „Annie, was ist heiraten?“

Er sah, wie sich ihre Augen noch ein wenig mehr weiteten. Dann runzelte sie die Stirn und endlich sah sie auf. Es kam Draco so vor, als würde sie ihn erst jetzt wahrnehmen.

„Annie?“, fragte er noch einmal. Ihr Verhalten beunruhigte ihn zunehmend. So kannte er sie gar nicht. Was hatte dieser Mann ihr angetan? Erneut spürte er Wut in sich aufsteigen. Sie kam so schnell über ihn, dass er sich nicht einmal dagegen wehren konnte. Aber allein der Gedanken, dass diese Person ihr etwas getan haben könnte, verursachte in ihm solch einen Zorn, wie er es noch nie empfunden hatte. Es schien ihm mächtig und unkontrollierbar. Er spannte den Kiefer an und biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Er würde sich diesem Gefühl nicht noch einmal hingeben.

„Was?“, fragte Annie überrascht.

„Was bedeutete heiraten?“, fragte er erneut. Seine Stimme war eindringlich und ungeduldig.

„Oh...“, antwortete sie und senkte den Blick erneut. Sie hatte es laut ausgesprochen. Er hatte sie gehört, wurde ihr bewusst.

Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn und den Angstschweiß fort. Wie sollte sie ihm so etwas erklären?

„Draco... Das... Heiraten bedeutet, dass man... Ein Mann und eine Frau heiraten, wenn sie einander lieben und für immer zusammenbleiben wollen. Sie schließen den Bund fürs Leben, vor Gott. Ein Pfarrer, ein Arbeiter Gottes, traut sie. Man wird gefragt, ob man für immer mit diesem Mann oder der Frau zusammenleben möchte, in guten, wie in schlechten Zeiten. Man antwortet mit ja und man ist rechtmäßig verheiratet, man bleibt zusammen,... für immer... bis zum Tod.“, sagte sie monoton.

„Du musst nicht mit ja antworten.“, sprach Draco sachlich. Bisher konnte er nichts schlimmes daran finden, auch wenn ihm die Vorstellung nicht gefiel. Aber es schien, als hätte sie die Wahl und das beruhigte ihn wiederum. Es war nicht so, dass sie diesen Mann heiraten musste.

Zittrig atmete sie aus. Wenn er es sagte, klang es so einfach.

„Ich denke nicht, dass ich gefragt werden würde. Nicht bei ihm. Du hast Alexander doch auch gehört. Barrington nimmt sich, was er will. Man... man kann auch jemanden heiraten, wenn man... muss, ohne, dass man die Person liebt. Barrington, will... er hat gesagt, er würde schon etwas finden, was mich dazu bringen würde ihn zu heiraten. Er... Ich...“

Annie schlag die Arme um die Körper und zog die Knie an. Das konnte alles nicht wahr sein.

Noch immer sah Draco sie irritiert an.

„Wie?“

„Ich weiß es nicht.“, antwortete sie schwach. „Aber es ist möglich.“ Auch wenn sie nicht wusste, wie es ihm gelingen sollte, doch sie konnte es nicht ausschließen. Es machte ihr so sehr Angst, dass ihr das Atmen schwer fiel.

„Wenn ihr... heiratet... dann wirst du für immer... ihr gehört zusammen? Für immer?“

„Ja...“

Draco wusste nicht, was es war, was er bei dem Gedanken daran empfand, aber es schien ihn zu verschlingen, wie ein gefräßiges Tier. Es fraß sich durch seinen ganzen Körper, bis in sein Herz hinein.

Annie sollte Barrington heiraten? Sie würden für immer bei ihm bleiben? Sie würde ihm gehören? Sie sollte für immer mit ihm zusammenleben?

„Und man tut dass, was die das Paar am See getan hat.“, flüsterte sie. Annie senkte den Kopf und legte die Stirn auf ihren Knie. Vor Angst begann ihr ganzer Körper zu zittern. Wenn sie sich nur vorstellte, dass dieser Mann sie mit seinen fettigen Fingern berührte, sie vielleicht küsste und sie seinen fauligen Atem riechen musste, würde sie lieber den Tod wählen, als dies über sich ergehen zu lassen.

„Was?“, hörte sie Draco scharf fragen und Annie wusste nicht, wie sie seine Stimme deuten sollte. War er tatsächlich... entsetzt?

„Aber... Warum... Wieso... Du musst nicht...“ Annie sah auf und sah die Verwirrtheit in seinem Gesicht. Richtig, sie hatte ihm gesagt, dass man es nur tat, wenn man sich mochte.

„Nein, man kann es auch tun, selbst wenn man sich nicht mag. Aber das... Als Frau kann man es sich nicht aussuchen. Man muss das tun, was von einem verlangt wird. Es spielt keine Rolle, ob man es will oder nicht. Man wird mit Gewalt dazu gezwungen. Er würde sich einfach nehmen, was er wollte... Ich könnte mich nicht einmal dagegen wehren. Körperlich ist er mir weit überlegen. Er würde mich...“, presste sie kaum hörbar hervor.

Fassungslos sah er sie an. Er erinnerte sich an die Szene am See, das Paar was sich geküsste hatte. Ein anderer würde sie küssen, würde sie berühren und diese Haut spüren können, nach der er selbst so sehr verlangte? Sie würde für immer einem anderen gehören? Das...

„Du gehörst mir!“, stieß er plötzlich so wütend aus, dass Annie zusammenzuckte.

„Wa-Was meinst du damit?“, fragte sie irritiert. Die Wut hatte sie nicht überhören können, aber sie konnte sie nicht nachvollziehen. Trotzdem schlug ihr Herz auf einmal schneller als gewöhnlich.

Er sah sie unverwandt an und antwortete ihr nicht. Seltsamer Weise, war es ihm egal, warum er es gesagt hatte. Er würde es nicht zulassen, dass ER sie bekam. Allein der Gedanken daran, ließ ihn alles andere vergessen. Niemals würde er es billigen, dass ein anderer Mann sie auch nur berühren durfte. Sie gehörte ihm!

Seine Augen waren ernst und funkelten. Wie Eiskristalle wirkten sie auf Annie, genauso schön und faszinierend und doch strahlten sie eine gewisse Gefahr aus, die noch anziehender auf sie wirkte.

„Was meinst du damit?“, fragte sie noch einmal. Was bedeuteten diese Worte und vor allem was bedeuteten sie für ihn? Er konnte sie unmöglich so gemeint haben, wie sie es gern glauben wollte.

„Ich will nicht, dass du... und er... Ich kann nicht... Ich mag den Gedanken nicht.“

Verwundert sah Annie ihn an und lächelte dann traurig.

„Man könnte meinen du wärst eifersüchtig.“, sagte sie und musste heftig schlucken. Das war vollkommen unmöglich. Warum sollte er?

„Eifersüchtig?“, wiederholte Draco langsam und dachte einen Moment darüber nach.

„Was für ein hässliches Wort.“, sagte er dann.

Ihr Herz machte inzwischen Überschläge. Die Vorstellung, dass er eifersüchtig sein könnte, machte sie glücklich. Sie merkte, wie sie sich die Hoffnung erneut in ihr Herz schlicht.

„Ja, nicht wahr?“, fragte sie schwach mit tränenerstickter Stimme. Sie musste sich zusammenreisen. Er wusste nicht, was er da sagte. Er wusste nicht, wie sie diese Worte auffassen würde und was sie dabei empfand.

Draco sah wie eine Träne ihre Wange hinunter lief. Wieder konnte er nicht anders, als zu denken, dass sie dabei zerbrechlich wirkte und doch gleichzeitig so schön. Warum weinte sie?, fragte er sich. Wegen seiner Worte? Was hatte er getan? Wegen Barrington?

Er beugte sich ein wenig vor und hob eine Hand. Wie fühlten sie sich an, diese Tränen?

Annie erstarrte als seine Hand ihre Wange berührte. Erschrocken sah sie auf und ihm in die Augen. Doch sein Blick ruhte auf etwas anderem.

Mit dem Daumen berührte er die Träne und spürte wie sie darunter zerplatze. Er wischte sie sanft fort.

„Draco...“, flüsterte sie leise und wagte es nicht sich zu bewegen. Was tat er da? Warum tat er das? Er sollte wissen, was Tränen waren. Es waren nicht die Ersten, die er sah.

Draco sah eine weiter Träne ihr Auge verlassen. Vorsichtig beugte er sich nach vorn. Annie konnte seinen zittrigen Atem auf ihrer Haut spüren. Ihr wurde abermals schwindelig. Nicht vor Angst, sondern vor Aufregung. Was hatte er vor?

Seine Lippen berührten zärtlich ihre Wange und küssten die Träne weg. Es schmeckte salzig und doch konnte er sich des Eindrucks nicht verwehren, dass es zugleich bittersüß war.

„Du musst nicht weinen.“, wisperte er gegen die zarte Haut ihrer Wange. „Er wird dich nicht bekommen. Du gehörst mir.“

Annie entrann ein Schluchzen. Seine Worte und die Vorstellung Barrington heiraten zu müssen, fühlten sich so verschieden in ihrer Brust an, dass sie es kaum ertragen konnte.

„Ich wünschte du würdest es ernst meinen.“, sagte sie verzweifelt. Warum quälte seine sanfte Stimme sie mit diesen Worten? Warum tat er das? Er wusste ja nicht, wie sehr sie wollte, dass diese Worte wahr waren.

„Das tue ich.“, sagte er leise. Annie drehte überrascht den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen waren voller Überzeugung, voller Selbstsicherheit und noch immer von diesem Funkeln erfüllt, welches sie gefangen nahm. Es schien sie zu beruhigen, hinfort zutragen und vergessen zu lassen. Sie wollte seine Worte so gern glauben.

„Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, ich wäre wirklich dein. Ich wünschte, du würdest mich dein machen.“, flüsterte sie mit zittriger Stimme. Er antwortete ihr nicht gleich und Annie glaubte bereits, er würde sich wieder von ihr entfernen. Niemals hätte sie mit dem gerechnet, was er dann sagte.

„Wie? Zeig es mir.“

Stumm sah sie ihn an, unfähig zu akzeptieren, dass sie diese Worte von ihm wirklich gehört hatte.

„Du würdest mich hassen.“, antwortete sie atemlos.

Alles woran er denken konnte, war sie sein zu machen, so dass dieser Mann sie nie bekommen würde. Sie gehörte ganz allein ihm.

„Nein.“, erwiderte er schließlich und sein warmer Atmen streifte nochmals ihre Haut. Ein wohliger Schauer durchlief sie und unwillkürlich seufzte sie. Es fühlte sich so angenehm an.

Den Blick nicht von ihm nehmend, drehte sie ihren Kopf. Noch nie hatte sie ihr Herz so heftig schlagen hören. Sie war beinah überzeugt, dass er es mit seinem feinen Gehör ebenso hören musste.

Ihre Gesichter berührten sich fast und noch immer sah Draco sie mit diesem durchdringenden Blick an, der die Zeit anzuhalten schien. Sie konnte keine Unsicherheit darin erkennen. Sein Blick war standhaft und ohne jeden Zweifel.

Würde sie es tun, könnte sie alles mit einem Mal zerstören, dessen war sie sich bewusst. Aber sie würde auch einen winzigen Moment des Glücks erleben. Ein Moment, der sie aus der Finstern ihrer Gedanken hinfort tragen würde, der unvergesslich würde. Und doch gab es so viel mehr Dinge, die dagegen sprachen. Es war absurd es auch nur in Erwägung zu ziehen. Aber mit einer einzigen Bewegung wurde das alles bedeutungslos.
 

Draco sah, wie sie ihren Kopf drehte. Allein bei dieser kleinen Bewegung ihrer Haare, konnte er ihren bezaubernden Duft riechen. Unwillkürlich atmete er tief ein und ihr Geruch schien seine Sinne zu vernebeln. Die Sehnsucht nach ihr schien so stark, wie nie. Wie sehr er sie doch begehrte! Er wollte sie so sehr berühren, wollte dass sie sein war und nur sein allein. Er senkte den Blick ein wenig und sah das verführerische Rot ihrer Lippen. Sie waren ja so viel süßer, als es Himbeeren je sein konnten, dachte er. Wie gern wollte er doch noch einmal davon probieren! Wenn das doch nur reichen würde, um seine Sehnsucht zu stillen, er würde es tun. Doch er wusste, dass es nicht genug war. Er würde mehr wollen, auch wenn er nicht sagen konnte, was genau es war, das er wollte.

Ihr lieblicher Atmen streifte sein Gesicht und erneut erwachte das Kribbeln in seinem Körper. Wie ein Lauffeuer breitete es sich in ihm aus. Er musste an seinen Vorfahr denken. So sehr hatte dieser sich nach dem Mond gesehen, dass er dafür sogar sein Leben geopfert hatte. Aber auch im Angesicht des Todes, hatte er es nicht bereut. Würde er es bereuen? Wenn er sie so für immer sein machen könnte, bestimmt nicht.

Draco senkte seinen Kopf ein wenig und fast unmerklich berührten sich ihre Lippen. Dieser Moment war es, der alle Bedenken beiseite wischte.

Es dauerte nur wenige Sekunden in der Annie ihn erschrocken ansah, sich noch ein wenig weiter nach vorn beugte, ihre Augen schloss und ihn kaum spürbar noch einmal küsste. Er würde sie ganz bestimmt zurückstoßen, dachte sie, bevor sie sich abermals berührten.

Ihre Lippen bebten, als sie sich bewusst wurde, dass er es nicht tat.
 

Er konnte nicht. Zu gefangen war er von den Gefühlen, die ihn erneut durchströmten und von denen er geglaubt hatte, sie beherrschen zu können. Ihr Körper war seinem so nah, dass er ihr Zittern spüren konnte. Oder war es doch sein eigenes?

Es war falsch, was er tat! Er sollte es beenden! Er war nicht... Er wollte nicht... Er sollte nicht... doch stattdessen legte er seine Arme um ihren zierlichen Körper und zog sie näher an sich. Er selbst war es, der den Kuss erwiderte, der ihn vertiefte und der es mehr wollte, als alles andere. Er vergrub eine Hand in ihren Haaren und presste seine Lippen auf die ihren. Er hungerte nach jedem neuem Kuss von ihr.

Seine andere Hand glitt ihren Körper entlang und streichelte ihren Rücken. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr. Draco hatte solch einen Laut von ihr noch nie gehört, aber es löste etwas in ihm aus, was ihn endgültig alles vergessen ließ. Das Prickeln schien sich in seinem ganzen Körper zu befinden, und statt mit jedem Kuss schwächer zu werden, wie er beinah gehofft hatte, wurde es nur noch stärker. Er wollte ihr noch näher sein. Er wollte so viel mehr und doch wusste er nicht, wie er es bekommen konnte.

Noch fester drückte er sie an sich, als wollte er mit ihr verschmelzen. Annie erging es nicht anders. Kurz löste sie sich von ihm, sah ihm in die Augen und setzte sich auf seinen Schoß. Gleich darauf senkte sie ihren Mund wieder auf den seinen und sie versanken in einem neuen, alles verzehrendem Kuss.
 

Das, was Draco empfand, schien ihn regelrecht zu überrollen. Es war so vieles auf einmal. Sein Atem war schnell und heiß, sein Herz fühlte sich an, als würde es zerspringen und dieses Prickeln und Pulsieren in seinem Körper, raubte ihm schier den Verstand. Er versuchte sich zu beruhigen, die Kontrolle über sich und diesen schwachen, menschlichen Körper zurückzugewinnen, den er nicht begreifen konnte – vergebens.

Nur unbewusst nahm er ihre Bewegung war. Er spürte, wie ihre Hände seinen Oberkörper entlang fuhren, langsam und von oben nach unten. Dann glitten sie auf seinen Rücken und wieder zurück. Er mochte diese Berührungen von ihr. Sie waren sanft und gleichmäßig. Die Wärme ihrer Hände konnte er selbst durch das Hemd spüren und es erweckte in ihm das Gefühl von etwas Vertrautem. Ihre Finger bahnten sich einen Weg unter sein Hemd. Als er ihre Fingerspitzen das erste Mal auf seiner Haut spüren konnte, war ihm, als würde ein Blitz ihn durchfahren.
 

Ruckartig zog er sie an ihren Haaren nach hinten und riss sich von ihr los. Er tat ihr nicht weh, denn er ließ sie gleich wieder los, bevor sie etwas spürte.

Erschrocken sah sie ihn an. Sie rechnete mit allem. Sie war zu weit gegangen. Aber sie bedauerte es viel mehr, dass es vorbei war.

Draco hatte den Kopf gesenkt, sein Atem ging schwer und Annie sah, dass er sichtlich darum bemüht war, sich zu beruhigen. Sie wollte sich erheben, diesen Platz, der so angenehm und doch falsch war, verlassen, bevor er sie doch von sich stoßen würde. Jedoch ließ er sie nicht gehen. Seine Hand lag auf ihrer Taille, zu einer Faust geballt. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt und doch zitterte er.

„Was... Was passiert mit mir?“, wisperte er mit bebender Stimme. Erst sah sie ihn verwundert an, doch als sie langsam begriff, wandelte sich ihr Gesichtausdruck in Bestürzung und kurz darauf folgte ein sanftes Lächeln. Für ihn musste das alles fremd und beängstigend sein, noch mehr als für sie. Dennoch hatte er sie nicht von sich gestoßen, als sie ihn geküsst hatte. Er hatte den Kuss erwidert, sie an sich gezogen und festgehalten, als hätte er Angst, sie könnte vor seinen Augen verschwinden.

Vielleicht hatte er sie das erste Mal nicht nur geküsst, weil er neugierig war. Vielleicht mochte er sie ja doch ein wenig mehr.

Nervös biss sie sich auf die Lippen. Was sollte sie jetzt tun? Ihr Gewissen sagte ihr, dass sie aufhören sollte. Das es gut war, so wie es war, doch die Frau in ihr nicht. Zu sehr wollte sie von diesem Mann geliebt werden. Nur einmal, auch wenn er sie mit seinem Hass strafen würde. Er würde sie doch schon bald verlassen.

Annie legte die Arme um seinen Nacken und umarmte ihn. Das Gesicht vergrub sie in seiner Halsbeuge. Im nächsten Augenblick sah sie ihn wieder an und strich über sein Gesicht. Mit dem Daumen fuhr sie über seine Lippen.

„Vertraust du mir?“, flüsterte sie heißer.

Er sah sie einen Moment an, betrachtete ihr Gesicht genau, als würde er etwas darin suchen und als er es fand antwortete er: „Ja.“

Annie schenkte ihm ein Lächeln und Draco bemerkte, wie ihre Augen dabei strahlten. Hatten seine Worte sie wirklich so glücklich gemacht?

Ihre Hände berührten sein Gesicht, fuhren seinen Hals entlang und seinen Oberkörper hinab. Sie sah ihm dabei in die Augen und beide schienen in dem Blick des anderen gefangen. Wortlos griff Annie den Saum seines Hemdes und streifte es ihm über den Kopf. Verwundert sah er sie an, verstand nicht was sie da tat oder warum, aber er ließ sie gewähren.

Ihre Hand glitt über seinen nackten Oberkörper, berührte seine Schultern und fuhren über seine Brust. Sie spürte seine Muskeln. Schon immer hatte sie sie berühren wollen. Ihre Augen betrachteten seinen Körper. Er war genauso makellos, wie sein Gesicht und von der gleichen Schönheit. Selbst die Narben die ihm geblieben waren, taten dem keinen Abbruch. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen über die weißen Linien und sie spürte, wie er darunter erbebte.

„Annie.“, hauchte er gegen ihre Lippen und küsste sie voller Ungeduld. Ihre warmen Finger brannten wie Feuer auf seiner Haut und hinterließen eine heiße Spur. Sein Blick war leicht verschwommen und doch nahm er die weichen Rundungen, wenn auch unter dem Stoff des Kleides versteckt, ihres Körper wahr. Er erinnerte sich an das Bild am See. Sie hatte so wunderschön ausgesehen, dass es ihm noch immer den Atem verschlug. Er wollte diesen wunderschönen Körper, ihre nackte Haut berühren, so wie sie es bei ihm tat.

Seine Hand streiften über ihren Rücken, über ihre Taille, bis hin zu ihren Beinen. Der Stoff des Kleides war ein wenig nach oben gerutscht und er berührte vorsichtig die glatte Haut, die sonst darunter verborgen war. Ihre Haut war genauso weich und geschmeidig, wie ihre Lippen, die auf seinen brannten.

Wie von selbst bewegten sich seine Finger weiter nach oben und fanden den Weg unter den dünnen Stoff. Annie erhob sich ein wenig, ließ ihn gewähren und stöhnte leise auf, als er schließlich ihre Wirbelsäule entlang strich. Sie löste sich kurz von ihm, rang nach Atmen und Selbstbeherrschung, doch nichts davon wollte ihr gelingen.

Draco küsste ihren Hals, die Stelle hinter ihrem Ohr und entlockte ihr einen weiteren süßen Laut. Er kehrte zu ihren Lippen zurück, die ihn seufzend empfingen.

Annie erhob sich ein wenig und verlagerte ihr Gewicht. Wie sie erwartet hatte, hielt er sie weiterhin und passte sich ihrer Bewegung an.
 

Sie langen auf dem Boden. Annies Arme waren um seinen Nacken geschlungen, seine Hände streichelten ihren Körper und er presste sich so sehr an sie, dass nichts sie hätte trennen können.

Sie fühlt sich so heiß an, dachte Draco. Ihr Duft schien ihm noch betörender als sonst, so viel intensiver und verlockender. Er fühlte sich seltsam, als wäre er nicht er selbst und doch konnte er spüren, dass diese seltsamen Gefühle die seinen waren.

Er wollte diesen wunderschönen Körper noch einmal sehen. Er wollte ihn ganz berühren, ohne den Stoff, der ihn bedeckte.

Ihr Körper formte einen leichten Bogen, als Draco den Stoff ihres Kleides, langsam über ihr Becken schob.

Ich liebe dich

Er starrte nach unten, auf die klare Wasseroberfläche des Sees und blickte sich an.

Sein Herz raste. Er atmete viel zu schnell. Sein Körper bebte.

Mit zitternden Händen berührte er sein Gesicht und sah sich selbst dabei im Spiegelbild des Wassers.

Seine Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen und Schrecken über das, was ihn anblickte – über den, der ihn anblickte.

Da war Angst und Grauen – über sich selbst.

Denn das, was er im Wasser sah, war nicht das, was er bisher gesehen hatte. Es war nicht die Gestalt eines Drachens, die ihm entgegen blickte. Es war die eines Menschen.

Er krümmte sich. Ihm wurde übel. Ruckartig drehte er seinen Körper und erbrach sich. Es schmeckte bitter und ekelhaft und doch nahm es nichts von dem Gefühl, welches ihn beherrschte.

Erneut sah er auf die Oberfläche des Wassers, doch das Bild hatte sich nicht verändert. Noch immer sah er nur einen Menschen.

Was war geschehen?

Wie hatte das passieren können?

Was hatte er getan?

War dies die Strafe, für die Sünde, die er begangen hatte? Die Strafe für das, was er niemals hätte haben sollen und doch so sehr begehrt hatte in der letzten Nacht?

Die Erinnerung an das Geschehen war ihm so lebendig, wie keine andere.

Noch immer konnte er ihre samtig weiche, warme Haut unter seinen Fingern, ihre Küsse auf seinen Lippen, ihre Berührungen seines Körpers spüren.

Allein bei diesen wenigen, kurzen Erinnerungen, begann sein Körper von neuem zu prickeln.

Wie sehr er sie doch gewollt hatte! Wie sehr er sie doch noch immer wollte!

Aber niemals wollte er das! Er wollte niemals so... menschlich werden, hatte sich all die Monate dagegen gewehrt.

Er war zu schwach gewesen.

In einer einzigen Nacht, hatte er sich für immer verloren.

Wegen eines Menschen!

Wegen eines einfachen Menschen!

Wegen eines Menschen ohne dem er nicht mehr sein konnte!

Es war nicht mehr nur sein Körper der sich verändert hatte, sondern auch sein Herz.

Er war ein Mensch.
 

Sie zwang sich beinah dazu ihre Augen geschlossen zu halten. Sie wollte den Moment zwischen Schlaf und Erwachen noch ein wenig länger festhalten. Sie wollte sich weiter ihren Träumen hingeben. Es gab nur eines von dem sie Träume – der letzten Nacht.

Auch Annie spürte noch immer seine Berührungen auf ihrer Haut, wie er sie sanft gestreichelt und geküsst hatte. Ihr war als hätten seine Küsse von einem unstillbaren Verlangen gesprochen, welches sie selbst genauso stark empfunden hatte. Aber dass, was sie getan hatten... Es war so viel mehr, als sie je beschreiben könnte, als sie jemals für möglich gehalten hatte zu empfinden. Sie hatte sich so leicht gefühlt, vollkommen losgelöst von allem Irdischem.

Ihre Wangen begannen von neuem zu glühen.

Nein, sie wollte noch nicht aufwachen. Denn, wenn sie es tat, würde sie sich ihm stellen müssen. Etwas, wofür sie sich nicht bereit fühlte. Sie war sicher einem hasserfüllten Blick zu begegnen. Vielleicht war er auch verstört. Aber es würde ein Blick sein, den sie nicht ertragen könnte.

Doch sie konnte sich nicht länger gegen das Aufwachen wehren. Nur sehr wiederwillig öffnete sie die Augen und drehte sich dann noch einmal um. Sie wollte ihn noch nicht sehen. Sie hielt kurz inne. Irrte sie sich oder...

Annie hob den Kopf und hatte sich tatsächlich nicht geirrt. Draco war nicht mehr da. Sie setzte sich auf und zog die Decke noch ein Stück weiter nach oben, um ihren nackten Körper zu bedecken.

Das Herz schlug ihr schneller. Wo war er?

Hatte er sie... hatte er sie etwa verlassen? War er für immer gegangen oder war vielleicht er nur in den Wald verschwunden, wie er es öfters allein tat?

Was hatte sie nur getan? Es hätte es nicht geschehen dürfen!

Wenn er jetzt gegangen war und allein irgendwo in der fremden Welt der Menschen umherirrte, wenn ihm irgendetwas passierte, dann war das nur ihr verschulden!

Abermals hielt Annie inne. Nein, er würde niemals diesen Wald verlassen und zu den Menschen gehen. Es war nicht so sehr der Gedanke, dass er Angst davor haben würde, der sie der Sache sehr sicher machte, sondern vielmehr, dass er sich niemals freiwillig unter die Menschen begeben würde. Auch wenn sie letzte Nacht.. Auch wenn er mit ihr... Sie wagte es nicht einmal diesen Gedanken zu Ende zu denken, so kostbar war ihr dieser Moment. Egal, was zwischen ihnen geschehen war, sein Stolz würde ungebrochen sein.

Trotzdem machte sie sich daran aufzustehen. Sie wollte nach ihm suchen. Annie wusste, dass sie ihm früher oder später wieder gegenübertreten musste. Wenigstens so lange, bis er wieder das sein würde, was er war.

Ihr Herz zog sich in schmerzlich zusammen. Nach dieser Nacht würde sie es noch weniger ertragen können, ihn wieder gehen zu lassen. Aber sie hatte es ja gewusst, sagte sie sich. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ und welche Schmerzen sie sich selbst zufügen würde, wenn sie es täte. Aber es war ein bittersüßer Schmerz und auch wenn sie kein ewiges Gedächtnis oder Erinnerung besaß, so würde sie keine Sekunde dieser Nacht jemals vergessen können. Niemals...

Gerade als sie sich bereits zur Hälfte erhoben hatte, erschien Draco in der Tür. Sie war so erleichtert darüber, dass er zu ihr zurückgekommen war, dass sie sich wieder auf den Boden sinken ließ. Doch gleich in der nächsten Sekunde erschrak sie über seinen Gesichtsausdruck, den sie dann bemerkte. Er war so viel anders, als sie erwartet hatte. Sein Gesicht war ganz bleich und sie war sicher Schmerz und Trauer darin zu sehen. Etwas was sie sich nicht erklären konnte.

„Draco, was ist pa-“

Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, war er bereits bei ihr. Er drückte sie so schnell auf den Boden, dass sie vor Überraschung einen kleinen Schreckensschrei ausstieß. Noch erschrockener war sie aber, als er begann beinah fieberhaft ihren Hals zu küssen. Die Decke mit der sie gerade noch ihren Körper bedeckt hatte, riss er beiseite und begann sie von neuem zu streicheln.

„Wa-Wa-Wa...“, stammelte sie.

Einen flüchtigen Augenblick sah er sie an und Annie verschlug es den Atem. Da war etwas in seinen Augen, was sie noch nie gesehen hatte, etwas unbekanntes und beängstigendes.

Er küsste ihre Lippen hart und heftig und ließ ihr keine Möglichkeit weiter zu sprechen oder sich gar gegen ihn zu wehren.

Sie wusste nicht, was geschehen war und sie begriff nicht, warum er sich so verhielt.

Annie glaubte in seinen Küssen Verzweiflung zu schmecken. Eine tiefe, nicht enden wollende Verzweiflung. Sie konnte es in seinen Berührungen und Küssen spüren und an der Angespanntheit, die seinen Körper zu beherrschen schien.

Was war nur geschehen? Was war nur in ihn gefahren?

Sie wusste es nicht. Sie war sogar überzeugt, dass sie wohl niemals eine Antwort auf all diese Fragen erhalten würde. Aber sie wollte bei ihm sein, ihm zeigen, dass sie da war. Er braucht sie jetzt genauso, wie vor zwei Tagen. Nur die Gründe waren ganz andere, dass konnte sie spüren. Sie wollte ihm etwas von dem Schmerz nehmen, der ihn offenbar quälte.

Sie legte die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss sanft und zärtlich. Unter dem Kuss merkte sie, wie er sich langsam beruhigte, sich sein Körper entspannte, seine Atmung ruhiger wurde und die anscheinende Verzweiflung verschwand.

Es war ein intensiver Kuss, wunderschön und genauso kostbar, wie all die anderen.

Auch ohne, dass es ausgesprochen worden war, hatte sich in dieser einen Nacht so viel zwischen ihnen verändert. Sie waren nicht mehr einfach nur zwei Menschen, die zusammenlebten, weil es die momentanen Umstände nun mal erforderten. Ihre Beziehung zueinander war anders geworden, doch was genau es war, vermochte Annie nicht zu sagen. Vielleicht war nun alles auch einfach nur noch komplizierter.

Doch diese Gedanken verflüchtigten sich unter seinen Berührungen schnell. Er liebkoste ihre Haut mit seinen Fingern, seine Lippen und seiner Zunge und war dieses Mal nicht mehr zurückhaltend. Abermals begann sie unter seinen sanften und weichen Händen vor Erregung zu erbeben und sie wusste, dass es nur eines gab, was sie davon erlösen konnte.
 

Es war egal, sagte Draco sich. Es war vollkommen egal, was er war oder wer. So lange, wie er nur sie hatte, konnte er es ertragen, sich selbst betrogen und verraten zu haben. Sie war sein, für immer, alles andere war egal.
 


 

Als sie die Augen das nächste Mal öffnete, wusste sie, dass sie wohl noch einmal eingeschlafen sein musste. Viel zu lange hatte sie schon geschlafen und doch zog sie die Beine noch etwas mehr an und kuschelte sich in ihre Decke. Auch wenn die Sonne sie außerhalb der Hütte mit ihren warmen Strahlen lockte und der Gesang der Vögel so laut war, dass an weiteren Schlaf nicht mehr zu denken war, wollte sie sich nicht erheben. Denn die Bedenken, welche sie bereits vor ein paar Stunden - oder waren es doch nur Minuten? – gehabt hatte, war noch immer präsent.

Dieses Mal spürte sie die Wärme seines Körpers noch neben sich und wusste, dass er sie nicht gleich wieder verlassen hatte.

Warum hatte er es noch einmal getan? Kam dieser seltsame Gesichtsausdruck, den sie vorher bei ihm gesehen hatte, nicht von ihrer ersten... Vereinigung? War er nicht deshalb so unglücklich gewesen? Warum hatte er sie dann von neuem geliebt?

Annie drehte den Kopf leicht und sah ihn an. Seine Augen waren geöffnet und er starrte nach oben.

Eine Weile sah sie ihn wortlos an, hoffte auf eine erste Reaktion von ihm, doch mit jeder Minute, die schweigend verstrich, wurde sie immer unruhiger. Wusste er nicht, dass auch sie bereits wach war? Nein, überlegte sie. Das war ausgeschlossen. Er hatte bestimmt bereits gemerkt, dass sie nicht mehr schlief und dass sie ihn schon eine Zeit lang ansah.

„Ich wusste, dass du mich hassen würdest.“, wisperte sie und die ersten Tränen standen ihr in den Augen. Hätten sie es doch nur nicht getan! Dieses Schweigen war schlimmer, als es jedes scharfe Wort von ihm sein konnte. Wenn sie nur geahnt hätte, dass dies ihre Strafe war, hätte sie seiner Bitte, seinem Wunsch nie nachgegeben. Sie hätte sich niemals von seinen Worten verführen, niemals von ihren Wünschen ihrer Herzen leiten lassen.

Draco sah sie an, ausdruckslos und mit einem Blick, den sie nicht kannte. Irgendwie erschienen ihr seine Augen merkwürdig leer.

Ohne zu sprechen, fasste er ihr Handgelenk und zog sie an seinen Oberkörper. Starr vor Verwunderung lag sie auf seiner Brust und wurde sich der Situation erst richtig gewahr, als sie spürte, wie er mit seinen Fingerkuppen sacht über ihren nackten Rücken strich. Wiederholt durchliefen sie Schauer.

Annie verstand nicht, was das sollte, was er ihr mit diesem Verhalten sagen wollte, aber sie konnte auch nicht sprechen. Auch wenn es nur eine wunderbare Illusion war, so wollte sie zu gern an dieser festhalten und den Augenblick nicht durch ein Wort zerstören. Selbst, wenn sie wusste, wie dumm und naiv das doch von ihr war. Das würde noch früh genug geschehen. Also lauschte sie seinen Atemzügen und spürte seinen Herzschlag unter ihrem Körper.
 

Er mochte es, wenn sie ihm so nah war, wenn sich ihre Haut berührte und er sie so mehr spüren konnte, als auf jede andere Weise. Langsam fuhren seine Finger ihren Rücken entlang. Draco bemerkte das leichte Erzittern ihres Körpers unter dieser Geste. Die Reaktionen, die er bei ihr auslöste, wenn er sie so berührte, beruhigten ihn auf seltsame Weise und ließen ihn viele andere Dinge vergessen.

„Es tut mir leid. Ich hätte nicht... Wir hätten nicht...“, hörte er sie schließlich leise sagen.

„Die ganze Zeit,...“, begann er, „... war da etwas in mir, ein... ein Verlangen, dass ich nicht... es war egal, was ich tat, aber es reichte nie, um es zum Schweigen zu bringen. … Es war wie ein Tier, welches niemals genug hatte, sondern immer mehr wollte. Aber jetzt... jetzt, weiß ich, wie ich es beherrschen kann, wie ich es erfüllen kann.“

Annie sah ihn mit großen Augen an. Seine Worte klangen gerade so, als hätte er sie ebenso sehr gewollt, wie sie ihn und das schon seit langem. Aber das... Es klang so unwirklich. Warum sollte er ausgerechnet sie... Trotzdem röten sich ihre Wangen leicht.

Aber war es denn überhaupt wichtig, dass er möglicherweise so empfunden hatte? Es bedeutete nichts für ihre Zukunft. Sie hatten keine Zukunft. Er würde nicht bleiben. Annie senkte den Kopf so weit sie konnte und schmiegte sich doch noch ein wenig mehr an ihn. Sie wollte seine Nähe genießen, so lange es ihr möglich war und er es ihr gestattete.

„Nein, ich hätte es nicht tun dürfen. Jetzt werde ich dich noch weniger gehen lassen wollen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das noch kann.“, flüsterte und seine Stimme klang gebrochen.

Abermals sah sie an, dieses Mal mit einem irritierten Ausdruck auf dem Gesicht.

„Was meinst du damit?“, fragte sie mit trockener Stimme und erinnerte sie sich auch an die Frage, die sie hatte vorher stellen wollen. „Was war vorhin passiert?“

„Dieses Herz... Mein Herz... ist zu menschlich geworden. Ich habe gelernt Dinge zu empfinden, die mir vorher unmöglich waren, die ich eigentlich nie empfinden wollte. Mein Herz... ist nun das eines Menschen.“, seine Stimme zitterte und Annie glaube Angst daraus zu hören. Gefühle die ihr allein verschuldet waren.

„Aber, dass... Du... Ich bin sicher, es gibt einen Weg... Du wirst ganz sicher wieder zu einem Drachen werden!“, versuchte sie ihm Hoffnung zu machen. Gleichzeitig wurde ihr aber klar, dass sie sich eben dies nicht wünschte. Sie wollte, dass er bei ihr blieb. Als sie das erkannte, konnte sie ihm nicht einmal mehr in die Augen sehen. Sie schämte sich und hasste sich selbst für diese Gedanken. Warum nur war sie so egoistisch?

„Das Herz der Menschen ist so groß… und doch viel zu klein.“, sprach er leise weiter.

Annie nickte stumm.

„Es tut mir leid. Bitte verzeih mir, verzeih mir.“, sagte sie, den Tränen nahe.

Wieder herrschte für einige Minuten schweigen und Annie hatte das Gefühl, dass es dazu nichts mehr zu sagen gab. Doch abermals überraschte er sie mit ihren Worten und dieses Mal glaubte sie, ihr Herz würde vor Freude zerreißen.

„Ich will dich, nur dich allein – egal wie. So lange, wie du bei mir bist, will ich es hinnehmen. Wenn das der einzige Weg ist...“

Sie hob den Kopf und mit einer Bewegung seiner Arme zog er sie rasch nach unten und küsste sie. „Du bist mein.“, flüsterte er gegen ihre Lippen, als er von diesen ließ. „Niemand anderes soll dich bekommen. Du gehörst mir allein.“

„Ja.“, sagte sie mit brüchiger Stimme und eine Träne rollte ihre Wange hinab. Abermals küsste er sie.

„Ich bin müde.“, sagte er schwach, als sie sich wieder trennten. Dann drehte er den Kopf und schloss die Augen. Behutsam strich Annie ihm über die Stirn und fuhr ihm durch die Haare.

Schlief er bereits, fragte sie sich einen Moment. Wann hatte er das letzte Mal geschlafen? War er etwas die ganze Nacht auf gewesen? Waren es diese Gedanken, die ihn wach gehalten hatten? Sie konnte sich vorstellen, wie er wohl die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, dass er versucht hatte zu verstehen und dass es ihn doch nur noch mehr verwirrt hatte.

Auch wenn er sagte, dass er als Mensch leben könnte, so würde er es doch nur ihretwegen tun. Annie wusste nicht, ob sie das wirklich wollte. Konnte sie mit dem Wissen leben, dass er sich selbst und alles was er war und ihn ausmachte, ihretwegen aufgab? Konnte sie es ihm wirklich zumuten ein menschliches Leben zu führen, ein Leben was er von Anfang an gehasst hatte und das er nur wegen ihr ertragen wollte? Konnte sie das wirklich annehmen?

Aber war es nicht jetzt schon zu spät? Hatte er nicht gesagt, dass er bereits zu menschlich war, dass sein Herz sich verändert hatte? Auch daran trug sie Schuld. Es hatte sich ihretwegen geändert.

Sie hätte den Zauber nicht so lang sprechen dürfen. Sie hätte ihn gehen lassen müssen, als er genese war. Sie hätte einen Weg finden müssen, ihn wieder zurück zu verwandeln, als es ihm besser gegangen war. Vielleicht hätte ihr Alexander helfen können. Gemeinsam hätten sie sicher eine Lösung gefunden.

Vielleicht könnte er sich doch noch an diesen Körper und an dieses Leben gewöhnen? Vielleicht konnten sie dann ein ganz normales Leben führen, hier in ihrem Wald, in ihrer Hütte, als Mann und Frau zusammen? Sie wären allein und für sich. Draco müsste gar nicht in die Welt der Menschen. Sie könnten für immer hier bleiben. Niemand würde sie stören oder jemals davon erfahren. Alexander würde sie vielleicht ab du an besuchen kommen.

Was würde ihr Bruder dazu sagen? Er mochte Draco ohnehin nicht sehr. Aber er würde ihr Entscheidung schon akzeptieren, wenn auch erst einmal wiederwillig. Sie und Draco könnten zusammen glücklich sein. Vielleicht... sie wagte es kaum diesen Gedanken zu Ende zu denken,... vielleicht hätten sie irgendwann eine eigene Familie.

Bei dieser Vorstellung wurde ihr ganz warum ums Herz und doch verbot sie es sich ein Bild davon zu machen. Sie war nicht sicher, ob sie seine Worte einfach so glauben konnte und sollte.

Leise und vorsichtig erhob sie sich nun. Er schien wirklich zu schlafen, denn er ließ sie ohne weiteres gehen. Annie streifte sich ihr Kleid über, welches irgendwo neben ihrer Schlafstelle lag. Dann machte sie sich einen Korb mit Brot und Marmelade zurecht und schlich sich leise aus der Hütte.
 

Den Korb stellte sie an die Seite der Hütte, gut unter einem Tuch verborgen und sie machte sich als auf zum See. Dort wusch sie als erstes ihr Kleid und legte es zum Trocknen auf einen der großen Steine, die am Ufer lagen. Ein paar Strahlen der Sonne fanden ihren Weg durch das dichte Blätterdach und würden es schon trocknen, bis sie fertig war. Zudem waren die Temperaturen ausordentlich hoch, so dass es gewiss nicht lange dauern würde.

Während sie das Kleid wusch, wurde ihr bewusst, dass sich ihr Körper anders anfühlte als zuvor. Auch wenn er sich äußerlich vielleicht nicht verändert hatte, so fühlte sie sich doch anders. Noch immer wart ihr, als könnte sie seine Küsse spüren und fast bedauerte sie es ein wenig, dass sie die Spuren seiner Berührung fortwaschen würde. Zugleich war es doch aber unmöglich sie je zu vergessen.

Aber auch wenn sie vorher noch so gedacht hatte, so spürte sie, wie das kalte Nass sie belebte, als sie in den See ging. Ihre Gedanken wurden klaren und schienen nicht mehr ganz so wirr und auch ihr Körper fühlte sich nicht mehr steif und müde an.

Nach ihrer Rückkehr setzte sie sich unter die Linde, die direkt neben ihrer Hütte stand und machte sich ein Brot. Sie lehnte sich gegen den alten Baum und schloss die Augen. Ihre Gedanken drifteten schnell wieder zu dem Geschehenem ab, aber sie wehrte sich dagegen weiter darüber nachzudenken. Sie wusste, dass es nichts bringen würde, außer vielleicht Kopfschmerzen, auf die sie gut verzichten konnte. Stattdessen konzentrierte sie sich nur auf die Geräusche um sie herum. Das sachte Rascheln der Blätter an den Bäumen, den Gesang der Vögel, das Summen von Flügelschlägen winziger Insekten und die Rufe der Tiere aus dem Wald. Alles war so friedlich und ihr vertraut. Sie hätte Stunden dieser Musik lauschen können, ohne davon müde zu werden, denn in jedem Augenblick änderte sich etwas in dem Orchester. Eine neue Stimme kam hinzu oder eine andere verschwand.

Sie genoss diesen Moment. Wann war es das letzte Mal gewesen, dass sie einfach nur so dasaß und die Natur um sich herum genossen hatte? Sie konnte sich diese Frage nicht einmal beantworten. Es war wohl bevor Draco zu ihr gekommen war.
 

Annie bemerkte nicht, wie Draco erwacht war und ebenfalls vor die Tür getreten war. Eine Zeit lang hatte er sie beobachtet. Ein kleines Lächeln hatte ihre Lippen umspielt und er hatte sich gefragt, an was sie wohl dachte. Nie wäre ihm die Idee gekommen, dass es alles um sie herum gewesen war, das sie so glücklich machte.

Als er sie so betrachtete und wiederholt nicht anders konnte, als zu denken, wie schön sie war, wie anmutig ihr Körper, wie betörend ihr Duft und wie süß und zart ihre Küsse, bereute er nicht, was er getan hatte. Wenn all dies für immer sein war, dann wollte er den Preis zahlen. Wenn sie dafür bei ihm bleiben würde, würde er sogar noch mehr geben, wenn es erforderlich wäre.

Draco ging zu ihr und hauchte einen leichten Kuss auf ihre Lippen. Sie sah ihn überrascht an, doch ihr Ausdruck änderte sich gleich in ein sanftes Lächeln.

„Woran denkst du?“, fragte er sie und setzte sich ebenfalls.

Annie schüttelte leicht den Kopf. „An nichts. Ich genieße es nur hier zu sein und den Tieren zu lauschen.“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Möchtest du etwas essen? Du hast sicher Hunger.“

Draco schüttelte kurz mit dem Kopf. Er fühlte sich noch immer nicht wohl.

„Warum denkst du an nichts?“

„Wenn ich darüber nachdenken würde, was wir getan haben, kommen mir so viele Gedanken auf einmal, dass es mich ganz verwirrt. Es gibt so vieles, was ich empfinde und jedes Gefühl ist genauso stark, wie das andere. Ich weiß nicht, ob ich es aushalten würde, sie gleichzeitig zu empfinden.“

„Was ist es, was du empfindest?“, fragte er sie weiter und sah sie aus seinen blauen Augen an. Annie überlegte einen Moment, wie sie es ihm am besten erklären konnte.

„Ich empfinde Freude, über das Geschehene, unglaubliche Freude, die ich nicht in Worte fassen kann. Besonders deine Worte, dass du bei mir bleiben willst, haben mich so glücklich gemacht. Aber ich empfinde auch Trauer und Zweifel. Ich weiß nicht, ob es richtig war, was wir getan haben. ... Nicht, wenn du dafür etwas bleibst, was du nicht sein möchtest.“

Er hörte ihr aufmerksam zu und doch wunderten ihn ihre Worte.

„Ich will, dass du nur mir gehörst und niemanden sonst. Wenn das bedeutet ein Mensch bleiben zu müssen, dann bin ich bereit dazu. Ich will dich niemals einem anderem geben. Und wenn ein Mensch sein bedeutet, dass ich dich so berühren kann, wie letzte Nacht, dann will ich nicht wieder in meine alte Gestalt zurück. Nicht, wenn du nicht bei mir wärest.“

Abermals färbten sich ihre Wangen rot. Seine Worte trafen sie genau in ihr Herz und brachten es zum flattern.

„Aber... Kann ich denn ein Mensch bleiben?“, fragte er sie zweifelnd.

„Ich weiß es nicht. Du sagst, dein Herz ist jetzt das eines Menschen... Wenn du es selbst willst,... vielleicht. Du selbst bist ein magisches Wesen, du besitzt Magie, vielleicht eine viel stärkere als wir Menschen.“ Ihr seid mit dem Mond verbunden, dachte sie. Eine stärkere Macht, als diese gab es doch nicht oder?

„Wir müssen warten.“, sprach sie weiter. „Einfach nur warten.“, wiederholte sie flüsternd.

„Bereust du es?“, fragte sie nach ein paar weiteren Sekunden, in denen keiner von ihnen gesprochen hatte.

„Nein.“, antwortete er ihr sachlich. „Aber ich habe gesündigt. Ich habe etwas genommen, was ich so sehr begehrte und was ich doch niemals haben sollte.“

Mit fragenden Augen sah sie ihn an. Sein Gesicht war angespannt und sie merkte, dass er seine Worte wirklich so meinte. Möglichweise war es ja das, was ihn so sehr quälte.

„Wir haben nicht gesündigt.“, widersprach sie ihm. „Wir haben nichts verbotenes getan. Ich wollte es so. Du es dir nichts genommen, was du nicht hättest haben sollen. Wir haben nichts unrechtes getan.“, redete sie auf ihn ein. „Du wirst nicht bestraft werden.“

Einen Moment trafen seine Augen die ihren und Annie glaubte darin die gleiche Kälte zu sehen, die ihr bisher so vertraut war.

„Vielleicht.“, antwortete er nur und sah dann wieder weg. Er hatte seine Worte anders gemeint. Er war ein Drache gewesen und niemals hätte er auch nur den Gedanken haben sollen, einen Menschen zu begehren. Das er sich dem Hingegeben hatte, war eine Sünde. Und dass er es nicht einmal bereute eine noch viel größere.

Annie beschlich ein ungutes Gefühl, doch sie wollte selbst nicht an ihren Worten zweifeln. Sie durfte einfach nicht, denn sie waren ja wahr! Sie hatte es ebenso gewollt wie er, wenn nicht sogar noch mehr. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie hatten es getan, weil sie... weil sie sich...

Annie stutze. Er hatte gesagt, dass er sie begehrte, aber hieß das auch, dass er sie liebte? Dessen war sie sich noch immer nicht ganz sicher.

Irritiert schüttelte sie den Kopf und lehnte sich dann an seine Schulter. Sie schloss die Augen und bei ihren nachfolgenden Worte, schlug ihr das Herz bis in den Hals.

„Ich liebe dich, Draco.“, flüsterte sie so leise, dass sie es selbst kaum hörte. Doch er würde sie verstehen.

Als keine Reaktion von ihm kam, wurde sie nervös. „Was... Was ist mit dir? Liebst du mich?“

„Ich weiß es nicht.“, antwortete er wieder in einem sachlichen Tonfall. Was ist Liebe?, fragte er sich. Er mochte Annie. Doch was unterschied dieses Gefühl von Liebe? Wie fühlte es sich an, wenn man liebte? Er wusste es nicht. Sie war ihm wichtig, aber war das Liebe? Er wollte sie berühren, immer bei ihr sein und ihre Küsse spüren, doch war das Liebe?

Annie sah ihn einen Augenblick an. Das war nicht die Antwort, die sie erhofft hatte, aber sie wollte nicht weiter darüber reden oder nachdenken. Sie hoffte einfach, dass er sie irgendwann doch einmal lieben würde und dass er es ihr dann vielleicht auch sagte.

Erwachen

Die Zeit danach konnte Annie nicht anders beschreiben, als glücklich. Sie wusste nicht, wie Draco es empfand, aber ein anderes Wort wollte ihr einfach nicht in den Sinn kommen, wenn sie an die letzten verstrichenen Wochen dachte. Sie konnte sich nicht erinnern jemals so glücklich gewesen zu sein.

Natürlich war sie bereits glücklich gewesen. Sie würde allen Menschen, die sie liebten Unrecht tun, wenn sie etwas anderes behaupten würde. Doch das Glück das sie damals verspürte, war ein ganz anderes, als das, welches sie momentan empfand. Diese verschiedenen Arten von Glück waren nicht einmal mit einander zu vergleichen.

Mit Draco fühlte sie sich...

Manchmal dachte sie, sie könne den Himmel erreichen, solange er nur bei ihr war.

Annie überlegte oft, was sich in all der Zeit seit ihrer ersten Begegnung verändert hatte. Es war so vieles. Nicht einmal, dass er zu einem Menschen geworden war, war dass bemerkenswerteste, sondern die kleinen Dinge. Draco hatte das Sprechen, Laufen, Fühlen gelernt und wenn sie es klug anstellte, würde sie ihm auch das Schreiben beibringen können. Er war in seinem Verhalten zu einem – fast beinah – gewöhnlichem Menschen geworden.

Eigentlich sollte sie sich gar nicht mehr darüber wundern. Hin und wieder fühlte sie sich ihm nimmer noch weit unterlegen. Dabei war sie es doch von der er lernte! Demnach müsste sie es doch sein, die ihm überlegen war, zumindest theoretisch.

Aber was hatte sich seit der erste zärtlichen Berührung verändert?

Nun, das war dass faszinierendste überhaupt. Es hatte nichts geändert – zumindest nichts grundlegendes.

Draco ging weiterhin allein auf seine Streifzüge in den Wald und Annie wäre niemals auf die Idee gekommen ihn zu begleiten. Sie hatte das Gefühl, nein sie wusste, dass diese Momente nur für ihn allein bestimmt waren. Sie würde nur stören, wenn sie ihm folgte – auch wenn sie nur zu gern gewusst hätte, was er dort tat.

Sie selbst kümmerte sich wie bisher um die Wäsche, führte den kleinen, recht bescheidenen Haushalt und versorgte die Tiere. Die Küken, die Mitte des Jahres geschlüpft waren, waren ihr oft ein angenehmer Zeitvertreib, wenn Draco nicht da war.

Auf den ersten Blick hatte sich also wirklich nicht viel in ihrer recht seltsamen Beziehung verändert. Die größte Veränderung gab einzig in ihren Gefühlen.

Annie liebte Draco und jedes Mal, wenn er sie ansah oder sie berührte, spürte sie es mehr und mehr. Selbst wenn sie noch gewollt hätte, hätte sie sich nicht mehr gegen diese übermächtigen Empfindungen wehren können. Das Gefühl des Verliebtseins war für Annie zu etwas wunderbaren und außerordentlich schönem geworden. Selbst, wenn sie nicht wusste, ob ihre Gefühle überhaupt erwidert wurden. Es reichte ihr zu wissen, dass sie die Einzige war, die er begehrte. Das genügte ihr, um sich seiner Zuneigung sicher zu sein.
 

Doch Dracos Gedanken oder gar Gefühle waren ihr, wie jeher, ein vollkommenes Rätsel. Wenn sie ihn etwas persönliches fragte, schaute er sie nur verwundert an oder antwortete ihr gar nicht. Überhaupt war er nicht viel gesprächiger geworden als vorher. Weiterhin sprach er nur selten und unregelmäßig mit ihr. Oft war es dann nur kurz oder ganz einsilbig und so gut wie nie, gestattete er ihr einen tieferen Einblick in seine Gedanken oder Empfindungen. In diesem Punkt wusste Annie nicht, was sie davon halten sollte. Sie wusste, dass er ihr vertraute. Er hatte es ja selbst gesagt. Dennoch fragte sie sich, warum er ihr nicht wenigstens ein bisschen mehr über sich erzählte. Taten das die Menschen nicht hin und wieder? Müsst er nicht das Bedürfnis danach verspüren? Wenn er also nun mehr ein Mensch war, als ein Drache, müsste er dann nicht genauso empfinden? Oder dachte er vielleicht schlichtweg, sie würde ihn nicht verstehen können? War sie möglicherweise nicht intelligent genug, um ihm folgen zu können? Er wusste ja, dass sie bereits Schwierigkeiten gehabt hatte, die Geschichte der Monddrachen zu akzeptieren. Dachte er nun also, dass alles andere sie ebenso überfordern würde?

Sie wusste es einfach nicht und genau das brachte sie hin und wieder dazu an ihm zu zweifeln. Doch dann berührte er sie wieder zärtlich, liebkoste ihren Körper, sie liebten sich und die Zweifel schwanden. Aber nichts wollte sich an seinem Verhalten, Denken oder Handeln ändern. Noch immer umgab ihn etwas unnahbares und mystisches, dass sie niemals würde durchdringen können - und wenn sie ehrlich war, war das einer der Gründe, die ihn für sie so anziehend machte.
 

Irgendwann akzeptierte Annie schließlich, dass das nun einmal die Art war, wie er war. Er war eben niemand der viel Sprach und anscheinend schon gar nicht darüber, was ihn bewegte oder worüber er nachdachte. Stattdessen war er jemand, der jeden Schritt abwog, nicht unüberlegt handelte und nur wenig von sich preisgab. Vor allem aber war er nun mal kein Mensch von Geburt an.

Ab und an musste Annie aber auch über Draco schmunzeln. Dann wurde sie sich bewusst, das er trotz allem nichts von seiner kindlichen Unschuld verloren hatte. Er war immer ehrlich, hatte nie Zweifel an seinen eigenen Worten und glaubte, dass alles ihm gehören konnte - auch sie - und keine Antwort auf all seine vielen Fragen schien ihm genug zu sein. Er dankte es ihr mit einer neuen Frage.
 

Vielleicht war es besser, dass Annie Dracos Gedanken nicht kannte.

Denn dieses seltsame Gefühl, welches ihn bereits nach der ersten Nacht beschlichen hatte - das Gefühl etwas verbotenes getan zu haben, gesündigt zu haben - war noch immer da und mit jedem Tag, den sie gemeinsam verbrachten, wurde es nur stärker.

Immer wieder fragte er sich, wie es sein konnte, dass er einen Menschen so sehr begehrte, dass er sein Verlangen nach ihr stillen konnte, wann immer er wollte, ohne dass es irgendwelche Folgen hatte. Selbst, wenn Annie sagte, dass sie nichts verbotenes taten, wusste er doch, dass es anders war.

Von Anfang an hätte er sie nicht haben dürfen. Er wusste, dass es falsch war, was er tat und dass er zurückkehren sollte. Aber er konnte schon lange nicht mehr zurück. Und jedes Mal, wenn sie ihn ansah, lächelte und ihn küsste, verschwand dieser dunkle Gedanke so plötzlich schnell, dass er keine Chance mehr hatte auch nur einen Augenblick länger daran festzuhalten. Nur eine einzige Berührung von ihr genügte und er vergaß sich selbst und war nur noch ein Mann, der ohne die Geliebte nicht mehr sein wollte. Was für einen Sinn hätte sein Leben ohne sie noch gehabt?

Mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass er sich an sie gefesselt hatte. Er war untrennbar und für immer an sie gebunden. Eine Vorstellung, die er hasste und ihn seine eigene Schwäche verabscheuen ließ. Aber ein Leben ohne sie wollte er ebenso nicht. Lieber würde er die Strafe tragen, die ihn eines Tages ganz sicher erwartete. Er würde alles ertragen, solange er es nicht sie war, die dafür sühnen musste.

Diese Gedanken beschäftigten ihn so sehr, dass er von Tag zu Tag unruhiger wurde. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer und sein Herz fühlte sich furchtbar eng in seiner Brust an. Doch er konnte nichts tun als zu warten. Und langsam begann er es zu hassen. Vielleicht war seine Strafe aber auch nur der Tod, der ihn als Mensch so viel früher ereilen würde. Wenn es nur das wäre,... Er würde ohnehin irgendwann sterben.
 

Draco war an diesem Tag schon früh in den Wald gegangen und bis jetzt, zur Mittagszeit, war er noch nicht wieder zurückgekehrt. Es wunderte Annie nicht allzu sehr. Sie wollte ihm diesen Freiraum lassen, wusste sie doch, dass er in ihre Arme zurückkehren würde. Bei dem bloßen Gedanken daran, wurde sie rot und doch durchlief sie dieses prickelnde Gefühl.

Wie konnte ein einzelner Mensch nur so empfinden? In diesen Momenten verstand sie Draco und seine vielen Fragen. Auch wenn sie es war, die die seinen beantwortete, so hatte sie keine Antwort auf ihre eigenen.

Sie wollte sich gerade an das Mittagessen machen, als es an ihrer Tür klopfte. Verwundert hielt sie inne. Warum hatte sie niemanden kommen hören? War sie so in Gedanken gewesen? Wer mochte das sein? Alexander? Er hatte sie schon lange nicht mehr besucht, aber darüber war sie auch nicht weiter überrascht. Immerhin hatte er nun eine eigene kleine Familie zu versorgen und nach dem Sommer war meist die Zeit, in der die Familiengeschäfte besonders gut liefen.

Annies Familie handelte mit Kräutern und den Produkten, die sie daraus gewannen. Sie verkauften sie als Heil- oder auch Nahrungsmittel. Bis ihr Bruder Oberhaupt der Familie geworden war und ihr Vater noch das Geschäft inne hatte, wurde ausschließlich an magische Kundschaft verkauft. Etwas, was ihr Bruder geändert hatte und die Geschäfte seitdem noch erfolgreicher liefen. Allerdings wusste Annie auch, dass es schwierig war weiterhin mit so etwas zu handeln, ohne Gefahr zu laufen, der Hexerei bezichtig zu werden. In zu vielen Dingen sah man das Schlechte und Böse. Nur wenn man sich einer freiwilligen Überprüfung des Geschäftes und der Herstellung unterzog, konnte man dem vielleicht entgehen. Andererseits war Annies Wissen auch schon fast ein Jahr alt. Sie hatte ihren Bruder schon lange nicht mehr danach gefragt, wie es jetzt war. Es wird sich wohl nicht viel geändert haben, sagte sie sich. Sonst hätte er ihr wohl von selbst davon erzählt.

Sie öffnete die Tür doch als sie erkannte, wer da vor ihr stand, hätte sie sie am liebsten wieder zu geschlagen.

Sie stand niemand geringerem als John Barrington gegenüber.

Perplex starrte sie ihn an und war nicht in einmal in der Lage zu denken. In den letzte zwei Monaten hatte sie diesen Menschen vollkommen aus ihrem Gedächtnis gestrichen.

„Ah, sind sie so sprachlos, wenn sie mich wieder sehen? Dabei hörte ich, dass sie nicht selten um eine Antwort verlegen sind.“, eröffnete Barrington das unfreiwillige Gespräch. Sie musste ein paar Mal schlucken und tief einatmen, bevor sie überhaupt ein Wort herausbrachte.

„Ähm... Guten Tag, Sir.“, sagte sie dann eher zaghaft.

„Ihnen auch einen schönen Tag. Wie ich sehe haben sie noch immer nichts von ihrer Schönheit verloren. Wie geht es ihnen? Ich hoffe sie erfreuen sich noch bester Gesundheit?“

Sie sah ihn ein wenig verwundert an und trat dann einen Schritt nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte verhindern, dass er einen Blick in ihre Hütte werfen konnte, aus Angst er würde etwas verräterisches darin finden können.

„Vielen Dank der Nachfrage, Sir. Mir geht es ausgezeichnet. Was verschafft mir die erneute Ehre ihres Besuches?“, fragte sie ihn und merkte selbst, wie distanziert sie dabei klang. Aber es störte sie nicht einmal. Dieser Mann musste so schnell, wie möglich wieder verschwinden, bevor Draco zurückkam und er ihn bemerkte... oder Draco ihn. Sie war sich nicht sicher, wie Draco wohl reagieren würde.

„Oh, ich wollte sie fragen, ob sie inzwischen über mein verlockendes Angebot nachgedacht haben und einwilligen meine Frau zu werden.“ Seine Stimme klang sachlich und emotionslos, so als würde er jeden Tag eine Frau darum bitten, ihn zu heiraten. Annie benötigte abermals einen Moment, um antworten zu können. Auch an dieses unliebsame Thema hatte sie nie wieder einen Gedanken verschwendet.

Es hatte nur Draco und sie gegeben.

„Es tut mir aufrichtig leid, Sir, aber ich habe meine Meinung nicht geändert.“, versuchte sie so selbstsicher wie möglich zu sagen. Es war eine Lüge, das wusste sie. Es gab einen Mann an den sie bereit war sich für immer zu binden. Aber das durfte die Person vor ihr niemals erfahren.

Aus einem ihr unverständlichen Grund lachte Barrington plötzlich. Irritiert sah sie ihn an.

„Das habe ich erwartet. Deswegen bin ich dieses Mal besser vorbereitet. Erinnert ihr euch noch an meine Worte? Ich sagte, ich würde schon etwas finden, um euch umstimmen zu können.“

Annie nickte kaum merklich. Das Versprechen, welches sie niemals haben wollte.

„Nun, ich darf euch mitteilen, dass es mir tatsächlich gelungen ist, etwas ausfindig zu machen, was euch bestimmt überzeugen wird mich zu ehelichen. Ein Angebot, welches ihr nicht ablehnen könnt.“

Abermals schluckte sie heftig. Ihr Herz raste in ihrer Brust und ihre Kehle wurde trocken. Sie erwartete das Schlimmste, umso überraschter war sie also über seine nachfolgende Frage.

„Sagen sie, wie geht es ihrer ehemaligen Amme Sophie Weather?“

Verwirrt blickte Annie ihn an. Wieso kam er plötzlich auf ihre ehemalige Amme zu sprechen? Woher wusste er von ihr?

„Ähm... Ich bin nicht sicher. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesprochen.“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Oh, wie schade.“, antwortete Barrington und verzog dabei das Gesicht, was ihn abermals nur noch hässlicher erscheinen ließ. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Frau Weather und ihre Familie der Ketzerei bezichtigt werden. Ist das nicht eine furchtbare Tragödie?“, fragte er sie.

Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie den Mann vor sich an, schloss ihn, öffnete ihn erneut und schloss ihn wieder. Sie konnte nicht sprechen. Zu entsetzt war sie über das gehörte.

Tief in ihrem Unterbewusstsein erkannte Annie, dass diese letzten Worte geheuchelt und gelogen waren, denn sie konnte nicht das kleinste Mitleid daraus hören. Aber was interessierte sie das? Nicht einmal nachdenken konnte sie darüber. Sie konnte überhaupt nicht mehr denken.

„Wie ich sehe, war ihnen diese Nachricht vollkommen neu.“, sagte John Barrington gespielt anteilnehmend und tätschelte ihr die Hand. Erst da kam Annie wieder zu sich. Hastig entzog sie sich ihm und nickte leicht mit dem Kopf. Endlich ließ die Betäubung in ihrem Körper, die der Schock verursacht hatte, nach.

„W-Warum?“, fragte sie mit krächzender Stimme. „Was... Was wird ihr vorgeworfen?“

„Es heißt, dass zwei Kinder, die sie betreut hatte, ganz plötzlich verstorben seien. Dabei waren sie vorher gesund und munter. Man untersucht die Fälle gerade. Außerdem scheint es, als habe einer ihrer Enkel eine Liaison mit einer Frau, ohne vorher überhaupt den Bund der Ehe geschlossen zu haben!“ Barringtons Stimme klang angeekelt und darüber scheinbar mehr entsetzt als über den Tod der beiden Kinder. Annie zuckte kurz zusammen. Es war als hätte er die Worte ausgespukt.

„Wer hat das entschieden?“, fragte sie dumpf. „Das glaube ich nicht! Wie kommen sie auf so etwas?“

Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken. Alexander hatte sie davor gewarnt, was Barringtons Meinung über die Ehe anbelangte und besonders Liebschaften ohne den Ehebund. Draco durfte jetzt auf keinen Fall zurückkommen! Sie wären beide des Todes!

„Ich könnte dafür sorgen, dass Misses Sophie Weather und ihrer Familie nichts zu Schaden kommt.“, erzählte Barrington ruhig weiter. „Wissen sie, Fräulein Annie, ich habe ein paar Kontakte, die ich nur zu gern benutzen würde, um ihnen zu helfen. Es würde aber selbst für mich nicht so einfach sein. Allerdings...“, Barrington machte eine kleine Pause und Annie hielt instinktiv den Atem an, „wenn sie bereit wären, mich zu heiraten, dann will ich dieses Risiko nur zu gern für sie eingehen. Immerhin würde es sich unter diesen Umständen, um alte Freunde meiner Braut handeln.“

Ihre Starre brach bei diesen Worten gänzlich. Annie hob den Kopf und sah den Mann vor ihr scharf an. Endlich hatte sie begriffen, was für ein Spiel er mit ihr spielte. Er hatte ihr eine Falle gestellt. Eine Falle aus der sie nicht entkommen konnte, wie ihr blitzartig klar wurde. Wahrscheinlich gab es nicht einen Beweis für diese Anschuldigungen. Wahrscheinlich war Barrington es gewesen, der die Anklage erst erhoben hatte. Sie wusste auf einmal ganz genau, dass er es sein würde, der das Verhör führte und über den Ausgang entscheiden würde. Und der hing allein ihr ab.

Würde sie einwilligen seine Braut zu werden, würde er Sophie frei sprechen. Würde sie es nicht tun, würde er... würden Sophie und ihre Familie...

„Haben sie verstanden, was ich ihnen damit sagen will?“, fragte Barrington noch einmal, als sie ihm noch immer nicht geantwortet hatte. „Wenn sie einwilligen meine Frau zu werden, will ich das Leben von Misses Weather verschonen. Die arme alte Frau. Wie alt ist sie jetzt? Schon fast 60, nicht wahr? Es wäre doch wirklich ein Jammer, wenn sie den Tod auf den Scheiterhaufen oder am Strang finden würde, wo sie doch ihren Lebensabend genießen könnte. Wie lange hat sie sich eigentlich um sie gekümmert? 15 Jahre? Ich habe gehört, sie war wie eine Mutter für sie und ihre Tochter, wie eine ältere Schwester. Ach und ihre Kinder und Kindeskinder erst. Es wäre verboten, diese Sünder ebenfalls am Leben zu lassen, wenn ein so schwerer Verdacht an Kindsmord besteht. Schließlich haben auch sie dieses dreckige Blut geerbt. Man muss dem Vorbeugen, bevor es zu spät ist und sich dieses Pack ausbreiten kann.“

Wie er es sagte! Als wäre es ebenso alltäglich so etwas ungeheuerliches auszusprechen! Vielleicht tat er das ja auch, schoss es Annie durch den Kopf.

Doch schnell verschwand auch dieser Gedanke. Ihre Beine begannen zu zittern und ihr Blick verschwamm. Sie erkannte kaum noch die Umgebung in der sie sich befand.

Sie hatte überhaupt kein Wahl! Es war schon lange vorher alles entschieden worden! Dieser ungeheuerliche Mensch wusste, dass sie niemals zulassen würden, dass unschuldige Menschen für sie sterben mussten. Und dass Sophie und ihre Familie unschuldig war, daran zweifelte sie nicht einen Augenblick. Sie musste einwilligen, sonst...

Aber sie... sie hatte Draco doch versprochen, immer bei ihm zu bleiben. Sie hatte sich Draco versprochen!

Wie konnte sie jetzt noch einem anderen Mann... Er würde es merken... Er würde herausfinden...

Nur langsam keimte eine Hoffnung in ihr auf. Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit. Sie bezweifelte, dass Barrington noch eine Frau haben wollte, die sich bereist einem anderem versprochen hatte. Es musste einfach so sein.

„Sir, was...“, sie atmete einmal tief durch. Sie musste sehr genau aufpassen, wie sie ihre Worte wählte. Sie durfte ihn nichts merken lassen. „Sir, was würde geschehen, wenn ich mich bereits einem anderem Mann versprochen hätte?“ Sie versuchte ihrer Stimme Selbstsicherheit zu verleihen, doch dieser Versuch scheiterte kläglich. Von ihrer Selbstsicherheit war nichts mehr übrig geblieben. Zu groß war die Angst, er könnte doch noch die Wahrheit herausfinden.

John Barringtons ohnehin schon kleine Augen wurden noch schmaler und das Blitzen kehrte zurück.

„Nun, dann wäre es doch sehr bedauerlich, wenn der Auserwählte einen tödlichen Unfall erleiden würde.“, flüsterte er bedrohlich.

Bestürzt sah sie ihn an. Sie hatte seine Drohung klar und deutlich verstanden.

„Hat diese Frage denn eine Berechtigung?“, fragte er sie in diesem gefährlichem Flüstern weiter. Annie bemerkte, wie er begann sich sehr genau umzusehen. Er blicke nach rechts und nach links, wohl in dem Glauben etwas im Gehölz oder der Umgebung zu finden, was auf einen weiteren Anwesenden schließen ließen ließ.

„Nein!“, antwortete Annie möglichst ruhig. „Nein, es gibt keinen Grund. Ich habe in letzter Zeit nur darüber nachgedacht, dem Drängen meiner Familie nachzugeben. Das Leben im Wald kann gerade im Winter etwas unbequem sein.“ Sie wusste nicht wie, aber es gelang ihr sogar ein falsches Lächeln aufzusetzen.

„Verstehe.“ Durchschaute er ihre Lüge? „Aber wenn sie darüber nachdenken, sollte sie mein Angebot erst recht annehmen.“ Ein Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als hätte er gerade an etwas gedacht, was ihn besonders erfreute. Im nächsten Moment teilte er Annie seine Gedanken mit. Sie wusste, dass sie ihr nicht gefallen würden. „Nicht nur, dass sie damit vielleicht das Leben der armen Misses Werther retten würden, sie können auch noch dem Drängen ihrer Familie nachgeben und bräuchten sich im Winter nicht mehr um ihr Überleben zu sorgen. Außerdem... bedenken sie doch nur den Zuwachs an Einfluss und Ansehen, den ihre Familie dadurch gewinnen würde. Ich bin sicher, sie wären ihnen äußerst dankbar. Ihre Geschäfte würden dann wahrscheinlich noch besser gehen. Ach ja... womit handelte ihre Familie nochmal gleich? Mit Kräutern, wenn ich mich recht erinnere. Sind sie sich sicher, dass diese nicht ebenso schädlich sind? Wer kann schon dafür garantieren, dass mit diesem Zeug niemand zu schaden kommt?“

Wie dumm sie doch war! Würde er nun auch Alexander anklagen, würde es nur ihr verschulden sein! Dann war sie es, die diesem Menschen erst auf diesen Gedanken gebracht hatte! Wie konnte sie das tun? ! Sie durfte nicht auch noch Alexander in Gefahr bringen!

Als sie noch immer nichts erwidert hatte zog sich einer seiner Mundwinkel schräg nach oben. „Ich sehe wir verstehen uns. Ich bin aber so großzügig und lasse ihnen eine Woche Zeit, um über mein Angebot nachzudenken. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie es ablehnen können. Bedenken sie nur, wer dadurch alles gewinnen würde... und wer verliert.

Ich empfehle mich ihnen, schöne Frau und werde sie in einer Woche wieder aufsuchen, um eine Antwort zu fordern. Schönen Tag noch.“

Damit drehte Barrington sich um und bemühte sich abermals auf sein Pferd. Erst jetzt bemerkte Annie, dass Barrington sogar in Begleitung gewesen war. Ein blonder Mann ritt neben ihm her, doch sie erkannte sein Gesicht nicht mehr. Aber es war auch nicht weiter wichtig.
 

Sie starrte den Reitern selbst dann noch hinterher, als sie diese schon längst nicht mehr sehen konnte. Dennoch blieb sie, anders als nach seinem letzten Besuch, merkwürdig ruhig. Ihr Herz schlug wieder gleichmäßig und auch ihr Atmen war nicht zu schnell. Ihre Beine waren vielleicht ein wenig wacklig, aber sie verspürte nicht die gleiche Panik.

Sie wunderte sich mehr über ihr eigenes Verhalten, als darüber nachzudenken, was sie nun tun sollte. Aber was sollte sie auch darüber nachdenken? Hatte sie denn eine Wahl?

Nein, sagte sie sich nüchtern. Die hatte sie im Grunde nicht.

Niemals könnte sie es verantworten, Sophie oder ihre eigene Familie solch einem Schicksal zu überlassen. Lieber würde sie sterben! Doch das war es leider nicht, was dieser Mensch von ihr forderte. Er wollte sie und das war es, was sie fast der Verzweiflung nahe brachte.

Und trotzdem... Sie würde ihn verlassen müssen... Aber sie... Nein... Sie konnte nicht... Sie würde nicht... Ein Leben ohne ihn war vollkommen ausgeschlossen. Sie könnte ohne ihn nicht mehr leben. Warum sollte sie dann auch noch leben wollen?

Sie würde sterben, wenn sie auch nur einen einzigen Tag ohne ihn sein müsste, ohne seine eisblauen Augen, ohne seine Berührungen oder seine Stimme... Welchen Sinn hatte dann ein Tag noch? Es würde immer Nacht sein.

Doch bei ihm zu bleiben... alle diese Menschen... ihr eigenes Glück, für das anderer? Könnte sie dann überhaupt glücklich sein? Nein... niemals... Nicht mit diesem Menschen.

Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung, die allen helfen würde. Jedoch ohne Erfolg. Sie konnte weder ohne den einen noch dem anderem leben. Sie konnte sich nicht für eines entscheiden. Auch wenn es vielleicht noch so offensichtlich war!

Annie biss sich auf die Lippen, bis sie sogar glaubte ihr eigenes Blut schmecken zu können. Gab es denn keinen anderen Ausweg für Sophie? Für Alexander? Woher wusste Barrington eigentlich von Sophie? Wenn Sophie wo anders wäre, wenn sie und ihre Familie irgendwo in Sicherheit wäre, dann hätte dieser Barrington nichts mehr, womit er sie „überreden“ könnte. Aber was würde mit Alexander sein? Hätte Barrington ihn auch so leicht in der Hand?

Sie konnte sich das gar nicht vorstellen, doch sicher war sie sich nicht.

Sie atmete tief durch. Sie musste mit Alexander reden, entschied sie sich. Sie wollte ihn zwar aus dieser Sache heraushalten, aber es konnte nichts böses dabei sein, wenn sie ihn um Rat fragte. Immerhin war er ihr Bruder! Das konnte niemand als etwas Schlechtes auslegen! Vielleicht konnte er ihr sogar helfen. Ganz bestimmt konnte er das! Es gab kein Problem, für das er noch keine Lösung gefunden hatte.

Wenn er ihr nicht helfen könnte, dann...

Ohne weiter nachzudenken, lief sie in den Wald hinein. Sie musste jetzt sofort mit ihm sprechen!

Sie sah nicht, wo im Wald sie sich befand und sie sah auch nicht, an was sie vorbei lief. Das brauchte sie auch nicht. Sie kannte den Wald zu genau, um sich zu verirren. Als Kind war sie den Weg in diesen Wald so oft gegangen, dass sie ihn im Schlaf hätte finden können.

Sie versuchte noch etwas schneller zu laufen, obwohl bereits ihre Lungen schmerzten. Doch plötzlich wurde sie von etwas festgehalten und fiel mit einem Schreckensschrei auf den Boden. Sie musste an irgendetwas hängen geblieben sein, dachte sie und rieb sich den schmerzenden Rücken.

„Wo willst du hin?“, hörte sie eine vertraute Stimme fragen.

„Draco!“, sagte sie atemlos, als sie von unten in sein Gesicht blickte.

Einen Moment sah sie ihn stumm an. Ihr war, als würde sie sich jetzt erst richtig bewusst, was sie verlieren würde. Es waren nicht nur die kleinen Dinge, die sie so sehr an ihm liebte. Es war er. So, wie er war. Mit seinen blauen Augen, die in langen dichten Wimpern lagen, sein makelloser Körper, seine melodisch weiche Stimme, sein ganzes Verhalten und seine anderen Eigenschaften – selbst wenn diese sie manchmal an den Rand der Verzweiflung brachten.

Ihr Herz zog sich aufs schmerzlichste zusammen. Sie wollte das alles nicht gehen lassen.

„Annie?“, fragte er sie noch einmal und ließ nun ihren Arm los. Er verstand nicht, was mit ihr los war, nur dass sie anders war. Den Blick mit dem sie ihn ansah, kannte er nicht und er wusste ihn nicht zu deuten. Doch er gefiel ihm nicht.

Sie rappelte sich wieder auf und bemühte sich ihn nicht mehr anzusehen. Es hätte sie nur noch schwächer gemacht.

„Alexander.“, antwortete sie kurz und rannte weiter.
 

Diese Antwort verwirrte ihn nur noch mehr. Wieso er? Warum gerade jetzt und warum hatte sie ihm nichts gesagt? Hätte er sie nicht zufällig gesehen, wäre sie ohne ihn gegangen. Draco lief ihr hinterher und auch, wenn er schneller war als sie, so wahrte er doch einen gewissen Abstand. Zum einen kannte er den Weg nicht und zum anderem, verstand er nicht, was dieses seltsame Verhalten schon wieder sollte. Selbst, wenn er nun ein vollwertiger Mensch war, so gab es Verhaltensweisen, die ihm wohl immer ein Rätsel bleiben würden.

Er wusste nicht, wie lange sie so liefen, aber als Annie anhielt und er sah, dass sie wohl am Ende ihrer Kräfte war, fühlte sich sein Körper noch immer nicht sehr beansprucht. Er blickte nach vorn und sah eine weite Ebene vor sich. Noch nie war er bis an den Rand des Waldes gegangen und er fühlte sich ungeschützt und angreifbar. Wie von selbst ging er einen Schritt zurück, in den schützenden Wald hinein.

Er sah sich um. Außer Gebäuden, die nur wenige Schritte vor ihm standen, gab es nichts weiter als weite Landschaft. Ununterbrochen grüne Wiesen, soweit er schauen konnte, begrenzt durch einen klaren, blauen Himmel und dem dichten Wald hinter ihm.

Die Häuser selbst empfand er als wenig beeindruckend. Es wunderte ihn nur ein wenig, dass so viele nebeneinander standen. Es gab nur ein Gebäude, von dem er glaubte, dass darin Alexander leben musste. Aus den andere beiden hörte er Pferde wiehern oder andere fremde Geräusche, die er noch nie zuvor gehört hatte. Er konnte nur vermuten, dass sie auch zu Tieren gehörten.
 

Ohne auf Draco zu warten, ging Annie langsamer weiter. Ihr Atem ging kurz und unregelmäßig, ihr Körper tat ihr weh und ihr war vom schnellen Rennen ganz übel. Dies alles versuchte sie zu kontrollieren, bevor sie Alexander gegenübertreten wollte. Aber auch, wenn sie noch so langsam zur Haustür zu ging, gelang es ihr nicht.

Außerdem hatte sie Mühe Draco nicht anzusehen oder gar zu berühren! Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicheres, als seine Hand zu nehmen und seine Wärme zu spüren. Sie wusste, dass dies ihr die nötige Kraft geben würde, aber es würde sie zu sehr beeinflussen. Denn dann würde sie seine Hand nie wieder loslassen.
 

Draco sah ihr unentschlossen hinterher. Sie wirkte unsicher und ängstlich auf ihn. Aber immer noch kannte er den Grund nicht. Was war während seiner Abwesenheit geschehen? Er verließ das schützende Dickicht der Bäume und folgte ihr. Das war nur Alexander, den sie aufsuchen wollte, sagte er sich. Und nur so würde er eine Erklärung für ihr ungewöhnliches Verhalten erfahren.

Er ging ein paar Schritte hinter ihr und sah wie sie anklopfte. Es war verhalten und fast leise, fast so als wünschte sie sich, dass ihr Bruder sie nicht hören würde. Doch wenige Augenblicke später wurde die Tür geöffnet. Nicht Alexander war es, der ihnen entgegen trat, sondern eine Frau mit lockigen strohblondem Haar, runden, grünen Augen, einer zierlichen Nase und einem kleinen Mund. Draco betrachtete diese Frau und versuchte irgendeine Ähnlichkeit zu Annie herzustellen, doch es gelang ihm nicht. Dieser Person war vom Aussehen so ganz anders, als sie. Vielmehr war sie das genaue Gegenteil von der Frau, die er so begehrte.

„Ähm... Hallo, ich... Ich wollte zu Alexander.“, brachte Annie nach dem ersten Moment der Verblüffung heraus. Die fremde Frau lächelte leicht.

„Du bist Annie, nicht wahr?“, fragte sie mit klaren Stimme.

Annie nickte kurz und Draco trat näher an sie heran. Er stand direkt hinter ihr und er spürte, dass sie seiner Nähe gewahr war. Ihr Körper versteifte sich auf einmal, so als wäre es ihr unangenehm, wenn er ihr so nah war. Misstrauisch sah er sie von der Seite an, doch sie blickte nicht zurück.

„Äh... Ja.“, antwortete Annie kurz.

„Es freut mich dich endlich einmal kennenzulernen. Alexander hat schon viel von dir erzählt. Ich bin Susan, deine Schwägern.“

„Oh!“, stieß sie überrascht aus. „Das... Bitte entschuldige! Ich... Das ist mir sehr unangenehm.“, stammelte sie.

„Das macht doch nichts. Komm rein. Ich nehme an, du möchtest zu deinem Bruder?“ Susan öffnete die Tür noch ein Stück weiter und Annie trat ein. Ebenso Draco, auch wenn er nicht direkt angesprochen war. Er sah sich flüchtig um. Dieser Ort war so ganz anders, vor allem größer. Es gab hier ein seltsames Gebilde, was irgendwohin zu führen schien, eine Holzplatte, die auf vier Beinen stand, ebenso weitere kleine Holzdinger, die auf Beinen standen, nur das nach oben noch etwas abging. An den Fenstern hing ein Stück Stoff und der Ofen war viel größer als Annies. Was war das nur für ein seltsamer Ort, fragte er sich.

Wann würden sie wieder gehen?

„Wer ist das?“, fragte nun Susan und deutete auf Draco. Er erwiderte ihren Blick und betrachtet sie genauer. Es gab nichts an ihr, was ihn faszinierte, kam er schnell zu dem Schluss. Sie war nur ein gewöhnlicher Mensch.

„Das... Das ist...“, wollte Annie mit Mühe erklären, als sie unterbrochen wurde.

„Was will der denn hier?“, fragte eine Stimme schroff und alle sahen nach hinten, von wo die Stimme gekommen war.

Alexander trat ein und plötzlich fühlte sich der Raum sehr viel kleiner an. Alexander stand neben seiner Frau und diese wirkte neben ihm noch kleiner und zierlicher. Annie brauchte einen Moment, um sich an den Anblick zu gewöhnen. Es war ihr einfach befremdlich ihren Bruder mit seiner Frau an der Seite zu sehen.

„Alexander sei nicht so unhöflich! Sie haben sich extra die Mühe gemacht und sind den ganzen Weg zu uns gekommen. Sei freundlicher!“, mahnte seine Frau ihn.

Der Blick der beiden Männer traf sich und Annie befürchtete schon das schlimmste.

„Wie du meinst.“, antwortete er Susan und sprach dann mit seiner Schwester.

„Annie, was ist los. Warum bist du hier und warum bringst du ihn mit?“, fragte er dennoch.

Annie schüttelte kurz den Kopf, um ihre Gedanken sortieren zu können. Wo sollte sie nur anfangen zu erzählen?

„Bar-Barrington war da...“, begann sie zaghaft und sah auf den Boden. Sie konnte Dracos stechenden und fragenden Blick in ihrem Rücken spüren.

„Er... Er will immer noch, dass ich ihn heirate... Er... er... Sophie... Du...“, stotterte sie. Wieso war sie hierher gekommen? Wie sollte sie das alles nur erzählen? Wie sollte sie ihrem Bruder begreiflich machen, dass sie Draco einfach nicht verlassen konnte? Dass er sie brauchte? Wie sollte sie das tun, ohne ihm zu beichten, was sie vor fast einem Jahr getan hatte? Wie sollte sie erzählen, dass es ihre Schuld war, wenn dieser Mann es nun auch auf ihn abgesehen hatte?

„Annie, beruhige dich.“, sagte ihr Bruder nun sanft und Draco sah ihn kurz an. Er war also nicht der Einzige dem auffiel, dass etwas nicht mit ihr stimmte.
 

Alexander kam näher und Annie wusste, dass er sie in den Arm nehmen wollte. So, wie er es früher so oft getan hatte, wenn sie Angst hatte oder sie etwas bedrückte. Doch dieses Mal wich sie ihm aus. Sie trat einen Schritt zurück und spürte, wie ihr Rücken nun unerwartet Dracos Brust berührte.

Sie fühlte sich von beiden in die Ecke gedrängt, konnte weder vor noch zurück. Genauso wie sie sich gefühlt hatte, als Barrington bei ihr war. Sie musste sich zusammenreisen, sich nicht umzudrehen und davon zu laufen. Auch wenn sie vorher keine Panik verspürt hatte, so tat sie es jetzt. Das alles wurde ihr zu viel!

Draco... Alexander... Barrington... Was sollte sie... Wie konnte sie... Warum war sie...

Sie konnte nicht darüber reden! Mit niemanden! Was würde es auch bringen? Niemand konnte ihr helfen. Niemand ihr die Entscheidung abnehmen. Es gab kein zurück. Nicht einmal Alexander würde ihr helfen können und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass er es doch konnte... Sie könnte ihn nicht mit in diese Sache hineinziehen. Dieser Mann war unberechenbar, das hatte sie selbst gemerkt und er würde vor nichts zurückschrecken um sie zu bekommen.
 

Draco konnte ihre Angst spüren und sie in ihren Augen sehen. Aber er fragte sie nicht danach. Stattdessen umschloss seine Hand ihre kalten, zittrigen Finger und er merkte, wie sie kurz zusammenzuckte. Aber kaum, dass er sie berührt hatte, umschloss Annie mit ihren Fingern die seinen und drückte seine Hand so fest sie konnte.
 

„Annie?“, fragte ihr Bruder verwundert. Draco sah, dass er diese Geste ebenfalls gesehen hatte. Sofort sah Alexander ihn scharf an. Sein ganzes Misstrauen war in seinem Blick zu sehen. Unbewusst zog Draco Annie noch ein wenig mehr an sich und erwiderte dabei Alexanders Blick. Es war ihm egal, was dieser von ihm dachte, aber er würde sie nicht loslassen. Er war nur ihr Bruder.

„Das... Barrington hat gesagt, wenn ich ihn nicht heirate, dann...“

„Warum? Wie kann er so etwas noch sagen?“, fragte Draco und seine Stimme klang wie Eis. Selbst Alexander und Susan sahen ihn erschrocken an.

Er konnte die Wut deutlich in sich spüren. Nur der Name dieses Mannes ließ ihn so zornig werden, dass sie Blut regelrecht zu kochen begann. Doch wieso sprach sie schon wieder von ihm? Sie würde ihn nicht mehr heiraten können. Sie war sein! „Du kannst ihn nicht heiraten! Du bist-“

„Nein!“, unterbrach Annie ihn viel zu laut. „Sag es nicht...“, wisperte sie dann.

Schockiert sah er sie an. Ihre Worte verletzten ihn seltsamer Weise. Es war kein äußerlicher Schmerz, den er spürte. Vielmehr kam er aus seinem Körper heraus, von seinem Herzen. Einen Schmerz den er nicht kannte und der doch so viel tiefer ging, als jeder den er bisher verspürt hatte. Wie konnte sie ihn daran hindern, es zu sagen? Sie war doch sein - für immer. Warum sollte er es nicht sagen?
 

Anne wusste nur zu gut, wie er sie ansah, ohne das sie es eigentlich sah. Sie konnte es sich vorstellen. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blick war verständnislos und verwirrt. Gleichzeitig würde sich aber auch Ärger darin spiegeln. Er würde eine Antwort haben wollen.

„Annie, würdest du mir bitte erklären, was hier eigentlich los ist?!“, war es nun Alexander, der das Wort erhob. Annie kannte diesen Klang seiner Stimme. Er war mahnend, voller Autorität und akzeptierte keine Wiederworte oder gar Ausflüchte.

„I-Ich...“, begann sie zu stottern.

Es war nur wegen ihm. Er war hier! Wenn sie es jetzt sagte, würde er es hören. Er würde es wissen und er würde...

Wie würde er nur reagieren? Würde er es überhaupt verstehen? Wie sollte sie es ihm erklären? Wie sollte sie ihm sagen, dass ein anderer Mann sie wollte? Dass er sie immer noch haben konnte, auch wenn sie ihr Herz und ihren Körper schon längst ihm versprochen hatte? Wie konnte sie ihm verständlich machen, dass es dann egal war, was sie selbst wollte? Wie?!

Sie konnte es fast vor sich sehen, wie er sie dann anblicken würde. Ebenso irritiert, doch so bald er es begriffen hatte, würde sein Blick kalt werden, würde sein Gesicht einfrieren, würde er sich von ihr abwenden. Endgültig.

Aber vielleicht war es so auch besser, dachte sie verzweifelt. Wenn sie ihn dazu bringen konnte, sie zu hassen, dann würde es für sie beide vielleicht einfacher sein...
 

Er sah sie wütend an. Noch immer hatte sie ihm keine Antwort gegeben!

Draco fing Alexanders Blick auf, der von ihm auf seine Schwester und wieder zu ihm sah. Wieder sah Draco zu ihr und dieses Mal konnte er Tränen in ihren Augen glitzern sehen. Ihre Hand zitterte stärker als zuvor und doch schloss sie sich noch ein wenig enger um seine eigene. Als hätte sie angst, er könnte davon laufen, wenn sie es nicht täte.

Er drehte sich zu ihr um und hob vorsichtig eine Hand.

Sie durfte nicht weinen. Was, war es dieses Mal, was ihr solche Schmerzen bereitete? Hatte er etwas falsches getan? Was war geschehen, als er nicht bei ihr gewesen war? Am Morgen war noch alles in Ordnung gewesen.

Vorsichtig hob er die Hand und wollte er ihre Wange berühren, als Alexander plötzlich neben ihm stand und sie weg schlug.

“Fass sie nicht an!“, zischte dieser wütend. „Und du kommst jetzt mit mir mit und erzählst mir endlich, was eigentlich los ist!“, verlangte er von seiner Schwester und zog sie unsanft am Handgelenkt.
 

Annie wusste nicht wie ihr geschah, aber plötzlich löste sich Dracos Hand von ihrer und sie fand sich mitten im Raum wieder, immer noch gezogen von Alexanders starken Arm, der sie sofort aus dem Raum hinaus, in einen weiteren führte. Sie drehte sich kurz um und fand Dracos Blick, der sie aus kalten und vor Zorn funkelnden Augen ansah. Das eisige Blau seiner Augen brannte sich in ihr Herz und schien eine Narbe zu hinterlassen, die sie von nun an für immer tragen würde.

Verlassen... Verzweifeln... Verlieren

Sie blickte nach unten und nur schwach nahm sie die Flammen des Feuers wahr, die im Kamin vor ihr tanzten.

Annie hatte ihrem Bruder erzählt, was geschehen war, was Barrington von ihr verlangte. Sie wusste nicht, wie lange sie dazu gebraucht hatte, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Zu oft hatte sie unterbrechen müssen, um sich wieder zu sammeln und die Kraft zu finden weiter reden zu können.

„Ich habe mir so etwas schon gedacht.“, sagte Alexander schließlich und setzte sich neben seine Schwester, das Gesicht hinter den Händen verbergend. „Er hat sich nach dir erkundigt. Nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen, Nachbarn und alten Freunden. Es ist nur wahrscheinlich, dass er so auch von Sophie erfahren hat. Allerdings hätte ich nicht geglaubt, dass er es so verwenden würde. Dabei hätte es mir klar sein müssen.“

Stumm nickte sie.

„Was soll ich jetzt tun?“, fragte sie, nach einer weiteren kleinen Ewigkeit, schließlich leise.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete ihr Alexander ehrlich. Tiefe Sorge zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Ein Ausdruck den Annie bisher nicht oft bei ihm gesehen hatte. „Ich kann dir nichts raten, aber...“

„Gibt es denn keine Möglichkeit ihm zu entkommen? Ich meine, er kann doch nicht einfach so damit durchkommen oder? Irgendwas... Ich will ihn nicht heiraten! Allein bei dem Gedanken daran wird mir so schlecht, dass ich mich am liebsten übergeben möchte.“, sprach sie hastig und sah ihn erwartungsvoll an.

„Annie... Wir... Wir könnten versuchen Sophie und ihre Familie zur Flucht zu verhelfen.“, sagte Alexander, aber an dem Klang seiner Stimme konnte sie hören, dass er selbst daran zweifelte.

„Warum machst du diesen Vorschlag, wenn du es nicht ernst meinst.“, äußerte sie ihre Gedanken. Annie fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Sie wusste, dass es ungerecht war, so zu denken, aber es verletzte sie, dass er nicht einmal ernsthaft darüber nachdachte. Wollte er sie einfach so diesem Mann überlassen? Sie war doch seine Schwester. Seine einzige Schwester!

„Ich meine es durchaus ernst!“, verteidigte er sich. „Du kannst mir glauben, dass ich schon die ganze Zeit darüber nachdenke, wie man es anstellen könnte, aber... Annie, du musst einsehen, dass es so gut wie unmöglich ist, sie alle in Sicherheit zu bringen. Sophie allein wäre vielleicht noch möglich, ihr Enkel ebenfalls. Hat er gesagt, dass er sie schon festgenommen hat? Wenn nicht, könnte man sie ohne weitere Schwierigkeiten außer Landes bringen. Barrington würde wohl dann erst etwas merken, wenn sie schon zu weit weg wären.“

„Warum machen wir es dann nicht so?!“, fragte sie und ihr Körper füllte sich mit Hoffnung. Es hörte sich doch so einfach an. „Jetzt gleich! Worauf wollen wir noch warten! Je eher wir er tun, umso besser!“

Ihre Euphorie verflog genauso schnell, wie sie entstanden war, als sie sah, wie ihr Bruder traurig mit dem Kopf schüttelte.

„Was?“, fragte sie tonlos. „Warum nicht?“

„Wir könnten Sophie und einen anderen retten, aber was ist mit dem Rest ihrer Familie?“, fragte er leise und sah sie aus den gleichen dunklen Augen an, die auch sie hatte. Er nahm ihre Hände in die seine.

„Annie, du weißt so gut wie ich, dass Sophie nicht nur einen Enkel hat. Was ist mit ihren vier Kindern? Was mit deren Kindern? Was mit ihrem Mann? Es wären Sechzehn Personen, die wir schützen müssten und so viele können wir unmöglich auf einmal von hier wegbringen. Schon gar nicht in einer Woche.

Wenn wir Sophie und ihn in Sicherheit bringen, dann würde er es auf die anderen abgesehen haben und dann könnten wir gar nichts weiter tun, als zuzusehen.

Und... er würde wissen, dass ich dir geholfen hätte. Wer sonst? … Wir müssten Susan mitnehme und würden wohl eine ganze Zeit lang auf der Flucht sein. Ich will ihr das nicht zumuten. … Es wäre nicht das Leben, welches ich ihr versprochen habe.“

Starr blickte sie nach unten. Auch, wenn er es anders gesagt hatte, so wusste sie doch ganz genau, was seine Worte eigentlich bedeuteten.

„Ich soll ihn also heiraten?“, fragte sie tonlos.

Sie hörte wie ihr Bruder tief durchatmete. Etwas was er für gewöhnlich immer dann tat, wenn er etwas sagte, was er nicht sagen wollte.

„Ich will nicht, dass du ihn heiratest!“, sagte er mit Nachdruck. „Aber ich sehe auch keine andere Möglichkeit! Mir fällt absolut nichts ein, wie wir das alles doch noch zu einem guten Ende führen könnten. … Das Versprechen, welches wir uns gaben, hindert uns daran, unsere Magie gegen ihn anzuwenden. Ohne dem, gäbe es vielleicht noch weitere Möglichkeiten. Aber so...

„Wir sind ihm und seiner Willkür gänzlich ausgeliefert.“ Seine Stimme klang frustriert, aber noch hilfloser.

„Aber Alexander!“, sagte sie verzweifelte und schluchzend. „Ich kann ihn nicht heiraten! Ich kann nicht! Ich habe...“ Sie verstummte. Wie sollte sie nur jemals erklären, dass sie einen anderen liebte? Wie formulieren, wie sehr sie einen anderen Mann liebte?

Sie konnte es ja nicht einmal begreifen, wie sollte sie es dann in Worte fassen?

„Es ist wegen ihm.“, sagte ihr Bruder sachlich und Annie schluchzte erneut laut auf.

Woher wusste er davon? Musste er es aussprechen? Sie fühlte sich, als hätte er eine alte Verletzung frisch aufgerissen.

Aber das ihr Bruder nicht weiter darauf einging, zeigte ihr, dass er schon längst begriffen hatte.

„Warum ist er überhaupt so gegen eine Beziehung, bevor man den Bund der Ehe schließt?“, fragte sie auf einmal. Sicher wurde es in der Gesellschaft nicht gut geheißen und man konnte auch verstoßen werden und verachtete, aber was kümmerte sie das Gerede der Leute? Darauf gab sie nichts. Konnte Barrington das Sophies Enkel wirklich zum Vorwurf machen – wenn seine Anschuldigungen überhaupt eine Berechtigung fanden?

Wieder holte ihr Bruder tief Luft. „Ich habe gehört, dass Barrington wohl selbst das Ergebnis einer verbotenen Beziehung war. Seine Mutter war wohl Nonne oder so was. Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand, dass er ein Bastard sei, seine Mutter gotteslästerlich und seinen Vater nur ausgenutzt hätte, um den Konvent zu entkommen. Wie viel davon stimmt, weiß ich nicht. Die Leute dichten gern etwas hinzu oder lassen etwas weg, wie du ja weißt.

Jedenfalls hatte Barrington es wohl immer schwer und als es dann darum ging das Erbe seines Vaters anzutreten, wurde er außen vorgelassen, weil er kein legitimer Nachfolger war.

Man könnte fast Mitleid mit ihm haben.“, sagte er und seine Stimme klang nunmehr sarkastisch.

„Er hat seinen Erbteil erst zugesprochen bekommen, als alle anderen Erben bereits verstorben waren. Alle kurz hintereinander und auf sehr merkwürdige und niemals geklärte Weise. Mit dem Erbe stieg auch sein Ansehen und Einfluss bei Hofe. Man lästerte immer noch über ihn, aber der König schien mit ihm zu sympathisieren. Daraufhin soll er dann dieses Land zugeteilt bekommen haben. Die näheren Umstände kenne ich nicht und selbst, wenn es alles nur Gerüchte sind, wird wohl auch ein bisschen Wahrheit dabei sein. So etwas entsteht niemals aus der Fantasie des Menschen allein.“, erzählte Alexander.

Annie erhob sich mit zittrigen Gliedern. Sie musste gehen. Alexander würde ihr nicht helfen. Vielleicht weil er nicht konnte, vielleicht weil er zum Teil nicht wollte. So oder so machte es nicht viel Sinn zu bleiben.

Aber eigentlich wollte sie diesen Raum gar nicht verlassen. Selbst, wenn er auf der anderen Seite war. Da war noch dieser hasserfüllte Blick, der Erklärungen von ihr verlangen würde. Erklärungen, die sie ihm nicht geben konnte.

Sie ging langsam zu Tür, doch Alexander stellte sich noch einmal vor sie und nahm sie dieses Mal wirklich in die Arme. Sie ließ es geschehen.

„Ich kann dir nicht helfen oder dir die Entscheidung abnehmen. Doch glaube mir, solltest du plötzlich verschwinden, werde ich dich niemals vorher gesehen haben - weder dich noch ihn. Aber du musst gründlich überlegen und ich weiß, dass du das bereist die ganze Zeit tust. Doch du musst dir absolut sicher sein. Egal für was du dich entscheidest, niemand würde dir einen Vorwurf machen. … Wir kommen schon allein zurecht.“, flüsterte er in ihr Ohr und alles was sie in der Lage war zu tun, war stumm zu nicken.

Sollte sie das tun? Einfach verschwinden und alle anderen ihrem Schicksal überlassen?

Sie löste sich langsam von ihm. Alexander machte ihr den Weg zur Tür frei. Doch als sie in die Küche trat, sah sie nur Susan, die auf einem der Küchenstühle saß und auf sie gewartet hatte.

„Wo ist er hin?“, fragte Annie dumpf. Er war nicht mehr da!

Kälte machte sich in ihren Herzen breit und sie konnte die eisige Wunde, die er zuvor dort hinterlassne hatte, erneut aufgehen spüren.

„Dein Begleiter ist sofort gegangen, als du mit Alexander in der Stube warst. Er schien... nein, er war sehr wütend. Ich weiß nicht, was mit ihm los war.“, entschuldigte sich Susan.

Panik ergriff Annie und es war eine andere, als sie sie zuvor bei Barrington verspürt hatte.

Ohne sich zu verabschieden, rannte sie hinaus, auf den Wald zu. Vielleicht konnte sie ihn ja noch einholen, dachte sie fieberhaft. Vielleicht war er nur zur Hütte zurückgekehrt und würde dort auf sie warten, würde eine Antwort verlangen und dann würde sie ihm eine geben müssen.

Umso überraschter war sie, ihn gleich hinter der Grenze des Waldes zu sehen. Er schien auf die gewartet zu haben. Sein Körper war an einen Baumstamm gelehnt, aber aus seinem Gesicht sprach noch die gleiche Wut.

„Was sollte das?“, fragte er sie unvermittelt, mit kalten Augen und schneidender Stimme.

„Ich…“

„Was wollte Barrington? Warum bist du mit ihm gegangen? Warum sollte ich es nicht sagen? Warum will er dich noch immer heiraten?“, stellte er ihr ohne Gnade die Fragen, vor denen sie sich am meisten fürchtete.

Annie schloss die Augen, wohl wissend, dass er sie noch immer anstarrte und auf seine Antworten wartete. Sie musste es ihm sagen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Es wäre zu dumm, zu glauben, dass noch Zeit wäre oder sich noch rechtzeitig eine Lösung finden würde. Sie hatte nur noch sieben Tage.

Erschöpft und schlaff ließ sie sich in das Gras sinken. Verzweifelt krallte sie die Fingernägel in den dünnen Stoff ihres Kleides, als könnte ihr das Halt geben.

„Barrington war heute Mittag da.“, begann sie leise zu erzählen und versuchte gleichzeitig eine Träne wegzublinzeln.

Draco trat einen Schritt näher an sie heran. Er wollte ihr Gesicht sehen, ihre Gefühle, wenn sie sprach, doch sie drehte es ihm weg und verbarg es hinter ihren Haaren. „Bitte sie mich nicht an.“, wisperte sie flehendlich. „Ich schäme mich zu sehr.“

Zeit verstrich und sie hatte gehofft, dass Draco etwas sagen würde, dass er ihr die Angst nahm oder sie zumindest nicht mehr die Feindseligkeit spüren ließ, die so stark von ihm ausging.

Doch er wartete nur ab und die unerbittliche Stille, zerrte nur noch mehr an ihren Nerven. Wie würde er reagieren, wenn sie ihm erzählte, dass sie doch nicht sein war.

„Er will noch immer, dass ihr ihn heirate.“, sprach sie endlich weiter, „und er kann es auch noch verlangen.“ Die Tränen waren zu mächtig. Ihr Herz, von den sie geglaubt hatte, es wäre schon längst gestorben, schien nun noch zu zerspringen.

„Er… Er hat… Ich habe eine gute Freundin. Sie hat mich großgezogen und sie war vielleicht mehr eine Mutter für mich, als es meine eigene war. Sie hat selber schon Kinder und diese haben auch wieder welche. Aber ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“

Sie schluchzte auf. Allein der Gedanken an Sophie, an diese herzensgute Frau, die niemanden etwas tun würde, die Kinder über alles liebte und die so ein Tod erwarten sollte, ließ sie beinah den Verstand verlieren.

„Barrington muss irgendwie von ihr erfahren haben. Er hat… Er will sie töten, wenn ich mich nicht dazu bereit erkläre ihn zu heiraten. Sie und ihre Familie. Und er… er würde auch vor Alexander und Susan nicht zurückschrecken. … Er hat gedroht ihnen ebenfalls zu schaden, wenn ich mich nicht dazu bereit erkläre seine Frau zu werden.

„Er würde meinen Bruder, seine Frau und meine Freundin und ihre Familie, töten lassen, wenn ich nicht einwillige.“, wisperte sie heißer, tonlos; den Blick auf den Boden gerichtet, der von ihren Tränen benässt wurde.
 

Noch immer starrte Draco sie wortlos an. Er versuchte zu verstehen, was sie ihm erzählte, aber es gelang ihm nur mäßig und gleichzeitig ärgerte ihn dies. Doch er hatte genug verstanden, um einen zu begreifen.

„Aber du bist mein!“, sagte er voller Überzeugung und noch immer hatten diese Worte den gleichen Effekt auf Annie, wie beim ersten Mal. Schauer rannen durch ihren Körper und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Wie sehr sie es doch liebte, diese Worte von ihm zu hören…

„Draco, du weißt gar nicht, wie sehr ich dir gehöre. Mein Herz, mein Körper, meine Seele, jede einzelne Faser meines Körpers… Doch es hindert ihn nicht daran, mich auch sein zu machen.

„E-Erinnerst du dich daran, wie ich dir sagte, er k-könnte mich auch mit Gewalt haben? Das kann er immer noch. Wir sind nicht verheiratet. Ich gehöre dir nicht vor dem Gesetz.“, flüsterte sie.

„Das ist mir egal!“, zischte er. Was war schon ein Gesetz? Sie hatte es doch gerade gesagt oder? Sie war sein! Dieser Mann konnte nichts mehr tun, um sie von ihm zu trennen.

„Ich weiß.“, sagte sie unglücklich. „Aber…“, sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. „I-Ich weiß nicht, wie ich es dir noch erklären soll. We-Wenn ich ihn nicht heirate, wenn ich dich nicht...“ Sie konnte das Wort nicht einmal aussprechen. Es fühlte sich wie Gift in ihrer Kehle an.

„Was?!“, fragte er ungeduldig. Er wollte jetzt endlich eine Antwort haben, bevor ihn die Wut ganz übermannen konnte; bevor er sich von diesen schwachen, menschlichen Gefühlen abermals beherrschen lassen würde.

„W-Wenn ich dich nicht… Wenn ich dich nicht… nicht v-ver-verlasse,… werden all die andere sterben. Meinetwegen… Er würde nicht zögern, sie zu… töten… selbst, wenn ich ihm vorher entkommen könnte. … Se-Selbst Alexander wusste keinen Au-Ausweg.“, stammelte sie unter Tränen.

Etwas in Draco schien sich plötzlich zu verändern. Er war nicht mehr so sehr die Wut, die ihn beherrschte, sondern etwas anderes. Etwas, was er bisher nicht kannte. Aber es füllte ihn aus und gleichzeitig tötete es alles andere in seinem Körper.

Dieses Mal hatte er sie sehr gut verstanden.

„Du muss ihn heiraten?“, fragte plötzlich und seine Stimme war vollkommen verändert, dunkler und rauer. Sie machte Annie Angst. Trotzdem nickte sie kaum merkbar. „Damit diese Frau und Alexander nicht sterben?“ Wieder nickte sie.

Dann trat Schweigen ein. Selbst die Bäume, Vögel und anderen Bewohner des Waldes schienen verstummt zu sein. Es gab nichts weiter um sie herum, als absolute Stille.

„Es ist mir egal!“

Er sagte es mit solch kalter Stimme, mit solcher Gleichgültigkeit, dass selbst die Zeit für einen Moment einzufrieren schien.

Entsetzt sah sie ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Tonlos formte sie mit ihrem Mund das Wörtchen „Was?“ und ihre Tränen versiegten augenblicklich.

Draco kniete sich vor sie. Seine eisblauen Augen sahen sie geradewegs an, ehrlich und doch undurchdringlich, aber vor allem waren es die Augen eines Raubtieres.

„Nur deinetwegen bin ich zu einem Menschen geworden.“, sagte er leise und bedächtig und doch hatte jedes seiner Worte eine viel mächtigere Wirkung auf sie, als wenn sie seinen Zorn hätte direkt spüren können. Bei jedem Wort hatte er sich ein Stück weiter nach vorn gebeugt. Er war ihr schon viel näher gewesen und doch war es nie so, wie in diesem Augenblick. Vor Angst wich sie vor ihm zurück. Er ist gefährlich, dachte sie instinktiv und zum aller ersten Mal während ihres Zusammenseins.

„Es ist mir egal, was aus anderen wird, solange ich nur dich habe.“, flüsterte er beinah bedrohlich.

Was interessierte ihn das Leben anderer Menschen? Menschen, die er nicht einmal kannte und die er auch nicht kennen wollte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Er wusste einfach nicht, was er da sagte. Er wusste nicht, welche Bedeutung seine Worte eigentlich hatten. Anders konnte es gar nicht sein, dachte sie und nach einer Entschuldigung suchend.

„So ist es aber.“, sagte er, als wäre es eine Antwort auf ihre unausgesprochenen Gedanken. „Nur deinetwegen hat sich mein Herz in das eines Menschen verwandelt, nur deinetwegen bin ich jetzt fast ein vollkommener Mensch. … Warum sollte ich ein Mensch bleiben? Welchen Sinn hat mein Dasein, wenn ich dich nicht haben kann?

„Aber kann ich zurück? Nein... “

Er hatte sich selbst aufgegeben, um sie zu bekommen. Er hatte sich selbst verraten, hatte geglaubt, dass es gut so war, solange sie bei ihm war. Und jetzt sollte sie trotzdem einem anderen gehören? Sie war nicht sein? Wozu all das, wenn er sie jetzt verlor?

Noch immer war seine Stimme ruhig und doch stießen seine Worte ihr wie Messer in die Brust. Langsam und qualvoll durchdrangen sie ihr Fleisch, durch die Knochen hindurch, bis in ihre Seele. Annie schüttelte hastig den Kopf, wollte etwas sagen, doch kein Wort wollte aus ihrem Mund kommen. Sie wollte ihm wiedersprechen. Sie musste ihm wiedersprechen! Ihr blutendes Herz wurde erneut kalt und schien aufzuhören zu schlagen.

„Es ist wohl zu spät für mich um zurückzukehren.“, sprach er unerwartete weiter. Der Ton seiner Stimme hatte sich so schnell geändert, dass Annie ihn verwirrt ansah. In seinem Gesicht, welches nun einen merkwürdigen Ausdruck zeigte – war es etwa Leid, was sie bei ihm sah? – konnte sie es sehen. Etwas war gerade passiert, aber sie wusste nicht was es war.

„Draco?“, hauchte sie leise und wusste doch, dass sie keine Antwort erhalten würde. Er würde sie niemals in seine Seele blicken lassen.
 

Plötzlich hatte er es gewusst. Für all dies konnte es nur eine Erklärung geben, einen Grund, warum es geschah.

Dies war die Strafe, die ihn schon lange für sein Vergehen erwartete hatte. Er sollte auf einmal das verlieren, weswegen er sich und seine Art verraten hatte. Wie einst seine Vorfahren, die sich so sehr nach dem Mond sehnten und deren Strafe er trug, kam nun die Abrechnung für sein Verbrechen. Es war besser, wenn er selbst dafür zahlte. So würden andere nach ihm verschont, dachte er still. Dennoch... es hätte von Anfang an nicht sein sollen.

„Du hättest mich sterben lassen sollen.“, sprach Draco weiter und wandte erst in diesem Moment den Blick von ihr ab.
 

Dann ließ er sie allein zurück. Zurück in ihrer Einsamkeit, ihrer Verzweiflung und Qual ohne eine Hoffnung auf Erlösung.

Es hatte eine Zeit gegeben in der sie befürchtete hatte, er könnte sie für ihre Taten hassen. Doch er hatte es nicht getan. Nie hatte sie verstanden warum. Weil er sie mochte? Weil er sie vielleicht sogar ein winzig kleines bisschen liebte?

All das war vollkommen egal. Alles war vorbei. Endgültig vorbei.

Es war vorbei?

N-Ne-Nein... Es durfte nicht vorbei sein! Er konnte doch nicht... Er würde doch nicht...

Wenn er jetzt ginge, würde sie ihn für immer verlieren. Sie würde ihn zum letzten Mal sehen und alles woran sie sich würde erinnern können, wäre dieser Hass in seinem Gesicht, die fremde Stimme, mit der er gesprochen hatte und die Klingen, die er in ihrem Herzen und Körper versenkt hatte.

Sie stützte sich mit den Händen am Boden ab.

Nein.

Langsam und zitternd erhob sie sich.

Nein.

Sie versuchte ihre Beine nach vorn zu setzen, erst das Linke, dann das Rechte.

NEIN.

Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen.

NEIN!

Sie musste es schaffen! Sie musste!

„DRACO!“

Obwohl sie weiter lief, entfernte sich seine Gestalt immer mehr von ihr. Die Umrisse der Bäume verzerrten sich unter ihren Tränen, verschwammen und verschwanden schließlich ganz, bis sie nur noch eine einzige Masse aus Braun und Grün waren.

„DRACO! Bitte bleib stehen! Bitte geh nicht weg!“ Er hatte sie nicht gehört. Sie war zu leise gewesen. Zu leise und zu langsam. Sie zwang sich dazu schneller zu laufen, noch schneller als vorher. Wohin ging er? Das war nicht der Weg zu ihrer Hütte zurück!

„DRACO!“, rief sie noch einmal und tatsächlich schien sie ihn langsam einzuholen. Er rannte nicht. Sie würde es schaffen
 

Er hörte ihre Rufe, hörte ihre Schreie und erkannte an der Zerrissenheit ihrer Stimme, dass sie wohl abermals weinte. Aber was interessierte es ihn? Er fühlte - er spürte - dass sie bereit war diesen Mann zu heiraten. Er hatte es zuvor in ihren Augen gesehen.

Warum also sollte er dann noch auf sie warten?

Vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit zurückzugehen. Er konnte nichts von dem, was er getan hatte, ungeschehen machen, aber ein Teil seines alten Selbst war immer noch da. Vielleicht genügte das.

Doch auf einmal spürte er, wie sich bebende und kalte Finger, um sein Handgelenk schlossen.

Pah! Als könnte sie ihn damit festhalten!

Mit einem einzigen Ruck, riss er sich von ihr los und stieß sie dabei mit der anderen Hand zurück.

Und dann sah er in ihr Gesicht.

Es war tränenverschmiert und rote Flecken zierten es auf hässliche Weise.

Der Anblick erschrak ihn so sehr, dass er für einen Augenblick sogar vergaß zu atmen. Immer schon, hatte er ihren weinenden Anblick schön gefunden. Doch, dass was er jetzt sah, war grauenhaft.

„Geh nicht!“, flehte sie ihn an und krallte ihre Fingernägel in den Ärmel seines Hemdes. Ihm war als, könnte er ihr Zittern in seinem eigenen Körper spüren.

Starr sah er sie an, wusste nicht was er tun sollte.

Er wusste, dass er sie trösten sollte – irgendwie. Schon allein deswegen, weil er diesen Anblick einfach nicht ertragen konnte. Aber er wusste nicht, warum er es tun sollte.

Sie hatte sich bereits entschieden. Würde er etwas anderes glauben, würde er sich selbst zum Narren halten.

Wie sehr er die Menschen doch verachtete.

Als würde die Zeit plötzlich langsamer vergehen, sah er, wie sie auf den Boden sank. Der Griff um sein Handgelenk lockerte sich und sie schien sich vor Schmerzen zu krümmen. Ihr Weinen war so qualvoll, wie er es noch nie zuvor gehört hatte und doch vermochte es nicht sein Herz zu erreichen.

Wenn sie ihn nicht wählte, gab es für ihn keinen Grund zu bleiben.

Abermals wandte er sich von ihr ab. Ließ sie mit ihrem Schmerz allein und hörte ihr Schluchzen und Weinen noch, als er sie bereits nicht mehr sehen konnte und doch ging er weiter.
 

Die Sonne versank am Horizont und tauchte den Wald in ein Feuer aus Licht und Schatten, Rot und Orange. Die Bäume zeichneten sich schwarz vor diesem Hintergrund ab und verliehen allem um sich herum etwas Gespenstisches, Verlassenes und doch Traumhaftes. Wie ein vergessener Ort, voller Geheimnisse.

Doch Draco hatte keinen Sinn für die Schönheit dieses Augenblickes. Er saß nahe dem Ufer des Sees, an dem er schon oft so viele Stunden verbracht hatte.

Er hatte sie verlassen wollen.

Aber wohin? Er kannte nichts außer diesem Wald und selbst, wenn er es versuchen würde, wusste er, dass sein Herz hier bleiben würde. Zu sehr war er an diesen Ort gebunden. Hier war er als Drache gestorben und als Mensch geboren. Es war nicht erst dann geschehen, als dieses Gefühl für sie in ihm erwacht war. Nein, er war schon eher gestorben, sein Körper, wie auch seiner selbst. Eine Weile hatte er noch sein altes Herz besessen, doch auch das, war irgendwann fast vollständig erloschen. Wohl in jenem Moment, in dem er sie das erste Mal liebte.

Sein Herz! Dieses dumme, alberne Herz eines Menschen. Wie sehr wünschte er sich sein Altes zurück!

Seit er an diesen Platz gekommen war, hatte er versucht sich zu erinnern, wie es war ein Drache zu sein, wie es sich anfühlte zu fliegen, durch die Nacht zu streifen, nur sich selbst und seinesgleichen zu kennen und niemand anderes, unwissend, wie die Menschen dachten oder fühlten, keine Tiere kennend.

Er konnte sich erinnern. Jeder Moment in seinem früheren Leben, war ihm so klar im Gedächtnis, als hätte es sich erst vor wenigen Augenblicken zugetragen. Er erinnerte sich selbst daran, was er in jenen Momenten empfunden hatte. Doch es war nicht echt.

Sein dummes Herz, war an sie gebunden. Egal, wie sehr er sich erinnerte, sein Herz war immer nur bei ihr und nicht bei seinen Erinnerungen. Sie schlich sich zwischen seine Gedanken und es erweckte in ihm erneut das Gefühl von Sehnsucht nach ihr, nicht nach seinem alten Ich.
 

Als die Nacht auch die letzten Strahlen der Sonne verschlungen hatte, stand er auf. Es war sinnlos an diesem Ort zu bleiben, wenn es sein Herz doch immer nur zu ihr zog. Er wollte ja bei ihr sein!

Trotzdem würde er sie bitten ihn zurückzuverwandeln. Das hatte er sich genau überlegt.

Es war ihr doch gelungen einen Menschen aus ihm zu machen. Dann müsste es ihr doch auch gelingen, ihn wieder zu einem Drachen werden zu lassen. Es müsste ein leichtes für sie sein, immerhin hatte er schon oft gesehen, was sie in der Lage war mit ihren Kräften zu tun. Sie würde es tun müssen und dann würde er zu dem werden, was er sein sollte. Sein Dasein als Mensch und all die Dinge, die erfahren und gefühlt hatte, würden nur einen winzigen Moment in seinem langen Leben darstellen, unbedeutend und nichtig.

Er war sich gewahr, dass es ihm fast unmöglich sein würde, ohne sie zu leben, denn zu sehr verlangte es ihn nach jedem einzelnen Augenblick mit ihr. Aber irgendwann würde sie sterben. Lange vor ihm. Und das würde es für ihn leichter machen, dachte er. Der Tod war eine Macht, der selbst er nichts entgegen zu setzen hatte. Wenn sie starb, würde es die tierische Seite in ihm, als etwas Unausweichliches hinnehmen. Etwas, was zum Leben dazu gehörte. Sehr viel anders sah er es auch jetzt nicht. Aber der Teil von ihm, der wohl für immer ein Mensch bleiben würde, würde daran zu zerbrechen drohen.

Doch es würde nur ein kleiner Teil von ihm sein, der so denken würde, dessen war er sich sicher. Der Großteil seines Wesens würde es akzeptieren. Es war nun einmal der Lauf der Dinge, das man starb. Jeder Tod bedeutete schließlich das Leben eines anderen.
 

Er ging zurück. Er würde sie noch heute danach fragen, denn je eher er wieder zurück konnte, desto besser würde es für sie beide sein.

Einen Moment überlegte Draco, ob sie wohl noch an der Stelle sein würde, an der er sie zurück gelassen hatte. Bei dem Gedanken daran, wurde ihm ganz kalt. Noch nie hatte er sie so erlebt und die Vorstellung, sie noch immer so vorzufinden, ließ sein Herz vor Angst schneller schlagen. Was würde er tun, wenn es tatsächlich so war? Es schien Draco unmöglich ihr irgendwelche falschen und fadenscheinigen Worte zuzusprechen, von denen nicht eines wahr sein würde.

Er kehrte geradewegs in die Hütte zurück und noch bevor er die Tür geöffnet hatte, wusste er, dass sie da war. Er konnte ihr leises Wimmern hören.
 

Annie hörte, wie die Tür sich öffnete, doch sie hatte nicht die Kraft sich umzusehen. Wie oft hatte sie dieses Geräusch in den letzten Stunden gehört? Vielleicht zehn Mal, vielleicht zwanzig Mal, doch nie hatte jemand in der Tür gestanden. Sie irrte sich bestimmt wieder.

Und eine Lösung hatte sie ebenso noch nicht gefunden. Alexander hatte Recht gehabt. Es war ausweglos. Sie konnte nur Sophie oder Draco wählen und egal, wen sie wählte, den anderen würde sie für immer verlieren. Aber vielleicht brauchte sie auch gar nicht mehr zu wählen. Draco schien bereits verschwunden. Er hatte sie zurückgelassen. Ohne sich noch einmal nach ihr umgedreht zu haben. Wie dumm war sie auch gewesen, dass sie geglaubt hatte, er hätte sich an sie gebunden? Er würde sich nie an jemanden binden, dazu war er viel zu stolz. Stattdessen war sie es gewesen, die sich an ihn gebunden hatte. Für sie gab es kein zurück mehr. Sie würde nie mehr in ihr altes Leben zurückkehren können. Aber würde es Draco gelingen? Hatte er nicht gesagt, sein Herz wäre das eines Menschen? Wie konnte er wieder zu einem Drachen werden? Würde er sich, nach dem das Jahr vergangen war, einfach wieder zurückverwandeln können? Würde sein Herz es annehmen? Daran hatte sie eigentlich keine Zweifel. Er hatte sich so schnell an das Leben als Mensch gewöhnt, warum sollte es ihm nicht auch gelingen zu seinem altenWesen zurückzufinden? Zumal er auch alle Erinnerungen daran besaß. Das machte es ihm leichter.
 

Er öffnete die Tür und sah sie auf dem Boden liegen. Sie rührte sich nicht, dabei war er sicher, dass sie ihn gehört haben musste. Die Tür quietschte ein wenig. Aber sie lag einfach nur da, die Beine an ihren Körper gepresst und die Arme darum geschlungen, als würde sie unerträgliche Schmerzen erleiden.

Warum?, fragte er sich.

Draco hatte sein Ersuchen nicht vergessen und doch konnte er nicht sprechen. Ihr Anblick machte es ihm unmöglich, dabei hatte er gedacht darauf vorbereitet gewesen zu sein. Zögernd ging er auf sie zu und kniete sich abermals vor sie.

Hätte sie seinen Blick in seinen Augen sehen können, hätten sie nicht glauben können, dass er sie vor wenigen Stunden noch so kalt und hasserfüllt angesehen hatte. Leidvoll und unsicher sah er sie an, nicht wissend wie er ihre Tränen aufhalten konnte. Dabei wollte er das nicht einmal. Er war der festen Überzeugung, dass sie es verdient hatte. Sie hatte es so gewollt.

Und dennoch... er konnte es einfach nicht aushalten, sie so zu sehen. Etwas in ihm spannte sich dann immer so sehr an, dass es drohte zu zerreisen. Nicht nur sein Inneres, sondern alles was er war. Alles, was er sich hatte noch bewahren können.

Vorsichtig berührte Draco ihre Schulter. Weinte sie, weil er gegangen war? Er würde ohnehin gehen. Sie sollte es wissen und wenn er es nicht war, der ging, dann würde sie es sein.

Kaum, dass seine Fingerspitzen sie berührt hatten, sah sie abrupt auf und sah ihn aus kleinen, geröteten Augen an. Die Tränen waren nicht einmal versiegt, seit er sie allein gelassen hatte.
 

„Draco?“, fragte sie ungläubig und streckte zaghaft eine Hand nach ihm aus. Bestimmt war dies auch nur ein Trugbild. Er konnte unmöglich vor ihr stehen. Er hatte sie verlassen. Sie hatte es in seinen Worten und vor allem in seinen Augen erkannt, dass es ihm Ernst gewesen war. Er konnte also nicht bei ihr sein. Und doch konnte sie ihn berühren. Seine Haut in diesem Traum war genauso weich und warm, wie in der Wirkleicht.

„Was für ein schöner Traum.“, flüsterte sie heißer.

„Ein Traum?“, fragte er sie.

„Ja, ich will nie wieder aufwachen, denn wenn ich es tue, wirst du nicht bei mir sein.“

Einen Augenblick sah er sie prüfend an und Annie dachte, dass es genauso war, wie wenn sie nicht träumen würde. Er würde sie genauso ansehen und dann würde er sie wohl fragen, was sie noch alles träumte. Denn was ein Traum war, wusste er bereits.

„Es ist aber kein Traum.“, sprach er und seine Stimme war weder sanft noch rau, sondern sachlich und vielleicht ein wenig distanziert.

Erschrocken blickte sie ihn an. Ihre Augen huschten in der Hütte umher, sahen die Bäume draußen und hörten den immer gleichen fröhlichen Gesang der Vögel.

„Nein?“, fragte sie leise und ungläubig. Warum sollte er bei ihr sein, wenn es kein Traum war?

Draco hob eine Augenbraue und sah sie zweifelnd an. Hatte sie jetzt ihren Verstand verloren? Doch immerhin hatte sie aufgehört zu weinen, dachte er erleichtert. Anscheinend hatte sie es selbst noch nicht einmal bemerkt.

„Wirklich nicht?“

Annie richtete sich auf und legte nun auch die andere Hand auf sein Gesicht, um es ganz zu umfassen.

„Wirklich nicht?“, fragte sie noch einmal.

„Annie, ich möchte, dass du mich-“, begann er, doch auf einmal lag sie so unerwartet in seinen Armen und begann von neuem hemmungslos zu weinen und zu schluchzen, dass er vor Bestürzung einen Moment erstarrte.

Wenn sie ihm so nah war, wurde seine menschliche Seite nur wieder stärker. Dabei war er doch gerade dabei sie ganz und gar abzulegen und zu vernichten. Doch ihr Duft und ihr schlanker Körper, der sich gegen seinen presste, machte ihm das fast vollkommen unmöglich. Wie ein erwachendes Tier, erhoben sich seine Gefühle und füllten ihn aus, ohne, dass er sie bändigen konnte.
 

„Du bist wirklich wieder hier.“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme und umarmte ihn nur noch fester. „Ich dachte, ich hätte dich bereits für immer verloren. Ich dachte, du hättest mich für immer verlassen. Einfach so. Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr.“, wisperte sie unter Tränen und kaum hörbar.
 

Es gab nichts, was Draco ihr hätte antworten können. Warum tat sie so, als wäre es seine Schuld, als wäre es seine Entscheidung? Er war sich nichts von dem bewusst.

Er würde seine Bitte vortragen und sie würde sie erfüllen müssen. Aus keinem anderen Grund war er zurückgekommen. Selbst, wenn es ihm Mühe kostete, dass Verlangen nach ihr zu unterdrücken.
 

„Lass uns davon laufen.“, sagte sie plötzlich mit aufgeregter Stimme. Überrascht sah er sie an und sie begegnete seinem Blick scheinbar furchtlos und unerschrocken.

„Lass uns davon laufen! Du und ich! Irgendwohin, in ein anderes Land! Er würde uns nicht finden. Wir könnten ein neues Leben beginnen. Vielleicht unter Menschen. Du würdest dich bestimmt daran gewöhnen und so schlimm wird es nicht sein. Komm mit mir! Aber bitte verlass mich nicht!“, sprach sie scheinbar fest entschlossen und doch spürte er, wie ihre Hände auf seinen Körper zitterten.

„Wenn wir es tun, können wir für immer zusammen sein. Wir könnten als Mann und Frau zusammenleben und niemand würde auch nur einen Zweifel daran haben, dass wir nicht zusammengehören. Niemand könnte mich dir wegnehmen und ich würde dein sein. Nur dein. Ich liebe dich doch.“, flüsterte sie mir bebender Stimme.

Er zögerte, denn obwohl ihre Worte so fest und stark klangen, konnten sie nicht über ihren Schmerz hinwegtäuschen. Tränen liefen abermals, still und leise ihre Wange hinunter.

Draco verstand sehr wohl, was ihre Worte bedeuteten. Würde sie mit ihm davonlaufen, würde sie Barrington nicht heiraten. Und dann würde dieser Mensch dieser Sophie und ihrem Bruder etwas antun.

Das Leben anderer interessierte ihn nicht. Alles was er wissen wollte, war, dass sie sich gerade für ihn entschieden hatte. Seinen eigenen Wunsch vergaß er darüber hinaus. Alles woran er denken konnte, war, dass er sie doch nicht verlieren würde, dass sie weiterhin sein war. Er allein würde sie besitzen. Er allein könnte sie küssen und liebkosen. Nie müsste er auch nur den Gedanken daran verschwenden, dass sie ein anderer haben könnte.

Ohne zu sprechen beantwortete er ihre Frage mit einem Kuss. Und auch, wenn seine Gedanken einen Moment bei Alexander und dieser unbekannten Frau waren, so ließ dieser Kuss ihn schnell vergessen. Zu sehr verlangte es ihn nach ihr. So lange, wie er sie als Mensch haben konnte, so lange würde er einer bleiben. Egal welche Opfer andere dafür bringen mussten. Sie konnten auf sich selbst aufpassen. Und Annie... sie brauchte sie nicht. Er war alles, was sie begehren und brauchen sollte.
 

Sein Kuss fühlte sich heiß an auf ihren Lippen und genauso bitter. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte das Bildnis ihres Bruders oder das ihrer geliebten Amme nicht aus ihrem Kopf verbannen. Immer wieder sah sie sie vor sich, wie sie sie mit liebenden Augen ansahen.

Doch sie hatte erfahren, wie es sich anfühlte, wenn sie ihn verlieren würde. Und das allein nahm mehr Platz und Angst, Schmerz und Verzweiflung in ihrem Herzen ein, als alles andere.

Hatte es Alexander nicht selbst gesagt? Wenn sie nicht mehr da wäre, hätte er sie niemals gesehen. Er würde auf sich selbst aufpassen können und er würde auch auf Sophie acht geben. Dessen war sie sich sicher. Alexander würde alles tun, um sie zu beschützen. Sie musste ihm vertrauen und daran glauben, dass alles gut werden würde.

Sonst würde ihre Schuld sie erdrücken.

Es ist zu falsch, um richtig zu sein...

Sie lag in seinen Armen und hatte sich nach scheinbar endloser Zeit beruhigt. Seit seiner Rückkehrt, seit sie ihm gesagt hatte, dass sie sich für ihn entschieden hatte, hatte sie geweint. Es waren stumme Tränen gewesen und sie sprach auch nicht darüber, aber Draco ahnte, was wohl in ihrem Kopf vorging. Aber er sagte nichts. Annie hatte sich für ihn entschieden. Das war alles, was er wissen musste.

Jetzt streichelte Draco ihren Rücken und lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. Er hatte das Gefühl noch nie einen so langen Tag erlebt zu haben. Selbst er fühlte sich erschöpft und sehnte sich danach, mit ihr in seinen Armen, einschlafen zu können. Doch er wusste, dass sie noch nicht so weit war. Zwar weinte sie nicht mehr, aber er spürte die Angespanntheit ihres Körpers unter seinen Fingern. Dieser Tag muss ihr noch viel mehr Kraft abverlangt haben, als ihm.
 

„Ich überlege gerade, wie wir fliehen könnten und vor allem wann.“, sagte Annie endlich mit kratzender Stimme.

Draco antwortete ihr nicht, sondern wartete bis sie von allein weiter sprach. „Ich glaube es wäre besser, wenn wir noch bis zum letzten Tag hier blieben. Vielleicht können wir Barrington überlisten. …

Würden wir jetzt gleich aufbrechen, würde er wissen, dass ich schon lang weg bin. Er würde Alexander fragen, wann er mich das letzte Mal gesehen hat. Barrington wüsste, dass ich einen großen Vorsprung hätte und würde weiter im Inneren des Landes nach mir suchen und nicht hier.“

Verwirrt blickte Draco auf ihr Gesicht herab. Wäre es nicht das Klügste zu gehen, so lange sie noch weit genug laufen konnten, ohne dass dieser Mensch etwas von ihrer Abwesenheit erfuhr? Sie sollten jeden Vorteil nutzen, der sich ihnen bot. Annie bemerkte seinen Blick nicht.

„Wenn wir aber am letzten Tag gehen, dann wären wir noch in der Nähe. Wir könnten uns vielleicht sogar irgendwo ihm Wald verstecken. Inzwischen kennen wir doch ein paar verborgene Stellen.

Oder wir laufen gleich so weit wir können. Wenn Barrington schließlich hierher kommt, würde er eine verlassene Hütte vorfinden… und er würde ebenfalls annehmen, ich hätte es bereits seit Tagen verlassen. Wir müssten nur dafür sorgen, dass es auch so aussieht. … Barrington würde auch dann fern ab von hier nach mir suchen lassen.“ Wenn er das denn überhaupt tat, dachte Annie. Möglicherweise würde er sich nicht einmal die Mühe machen. Sie war doch nur eine von Vielen.

Doch das war eigentlich egal. So oder so, würde er als erstes den Weg zu ihrem Bruder und Sophie finden. Ihr Herz blieb kurz stehen und zog sich umso schmerzhafter zusammen. Annie vergrub das Gesicht an Dracos Brust und versuchte den Gedanken an diese beiden geliebten Menschen zu verdrängen. Sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. Zurücknehmen konnte und wollte sie sie nicht.

„Wenn wir an dem Tag gehen, an dem er mich eigentlich holen will und wir hier bleiben würden, irgendwo im Wald versteckt, wäre er uns mit seiner Suche voraus und wir könnten hinter ihm den Wald und vielleicht die Gegend verlassen.

… Egal. Welchen Weg wir wählen, wir müssten spätestens bei Sonnenaufgang aufbrechen. Sonst haben wir wohl keine Chance. Ich denke nicht, dass Barrington schon um diese Tageszeit hier sein würde.“
 

Sie schwiegen wieder eine Zeit lang und Draco streichelte weiterhin sanft ihren Rücken. „Was meinst du dazu?“, fragte Annie ihn schließlich. Er antwortet ihr trotzdem nicht gleich. Er verstand ihre Worte und ihre Idee, aber er war deswegen nicht überzeugter. Es hörte sich ein wenig zu unsicher für ihn an. Und dann sollten sie nur davon laufen und hoffen, dass sie nicht gefunden wurden? Er wusste, dass dies das Beste für sie war, aber er wollte viel lieber um seine Freiheit kämpfen. Davonlaufen, war nicht seine Art. Doch er beugte sich ihr.

„Wir machen es so wie du sagst.“, antwortet er ihr. „Lass uns am letzten Tag gehen. Das wird das Beste sein. Annie, ich möchte dich gern noch etwas fragen.“

„Was denn?“

„Du beherrscht Magie. Warum benutzt du sie nicht gegen Barrington? Müsste es nicht ein leichtes sein, ihn durch Magie zu bezwingen? Noch dazu, wenn Alexander dir helfen würde?“

Sie hob den Kopf leicht an, um ihn anzusehen, bevor sie begann zu sprechen. „Alexander und ich haben uns als Kinder versprochen, unsere Magie niemals gegen Menschen einzusetzen. Egal, wie schlecht sie sein würden. Wir haben es uns geschworen. Wir wollten nicht so sein wie unsere Eltern, wir wollten einen neuen Weg gehen. Wir konnten nicht ahnen, dass... Aber ich…“

Draco atmete scharf aus. Er wusste, was sie sagen wollte. „Und du bereust es auch nicht. Nicht einmal jetzt.“ Wie konnte man nur so unvernünftig sein?

Stumm nickte Annie. Mit einem besorgten Blick betrachtete Draco sie. Ihre Augen wirkten verschleiert und leer. So hatte er sie noch nie gesehen. War ihre Entscheidung wirklich richtig?, zweifelte er zum ersten Mal. Sein Daumen fuhr über ihre Wange und er hob ihren Kopf für einen Kuss.

Ja, sie war richtig, dachte er, als sich ihre Lippen berührten. Es war ihre Entscheidung gewesen. Hätte sie nicht ihn gewählt, hätte er versucht wieder zu dem zu werden, was er einst war. Aber nun würde er sie nicht mehr gehen lassen.

„Du solltest dich hinlegen und schlafen.“ sagte er dann sacht. Wieder nickte sie bloß und ließ sich von ihm auf ihre weiche Schlafstelle betten. Draco legte sich neben sie, zog sie in seine Arme und streichelte noch immer sanft ihren Körper.

Es brauchte nur ein paar Sekunden bevor beide eingeschlafen waren und dieser Tag endlich sein ersehntes Ende fand.
 

Die nächsten Tage war Annie so ruhig und schweigsam, wie Draco sie noch nie erlebt hatte. Sie lachte nicht mehr und wenn sie doch einmal lächelte, dann war es schwach und wirkte unecht auf ihn. Nie entstand dabei dieses Strahlen in ihren Augen, wie er es von ihr gewöhnt war. Unter ihren Augen befanden sich dunkle Ringe, die ihr ihre Schönheit stahlen. Ihre Haut wirkte auf ihn nicht mehr so rosig, wie sie es sonst immer tat. Sie war blass, genauso wie ihre sonst so roten Lippen. Sie bewegte sich langsam und bedächtig. Jede Bewegung schien ihr schwerer zu fallen.

Erst hatte Draco geglaubt es läge nur an dem wenigen Schlaf den sie hatte, doch es war egal, wie lange er sie schlafen ließ, an ihrem äußeren Erscheinungsbild änderte sich nichts. Er war sich sehr wohl bewusst, dass diese Veränderung an jenem Tag ihren Anfang genommen hatte. Er wusste, was sie bedrückte, doch er verstand es nicht richtig.

Annie war es doch gewesen, die sich für ihn entschieden hatte. Es war ganz allein ihre Entscheidung gewesen. Warum litt sie dann anscheinend so sehr darunter? Bereute sie es bereits? Doch als er sie einmal, nur einziges Mal danach gefragt hatte - und er würde es auch nie wieder tun - hatte sie ihn nur schwach angelächelt und den Kopf geschüttelt. Dann hatte sie ihn leicht geküsste und gesagt: „Natürlich bereue ich es nicht. Es ist gut so, wie es ist.“ Draco hatte versucht zu ignorieren, dass sich ihren Augen dabei mit Tränen gefüllt hatten und sie hatte auch nicht geweint, doch er wusste dennoch, wo sie in ihren Gedanken war. Und er hasste allein die Vorstellung daran. Würde es auch noch so sein, wenn sie es geschafft hatten zu fliehen? Würde sie dann immer diesen traurigen Blick tragen? Würde sie nie wieder lachen können?

Nein. Er würde schon dafür sorgen, dass sie das könnte, dacht er überzeugt. Wenn es ihnen erst gelungen war, würde es nur noch sie und ihn geben und er würde sie wieder zum Lachen bringen. Dessen war er sich sicher. Es würde alles gut werden, wenn sie diesen Ort erst einmal verlassen hatten.

Aber abgesehen davon, dass sich Annie äußerlich so sehr verändert hatte, versuchten sie ihr Leben so weiter zu gestalten, wie es auch vorher der Fall war. Beide wussten, dass Barrington auch vor dem angekündigten Tag vor ihrer Tür erscheinen konnte und wenn es nur wahr, um nachzusehen ob sie noch da war. Annie und Draco musste sich dazu zwingen, den alltäglichen Dingen nachzugehen. Dies bedeutete Wäsche waschen, die Hütte in Ordnung halten, die Mahlzeiten bereiten und noch einiges mehr. Arbeiten für die Annie dankbar war, gaben sie ihr doch Beschäftigung und lenkten sie von anderen, trüberen Gedanken ab, die sie die meiste Zeit zu verdrängen versuchte. Trotzdem gelang es ihr nur wenig erfolgreich. Nur wenn sie in Dracos Armen lag, ihn küsste und ihre Liebe mit ihm teilte, war ihr das kurzzeitige Vergessen vergönnt. Ihre Flucht, ihre Leben, ihre Schuld. Es waren kostbare Momente und umso wertvoller, weil sie wusste, dass es schon bald enden könnte.

In diesen Momenten gab es nur den Mann, den sie liebte und sie. Sie spürte seinen Körper auf sich, berührte ihn, atmete seinen Duft ein, schmeckte ihn und wurde eins mit ihm. Mehr als einmal wünschte sie sich, dieser Moment könnte ewig halten. Wenn sie doch nur die Zeit einfangen könnte. Aber da ihr dies nie gelingen würde, betet Annie dafür, solche Augenblicke des Vergessens und des Glücks noch oft erleben zu dürfen. Und das würde sie, nicht wahr? Wenn sie erst einmal in einem anderen Land waren, wo sie keiner kannte, würde ihr dies möglich sein. Sie und Draco würden ganz von vorn beginnen. Nur sie und er. Mehr brauchte sie nicht. Mehr wollte sie nicht.

Mehr durfte sie nicht wollen.
 

Draco war, wie so oft, in den Wald gegangen. Noch immer wusste sie nicht, was er dort tat und inzwischen hatte sie sich auch damit abgefunden, es nie heraus zu finden. Jetzt war es ohnehin von keinerlei Bedeutung mehr, dachte sie traurig. Als Annie gerade die Hühner fütterte, vernahm sie abermals Hufschläge hinter sich. Vor Angst erstarrte sie. Im Stillen dankte sie Gott dafür, dass Draco wieder nicht da war. Sie wusste nicht, warum Draco immer dann nicht da war, wenn sich jemand ihrem bescheidenen zu Hause näherte, aber es hatte ihnen wahrscheinlich schon oft das Leben gerettet. Doch als sie sich umdrehte, war es nicht Barrington den sie sah, sondern ihren Bruder.

„Alexander.“, sagte sie tonlos. Unbändige Gefühle stiegen in ihr auf, die sie zu überwältigen drohten und die sie doch so sehr beherrschen musste. Was machte er hier? Sie hatte sich schon längst von ihm verabschiedet! Warum kam er noch einmal? Sie konnte seinen Anblick kaum ertragen.

„Hallo, Annie.“, sagte ihr Bruder sanft und kam auf sie zu. Er schloss sie in seine Arme und augenblicklich verkrampfte sie sich. Er durfte das nicht tun! Er machte es ihr somit unmöglich, ihn noch ein weites Mal gehen zu lassen.

Annie versuchte verzweifelt gegen die Tränen anzukämpfen, schluckte und hoffte, dass ihre Stimme ihren Dienst nicht verweigern würde. „Was machst du hier?“, schaffte sie es zu fragen und sah zu den Hühnern, die sich um die Körner stritten, die sie vor wenigen Augenblicken auf dem Boden verteilt hatte. Annie spürte, wie er erst ihrem Blick folgte und sie dann ansah. Bemerkte, wie sehr sie unter seiner Anwesenheit litt?

„Ich wollte sehen, ob du noch da bist.“, antwortet er ehrlich.

Sie nickte bloß, unfähig zu sprechen. Hätte sie es getan, hätte sie ihm alles erzählt. Sie hätte ihn um Vergebung angefleht, darum gebeten Sophie irgendwie zu retten, sich und seine Frau in Sicherheit zu bringen. Doch stattdessen schwieg sie. Würde sie es ihm erzählen, würde sie ihn wahrscheinlich noch mehr in Gefahr bringen. Denn dann hätte Barrington wirklich etwas, womit er ihn bedrohen konnte.

„Hast du dich denn entschieden?“, fragte er sie weiter. Wieder nickte Annie bloß. Wie dumm war sie eigentlich? Da stand sie hier und schwieg, dabei gab es noch so viel anderes zu sagen. So vieles und doch konnte sie es nicht einmal ansatzweise aussprechen. Aber wahrscheinlich wusste er es ohnehin schon, dachte sie verzweifelt. Ihre Haltung war zu offensichtlich. Sie schaffte es nicht mal ihn anzusehen! Dabei musste sie doch! Wenn sie noch irgendetwas richtig machen wollte, dann musste sie ihren Bruder ansehen und ihm das Gefühl geben, als sei alles in Ordnung! Etwas anderes konnte sie nicht tun.

Also brachte Annie ihre verbliebenen, mentalen Kräfte auf, atmete durch und schaffte es ihren Bruder anzusehen - ohne blinzeln zu müssen, ohne an den Schmerz zu denken, der sich in ihr Herz gefressen hatte. Sie musste sich nur vorstellen, dass dies ein Abschied wie jeder andere war. Sie musste einfach…

„Ich danke dir, Alexander. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Es ist alles in Ordnung. Es wird alles gut werden, so wie du gesagt hast.“, gelang es ihr zu sagen und zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie es sogar geschafft, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie erwiderte seinen Blick und hoffte, dass er ihre wahren Gedanken und Ängste nicht sah. Nur dieses eine Mal nicht, flehte sie gen Himmel.

Alexander musterte sie ein paar Sekunden, bevor der den Blick schließlich abwand. „Das beruhigt mich wirklich zu hören.“, sagte er schließlich und sah sich noch einmal um. „Wo ist Draco?“

„Im Wald irgendwo. Ich weiß es nicht. Er sagt mir nie, wo er hingeht.“, antwortete Annie verblüfft auf diese Frage. Sonst interessierte es ihn nie, wo Draco war.

Alexander nickte kurz und schien mit dieser Antwort dennoch nicht zufrieden. Sie konnte es in seinem Gesicht lesen. Noch mehr Fragen taten sich auf, doch sie stellte keine einzige davon.

Die beiden Geschwister sahen sich in die Augen und dann wurde es Annie klar. Er wusste es tatsächlich. Sie hätte sich gar nicht die Mühe machen brauchen. Ohne Vorwarnung nahm Alexander seine Schwester in die Arme und drückte sie an sich. „Ich wünsche dir alles, alles Gute.“, flüsterte er gegen ihr Ohr. „Pass auf dich auf.“

Annie schluchzte kurz auf und verfluchte sich selbst dafür. „Danke.“, presste sie mühsam heraus, unfähig noch ein weiteres Wort zu sprechen.

„Ich hoffe du wirst es nicht bereuen.“, sagte er weiterhin und strich ihr über das Haar. Sie schüttelte leicht den Kopf und umarmte ihn noch etwas fester. Sie wollte nicht loslassen.

Doch Alexander ließ sie los und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Leb wohl.“, flüsterte er und selbst seine Stimme klang heißer. Dann ließ sie ihn gehen.

„Leb wohl.“, wisperte Annie kaum hörbar und sah ihn nicht an. Sie drehte sich um und beschäftigte sich wieder mit den Hühnern. Sie durfte nicht weinen. Nicht jetzt. Es war nur ein gewöhnlicher Abschied, versuchte sie sich weiter einzureden. Erfolglos. Es war kein Abschied wie sonst auch. Es war einer für immer.

Als sie hörte, wie er sein Pferd bestieg und langsam davon ritt, wartete sie nur noch bis sie ihn nicht mehr hören konnte. Dann brach sie weinend zusammen und wünschte, sie wäre tot und von ihrem Schicksal befreit.
 

Draco war auf dem Rückweg vom See, an dessen Ufer er darüber nachgedacht hatte, wie er sie noch an diesem Tag wieder zu Lachen bringen konnte. Er war überzeugt, dass sie das irgendwann wieder können würde, aber er wollte nicht länger warten. Er wollte es jetzt. Doch egal, wie sehr er auch darüber nachdachte, kam er zu keiner Antwort. Vielmehr war er wieder einmal zu der Überzeugung gelangt, dass sie ihn niemals hätte verwandeln sollen. Es hätte alles so viel einfacher gemacht.

Hufschläge ließen ihn aufhorchen und instinktiv suchte Draco nach einem Versteck. Es war ein Leichtes für ihn, einen Baum mit einem Ast zu finden, der so tief hing, dass er sich mühelos daran hochziehen konnte. Rasch kletterte er einen weiteren Ast hinauf, kniete sich dann darauf hin und hielt sich mit einem Arm, an einem anderen über seinem Kopf fest. Dann wartete er auf den Reiter, der immer näher kam. Von seiner Position aus, hatte Draco eine gute Sicht in den Wald und auch, wenn die Blätter sich langsam verfärbt hatte, waren sie immer noch dicht genug, um ihn vor den Augen anderer zu verbergen.

Doch er war verblüfft, als der den Reiter erkannte.

Es war Alexander, der nur wenige Schritte von dem Baum stehen blieb, in dem Draco sich versteckt hielt. Annies Bruder sah sich scheinbar etwas suchend um.

„Draco?“, fragte Alexander plötzlich und schaute weiter in den Wald hinein, als könnte er den Gesuchten bald erkennen. Überrascht sah Draco nach unten. Woher wusste er, dass er hier war? Hatte er ihn doch bemerkt? Eigentlich nicht. Er war zu schnell gewesen.

„Draco, bist du hier?“, fragte Alexander noch ein zweites Mal und ließ sein Pferd noch ein paar Schritte weiter gehen. Warum sucht er nach mir?, fragte sich Draco irritiert.

Er hatte bisher nicht viel mit diesem Alexander zu tun gehabt und er war auch nicht darauf aus. Draco war sicher, dass Alexander das genauso empfand. Zwischen ihnen hatte es keine Freundlichkeit gegeben. Was also wollte er dann von ihm?

Was ging es ihn an? Er würde Annie danach fragen, wenn er zurück war. Alexander war bestimmt auch bei ihr gewesen. Oder hatten sie möglicherweise doch einen anderen Ausweg gefunden?

Erneut rief Alexander seinen Namen und Draco zuckte kurz zusammen. Es war ihm seltsam zu mute, den Namen, den sie ihm gegeben hatte, mit der Stimme eines anderen zu hören. Es klang so fremd und falsch.

Draco atmete scharf aus. Er hasste diesen Drang, diese Neugier, die von ihm Besitz ergriff. Er wollte jetzt wissen, was Alexander ihn zu sagen hatte und nicht erst warten, bis er Annie danach fragen konnte. Und um das zu erfahren, würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich zu zeigen.

Er sprang nach vorn, von dem Ast herunter. Mit einem eleganten und sanften Sprung landete er auf dem Waldboden. Vor Schreck wendete Alexander sein Pferd und sah ihn erstaunt an.

„Was ist?“, fragte Draco unvermittelt und wartet nicht einmal darauf, bis Alexander von seinem Pferd gestiegen war. Draco beobachtete, wie Alexanders Blick zu dem Baum hinter ihm glitt und dann wieder zu ihm.

„Da bist du ja endlich.“, sprach Alexander. „Ich dachte schon ich würde dich nie finden.“ Auch wenn Draco es nicht zeigt, so war er über die Tatsache, dass Alexander wirklich nach ihm gesucht hatte, erstaunt. Sie hatte sich nicht zu sagen.

“Ich war gerade bei meiner Schwester.“, setzte Alexander von neuem an und hatte somit sofort Dracos gesamt Aufmerksamkeit, auch wenn sein Gesicht weiterhin ausdruckslos blieb. „Sie hat sich für dich entschieden.“

Auch darauf sagte Draco nichts. Dies war Etwas was Alexander nichts anging. Außerdem gab es nichts mehr darüber zu sagen.

Die beiden so verschiedenen Männer musterten sich einige Sekunden und die Spannung erfüllte den Wald um sie herum beinah mit einem Knistern. Dann zog sich ein bitteres Lächeln über Alexanders Gesicht und er schloss die Augen. „Ich verstehe.“, sagte er und über Dracos Gesicht huschte eine Spur Verwirrtheit. Er verstand diesen Menschen nicht. Er verstand sie allgemeinhin nicht, aber bei Annie hatte er wenigstens das Gefühl es langsam zu können. Doch ihr Bruder war ihm einfach fremd und unverständlich.

Alexander blickte ihn nun wieder direkt an und Draco erkannte dieses Funkeln in seinen dunklen Augen, was ihn für andere bedrohlich aussehen ließ. „Ich will das du verschwindest.“, sagte Alexander schließlich mit finsterer Stimme.

Einen winzigen Augenblick war Draco über diese Aussage überrascht und überlegte sogar, ob er etwas erwidern sollte. Aber warum sollte er? Es würde nicht verändern. Stattdessen wand er sich zum Gehen ab.

„Liebst du sie?“, fragte Alexander weiter. Ebenfalls eine Frage mit der Draco nicht gerechnet hatte und sogar stehen blieb. „Ich weiß es nicht.“, antwortete er ehrlich und leise. Er wollte gerade weiter gehen, als ihn Alexanders wütende Stimme zurückhielt. Er hatte ihn schon einmal recht wütend erlebt, dachte Draco, doch selbst dann war es nicht so intensiv wie jetzt gewesen. Andere konnten dieses Gefühl also genauso heftig empfinden.

„Das ist es ja gerade! Du weißt es nicht! Aber sie liebt dich! Jeder kann das sehen! Nur deinetwegen ist sie bereit Menschen in den sichern Tod gehen zu lassen! Das ist nicht meine Schwester!“

Machte er etwa ihn für ihre Entscheidung verantwortlich? Glaubte er etwa, er hätte einen Anteil auf ihre Entscheidung gehabt! Sie hatte sich bereits entschieden, als er seinen eigenen Weg wählen wollte.

„Es war ihre Entscheidung.“, sagte Draco mit kalter Stimme. Mehr gab es für ihn nicht zu sagen. Er würde sich nicht vor diesem Mann rechtfertigen.

„Und was glaubst du, warum sie das getan hat? Nur weil sie den Gedanken vielleicht nicht ertragen kann, von dir getrennt zu sein.“, sagte Alexander mit noch immer wütender Stimme.

Dracos Augen weiteten sich vor Überraschung, über die Wahrheit dieser Worte. War es das gewesen, was sie ihm hatte sagen wollen? Aber Alexander erwartete keine Antwort und sprach weiter: „Glaubst du etwa, sie könnte je wieder glücklich sein, jemals wieder zu ihrem alten Wesen zurückfinden, wenn sie weiß, dass sie vielleicht den Tod von unschuldigen Menschen zu verantworten hat? Und das nur, weil sie sich nach einem Mann sehnte? Glaubst du wirklich du könntest mit ihr fortgehen und alles wäre vergessen? Glaubst du wirklich du könntest sie je glücklich machen? Wenn du das tust, dann bist du äußerst naiv.

“Meine Schwester wird nie wieder die Gleiche sein! Sie wird nie wieder lachen können! Du brauchst sie dir doch nur einmal anzusehen! Sie ist jetzt schon vollkommen von Trauer und Schuld zerfressen. … Aber wahrscheinlich ist es dir sowieso egal. Du liebst sie ja nicht einmal. Du denkst nur an dich und an deine eigenen selbstsüchtigen Wünsche.“

Seine Worte sollten ihm egal sein, dachte Draco und das waren sie auch - fast.

Sie würde nie wieder glücklich sein? Sie würde nie wieder lachen? Sie würde nie wieder die gleiche sein?

Warum? Wieso? Es würde doch besser, wenn sie erst einmal alles hinter sich gelassen hatten?

Er verstand nicht...

Alexander muss seine Verwirrung bemerkte habe, denn gleich darauf sagte er scharf: „Was? Du bist überrascht? Du lebst schon so lange mit meiner Schwester zusammen und weißt nicht einmal das?! Was für ein Mistkerl bist du eigentlich? Ich schwöre dir, wenn ich nicht genau wüsste, wie sehr sie dich liebt, hätte ich dich schon längst von hier vertrieben… und dann hättest du noch Glück gehabt.“

Fassungslos sah Draco zu Boden und wollte die gesprochenen Worte nicht richtig glauben. Etwas zog sich in ihm fest zusammen und setzte sich wie ein Stein auf seine Lungen und ihm das atmen erschwerte. Tief in seinem Inneren, realisierte er, dass Alexander recht haben könnte. Es war unübersehbar, wie sehr sich Annie bereits verändert hatte. Von ihrem alten, fröhlichen und heiteren Selbst, war nichts mehr zu erahnen. Bisher hatte er fest daran glauben wollen, dass es besser würde, wenn sie nicht mehr an diesem Ort wären. Aber was... wenn es das nicht wurde?

Draco wusste um die Tränen, die Annie jedes Mal weinte, wenn er nicht bei ihr war. Genauso wie er auch wusste, warum sie sie weinte.

Würde sich wirklich nichts ändern? Würde es von nun an für immer so sein?

„Du musst sie verlassen.“, sagte Alexander nach wenigen Minuten des Schweigens abermals. „Nur so, kann sie vielleicht ein halbwegs normales Leben leben.“

Bei diesen Worten blickte Draco auf und nun stand die Wut in seinem Gesicht geschrieben.

„Du willst, dass sie ihn heiratet?“, fragte Draco und seine Stimme klang nun genauso scharf. Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung, war Draco bereit sich mit Alexander auseinander zusetzen und mit ihm zu reden.

„Nein, dass will ich natürlich nicht!“, erwiderte Alexander sofort heftig. „Aber von allen Möglichkeiten, wäre dies die bessere für sie. Ein Leben an Barringtons Seite mag schrecklich werden, davon bin ich sogar überzeugt. Dennoch wäre es ein Leben, welches sie in der Nähe ihrer Familie verbringen könnte. Sie müsste nicht mit der Schuld leben, die sie nicht einmal jetzt, nach ihrer Entscheidung, akzeptieren kann. … Draco, verstehst du denn nicht?! Sie könnte damit die Menschen retten, die sie liebt und dir ihr wichtig sind. Du kannst nicht ernsthaft gedacht haben, dass sie sie einfach vergessen könnte, selbst wenn sie dich bei sich hat. Du kennst sie! Niemals könnte sie für immer mit dieser Belastung leben. Vielleicht würde es ein paar Monate gehen, vielleicht ein paar Jahre, doch niemals für immer. Du siehst es doch! Sie zerbricht jetzt schon daran!“, appellierte er an seinen Gegenüber.

„Ich...“ Draco öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. „Sie hat mich, mehr braucht sie nicht!“, erwiderte er schließlich und versuchte das Bild ihrer traurigen Augen aus seinen Gedanken zu verbannen.

Alexander lachte bitter auf. „Na und? Meinst du das reicht ihr? Was glaubst du, was ich dir die ganze Zeit versuche zu erklären? Ich weiß nicht wo du eigentlich her kommst oder wer du wirklich bist, aber was kannst du ihr geben? Und selbst wenn du ihr ein Leben ohne finanziellen Sorgen versprechen könntest, sie beschützen könntest und selbst, wenn sie nicht diese Schuld auf sich nehmen würde, würde sie wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens auf der Flucht sein. Barrington wird nach ihr suchen und wenn es nur wäre, um ihr die Strafe für ihr Verschwinden zu geben.

“Immer müsstet ihr davon laufen, würdet vielleicht niemals zu Ruhe kommen. Ist es das was du willst? Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es sich anfühlt, wie ein Tier gejagt zu werden, in die Enge getrieben, bis es keinen Ausweg mehr gibt und man an dem Punkt angelegt ist, an dem man sich nichts mehr wünscht, als das es endlich vorbei ist und der Tod einen erlöst? … Nein, du weißt nicht wovon ich rede. Ich weiß es ja selbst nicht, aber die Angst, die in den Augen der Tiere zu sehen ist, die ich jage, spricht es ganz deutlich.“

Kälte kroch Dracos Körper hinauf. Die Erinnerung überkam ihn, noch bevor Alexander ausgesprochen hatte. Eingeschlossen, in die Enge getrieben, gejagt und gehetzt und nur noch mit den letzten Kräften fliehend. So lange bis auch der letzte Wille zum Leben aus seinem Körper verschwunden war.

„Was ist?“, fragte Alexander misstrauisch und trat einen Schritt auf ihn zu.

„Nichts.“, antwortete Draco einsilbig und versuchte die Erinnerung abzuschütteln. Es musste nicht so sein, sagte er sich. Ganz sicher musste es nicht so sein.

Doch Alexander Blick verriet ihm, dass er zu lange gezögert hatte. „Vielleicht weißt du ja doch wovon ihr rede.“, sagte er mit leiser Stimme und sah Draco interessiert an. „Warum warst du eigentlich verletzte, als meine Schwester dich fand?“

Draco erwiderte seinen Blick fest und die Unsicherheit die Alexander vor wenigen Augenblicken geglaubt hatte darin zu sehen, war verschwunden.

“Du solltest darüber nachdenken.“, sagte Alexander schließlich, als er von Draco kein weiteres Wort hörte. „Willst du ihr dieses Leben wirklich zumuten oder lässt du sie gehen? Es liegt an dir.“

„Was soll ich denn ohne sie tun?“, wisperte Draco. Er hatte diese Worte gesprochen, ohne das es seine Absicht gewesen war, doch sie waren so leise, dass er geglaubt hatte, niemand würde sie verstehen können, ganz gewiss nicht Alexander. Aber dieser tat es.

„Du wirst ohne sie leben müssen. Das konntest du doch vorher auch. Wie alt bist du? Anfang oder Mitte zwanzig? Was hast du all die Jahre gemacht, bevor du meine Schwester kennengelernt hast?“, fragte Alexander ihn. „Spar dir die Antwort. Ich will es gar nicht wissen.“ Mit diesen Worten sattelte er wieder auf und bedachte Draco noch einmal mit einem vernichtenden Blick.

„Wegen Annie musst du dir keine Sorgen machen,...“, sprach Alexander noch einmal, bevor er sich umwandte, „Wenn dir das überhaupt in den Sinn gekommen ist. Der Anfang wird für sie schwer werden und sie liebt dich wirklich. Glaube mir, ich wünschte es gäbe einen anderen Ausweg. Irgendwann wird es auch für sie besser werden, leichter – auch, wenn sie bei Barrington vielleicht kein angenehmes Leben haben wird. Aber sie wird dich vergessen und mit dem Vergessen wird der Schmerz weniger werden.“

„Sie wird mich vergessen?“, fragte Draco tonlos und Entsetzten stand auf seinem Gesicht. Alexanders Worte hatten ihn wie einen Schlag getroffen. Noch nie war ihm dies in den Sinn gekommen.

„Natürlich. Menschen vergessen mit der Zeit. Es mag bei ihr vielleicht länger dauern, aber irgendwann wird es so sein. Das Vergessen lindert unseren Schmerz. Genauso wie du sie eines Tages vergessen wirst.“ Mit diesen Worten ritt Alexander endgültig davon und ließ Draco allein zurück.
 

Verstört stand Draco im Wald, noch immer getroffen von Alexanders Worten. Er und vergessen? Er würde niemals vergessen. Er konnte nicht! Selbst, wenn er es noch so sehr gewollt hätte! Er vergaß niemals! Immer würde er sich erinnern!

Er konnte sie einfach nicht gehen lassen. Sie war sein und er würde sie niemals jemand anderem überlassen. Was sollte er auch ohne sie tun? Als sie ihm gesagt hatte, sie würde bei ihm bleiben, da hatte er sich ein zweites Mal aufgegeben. Wohl wissend, dass es von diesem Moment an für immer sein würde. Er würde ein Mensch bleiben. Doch ohne sie... genauso gut, hätte Alexander ihn töten können.

Vielleicht wäre dies wirklich das Beste, dachte Draco verbittert. Wenn er tot wäre, wäre alles so viel einfacher. Annie hätte keine Entscheidung treffen müssen, die sie so oft weinen ließ, er müsste sich nicht mit den Gedanken quälen, ob sie ihr Lachen für immer verloren hätte und er müsste sich niemals vorstellen, wie sie in den Armen eines anderen lag.

Auch wenn das Gewicht auf seiner Brust ihn zu ersticken drohte, zwang er sich dazu durchzuatmen. Es schmerzte ihn, doch es war ihm nicht unangenehm. Es zeigte ihm, dass er noch immer fühlte und es half in die dunklen Gedanken, ausgelöst durch Alexanders Worte, zu verdrängen.

Denn es waren nur dessen Worte, die ihn so verwirrten, sagte er sich selbst. Sie würden früh aufbrechen und doch in der Nähe bleiben. So würde es ihnen gelingen, Barrington zu überlisten. Es würde nicht so sein, wie Alexander gesagt hatte, dachte er entschlossen.

Dennoch beschlich ihn das gleiche Gefühl, wie er es hatte, als er Barrington das erste Mal wieder gesehen hatte, als er erkannt hatte, dass dieser Mann es gewesen war, der in fast in den Tod getrieben hätte. Kalter Schweiß brach ihm aus. Warum nur verspürte er so eine Angst vor diesem Mann, fragte er sich? Er war nur ein Mensch. Nichts weiter, als ein dummer, unfähiger, schwacher Mensch.

Aber genau das bist du auch, nicht wahr?, hörte er seine eigene Stimme zu sich sprechen. Und selbst als du es nicht wahrst, war es ihm gelungen, dich zu finden und in die Enge zu treiben.

Draco schluckte heftig. Das war vergangen, beschwichtigte er sich selbst. Es war vorbei, schon lange und hatte keinerlei Bedeutung mehr.

Er drehte sich um und verließ diesen Platz, auf dem er noch vor wenigen Minuten mit Alexander gesprochen hatte. Annies Bruder wusste nicht wovon er sprach. Er war sogar bereit seine Schwester einfach diesem Mann zu überlassen, wo doch ein Leben an Barringtons Seite genauso furchtbar, wie der Tod sein musste. Auch Alexander dachte nur an sich selbst.
 

Als er die Tür öffnete und eintrat, erschrak er. Wieder lag Annie auf dem Boden und weite hemmungslos in die Decken, die unter ihr lagen. Auch wenn sie das oft getan hatte, so hatte sie es ihn nie so offen sehen lassen.

Der Anblick ihrer Tränen machte ihn jedes Mal aufs neue hilflos. Dies war etwas, woran er sich nicht würde gewöhnen können. Dabei bedeutete dieses salzige Wasser aus ihren Augen keine Gefahr für ihn. Trotzdem fühlte er sich, als wären ihren Tränen Dolche, die sie ihm stumm ins Herz rammte.

Würden sie niemals aufhören?

Bedächtig ging er auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Bei der Berührung zuckte Annie kurz zusammen und er wusste, dass sie versuchte sich augenblicklich zu beruhigen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und atmete durch den Mund, um ihrer Tränen Herr zu werden. „Es tut mir leid.“, sagte sie schließlich mit schwacher Stimme. „Alexander war gerade hier und ich... Ich habe mich verabschiedet. I-Ich wusste nicht, dass er noch Mal kommen würde und... Ich musste wieder daran denken, was passieren könnte, wenn...“

Ihre Stimme war nicht einmal mehr ein Flüstern und nur durch sein feines Gehör verstand er sie überhaupt. „Entschuldige, es ist wieder alles in Ordnung.“ Sie blickte ihn flüchtig an und erneut erschrak er. Vorsichtig hob er ihr Kinn ein wenig an, um sie genauer zu betrachten.

Sie sieht krank aus, schoss es ihm durch den Kopf. Ihre Stirn glänze, als hätte sie Fieber. Alles rot, welches ihre Wangen sonst so leuchten ließ, war plötzlich verschwunden. Stattdessen wirkte ihre Haut blass und grau und die feinen Äderchen darunter zeichneten sich sichtbar ab. Die Schatten unter ihren Augen erschienen ihm noch tiefer und noch dunkler. Ihre Augen wirkten noch trüber und leer auf ihn und ihre sonst so köstlichen Lippen waren nicht mehr als eine schmale Linie. Sie ließen nicht einmal mehr ihre frühere Farbe von dem herrlichen himbeerrot erahnen. Ihr Haar hing schlaff ihre Schultern herunter. Ihr Körper war dünner und zerbrechlicher als jemals zu vor.

Wann war all dies geschehen? Er hatte die Veränderungen bereits vorher bemerkt, doch seit dem zusammentreffen mit Alexander, schienen sie ihm noch auffälliger zu sein. Sie waren schlimmer, erschreckender und tiefsitzender. Wieder umklammerte Angst sein Herz.

Sollte Alexander wirklich recht behalten? Würde er sie nie wieder glücklich sehen? Würde sie nie wieder so sein, wie zuvor?

Nein, dass würde sie nicht. Er klammerte sich regelrecht an diesen Gedanken.

Vielleicht könnte sie wirklich irgendwann wieder lachen und vielleicht würde es sogar ihre Augen erreichen. Trotzdem würde es immer von Gedanken an die Menschen überschattet sein, die sie zurückgelassen hatte, realisierte er.

War es für sie wirklich besser, sie gehen zu lassen?

Vielleicht hatte Alexander recht, dachte Draco. Sie war ein Mensch. Menschen vergessen. Ihr Leben ist viel zu kurz, um all das, was sie erleben, in ihrem Herzen bewahren zu können. Annie war nicht anders, als sie. Sie war ebenso nur ein Mensch. Ein zerbrechlicher, sterblicher Mensch. Noch nie war ihm dies so bewusst geworden, wie in diesem Moment. In diesem Augenblick konnte er die ganze Schwäche der Menschen in seinen Armen liegen sehen. Nur ein einziger Windhauch würde genügen, um sie vollkommen zu brechen.

Draco atmete zittrig aus, als ihm die Bedeutung seiner Überlegung bewusst wurde. Es war für sie tatsächlich besser, wenn er sie gehen ließ.

Sie würde ihn vergessen, wie sie auch ihren Schmerz über sein Misstrauen vergessen hatte. Nach und nach würde sein Bild in ihrem Herzen schwächer werden. Annie konnte anderen nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen. Er hatte es ja selbst erfahren. Sie hatte auch ihn gerettet, obwohl sie ihn genauso gut hätte sterben lassen können. So, wie es hätte sein sollen… von Anfang an. Nie würde Annie es sich verzeihen, anderen im Stich gelassen zu haben, einfach davon gelaufen zu sein und nicht ihr bestmögliches getan zu haben, um ihnen zu helfen. Das war die Art, wie sie dachte und handelte. Es war ihre Stärke und gleichzeitig verstand Draco es als Dummheit.

Ja… Sie würde daran zerbrechen, wenn sie in zwei Tagen gingen.
 

Und trotzdem konnte er sie nicht gehen lassen. Es war zu spät. Es war entschieden.
 

Der nächste Tag brach an und Annies Zustand hatte sich nicht geändert. Es überraschte ihn auch nicht. Sie lag still in seinen Armen, das Gesicht an seiner Brust vergraben. Er konnte spüren, dass ihr Atem zittrig ging und sie unruhig schlief. Wahrscheinlich träumte sie schlecht. Draco zog sie noch ein wenig fester an sich und strich ihr über den Rücken. Doch anders als sonst, schien es sie kaum zu beruhigen. Hin und wieder schlief er selbst kurz ein und erst am späten Nachmittag bemerkte er, dass Annie die Augen öffnete, auch wenn sie ihn nicht ansah. Trotzdem erhob sich Draco und füllte einen Becher mit Wasser. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, reichte er ihn ihr weiter. Zögerlich nahm sie das Gefäß und führte es an ihre Lippen. Er wusste, dass sie den Kopf nur deshalb so tief gesenkt hielt, damit er sie nicht ansehen konnte. Er wusste nicht, ob er das überhaupt wollte. Selbst im Schlaf hatte sie vereinzelt Tränen geweint.

Sobald sie den Becher abgestellt hatte, legte sie sich wieder hin und bedeckte die Augen mit ihrem Arm.

„Annie...“, sagte er leise und zog ihren Arm weg. Ihre Augenlider waren vom vielen weinen, aber auch der Anstrengung ihre Tränen zurückzuhalten, rot und geschwollen. Abermals stahl sich eine einzelte Träne aus ihrem Augen und liefe ihre Wange hinab. Hastig schloss er sie in die Arme und drückte sie an sich. Es war als wäre ihr Schmerz auch seiner.

„Ich bin hier, Annie.“, flüsterte er.

Warum nur? Warum nur, war sein Dasein nicht genug für sie?

„Es tut mir leid.“, sagte sie leise. „Bitte, nur noch heute. Nur noch heute will ich wegen ihnen weine. Morgen werde ich stark sein, das verspreche ich.“

Und dann weinte sie erneut an seiner Brust. Gefangen von dem Schmerz und dem Leid, das sie über anderen bringen würde.
 

Draco hielt sie in seiner Umarmung und wartete, bis sie sich etwas gefangen hatte. Denn eines hatte er inzwischen begriffen. Ein Mensch konnte nicht ewig weinen. Irgendwann war auch dazu die Kraft verschwunden. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie sanft. Ihre Lippen waren rau und spröde. Kaum erwiderte sie seinen Kuss. Verzweifelt sah er sie an, küsste sie noch einmal und noch ein weiteres Mal. Die Gedanken des letzten Tages schlichen sich zu ihm und er versuchte sie wieder zu verbannen. Je mehr die Gedanken zu ihm zurückkrochen, desto drängender, beinahe grob, wurden seine Küsse. Annie erwiderte sie nur schwach, so dass er es kaum spürte. Es war als ließe sie es bloß geschehen, ohne dabei selbst etwas zu empfinden. Es machte Draco wütend und ließ seine Verzweiflung und Hilflosigkeit nur noch weiter wachsen. Gefühle, die er nicht kannte und die ihn ängstigten. Seine Hand berührten ihren Körper, streichelte ihn, versuchte ihm eine Reaktion zu entlocken. Während er sie küsste, schob er gleichzeitig den Stoff ihres Kleides weiter nach oben. Er wollte dieses liebliche Seufzen von ihr hören, wenn er sie küsste und berührte. Dieser Klang, der ihn tief im Inneren berührte und sein eigenes Verlangen nach ihr wachsen ließ.

Er ließ sich keine Zeit, hatte sie nicht einmal entkleidet, als er eins mit ihr wurde. Und obwohl sie die Arme um seinen Rücken gelegt hatte, seinen Kuss leicht erwiderte, spürte er, dass sie nicht bei ihm war, sondern weit weg. Mit ihren Gedanken wo anders, bei jemand anderem.
 

Danach blickte er sie an und senkte seine Lippen ein weiteres Mal auf ihre. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Körper zitterte leicht. Und plötzlich verstand er, was Alexander ihm hatte sage wollen. Begriff alles und nicht nur die Oberfläche. Es würde von nun an immer so sein.

Egal wo sie hingingen, egal wie weit sie von diesem Ort entfernt waren, sie würde nie mehr die gleich sein. In ihrem Herzen würde sie immer weinen und wenn sie sich liebten, würde er sie nie wieder so spüren, wie vorher.

Alexander hatte recht.

Doch selbst, wenn er nun darum wusste, konnte er es nicht beenden. Es hätte bedeutet, dass er es hätte sein müssen, der geht – ohne sie - und dies war ihm nicht möglich. Sie hatte sich doch für ihn entschieden und er konnte nichts daran ändern. Und Annie würde es sich gewiss nicht anders überlegen.

Sie waren von Beginn an, nicht für einander bestimmt. Von Anfang an, hätte es nicht geschehen dürfen und doch war er zu schwach gewesen und hatte es zugelassen, es selbst gewollt. Dies war nun seine Strafe. Er hatte etwas begehrt, was ihm von vornherein unmöglich war. So wie es damals auch geschehen war.

Draco wusste, dass es für ihn ebenso zu spät war. Er verdiente es nicht anders.

Er würde für den Rest seinen Lebens ein Mensch bleiben – ohne sie. Alexanders Worte hallten in seinen Kopf nach. Er konnte sie nicht glücklich machen. Er konnte ihr nichts geben. Er konnte sie nicht einmal beschützen. Alles was er noch tun konnte, war das zu retten, was er so sehr begehrte: Ihr Lachen und sie.

Denn in jenem Moment war ihm ebenfalls klar geworden, dass es nicht nur ihr Lachen sein würde, was für immer verloren ging. Vielleicht hätte er auch ohne dem leben können. Aber es würde auch sie selbst sein, die irgendwann verschwinden würde. Sie würde es niemals verkraften können, einem anderen ein Leid zugefügt zu haben. Das tat sie bereits jetzt nicht. Ihre Schuld würde sie nicht nur zerfressen, sondern irgendwann auch töten.
 

Seine Finger zeichneten vorsichtig die Ringe unter ihren Augen nach. Sie war so zerbrechlich.

Abermals küsste er sie, dieses Mal sanfter und liebvoller. Seine Hände glitten ihren Körper hinab und schoben ihr Leinenkleid weiter nach oben. Stück für Stück, bis er sie schließlich entkleidete und anschließend sich selbst. Draco gab ihr einen weitern Kuss bevor sein Mund ihren Hals hinabwanderte. Er küsste ihre Kehle, ihr Schlüsselbein und dann in einer gerade Linie Oberkörper. Hinab bis zu ihrem Bauchnabel. Seine Zunge zeichnete leichte Kreise um diesen herum und er küsste ihn noch einmal. Danach liebkoste er ihren Bauch, fuhr mit der Zunge ihre Seite entlang nach oben, hin zu ihrem Busen. Zärtliche schlossen sich seine Lippen, um die rosige, empfindsame Knospe. Er küsste sie und verwöhnte sie mit seinem Mund, leckte und schmeckte sie mit seiner Zunge. Ein leiser Laut entrann ihrem Mund und nun unbewusst nahm Draco war, wie sich ihr Körper ihm entgegen beugte. Seine rechte Hand massierte den anderen Busen, während die linke sanft ihr Bein anhob und ihren Oberschenkel mit gleichmäßigen, kreisenden Bewegungen streichelte. Obwohl er dabei ihrer geheimsten Stelle sehr nahe kam, berührte er sie nicht. Stattdessen glitt seine Hand ihren Körper wieder hinauf und wieder stieß sie einen leisen Laut aus. Es klang anklagend und vielleicht auch missfallend, dass er aufgehört hatte. Draco küsste nun die Stelle zwischen ihren Brüsten, ihren Hals hinauf, bis er ihre Lippen wieder fand.

Dieses Mal empfing sie ihn wohlwollender. Noch immer nicht so leidenschaftlich wie zuvor, doch weniger verhalten.

Draco blickte in ihr Gesicht und immer noch konnte er kleine, feine Tränen in ihren Wimpern erkennen. In diesem Moment akzeptierte er das Unvermeidliche.

Doch er würde niemals gehen können. … Es würde an ihr sein, noch einmal zu entscheiden. … Wenn sie bei Sonnenaufgang erwachte, würde es so geschehen, wie sie es gedacht hatte. Sie würden gehen und nicht mehr zurückblicken. Wenn sie bei Sonnenaufgang noch schliefe, würde er...
 

Er küsste sie ein weiteres Mal, intensiv, lang und leidenschaftlich. Es war richtig so oder nicht? Sie würde ihn vergessen, vielleicht nicht gleich, aber irgendwann ganz gewiss. Sie war ein Mensch. Die Menschen mussten vergessen, um leben zu können, um überleben zu können. Das Gewicht all ihrer Erinnerungen würde sie sonst erdrücken.

Seine Erinnerungen hingegen waren für die Ewigkeit. Nie würde er sie vergessen können, auch wenn er wusste, dass er sich nichts sehnlicheres wünschen würde, sollte er bereits morgen ohne sie sein. Sein einziger Trost würde es dann sein, dass das Leben der Menschen so viel kürzer war, als sein vorheriges. Er würde die qualvoll süßen Erinnerungen an sie, nicht lange mit sich tragen müssen. Nur ein paar Jahre, die im Vergleich zu der Zeit, die er bereist lebte, nichts waren.

Und dann würde es ein Ende haben.

Mit den Fingern und den Lippen zugleich, zeichnete er sanft ihr Gesicht nach, versuchte all das zu bemerken, was ihm bisher vielleicht entgangen war und sich einzuprägen.

Es war gelogen. Er wollte nicht, dass sie vergaß. Sie sollte sich genauso an ihn erinnern, wie er sich an sie erinnern konnte. Er wollte, dass etwas von ihm bei ihr blieb, ein winzig kleiner Teil, was sie ihn niemals vergessen lassen könnte.

„Sieh mich an, Annie.“, wisperte er kaum hörbar gegen ihr Ohr und küsste es sanft.
 

Seine Stimme hatte sich verändert. Sie glich nur noch einem Windhauch, der die Gräser im Frühling sacht wiegte, sanft und streichelnd. Annie öffnete die Augen und war überwältigt von dem, was sie sah.

Seine Augen hatten schon immer die Farbe eines hellen Blaus, fast wie Eis im Winter. Doch nun schienen sie regelrecht zu leuchten, so intensiv war ihre Farbe. Sie merkte, wie er sie noch einmal küsste, doch selbst, wenn sie gewollt hätte, hätte sie die Augen nicht schließen können, um den Kuss zu genießen. Zu gefangen war sie von seinem Anblick. Das leuchtende Blau schien sie anzuziehen und mit jedem Kuss tauchte sie tiefer darin ein, wollte es ergründen, verstehen und halten, doch es schien endlos zu sein. Sie atmete überrascht ein, denn mit diesem Kuss hatte sich wieder etwas geändert.

Seine Berührungen waren plötzlich wie Federn, die über ihren Körper strichen, so sanft und weich. Unter der Stelle, die er berührt hatte, begann es zu kribbeln. Das Kribbeln hielt selbst dann noch an, als diese Federn schon längst weiter geglitten waren. Es war so viel durchdringender, mitreisender und mächtiger, als alles was sie bisher jemals empfunden hat und je empfinden würde. Es war, als würde jede seiner Berührungen mit ihr verschmelzen und ein Teil von ihr werden.
 

Immer wieder zog Annie ihn an sich, um seine Lippen zu berühren und dem Blau näher zu kommen. Aus dem Kribbeln wurde ein brennen, was sich tief in ihre Haut grub und ein Begehren entstehen ließ, von dem sie sich nicht einmal hatte vorstellen können, in der Lage zu sein, es zu empfinden. Annie berührte seinen Körper, fuhr mit den Händen über seinen Rücken und immer wieder küsste sie ihn, als wäre sie unersättlich.

Es schien nichts anderes mehr zu existieren, außer sie selbst und ihm. Nichts war mehr wichtig, nur seine Berührungen und dass er nicht aufhören durfte. Sie presste ihren Körper gegen seinen und ließ gierig ihre Zunge in seine Mund wandern. Ihr Aufstöhnen und Seufzen wurde lauter, je mehr seine Hände ihren nackten Körper liebkosten. Annie vergrub die Finger in seinen Haare, zog ihn an sich, als wollte sie verhindern, dass er jemals wieder von ihr ließ.
 

Er hätte es niemals gekonnt.
 

Als sie sich in ihrer Liebe, durch ihre Körper, mit einander verbanden, fühlte Annie sich als würde sie schweben, fernab von allem irdischen und in eine neue Welt eintauchen. Sie sah nur noch gleißendes Licht und irgendwo darin ein zwei leuchtend blaue Augen. Sie hatte das Gefühl als wollte sie ihr etwas sagen, doch der Gedanke entglitt ihr, bevor es verstand und sie von einem reisenden Strudel ihrer Gefühle mitgerissen wurde.
 

Ein Streicheln auf ihrer Haut erweckte sie aus ihrem Dämmerschlaf. Sie versuchte ruhig weiter zu atmen und die Berührung somit nicht so intensiv wirken zu lassen.

Wie oft hatte er sie an diesem Abend bereits geliebt? Oder war es schon nachts? Sie konnte es nicht sagen. Doch jedes weitere Mal war anders, durchdringender und unglaublicher, als das vorherige Mal. Ihr Körper war inzwischen so empfindlich gegenüber seinen Berührungen geworden, dass eine einzige wohl genügte, um sie wieder Seufzen und Stöhnen zu lassen, wie sie sich selbst noch nie gehört hatte. Nie schien sie genug bekommen zu können.

Seine Hand streichelte sanft ihre Schläfe und fuhr hinab zur ihrer Wange, verweilte dort einen Moment, bevor er mit einer seiner Fingerspitzen sacht über ihre Lippen fuhr. Das zarte Fleisch schmerzte sie bereits von den vielen Küssen, die sie geteilt hatten und doch verursachte es ein angenehmes Kribbeln. Ihr Blut begann sofort zu pulsieren und ein Gefühl der freudigen Erwartung breitete sich in ihr aus. Annie drehte den Kopf und sah ihm in die Augen. Er erwiderte ihren Blick und löste ihn auch nicht von ihr, als seine Hand ihren Körper weiter streichelte. Als wollte er beobachten, welche Reaktion seine Berührungen bei ihr verursachten.

Er sollte es schon längst wissen.

Dracos Finger fuhren über ihren Hals, berührten ihre Schulter und zeichneten die geschwungene Form ihres Schlüsselbeins nach. Als seine Finger den Ansatz ihres Busens erreichten und sanft die weichen Rundungen streichelten, begann ihr Blut, wie ein Meer zu tosen. Höher und höher schlugen die Wellen ihrer Lust und rissen sie mit sich, ohne ihre auch nur die Gelegenheit zu geben, ihnen zu wiederstehen.
 

Annie öffnete mühsam die Augen und versuchte etwas zu erkennen. Doch alles um sie herum war merkwürdig verschwommen. Wie spät war es, fragte sie sich träge. War die Sonnen ebenfalls schon erwacht? Sie spürte seinen Atem an ihrem Gesicht, er war gleichmäßig und warm, beruhigend nach den letzten Tagen der Anstrengung. Aber ihre Kraft reichte nicht einmal, um über die letzten Tag nachzudenken. Ihr Kopf war angenehm leer und die Sorgen schienen weit weg zu sein. Stattdessen kuschelte sie sich noch ein wenig enger an Dracos Körper und schloss die Augen erneut. Der Schlaf umfing sie schon, bevor sie ihre Gedanken beenden konnte. Es war sicher noch ein bisschen Zeit, bevor sie aufbrechen mussten. Wenn sie nicht erwachte, würde Draco sie wecken, dessen war sie sich sicher. Aber vielleicht sollte sie kein...
 

Draco schaute in ihr schlafendes Gesicht und sein Herz schien ihm irgendwo im Hals zu schlagen, viel zu schnell und viel zu laut. Er hatte gesehen, wie sie die Augen kurz geöffnet hatte, wie sie für einen winzigen Augenblick umhergehuscht waren, als würde sie etwas suchen. Und er hatte gesehen, wie sie sie wieder geschlossen hatte und in einen weiteren Traum geglitten war.

Seine Hand, die um ihren Körper gelegt war, verkrampfte sich. Bis eben hatte er gehofft, dass sie rechzeitig erwachen würde. Sein Herz hatte höher geschlagen, als er gesehen hatte, wie sie geblinzelt hatte und es war tief gefallen, als sie wieder eingeschlafen war.

Jetzt gab es keinen anderen Weg mehr.

Der Himmel verfärbte sich bereits zu einen dunklen Lila, das bald von einem Rot abgelöst werden würde. Es wurde Zeit... und doch war er unfähig sich zu bewegen.

Draco schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren, auf das was er tun wollte und was er damit eventuell bewahren konnte. Inzwischen wusste er auch, was er tun würde, was er versuchen wollte. Vielleicht konnte er doch...

Obwohl er all dies wusste, versucht hatte sich in den letzten Stunden an den Gedanken zu gewöhnen, hatte er noch nicht die Kraft sich zu erheben. Es fühlte sich zu falsch an, um richtig zu sein... aber es war besser für sie… oder? Er hatte gewusst, dass er sich sehr an sie gebunden hatte, aber er hatte nicht erwartet, dass es so mächtig war. Wann hatte er die Kontrolle verloren?

Langsam, als würde eine Sekunde einen ganzen Tag dauern, hob Draco seinen Arm und richtete sich auf. Er schaute in ihr schlafendes Gesicht, auf dem ein Lächeln lag. Wenigstens hatte er es ihr ein letztes Mal schenken können. Sie wirkte so friedlich und glücklich, wie er es in den letzten Tagen so sehr vermisst hatte. Draco beugte sich noch einmal zu ihr herunter, küsste sie und nur die Vorstellung ihres lachenden Gesichtes gab ihm die Kraft, sich endgültig und für immer von ihr zu lösen, zu gehen.
 

Ein Klopfen an der Tür weckte sie unsanft aus einem herrlichen Traum. Er hatte von weiten Wiesen gehandelt, einem warmen Sommertag, tausenden von Schmetterlingen, die in der Luft tanzen und von ihr und Draco. Sie wollte diesen Traum weiter festhalten. Wer immer etwas von ihr wollte, sollte später noch einmal kommen. Doch das Klopfen wandelte sich langsam in ein Hämmern, was unaufhörlich in ihrem Kopf dröhnte.

Verschlafen schlug sie die Augen auf und versuchte aufzustehen, doch bei der kleinsten Bewegung durchfuhr ein sanfter Schmerz ihren Körper. Der Beweis ihrer gemeinsamen leidenschaftlichen Nacht. Sie schwelgte noch einen Moment in dieser Erinnerung, dann öffnete sie schlagartig die Augen und setzte sich auf. Für einen Moment hatte sie vergessen und dennoch hatte sie gleichzeitig bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war.

Panisch sah sie zur Tür. Das Licht fiel durch das kleine Fenster und durch die Helligkeit des Tages konnte Annie nur vermuten, dass die Sonne schon lange am Himmel stehen musste. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Dort an der Tür, das konnte nur Barrington sein. Sie mussten verschwinden. Sie und Draco hätten schon längst gehen sollen. Warum hatte sie nur länger geschlafen als sonst? Warum hatte Draco sie nicht geweckt?

Ihr Herz blieb stehen und auch alles andere stand plötzlich still. Die Stelle neben ihr war leer. Annie drehte den Kopf ungläubig, suchte mit ihren Augen immer wieder die kleine Hütte ab und konnte doch nicht begreifen, dass sie ihn nicht sehen konnte.
 

Er war weg...
 

Warum? Wieso? Wann? Auf keine Einzelne dieser Fragen kannte sie die Antwort. Sie blickte in die Leere, die sich vor ihr erstreckte, unempfänglich für die Geräusche und Geschehen um sie herum. Sie merkte nicht, wie die Tür aufgestoßen wurde und Männer hineintraten.

„Da seid ihr ja.“, hörte sie dumpf eine männliche Stimme. „Ich hatte schon befürchtet, ihr habt mein großzügiges Angebot ausgeschlagen.“ Schweigen trat ein und der Mann trat in ihr Blickfeld. Mit ausdruckslosem Gesicht sah Annie ihn an. Was wollte er?

„Wie ich sehe, bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen. Ihr seht krank aus. Es wird Zeit das ihr hier wegkommt. Nicht, dass ihr euch noch als Zeitvergeudung herausstellt. Nehmt sie mit.“, befahl Barrington knapp.

Nur wage spürte Annie, wie sie von Händen unter den Armen gepackt wurde und auf die Füße gestellt. Er jetzt wurde sie sich des Stoffes auf ihrer Haut bewusst. Wann hatte er...

Die zwei Männer liefen mit ihr zum schmalen Ausgang der Hütte. Vielmehr trugen sie sie, als das sie selbst ging. Ihre Beine hätten nachgegeben, wenn sie es nicht getan hätten. Doch dies alles nahm sie nur wie durch einen dicken Schleier wahr. Sie merkte nicht, wohin sie gingen und auch nicht, wie sie nach oben gehoben und auf den Rücken eines Pferdes gesetzt wurde. Ein weiterer Mann saß hinter ihr, der ihr Halt geben sollte.

Ihr Verstand hatte noch nicht einmal begriffen, dass sie ohne ihn war. Wie sollte sie da all das andere verstehen? Selbst als die Pferde sich in Bewegung setzten und sie davon ritten, blieben ihre Augen unablässig nach hinten auf die Hütte gerichtet, schweiften immer wieder zum Wald darum herum, auf der Suche nach einem Paar leuchtend blauen Augen.
 

Nichts.
 

Weder ein rascheln der Bäume, noch Gesang der Vögel, keine Tiere die im Unterholz scharrten, keine blauen Augen.
 

Die Welt war verstummt.

Ohne ihn...

Hände berührten sie. Der Stoff auf ihrer Haut verschwand. Dann folgte Wasser.

Um sie herum waren Menschen, die sie nicht kannte und keinerlei Bedeutung für sie hatten.

Nichts hatte mehr eine Bedeutung.

Aber das war alles was sie wahrnahm. Annie hörte keine Stimmen, kein Plätschern des Wassers in der Schüssel. Sie sah die Menschen vor sich und sah sie doch wieder nicht. Sie hatten keine Gesichter, bewegten sich verschwommen. Sie waren grau.

Alles war grau.

Und sie spürte nichts. Weder die Kälte des Wassers, noch die Berührungen der Kammerfrauen oder die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, die durch das verglaste Fenster schien. Sie nahm auch nicht wahr, wie sie sie wieder ankleideten oder ihre Haare – nun frisch gewaschen und gekämmt – herrichteten.

Annie wusste nur, dass es geschah. Mehr nicht.

Sie wusste nicht einmal was geschehen war. Warum war sie an diesem Ort? Warum taten sie das mit ihr?

Wo war er?

Ihre Augen blickten immer noch gerade aus, suchend, als könnten sie ihn jederzeit entdecken. Als würde er jeden Augenblick zu ihr kommen und sagen, dass er nur kurz im Wald gewesen war, so wie er es immer getan hatte. Er würde sie in die Arme schließen, sie aus diesen unergründlichen leuchtend blauen Augen ansehen und sie würden sie wieder mit sich reisen. Dann würde er sie küssen.

Irgendjemand schob sie zu einem Stuhl auf den sie gesetzt wurde. Danach schlossen sich irgendwo Türen.

Verschwommen nahm sie war, dass eine Frau sie aus ausdruckslosen, leeren und toten Augen anstarrte. Unablässig, mit blassem Gesicht und noch blasseren Lippen. Annie blinzelte. Irgendetwas an ihr kam ihr bekann vor, als würde sie sie kennen. Doch als sie schließlich erkannte, wer sie anstarrte, erschrak heftig. Es schien als würde sie mit einem heftigen Ruck in die Welt zurückgerissen.

Sie hatte in ihr eignes Spiegelbild gestarrt. War es dieses Bild, welches er die ganze Zeit gesehen hatte? Wie hatte er sie so lieben können? Kein Wunder, dass er gegangen war.

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, um die Tränen zu bändigen, die sich ihren Weg bahnen wollte. Doch plötzlich hielt sie inne und erstarrte abermals. Es genügte nur ein winziger Augenblick, um sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, wenn sie mit ihren Fingern über seine glatte Haut strich und dabei die feinen Narben spürte, die ihn zu ihr geführt hatten.

Sie würde es nicht wieder fühlen.

Zaghaft wanderten ihre zitternden Finger zu ihren Lippen und berührten diese. Sie schmerzen noch und erneut überflutete sie die Erinnerungen an seine süßen Küsse.

Nie wieder würde sie ihn küssen dürfen.

Ihre Fingerspitzen strichen über ihr Gesicht: von ihrer Stirn, ihre Wange entlang zu ihrem Kinn, dann ihren Hals hinab, über ihr Schlüsselbein und ihre Schultern. An all diesen Stellen hatte er sie geküsst.

Auf ihrem Schlüsselbein verhaarten ihre Finger länger. Dort waren seine Lippen länger verweilt. Als sie den Kragen des Kleides ein wenig zur Seite schob, sah sie dass er einen Beweis hinterlassen hatte.

Ihre Finger, die Gerade noch seinen Kussmund berührt hatte, wanderten wieder zu ihrem Mund und sie küsste ihre eigenen Fingerspitzen, als wäre er es, den sie dadurch küsste.

Annie ließ die Hand in ihrem Schoß sinken. Dort legte sie sie sich auf den Bauch, wo sie sich augenblicklich verkrampfte.

Nie würde sie ihn wieder so spüren, wie in der letzten Nacht. Nie wieder würde er ihren Körper und ihr Herz ausfüllen. Nie wieder würde sie in seinen Armen liegen und sich beschützt fühlen.

Ihr Körper krümmte sich vor Schmerz.

Langsam und leise schlich sich die Erkenntnis von ihrem Verstand ihn ihr Herz und wieder zurück, schien sie zu überrollen und ihr die Luft zum Atmen zu nehmen.

Es war vorbei.

Alles war vorbei. Sie würde ihn nicht wieder sehen.

Sie war allein.

Ihre Lippen bebten und ein Zittern erfasste ihren Körper.

Wieso nur hatte er das getan?

Wieso war er einfach so gegangen? Wieso hatte er ihr nichts gesagt? Wie hatte er das tun können?

Hatte er sie wirklich nicht geliebt? Hatte sie sich alle nur so sehr gewünscht, dass sie die Wahrheit nicht gesehen hatte?
 

Annie fuhr zusammen, als die Türen sich geräuschvoll öffneten. Sie drehte den Kopf und sah zum ersten Mal den Ort an dem sie sich befand.

Sie saß vor einem Spiegel, vor dem eine kunstvoll verzierte Kommode aufgestellt war. Darauf standen ein Wasserkrug und eine Waschschüssel. Auf einem kleinen Hocker daneben lag ein ordentlich zusammengefaltetes Handtuch.

Dann realisierte sie, dass meterhohe Mauern sie umschlossen. Sie sah flüchtig einen Wandteppich auf der gegenüberliegenden Seite. Davor stand ein runder Tisch mit zwei Stühlen. Ihr zur linken stand ein riesiges Bett, dessen Vorhänge mit golddurchwirkten Kordeln an den einzelnen, vier dunklen und reichlich mit Ornamenten verzierten Pfosten befestigt waren. Davor stand eine ebenso prächtige Truhe.

Ihre Augen hatten die Tür erreicht. Doch die Person, die sie sah, kannte Annie nicht. Kurz wurde ihr bewusst, dass sie niemanden kannte. Es war ein fremder Mann, der nun den Raum betrat. Er war weder groß noch klein, wie Annie schätze. Er hatte strohblondes Haar, die hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Seine Augen waren wohl grün, seine Nase war gerade und seine Lippen schmal. Seine Körperhaltung war aufrecht und verriet nichts von seinen Gefühlen oder Gedanken. Er war eventuell ein paar Jahre älter als sie. Dennoch war er recht hübsch anzusehen.

Er verneigte sich leicht, doch seine Augen ließen nicht von ihr. Angstschauer liefen ihr den Rücken herunter. Seine Augen sahen aus, wie die eines wilden Tieres, dachte sie plötzlich. Jederzeit zum Angriff bereit, um das zu vernichten, was sich ihm in den Weg stellte.

Der Mann trat näher, aber Annie rührte sich noch immer nicht. Stumm sah sie ihn an.

„Ich freue mich euch endlich meine Aufwartung machen zu dürfen, Mylady.“, sprach er mit weicher Stimme und nahm ihre Hand, auf deren Rücken er einen Kuss hauchte. „Bedauerlicherweise hatte ich noch keine Gelegenheit mich vorzustellen, dabei sind wir uns schon zwei Mal begegnet. Das letzte Mal heute Morgen erst, als ihr auf dem Rücken meines Pferdes diese Burg betreten habt. Aber ich will es sogleich nachholen.“

Annie sah diesen Mann an und überlegte, ob sie sein Gesicht schon einmal gesehen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Die Ereignisse vom Morgen lagen im Dunkeln und allein der Gedanke daran genügte, um alles vor ihren Augen verschwimmen zu lassen.

Doch kurz blitzte die Erinnerung an einen blonden Hinterkopf in ihrem Geiste auf. Ein Mann der auf einem Pferde saß. An dem Tag, an dem Barrington ihr dieses verwerfliche Angebot gemacht hatte.

„Wenn ihr erlaubt, Mylady, ich bin Jonathan Semerloy, engster Freund und Berater eures zukünftigen Gemahls, Sir John Barringtons.“

Wieder erschrak sie und zuckte zusammen. Sie war tatsächlich in Barringtons Sitz. Sie würde ihn... Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken. Sie würde ihn tatsächlich heiraten müssen.

„Euer Mienespiel ist recht interessant.“, unterbrach Jonathan Semerloy ihre Gedanken. Hatte er sie etwa beobachtet? Wusste er woran sie gedacht hatte? Sie versuchte seine Worte zu ignorieren, indem sie nicht darauf reagiert.

Er war ein Freund Barringtons, nicht ihrer. Sie würde ihm nicht trauen können. Sie konnte niemandem trauen. Sie war wirklich vollkommen allein. Sie wandte den Kopf ab und sah sich scheinbar noch einmal im Raum um. Dabei suchte sie nur nach einer Möglichkeit ihn nicht ansehen zu müssen. Doch das war ein Fehler.

„Verzeiht mir, Mylady...“, sagte Semerloy und streckte eine Hand nach ihr aus. Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, schob der den Stoff, der über ihrem Schlüsselbein lag, beiseite. Sie wusste, was er sah.

„Ich habe mich heute früh also doch nicht geirrt.“, flüsterte er und seine Stimme klang nicht mehr so weich, wie zuvor. Eher war sie bedrohlich und Annie überlief ein Grauen. Seine Finger strichen über Dracos Kuss und er sah sie eindringlich an. Panisch erkannte sie, was es bedeuten musste.

Annie traute sich nicht zu atmen. Niemals würde sie sich und ihn verraten. Sie hasste es, dass er diese Stelle berührte, doch sie sagte nichts. Sie blieb reglos sitzen und zwang sich dazu seinen Blick zu erwidern. Auch dann noch, als seine Hand die Stelle verließ und stattdessen über ihre Wange strich und im Anschluss über ihre Lippen.

„Wie ist das auf euer Schulter geschehen?“, fragte er sie und sein Blick schien sie zu hypnotisieren. Nur mit viel Anstrengung gelang es ihr, sich von seinen Augen zu lösen. Nur so konnte sie eine andere Antwort, als die Wahrheit, finden. Sie wusste, dass sie ihm antworten musste, wollte sie seinen Verdacht nicht verschärfen.

„Die Äste im Wald hängen sehr tief.“, antwortete sie schließlich mit brüchiger Stimme.

„Und?“, fragte er zurück und war nicht mehr so zuvorkommend und höflich, wie noch vor wenigen Augenblicken. Etwas in seiner Stimme weckte ihren Kampfgeist. Auf keinen Fall würde sie sich von ihm einschüchtern lassen.

Nun suchte sie seinen Blick. Auch wenn sie den Grund zu Leben am Morgen verloren hatte, würde sie alles tun um Draco zu beschützen. „Ich war unachtsam und habe nicht gesehen wohin ich lief. Ich kann ihnen bedauerlicher Weise nicht genau erzählen, wie es dazu kam, aber wenn sie möchten, kann ich ihnen gern die Stelle zeigen, wo es geschah. Der Baum ist schon sehr alt und seine Äste wachsen nun einmal nicht gerade nach oben.“, antwortete sie und sie hoffte, dass es gelangweilt klang, dass sie ihm so etwas erklären musste.

„Was hat sie denn so sehr abgelenkt, dass sie es nicht bemerkten?“, fragte er weiter und seine Finger fuhren in ihre Haare.

„Der Zug der Vögel.“, antwortete sie knapp. „Sie müssten wissen, dass sie nun das Land verlassen und sich in Scharen sammeln. Und nun nehmen sie ihre Finger von mir.“, sagte sie bestimmt. Sie hoffte, dass es ihm zeigt, dass sie sich von ihm nicht würde einschüchtern lassen. „Ich denke nicht, dass es ihr Freund gutheißen würde, wenn sie mich so berühren.“, hängt sie zudem noch an. Sie würde alles nutzen, was sie konnte, um diesen Mann loszuwerden. Er war genauso widerlich wie sein Freund.

Zu ihrer Verblüffung fing er aber plötzlich an leise zu kichern.

„Er tat gut daran sie auszuwählen. Ihr seid recht unterhaltsam, auch wenn eure Zunge noch ein wenig zu scharf ist. Aber auch das kann man euch noch abgewöhnen. Nur eines solltet ihr vielleicht noch wissen: Wir sind sehr gut befreundet. So gut, dass wir auch die Frauen miteinander teilen.“ Seine Augen sahen sie an und sie wusste, dass sie bereits seine nächste Beute war. Einer seiner Mundwinkel zog sich schräg nach oben. „Doch erst einmal werdet ihr ihm einen Erben schenken.“

Mit Angst geweiteten Augen sah Annie ihn an, unfähig zu sprechen und sich gegen diese Worte zu wehren. Diese Ungeheuerlichkeit hatte sie wie ein tiefer Schlag getroffen.

Abermals wurde die Tür geöffnet und Annie hoffte beinah, dass es die Kammerfrauen sein würden, damit dieser Mensch sie endlich verließ. Doch stattdessen war es John Barrington.

Wieder erfüllte Panik sie. Dies hier war die Hölle, dachte sie.

„Jonathan, konntest du feststellen, woher sie das Mal auf ihrer Schulter hat?“, fragte Barrington gleich. Annie sah ihn nicht an, doch dass Sonnenlicht, welches sich auf seinen Goldketten und – ringen reflektierte konnte sie nicht ignorieren.

„Sie sagt, es wäre ein Unfall gewesen.“, antwortete Jonathan Semerloy und seine Stimme war wieder so glatt wie zuvor.

„Glaubst du ihr?“, fragte Barrington zurück. Die Männer beachteten sie nicht einmal. Wahrscheinlich war sie es nicht Wert beachtet zu werden.

„Ich kann es euch nicht sagen, Mylord. Ihr werdet es wohl selbst herausfinden müssen. Aber wenn sie gelogen hat, wird ihre Strafe umso schlimmer sein.“

„Ja.“, antwortete Barrington kurz und beinah gewann Annie den Eindruck als erhoffte er sich eben jenes. „Ich danke dir, Jonathan. Du kannst uns nun allein lassen.“ Obwohl sich der Ton in seiner Stimme nicht verändert hatte, klang es trotzdem wie ein Befehl. Jonathan Semerloy verbeugte sich noch einmal, doch Annie entging nicht, dass er es nur vor Barrington tat. Sie bedachte er nur mit einem Blick, der sie abermals an den eines Tieres erinnerte, welches Blut gelenkt hatte.

Nun war es Barrington, der sie eindringlich musterte. „Das Gewand steht euch ausgezeichnet. Würdig meiner zukünftigen Frau und dem berauschende Fest, welches wir heute feiern werden.“

„Wie meint ihr das?“, krächzte sie aus Angst, ihre Vermutung würde wahr sein. Zum ersten Mal an diesem Tag, sah sie ihn richtig an. Das prächtige Gewand welches er trug, verziert mit aufwändigen Stickereien beeindruckte sie nur wenig. Er wirkte darin wie ein aufgeblasener Truthahn, der sich nicht anders zu zeigen wusste, als durch sein Äußeres aufsehen zu erregen. Aber vielleicht sollte es auch nur von seinem aufgedunsenen Gesicht und seiner widerwärtigen Persönlichkeit ablenken.

„Von unserer Vermählung natürlich. Sie wird noch heute stattfinden. Ich habe bereits eine Woche länger gewartet und das nur euretwegen. Ihr solltet mir zutiefst dankbar sein, dass ich überhaupt so großzügig war. Ich gedenke nicht, es noch weiter hinauszuzögern. Ich habe zu lange auf euch und unsere Hochzeitsnacht gewartet.“ Seine Augen wanderten ihrem Körper entlang und er schien sie bereits nackt zu sehen, denn er leckte sich genüsslich die Lippen.

Annie sprang bei diesen Worten von ihrem Stuhl auf und sah ihn entgeistert an. Schon heute sollte die Hochzeit sein?! Schon heute sollte sie diesem Mann versprochen werden?! Wo sie doch noch immer den süßen Schmerz ihres Körper spüren konnte, der von demjenigen zeugte, dem sie sich wirklich und wahrhaftig geschenkt hatte? Wo sie doch immer noch seine Berührungen spüren, seine Küsse schmecken konnte?

Doch dieser traurigen Erinnerung wich ein anderer Gedanke. Sophie und ihre Familie würden schneller frei sein, je eher sie ihn ehelichte oder nicht? Auch Alexander bräuchte sich um das Wohl seiner Frau keine Sorgen mehr machen. Ihre Hochzeit würde den anderen helfen.

Tränen sammelten sich in ihren Augen. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte zu sehr über ihr eigenes Leid getrauert, dass sie vergessen hatte, was es für andere bedeutete. Sie würde ihr Leben retten, auch wenn ihres vorbei war. Irgendwo tief in ihr, war sie sogar noch in der Lage glücklich darüber zu sein.

Annie sah Barrington mit dem Wissen an, was andere durch eine frühe Vermählung mit ihm gewannen. Der Gedanke daran sollte ihr Mut geben. Wenigstens so lange sich dieser Mensch in ihrer Nähe befand.

„Da die Hochzeit bereits heute Abend stattfinden soll, könnt ihr meine liebe Amme nun gehen lassen, nicht wahr? Ich bin hier und es gibt keinen Grund mehr sie festzuhalten oder zu verdächtigen. Gleiches gilt für meinen Bruder.“ Sie versuchte sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen und wollte ihn als ebenbürtig gegenüber treten. Er sollte sie als eine Frau sehen, die zwar eingewilligt hatte ihn zu ehelichen, sich ihm aber auf keinen Fall beugen würde oder Angst vor ihm verspürte. Auch, wenn nichts davon der Wahrheit entsprach.

„Das häng ganz davon ab, was ich heute Nacht vorfinden werde.“

Alle selbstauferlegte Sicherheit verschwand aus ihrem Gesicht.

„Was meint ihr?“, fragte sie dennoch.

„Oh, ich habe eure Frage nicht vergessen. Aber vielleicht ihr. Ihr fragtet mich vor einer Woche, was geschehen würde, wenn ihr euch einem anderen versprochen hättet. Ihr seid zwar schön, aber eine Frau und ich gedenke nicht, mich auf eurer Wort zu verlassen. Die Freiheit der Familie Weather und die eures Bruder hängt nur davon ab, ob ich den Beweis eurer Unbeflecktheit in meinen Lacken finden kann. Sollte es so sein, werde ich sie morgen früh gehen gelassen. Sollte es aber nicht so sein...“ Er sprach nicht so Ende, sondern fuhr sich mit dem dicken Zeigefinger die Kehle entlang. Eine eindeutige Geste. „Und das gilt nicht nur für die Familie Weather oder euren Bruder.“, fügte er hinzu.

Die Androhung ihres eigenen Todes machte ihr nicht halb so viel Angst, wie der, der anderen Menschen, die sie liebte. Im Gegenteil. Ihren Tod würde sie begrüßen, würde dadurch dies alles nur schnell ein Ende finden.

„Aber ich bin sicher, es gibt keinerlei Grund sich zu sorgen.“, sprach Barrington weiter. „Zumindest hoffe ich das für sie. Es wäre ein Jammer, wenn ich meine junge Braut morgen schon wieder zu Grabe tragen müsste.“

Annie erwiderte nichts und rührte sich auch nicht. Der Teufel persönlich stand ihr gegenüber.

„Das Rot steht euch übrigens ausgezeichnet. Es hat fast die Farbe von Blut. Eine der schönsten Farben, wenn ihr mich fragt. Ich erwarte euch dann unten, meine Braut.“ Mit diesen Worten ließ er sie allein und die Tür fiel hinter ihm krachend ins Schloss.
 

Annie wandte sich zum Spiegel, sah das Kleid zum ersten Mal. Es war wirklich blutrot. Nur um ihre Hüfte war eine goldene Kordel gebunden, die ihre Figur betonte. Das Oberteil saß eng, die Ärmel wurden nach untern hin breiter, genauso wie der Rock des Kleides. In ihrem schwarzen Haar saß ein Goldreif, der die runde Form ihres Kopfes hervorhob und in der Mitte des Reifens saß ein dunkelroter Rubin.

Sie sollte zu einer Hochzeit gehen. Dabei fühlte sie sich eher, als würde sie zu einer Beerdigung gehen. Zu ihrer eigenen und selbst dann würde sie sich wohl nur halb so elend fühlen.

Sie sah aus dem Fenster und bemerkte, dass der Zimmer recht hoch im Turm lag. Von diesem Standpunkt aus konnte sie einen kleinen Teil des Waldes erblicken. Irgendwo hinter diesem Fenster war ihr Geliebter.
 

Irgendwann kamen die Kammerfrauen zurück. Annie konnte nicht sagen wann, denn sie hatte ihren Platz am Fenster nicht verlassen. Sie sollte von nun an oft an dieser Stelle stehen und sich nach dem Wald und dessen Geschichte, von der auch sie nun ein Teil war, sehnen.

Man führte sie Stufen herunter, durch Gänge hindurch. Den Weg merkte sie sich nicht. Es interessierte sie nicht. Nichts interessierte sie mehr.

Für sie selbst wäre ihr Tod nichts schlimmes, sollte er nicht das Erwünschte im Bette finden. Sie starb bereits jetzt und doch würde nichts sie von Draco trennen können. Dennoch überlegte sie fieberhaft wie sie Barrington und diesen Semerloy täuschen konnte. Sie musste es für Sophie und Alexander tun. Aber es erschien ihr unmöglich.

Als sie den Raum betrat, suchte sie für einen Moment Alexanders Gesicht, aber schnell wurde ihr klar, dass er nicht da sein würde. Fremde Menschen standen an den Seiten des Raumes und starrten sie an.

Am Ende des Raumes sah sie den Priester. Vor ihm stand Barrington und rechts neben diesem Jonatahn Semerloy. Der Platz zu ihrer Linken war leer. Sie hatte niemanden. Jeder sollte es sehen.
 

Es war eine formelle Eheschließung. Nur ein Akt, der sie zu Barringtons rechtmäßiger Frau machte. Es hatte nicht mit der Zeremonie gemeinsam, von der sie als Kind geträumt hatte und die sie einst in den Straßen der Stadt gesehen hatte. Der Raum war nicht einmal geschmückt worden.

Diese Dinge gingen ihr durch den Kopf, während der Mann Gottes seine Worte sprach. Die trivialen Gedanken lenkten sie von dem ab, was gerade geschah, betäubten sie noch mehr, wenn das möglich war und ließen die Veranstaltung nicht wie eine Ewigkeit erscheinen.

Als der Priester sie fragte, ob sie Barrington ehelichen wollte, wie es seine Pflicht war, war es Barrington, der für sie antwortete. Sie hätte nicht mit „Ja“ antworten können und Barrington schien das zu wissen. Deswegen willigte er für sie ein. Der Priester fragte nicht weiter.

Annie war es egal. Sie wusste nur, dass sie keine Schwäche zeigen durfte. Dass sie nicht weinen durfte, auch wenn sie dies am liebsten getan hätte. Man durfte nicht sehen, wie schwach sie war. Es würde ihr Untergang sein.

Sie musste weiterleben. Zumindest so lange, bis die Weathers in Sicherheit waren, bis sie Alexander noch einmal gesehen hatte und vor allem, bis sie wusste, was mit Draco geschehen war.
 

Im Anschluss wurde ein Fest gehalten. Annie merkte schnell, dass es nicht so sehr um die Hochzeit ging, sondern um das Fest selbst. Sie saß schweigend an ihrem Platz, wartete darauf, dass sie sich erheben durfte, während die Männer und die wenigen Frauen, die anwesende waren, dem Essen und Wein frönten. Letzterer floss in Strömen und Annie begrüßte dies sogar. Sie hatte die Hoffnung, dass, wenn Barrington vielleicht zu viel davon trank, er in dieser Nacht nicht mehr in der Lage sein würde die Ehe zu vollziehen. Vielleicht würde sie so noch einen Tag länger gewinnen können. Vielleicht würde sie dann einen Weg zur Täuschung finden können.

Sie selbst aß nichts. Appetit hatte sie an diesem Tag noch keinen verspürt. Aber sie hatte Barringtons scharfen Blick gesehen und daraufhin mit angestoßen. Sie hatte keine Angst vor ihm, doch sie wusste, dass sie ihn bei Laune halten musste.

Irgendwann, als die Stunden schon weit vorangeschritten waren, die Stimmung ausgelassener aber auch ordinärer war, winkte Barrington plötzlich einen der Diener zu sich heran. Obwohl die Unterhaltungen am Tisch sehr laut waren, verstand Annie seine Worte nur zu gut. Jeder verstand sie gut. „Holt die Kammerfrauen! Sie sollen meine Frau nehmen und für die Nacht bereit machen. Ich will sehen, ob sie im Bett genauso gut ist, wie sie hübsch ist.“

Lautes Gelächter und Gejohle brach aus und obwohl sie sich tief beleidigt fühlte, versuchte sie äußerlich unbeeindruckt zu bleiben. Sie verzog ihr Gesicht nicht und senkte auch nicht den Blick. Stattdessen sah sie weiterhin starr gerade aus und störte sich auch nicht daran, dass Semerloy sie anstarrte.

Nur wenige Augenblicke später kamen zwei Kammerfrauen herbeigeeilt. Annie erhob sich auf die gleiche elegante Weise, wie sie es von ihrer Mutter hatte lernen müssen und was sie all die Jahre gehasst hatte. Doch niemand sollte ihre nachsagen, sie wüsste sich nicht zu benehmen. Sie würde nicht zulassen, dass der Name ihrer Familie in den Schmutz gezogen würde. Ganz gleich auf welche Weise sie es auch versuchen mochten.

Die zwei Frauen geleitete sie nach oben. Wieder gingen sie zahllose Gänge und Treppen entlang und plötzlich fand sie sich in dem gleichen Raum wieder, wie zuvor.

Der Raum wurde durch Kerzenlicht leicht erhellt. Auf dem Stuhl auf dem sie gegessen hatte, lag nun das Nachtgewand bereit.

Sie erschauderte bei dem Gedanken an das Kommende. Möglicherweise würde er dem Wein noch ein bisschen mehr zusprechen. Sie hoffte darauf. Nein, vielmehr hätte sie mehr davon trinken müssen, erkannte sie zu spät.

Die beiden Frauen begannen sie zu entkleiden und anders als am Morgen, war sich Annie ihrer Berührungen sehr wohl bewusst. Sie lösten erst den Reif aus ihren Haaren und sie fielen wild ihren Kopf herunter. Dann lösten sie die Kordel ihres Kleides. Im Anschluss öffneten sie hinten den Verschluss aus Häkchen. Obwohl sie mehr Luft zum Atmen haben sollte, fühlte sich Annie immer mehr als würde sie gewürgt. Es war kalt und die feinen Härchen auf ihrer Haut richteten sich auf. Sie begann zu zittern, doch ob vor Kälte oder Grauen wusste sie nicht einmal.

Sie hatte sich geirrt, wie sie erkannte. Es war kein Nachtgewand auf dem Stuhl gewesen, sondern eine Art Umhang aus Leinen, den man ihr nun über die Schultern legte, um den nackten Körper ein wenig zu verbergen und vielleicht auch zu wärmen. Eine der Frauen führte sie vorsichtig zu dem Stuhle und platzierte sie darauf, bevor sie sich neben die Kommode stellte und unterwürfig den Kopf senkte. Die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Die Zweite stellte sich hinter sie und nahm einen Kamm. Sie begann Annie vorsichtig das schwarze Haar zu kämmen.

Wieder sah Annie, das Bild der fremden Frau, die sie anblickte. Nichts in ihrem eigenen Gesicht kam ihr vertraut vor. Sie begann ihren eigenen Anblick zu verabscheuen.
 

Sie ließ die Prozedur schweigend über sich ergehen. Als auch ihre Haare fertig gekämmt waren, knicksten die Frauen einmal und ließen sie allein. Annie sah kurz zu Tür und fragte sich was geschehen sollte. Sollte sie hier einfach warten bis er kam? Das konnte gleich sein aber auch erst viel später. Sollte sie solange mit diesem dünnen Umgang dort sitzen?

Sie stand auf und trat abermals ans Fenster. Die Nacht war schwarz und hatte den Wald verschlungen. Doch er war da, dachte sie und dieser Gedanke gab ihr ein wenig Trost.

Mit der Hand berührte sie das kühle Glas, als könnte sie dem Wald so ein wenig näher kommen.

Draco war auf der anderen Seite. Irgendwo da draußen. Ob es ihm gut ging? Wo war er? Wusste er, was für ein Tag morgen sein würde? Konnte er es fühlen?

Das Jahr würde mit den ersten Strahlen der Sonne vorbei sein. Konnte er doch noch zurück? Irgendwie...

Sie betete für ihn und hoffte, dass Alexander ihr helfen konnte Antworten auf ihre Fragen zu finden. Er war der Einzige der das konnte.

Annie ließ die Hand sinken. In ihren Gedanken versunken strich sie mit dem Finger über den glatten Stein des Fenstersimses und wartet darauf, dass es vorbei sein würde. Vielleicht konnte sie all die anderen Male ertragen, wenn nur das erste Mal vorbei war. Dabei war es vollkommen egal, wie oft Barrington sich zu ihr legen würde, wie oft er ihren Körpernehmen würde, nie würde sie Dracos Berührungen vergessen können.

In der letzten Nacht hatte er etwas mit ihr getan, das sie nicht verstand. Doch nun wusste sie, dass es sein Abschied war. Er musste bereits gewusst haben, dass sie ohne ihn aufwachen würde, als er sie so innig und leidenschaftlich geliebt hatte. Und er hatte etwas von sich bei ihr gelassen. Annie konnte es nicht beschreiben, aber es war da und es würde nicht mehr verschwinden, ganz gleich wie lange sie an der Seite diese abstoßenden Mannes bleiben musste.

Schmerz durchfuhr sie und sie zuckte zusammen. Es war das erste, was ihr Körper an diesem Tag überhaupt fühlte. Verwundert sah sie nach unten, fand aber aufgrund der Dunkelheit des Raumes die Ursache nicht. Wieder fuhr sie mit dem Finger über die Stelle.

Es musste ein spitzer Stein sein, der aus dem Mauerwerk ragte. Sie fuhr mit etwas mehr Kraft über die Stelle und ihr Herz begann nervös in ihrer Brust zu schlagen, als er sich unter ihren Fingern lockerte. Abermals fuhr sie mit den Fingern darüber, kräftiger. Vielleicht konnte dieser kleine Stein die Rettung bedeuten.

Langsam löste er sich aus dem Mauerwerk und mit einem letzten Kraftaufwand, in dem ihr ein Fingernagel umknickte und sie erneut ein Schmerz durchfuhr, gelang es ihr. Der kleine Stein, nicht viel größer, als der Nagel ihres Daumens, viel in ihre Hand. Hastig blickte sie sich um. Wenn man sie jetzt sah, würde alles verloren sein. Doch die Tür blieb verschlossen und so schnell sie konnte, ging sie zu dem Bett.

Annie legte den Stein unter das Kissen auf der rechten Seite. Die Seite neben der Kommode. Sie hoffte und betete, dass es die Seite sein würde, die man ihr zuweisen würde. Aber vor allem hoffte und betete sie, dass der Stein noch da sein möge, wenn sie ihn brauchte. Er war die einzige Möglichkeit, die sich ihr bot.

Sie ging die Schritte wieder zum Fenster zurück und dies keinen Augenblick zu früh. Es klopfte kurz, doch man wartete nicht auf ihren Einlass. Annie erwartete Barrington zu sehen, umso überraschter war sie, dass es Semerloy war. Seine Worte fielen ihr sofort wieder ein und Unbehagen breitete sich in ihr aus. Augenblicklich zog sie den Umgang fester zusammen.

Jonathan kam auf sie zu und blieb direkte vor ihr stehen. „Ihr seid wirklich ein recht hübscher Anblick. Nicht, dass ihr das nicht ohnehin schon seid, aber so... Ich bin richtig neidisch. Zu gern würde ich wissen, was sich unter diesem dünnen Stoff verbirgt.“ Wieder streckte er die Hand nach ihr aus und mit dem Zeigefinger schob, er den Stoff oberhalb ihrer Arme beiseite.

Annie verstand sich selbst nicht. Es gab so vielen Dinge, die sie hätte empfinden sollen. Dinge, die klug waren sie zu empfinden. Doch stattdessen wurde sie wütend. Ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen ihr Handeln haben könnte, schlug sie unsanft seine Hand beiseite.

„Wagt es nicht mich mit euren schmutzigen Fingern anzufassen.“, sprach sie und funkelte ihn aus ihren braunen Augen an.

„Ah, wie mir scheint, gewöhnt ihr euch so langsam ein. Das freut mich zu hören und John sicherlich auch. Wenn ihr im Bett nur halb so leidenschaftlich seid, wie mit euren Worten, beneide ich ihn schon jetzt. Ich hoffe ich werde irgendwann auch in den Genuss eurer Leidenschaft kommen.“

„Nur über meine Leiche. Wenn ihr unbedingt eine Frau wollt, dann solltet ihr vielleicht eure Manieren überdenken.“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

Wieder grinste Jonathan Semerloy sie schief an. „Ihr gefallt mir wirklich.“, sagte er noch einmal und ging. Die Tür schloss sich aber nicht hinter ihm, sondern die Kammerfrauen traten wieder ein.

„Der Herr ist auf dem Weg zu euch.“, flüsterte die eine. „Ihr müsst euch bereit machen.“

Annie schluckte heftig. Sie hatte geglaubt ihre Angst würde nur aus Sorge um ihre Liebe herrühren, doch nun, da der Moment näher gerückt war, erkannte sie, dass sie versucht hatte sich selbst zu täuschen. Die Angst vor diesem Augenblick war genauso groß. Allein der Gedanke daran, dass die solch eine Intimität mit ihm teilen musste, verursachte bei ihr unkontrolliertes Zittern und Übelkeit. Nur noch ein Wunsch erfüllte sie: Es sollte so schnell wie möglich vorbei sein.

Die Frauen nahmen ihr den Umhang ab, falteten ihn ordentlich und legten ihn wieder auf dem Stuhl ab. Sie führten sie auf die rechte Seite des Bettes und Annie warf einen betenden Blick auf das Kopfkissen. Eine schlug die Decke zurück, die andere drängte sie beinah in das Bett. Sie deckten sie zu und schlossen dann die Vorhänge des Himmelbettes.

Annie lag im Dunkel, den Geräuschen der Nacht lauschend. Jeden Moment rechnete sie damit, dass die Türen sich ein letztes Mal für diese Nacht öffnen würden. Sie war nackt und ihr war kalt. Aber sie wusste nicht, ob die Kälte von ihrem Körper stammte oder von ihrem Herzen. Es war ganz gleich. Sie hatte furchtbare Angst. Konnte sie dem hier nicht entkommen? Blieb ihr wirklich nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen? Warum war sie so machtlos?

Draußen hörte sie eine laute Stimme, ein Poltern und dann das knarren der Tür. Ihr Herz schlug laut und schnell, als wollte es vor dem davon laufen, was sogleich geschehen würde. Doch wie ihr Körper auch, hatte es keine andere Wahl und musste bleiben wo es war.

„Wo ist denn meine Frau?“, sagte Barrinton laut. Sie hörte sofort, dass er noch mehr getrunken hatte. Dann folgte ein Flüstern. „Sie erwartet euch bereits, Mylord.“ Das war Jonathans Stimme. „Ihr werdet gewiss nicht enttäuscht sein.“

„Das will ich auch hoffen. Immerhin hat sie mir genug Ärger bereitet.“, lallte Barrington.

Hinter dem Schutz des Stoffes hörte Annie, wie sie auch ihn entkleideten. Die Ketten klirrten laut, als sie zusammen schlugen.

„Ihr könnt gehen! Ich brauche euch nicht mehr!“, befahl Barrington plötzlich. Es wurde ruhig im Zimmer, die Tür schloss sich sacht. Es waren alle außer Barrington gegangen. Man würde sie unbeobachtet lassen.

Annie zog die Decke etwas weiter nach oben, als könnte sie sich dadurch schützen. Im nächsten Moment wurde der Vorhang beiseite gerissen und sie sah Barringtons Umrisse vor dem Bette stehen. Sein fülliger Körper wirkte noch breiter, aber wenigstens konnte sie nicht mehr erkennen. Die Kerzen waren gelöscht worden und es war Neumond.

Lass es schnell vorbei sein, betete sie gen Himmel, als er die Decke zur Seite schlug und in das Bett stieg. Sofort senkte sich die Matratze aus Stroh nach unten. Annie begann zu zittern.

„Da bist du ja! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich schon von dir und deinem Körper geträumt habe.“, sagte er und seine Zunge klang schwer. „Und nun werde ich dich endlich nehmen.“ Trotz der Dunkelheit konnte sie das Blitzen in seinen Augen erkennen. Nein sie konnte nicht! Auch, wenn sie alle sterben mussten, aber sie konnte diesen Mann einfach nicht akzeptieren! Sie wollte schreien und davonlaufen. Doch sie hatte sich noch nicht einmal aufgerichtete, da hatte er sie schon am Handgelenk gepackt und hielt sie fest.

„Du wirst doch nicht weglaufen wollen. Obwohl... du kannst es ja mal versuchen. Das macht die Sache noch viel interessanter.“

Annie wagte es nicht sich zu bewegen. Stumm und mit weit aufgerissenen Augen saß sie halb im Bett und starrte ihn an. „Ah, vielleicht bist du doch noch nicht befleckt. Deine Reaktion ist einfach zu köstlich. Ich kann nicht mehr länger warten.“, sprach er und zog mit einem kräftigen ruck an ihrem Arm. Annie wurde auf die Matratze zurück gezogen. Mit einer Beweglichkeit, die sie ihm nicht zugetraut hätte, saß er plötzlich auf ihr. Sie hatte das Gefühl, als würde die gesamte Luft aus ihrem Körper gepresst. Noch nie hatte sie so ein Gewicht auf sich gespürt. Als würde etwas sie erdrücken.

Aber ihr blieb keine Zeit um darüber nachzudenken, denn als nächstes konnte sie seine Lippen auf den ihren spüren. Zumindest glaubte sie, dass es sein Mund war. Es fühlte sich feucht an, kalt, schmeckte nach Alkohol, Essen und faulem Atem. Es war einfach ekelerregend. Als würde sie einen Schwamm küssen, dachte sie einem Moment. Sie merkte wie etwas säuerliches ihre ihren Hals emporstieg. Jeden Moment würde sie sich übergeben. Doch bevor es dazu kam, ließ er von ihrem und Mund Annie schluckte heftig, um doch nicht erbrechen zu müssen. Sie wusste nicht, ob sie dankbar dafür sein sollte oder nicht. Denn was danach kam, war genauso furchtbar. Mit seinen kleinen, dicken Finger ertastete er ihre nackte Haut. Seine Berührungen waren grob und schmerzhaft, so fest streichelte er sie. Als er ihren Busen berührte und die zarten empfindsamen Knospen derb zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, konnte sie nicht anders und stieß einen kleinen Schmerzensschrei aus.
 

In der Nacht zuvor hatte sie noch in Dracos Armen gelegen. Er hatte sie so leidenschaftlich geküsst, so intensiv berührt und gestreichelt, dass sie es noch immer spüren konnte. Seine Hände waren so zärtlich über ihren Körper geglitten, dass sie es kaum gespürt hatte und doch war es durchdringender gewesen, als alles andere. Sein Mund hatte jeder Stelle ihres Körpers geküsst. Mit seiner Zunge hatte er sie so lange liebkost, dass sie geglaubt hatte, verrückt zu werden, wenn er ihr nicht gab, was sie am meisten begehrte – ihn, nur ihn allein.

Seine Augen waren so unglaublich blau gewesen. Wunderschön und anziehend. Wie sehr hatte sie einen Teil davon werden wollen! Für immer und nicht nur für die wundervollen, aber doch viel zu kurzen Moment der vollkommenen Glückseligkeit und Befriedigung.

Annie versank in ihren kostbaren Erinnerungen. Barringtons Keuchen wurden zu Dracos warmen Atem. Barringtons Berührungen zu Dracos sanftem Streicheln. Seine feuchten Küsse, wurden zu Dracos leidenschaftlichen und wenn Annie die Augen schloss, konnte sie das Blau sehen, welches sie sofort gefangen nahm.
 

An all das klammerte sie sich, während Barrington sich von ihrem Körper nahm.
 


 

Annie lang in der Dunkelheit. Rührte sich nicht. Sie wusste nicht einmal ob ihr Herz noch schlug ober ob sie atmete.

Es war nicht wichtig. Es war geschehen.

Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Draco hatte sie gerettet. Allein die Erinnerung an ihn, hatte sie den Mann auf ihr vergessen lassen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was er mit ihr getan hatte, nachdem sie sich ihrem Blau hingegeben hatte. Sie hatte nichts gespürt, war nur noch eine Hülle ohne Inhalt gewesen. Doch den Schmutz, der nun an ihr haftete, konnte sie umso deutlicher wahrnehmen.

Annie hörte das laute Schnarchen des Mannes neben ihr. Immer noch konnte sie seinen widerlichen Atem riechen. Inzwischen füllte er den gesamten kleinen Raum aus, den die Vorhänge geschaffen hatten. Der beißende Gestank von Schweiß und Alkohol hing schwer in der Luft. Ihr Magen drehte sich erneut. Sie musste andere Luft atmen. Das wäre das klügste und sinnvollste. Aber was würde sich ändern, wenn sie tatsächlich atmete? Nichts. Es würde ihr nur einen weiteren Augenblick in der Nähe dieses Mannes bringen.

Doch ihre Gedanken waren vergebens. Das wusste sie.

Annie stützte sich mit den Armen auf der Matratze ab und zog sich nach oben. Sie schob die Vorhänge nur ein wenig beiseite und sofort strömte ein Zug frischer Luft in den beengten Raum.

Annie blickte sich kurz um. Die Nacht machte ihr Angst, dachte sie. Es war das erste Mal dass sie so etwas dachte. Selbst als sie die erste Zeit allein im Wald gelebt hatte, war sie ihr niemals bedrohlich erschienen. Eher wie etwas notwendiges, um Kraft für einen neuen Tag zu sammeln. Als Draco dann bei ihr war, hatte sie sowieso eine ganz andere Bedeutung bekommen. So viel hatte sich des Nachts ereignet. Doch nun warf die Nacht nur noch schwarze Schatten, die auf sie zu krochen und sie zu verschlingen drohten.

Sie griff unter das Kopfkissen und es dauerte nicht lange ehe sie den kleinen spitzen Stein ertastet hatte. Sie holte ihn hervor, drehte ihn zwischen ihren Daumen und Zeigefinger und hielt ihn gegen das schwache Licht, das die Sterne spendeten. Es musste funktionieren, wollte sie sicher gehen, dass Sophie in Sicherheit war und sie mit ihrem Bruder sprechen konnte.

Die Spitze des Steins setzte sie an ihrem Mittelfinger. Sie spürte den Schmerz, als sie sich ihn in ihr Fleisch bohrte. Scharf sog sie den Atem dabei ein. Dann riss sie den Stein so schnell und heftig sie konnte nach unten, um den Schnitt größer werden zu lassen. Im fahlen Lichte sah sie das dunkle Blut, welches sofort floss. Annie hielte eine Hand darunter, um nur keinen Tropfen zu verlieren. Sie führte ihren Arm zu der Stelle, an der sie es für richtig hielt. Dann ließ sie das Blut auf das Lacken tropfen. Anscheinend war der Schnitt doch nicht so groß, wie sie gehofft hatte. Aber vielleicht würde es doch schon reichen. Sie wischte den blutenden Finger am Stoff ab. Das Pochen in der Wunde spürte sie kaum. Am nächsten Morgen schon würde es ganz verschwunden sein und nichts weiter als ein feiner Schnitt zurückbleiben.

Annie ließ sich zurücksinken. Sie wusste, dass sie ihren Platz nicht verlassen durfte, dass sie ausharren musste, bis er ihr erlaubte zu gehen. Also lag sie in diesem fremden Bett. Neben ihr ein Mensch den sie nur als Klumpen Fleisch wahrnahm. Vielleicht würden die dumpfen Gefühle, die sie empfand, dem Hass auf diesen Mann weichen.
 

Am Morgen zog Barrington gleich als erstes die Decke zur Seite. Als er das Blut sah zweifelte er nicht einen Moment an dessen Ursprung. Annie war nur kurz erleichtert, denn gleich darauf vollzog er die Ehe noch ein zweites Mal mit ihr - begleitet von den Worten, dass sie noch viel lernen müsste, um eine wirklich gute Ehefrau zu sein. Dabei verzog sich sein Mund zu einem hässlichen Grinsen.

Wieder versuchte Annie sich in ihre Erinnerungen zu flüchten. Doch es viel ihr sehr viel schwerer. Es war hell und sie konnte John Barringtons vernarbtes und eitriges Gesicht sehen, sein Atem war noch fürchterlicher, als am Abend zu vor und sie glaubte, dass auch seine Berührungen noch gröber waren.

Aber es dauerte nicht lange. Er verzichtete sogar darauf sie zu küssen. Vielmehr nahm er sich in nur wenigen Augenblicken, was ihm in seinen Augen zustand und sackte ebenso schnell mit einem lauten Schrei auf ihr zusammen.

Als John Barrington das Bett verließ, vermied es Annie ihn anzusehen. Sie konnte seinen Anblick einfach nicht ertragen. Stattdessen flüchtete sie zurück in die Arme ihres Geliebten, wie er sie nach jedem Mal sanft geküsst hatte.

„Dies hier wird euer Gemach sein. Ihr könnt darüber verfügen, wie ihr wollt. Aber ich werde mir die Freiheit nehmen, wann immer ich möchte, um euch besuchen zu kommen. Schließlich möchte ich schon bald einen Erben vorweisen können.“, sagte er, als er sich von zwei Männern, die Annie noch nicht gesehen hatte, ankleiden ließ.

Sie nickte untertänig. Sie musste es tun, wollte sie eine Antwort auf ihre nächste Frage haben. Nur deswegen ließ sie es alles geschehen.

„Ich war unbefleckt. Ihr habe den Beweis gesehen. Ich verlange, dass Sophie und ihre Familie freigelassen werden. Außerdem will ich meinen Bruder sprechen.“, sagte sie mit einigermaßen fester Stimme.

„So gefallt ihr mir schon viel besser.“, sagte Barrington mit einem schiefen Lächeln und schien ihren nackten Körper unter der Bettdecke zu betrachten. „Ich mag es, wenn ihr so wild und ungezähmt seid. Es macht das Ganze doch gleich viel spannender. Ich hoffe mit mehr Erfahrung werden ihr das auch bald in anderen Bereichen sein.“ Sie schluckte heftig, verstand sie seine Worte doch nur zu gut.

Ein Klopfen an der Tür ersparte ihr eine Antwort. Barrington ließ eintreten und als Annie Jonathan Semerloy erblickte, fühlte sie sich noch unwohler, wenn dies überhaupt möglich war. Sie lag immer noch nackt unter der Decke und die Vorhänge waren von Barrington weit aufgezogen worden, als wollte er sie unter keinen Umständen aus den Augen lassen. Unwillkürlich zog sie die Decke noch fester um ihren Körper. Der Blick mit dem Jonathan sie ansah, glich dem von Barrington – lüstern und scheinbar unersättlich.

„Habt ihr gut geschlafen, Sir?“, fragte Jonathan Barrington.

„Oh, ja. Vorzüglich. Du hattest recht gehabt. Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Noch nie wurde sie von einem Mann berührt. Es war eine Freude der Erste zu sein. Ihre Haut ist so weich und zart, ein wahres Fest.“

„Es freut mich außerordentlich dies zu hören, Mylord.“, antwortete er und sah Annie mit glühendem Blick an. Er schien nur darauf zu warten, dass Barrington ihn erlaubt, es selbst in Erfahrung zu bringen.

„Nun komm, Jonathan. Lass uns heute auf die Jagd gehen. Was gibt es nach einer erfolgreichen Nacht schöneres, als eine erfolgreiche Jagd?“

„Ich kann euch nur beipflichten, Mylord.“, erwiderte Semerloy und verbeugte sich tief vor seinen Freund. Für Annie hatte er nur ein kurzes Kopfnicken übrig.

„Was ist mit Sophie und meinem Bruder?“, fragte Annie und klang nicht mehr so willenstark. In ihre Stimme hatte sich Angst gemischt, er könnte sie alle belogen haben.

„Ach ja.“, sagte Barrington scheinbar desinteressiert. „Jonathan, lass veranlassen, dass die Weathers das Gefängnis noch heute verlassen können. Was aber euren Bruder betrifft, so müsst ihr euch noch etwas gedulden, meine ehrenwerte Gemahlin.“

Sie wusste, dass er sich über sie lustig machte, aber es war ihr egal. Sie musste Alexander sprechen.

„Wann?“, fragte sie deshalb nur einsilbig.

„Morgen vielleicht. Das kommt ganz auf euch an.“

„Was meint ihr?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

„Nun, das werden wir sehen.“

Damit verließ er das Gemach. Fassungslos sah Annie ihm hinterher. Er wollte, dass sie ihm gefügig war. Erst dann würde er ihr erlauben Alexander zu sehen. Wie gefügig sollte sie noch werden?!, dachte sie wütend.

An Barringtons Stelle betraten zwei Kammerfrauen das Zimmer und verbeugten sich kurz. Dann standen sie reglos im Raum und wartete scheinbar auf eine Anweisung von ihr. Noch nie hatte sie anderen Menschen Befehle erteilt. Nicht einmal in ihrem eigenem Elternhaus. Doch sie wusste, dass sie etwas sagen musste, wollten sie die beiden so schnell wie möglich wieder loswerden. Ihr Blick schweifte über den Himmel des Bettes. Mit dem Daumen konnte sie den kleinen Schnitt an ihrem Mittelfinger spüren. Sie wollte den Arm heben, um ihn sich anzusehen, doch Schmerz durchzuckte sie. Es war nicht mehr die Nacht mit Draco, die sie so empfinden ließ, erkannte sie mit Wehmut. Es waren Barringtons Berührungen, an die sich ihr Körper erinnerte.

„Ein Bad.“, sagte sie schließlich. „Ich will ein Bad nehmen. Das Wasser soll heiß sein.“, gab sie kurz Anweisung.

Die zwei Frauen sahen sich einen Moment schweigend an. „Was?“, fragte Annie zurück. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

„Mylady, ihr habt gestern erst gebadet. Ein zweites Mal hintereinander schickt sich nicht.“

Fassungslos starrte sie die Kammerfrauen an. „Hat er das gesagt?“, fragte sie und merkte, dass sie abermals wütend wurde. Wut war gut, dachte sie. Es zeigte ihr wenigsten, dass sie überhaupt noch etwas fühlen konnte.

Die beiden Kammerfrauen nickten. „Ich will ein Bad und zwar jetzt gleich. Wenn er etwas dagegen hat, dann schickt ihn zu mir. Wenn er eine schön Frau haben will, muss er auch etwas dafür tun!“, fuhr sie die beiden an.

Sie hörte ihre eigenen Worte und konnte sie selbst nicht glauben. War das wirklich sie, die so sprach? Seit wann war sie zu so einem Ton fähig? Aber es war ihr egal. Sie musste diese Berührungen abwaschen, koste es was es wolle. Er wollte es doch so. Er hatte es vor wenigen Augenblicken selbst gesagt. Er würde schon sehen, was er davon hatte, dachte sie beinah trotzig.
 

Ihr Körper war gezeichnete mit blauen Flecken. Beweise, dass und vor allem, wie er sie berührt hatte. Während die Frauen das Bad bereitet hatten, hatte sie die Zeit genutzt um über ihre Position, die sie mit der Heirat von Barrington eingenommen hatte, nachzudenken. Auf keinen Fall würde sie nur seine Frau sein. Wenn sie schon an seiner Seite sein musste, dann würde sie ihre Stellung auch für etwas Sinnvolles gebrauchen. Sie wusste noch nicht genau, was sie tun wollte oder wie, aber sie würde nicht in diesem Zimmer verweilen und darauf warten, bis er sie besuchen kam, um sein Eherecht einzufordern.

Annie wusch ihren Körper gründlicher, als sie es bisher jemals getan hatte. Die Stellen, an denen er sie besonders grob berührt hatte, bearbeitete sie so lange mit einem Schwamm, bis sie ganz wund geworden waren. Selbst ihre Lippen wusch sie, in dem sie immer wieder mit einem Tuch darüber rieb.

Als sie schließlich angekleidet war, brachte man ihr ein Frühstück, welches sie kaum anrührte. Sie konnte den Anblick von Essen nicht einmal ertragen. Zu sehr waren ihre Gedanken beschäftig. Jeder zog sie in eine andere Richtung, doch am stärksten war nur der, der sich um ihn drehte. Morgen hatte Barrington gesagt. Das hieß sie würde ihm gefügig sein müssen, wenigstens noch eine weitere Nacht, wollte sie ihren Bruder sehen. Doch ließ er Sophie wirklich ohne weiteres gehen?

„Ihr könnt gehen.“, schickte Annie die Frauen weg. Gleich nachdem sie den Raum verlassen hatten, trat sie ans Fenster und öffnete es. Die Luft war an diesem Morgen kühl und sprach von Herbst, auch wenn sie wusste, dass es im Laufe des Tages wieder sehr warm werden würde. So war es zumindest in den vergangenen Tagen gewesen. Annie sah über den Hof. Von dieser Höhe aus, konnte sie das Gelände gut überblicken. Das Tor lag gegenüber und jeder der die Burg verlassen wollte, musste über den Hof gehen, um zum Tor zu gelangen. Wenn sie an dieser Stelle warten würde, würde sie gewiss sehen, wenn Sophie und ihre Angehörigen ihr Gefängnis verließen, sollten sie denn hier eingekerkert gewesen sein. Aber daran zweifelte Annie eigentlich nicht. Sie waren ein zu wertvoller Pfand für Barrington gewesen, um sie anderen zu überlassen.
 

Die Sonne erreichte fast ihren Mittagstand und es war tatsächlich sehr viel wärmer geworden. Die ganze Zeit hatte Annie ihren Platz nicht verlassen, aus Angst es würde geschehen, wenn sie wo anders hinsah. Doch die Ruhe trieb ihre Gedanken nur weiter voran und die Sorge um Draco schien noch größer geworden zu sein, wenn das überhaupt möglich sein konnte. Doch endlich schien sich auf dem Hof etwas zu tun. Sie hörte Stimmen, die etwas riefen, verstand sie aber nicht. Aber sie sah eine kleine Gruppe von Menschen, es waren sechs, die plötzlich eilig über den Hof liefen. Ein paar finster aussehende Männer hinter ihnen, wie Annie erkannte. Sie lehnte sich weiter nach vorn, um auch wirklich alles sehen zu können.

Sie brauchte nicht lange darüber nachzudenken, um zu wissen, dass es wirklich Sophie war. Barrington hatte sein Wort also gehalten. Sie spürte selbst, wie überraschte sie war. Annie blickte ihnen hinterher und wünschte sich, dass sich Sophie umdrehen möge. Sie wollte sie noch ein letztes Mal sehen und ganz sichergehen, dass es ihr gut ging.

Und als hätte sie Annies Blick auf sich gespürt, drehte sich die Frau, die hinten lief und deren Gang beschwerlicher war, tatsächlich um. Ihre Augen schienen so zu suchen und als sie Annies endlich fanden, erkannte Annie daran Verblüffung aber auch Schmerz. Annie bemühte sich ein Lächeln zu Stande zu bringen und es reichte gerade so lange, bis Sophie von einem der Wachen weiter zum Tor getrieben wurde.

Sie beobachtete, wie sie das Tor durchquerten und dieses hinter ihnen wieder verschlossen wurde. Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück und sah sich um. Sie brauchte etwas zu tun, dachte sie. Sie würde nicht einfach nur auf ihren Bruder warten können, bis er endlich Zugang zu ihr erhielt. Ihre Gedanken begannen bereits erneut ihre eigenen Wege zu gehen.
 

Barrington hatte zwar sein Wort gehalten und Sophie wirklich recht schnell gehen lassen, aber Alexander sah Annie am nächsten Tag nicht. Auch, wenn sie seinen Besuch des Nachts gefügig über sich ergehen ließ. Ihr Körper schmerzte zunehmend, doch kein Laut war über ihre Lippen gedrungen. Etwas was Barrington wohl nur noch mehr anzutreiben schien.

In der darauffolgenden Nacht, forderte er die Ehe gleich dreimal ein. Dies machte es ihr unmöglich zu schweigen. Mit jedem Mal wurde der körperliche Schmerz größer und verdrängte sogar Dracos Bild hinter ihren Augen. Ihr Körper wollte ihn nicht empfangen, sie war nicht bereit dazu. Er musste es gespürt haben. Aber wenn, dann störte es ihn nicht weiter. Annie war sich sicher, dass er das tat, aber Barrington nahm sich trotzdem was er wollte. Sie hatte das Gefühl, als würde sie innerlicht zerreißen. Mehrmals entrann ihr ein Schluchzen. Er schein es falsch zu deuten, denn Tags darauf sah er sie selbstzufrieden an, als er ihr Gemacht betrat und sie gerade angekleidet wurden.

„Ich wusste, dass man euch noch einiges beibringen kann. Diese Nacht habt ihr mir schon sehr viel mehr Leidenschaft gezeigt, als die Nächte zuvor. Ich will eure Mühen belohnen und habe einen Boten zu eurem Bruder geschickt. Er wird wohl im Laufe des Tages hier eintreffen.“

Annie bemühte sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Dabei war sie so unbändig, dass sie am liebsten vor Freude in Tränen ausgebrochen wäre. Allein die Vorstellung ihren Bruder endlich wieder zu sehen und das noch am gleichen Tag, gab ihr so viel Hoffnung, wie sie schon nicht mehr geglaubt hatte empfinden zu können. Doch nichts davon sprach sie aus und auch ihr Gesicht verriet nichts. Stattdessen verbeugte sie sich leicht und sagte: „Ich danke euch, Mylord.“

„Ihr könnt euch heute Nacht bedanken.“, erwiderte Barrington und dabei stellten sich ihre Nackenhaare auf. Eine weitere Nacht... Annie wusste, dass sie ein Kind von diesem Mann wohl niemals würde lieben können und dennoch wünschte sie sich inzwischen nichts so sehr, wie Schwanger zu werden. Wenn er sie dadurch in Ruhe lassen würde, würde sie alles tun.

Der Tag zog sich länger hin, als die anderen beiden zuvor. Mit jedem Atemzug rechnete sie mit Alexanders Erscheinen und jedes Mal war sie umso enttäuschter, wenn sich die Schritte vor ihrer Tür wieder entfernten.

Sie saß am Fenster, inzwischen hatte sie dort einen Stuhl hinstellen lassen, und versuchte sich auf das filigrane Muster ihrer Stickarbeit zukonzentrieren. Das Fenster war geschlossen. Es war schon der sechste ungewöhnlich heiße Herbsttag, den sie je erlebt hatte.

Ein weiteres Mal hörte sie, wie das große Tor geöffnet wurde. Sie atmete unsicher aus. Sollte sie wieder nachsehen oder einfach warten, bis sich endlich ihre Tür öffnen würde? Was würde sie tun, wenn es wieder nicht ihr geliebter Bruder war, der das Tor durchquert hatte? Doch noch bevor sich eine Antwort darauf gefunden hatte, stand sie auf und sah hinaus. Ihr Herz schlug dreimal so schnell, als sie endlich Alexanders vertraute Gestalt erblickte.

Er ritt auf seiner braunen Stute und hatte drei weitere Pferde an den Zügeln gepackt. Es waren alles prächtige Tiere und Annie wusste, dass sie aus seinem eigenen Stall kamen. Wahrscheinlich waren sie das Hochzeitsgeschenk für Barrington.

Hastig legte Annie ihre Stickarbeit beiseite und begann nervös im Raum auf und ab zu laufen. Sie hatte sich zwar gewünscht Alexander endlich zu sehen, aber nun da es so weit war, wusste sie nicht, wie sie ihn begegnen sollte. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie sich für immer von ihm verabschiedet.

Sie setzte sich wieder und versuchte sich erneut in ihre Stickarbeit zu vertiefen. Wenigstens so lange, bis er wirklich an ihrer Tür klopfen würde. Anders konnte sie das Erwarten nicht ertragen. Doch mit jedem Stich den sie durch den Stoff tat, stach sie sich in den Finger. Der Schmerz lenkte sie nur unwesentlich ab, denn jeden Moment rechnete sie damit, dass es bei ihr Klopfen würde.

Als es das dann endlich tat, sprang sie regelrecht von ihrem Stuhl auf und bat ihn mit zittriger Stimme herein. Sie erblicke Alexander und in diesem Moment wurde ihr klar, wie glücklich sie wirklich war ihn zu sehen. Endlich, nach so langer Zeit sah sie ein liebvolles Gesicht. Es waren nur ein paar Tage, die sie bereits an diesem Ort weilte, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

Gerade wollte Annie zu ihm laufen und ihn umarmen, wie es ihr erster Impuls war, als ihr Blick auf die Kammerfrauen fiel. Offensichtlich waren sie mit Alexander eingetreten und wartete wohl auf einen Befehl von ihr. Ihre Aufdringlichkeit ärgerte sie, auch wenn sie vielleicht nur ihre Arbeit taten.

„Ich brauche nichts.“, sagte sie deshalb mit etwas zu scharfer Stimme. „Ihr könnt uns allein lassen.“ Wider verneigten sie sich vor ihr und verschlossen die Tür hinter sich.

Annie sah ihren Bruder nun an und war nichts sicher was sie tun sollte. Am liebsten hätte sie ihn immer noch umarmt, aber etwas hielt sie davon ab. Auch sagen konnte sie nichts. Es gab so vieles auf einmal, dass sie nicht wusste, wo sie beginnen sollte.

Alexander schien es nicht anders zu gehen. „Ich freue mich dich zu sehen.“, sagte er schließlich. Es war eine formelle Begrüßung. Aber es beruhigte sie irgendwie, dass auch er nicht recht wusste, wie er sich verhalten sollte. Annie nickte stumm, weil sie nichts anderes erwidern konnte. Tränen standen ihr in den Augen und sie bemühte sich vergeblich sie zurückzuhalten. Es war einfach zu viel passiert.

Mit wenigen Schritten war er plötzlich bei ihr und schloss sie ohne umschweife in die Arme. „Ich bin so froh dich zu sehen.“, wisperte er gegen ihr Ohr, während die Tränen über ihr Gesicht rannen.

„Ich auch. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. I-Ich...“, schluchzte sie an seine Schulter und lehnte sich noch ein wenig mehr an ihn. Eine Weile standen sie so da und bewegen sich nicht. Alexander strich ihr beruhigend über das Haar, wie er es als Kind oft getan hatte und unter dieser vertrauen Bewegung, sammelte sie sich langsam wieder.

„Geht es dir gut?“, fragte er sie unsicher, nachdem ihre Tränen ein wenig versiegt waren. „Ich meine, ... hat er dir wehgetan?“. Anscheinend wusste er nicht, wie er dieses Thema behandeln sollte. „Wie man es sieht.“, antwortete Annie mit trockener Stimme. „Er fordert sein Recht als Ehemann, jede Nacht. Immer und immer wieder.“, sagte sie so leise, dass Alexander es kaum verstand. Doch instinktiv zog er sie noch fester an sich. „Ich habe Sophie gleich heute aufgesucht, nachdem ich erfahren habe, dass du ihn... Er hat sie wirklich gehen lassen.“, sprach er weiter und erinnerte sie somit daran, warum sie dies alles über sich ergehen ließ.

„Ja, ich habe gesehen, wie sie den Hof verlassen haben. Wir müssen... Du musst...“, berichtigte sie sich selbst.

„Ich weiß. Ich habe bereits mit ihr und ihrer Familie darüber gesprochen. Sie müssen das Land so schnell wie möglich verlassen, solange Barrington keine fadenscheinigen Beweise mehr gegen sie hat. Anscheinend hat er selbst ihre Unschuld bezeugt.“

„Wirst du ihnen helfen?“, fragte Annie ihn. Noch immer lag sie in seinen Armen und wünschte es könnte für immer dort bleiben. So wie sie es sich bei Draco gewünscht hatte. Aber auch dieser Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen.

„Natürlich. Wir treffen gerade alle nötigen Vorbereitungen. Es wird nicht lange dauern. Sie danken dir von Herzen, Annie. Jeder einzelne von ihnen.“

„Es ist schön zu wissen, dass es ihnen alle gut geht.“

„Ja, nur deinetwegen. Ich habe wirklich geglaubt du würdest mit ihm gehen.“

„Das wollte ich, Alexander.“, sagte Annie ehrlich. „Das wollte ich wirklich. Aber er... er war nicht mehr da. Er ist einfach verschwunden.“ Bei diesen Worten kamen die Tränen zurück und schienen noch mächtiger zu sein, als vorher.

„Ich hätte nicht gedacht, dass er es wirklich tut. Ich dachte er wäre selbstsüchtiger.“, murmelte Alexander.

Annie schwieg und Alexanders Worte klangen sanft in ihren Ohren. Wie konnte er so von Draco denken, wenn er ihn doch überhaupt nicht gekannt hatte?, fragte sie sich. Er hatte es wirklich getan... Plötzlich stutzte sie.

„Was meinst du damit?“, fragte sie ihren Bruder tonlos und sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war tränenverschmiert und doch lag Argwohn darin.

Alexander wich ihren Blick aus und das ungute Gefühl in ihren Bauch verstärkte sich nur noch mehr. „Alexander, was meinst du damit, du hättest nicht gedacht, dass er es wirklich tut. Hat er so etwas zu dir gesagt?“, fragte sie aufgeregt. Hatte Alexander etwa davon gewusst? Warum hatte er ihr nichts erzählt? Sie hätte verhindert, dass er einfach so gegangen wäre. Sie wären gemeinsam geflohnen. Sie hätte Sophie sterben lassen....

Kälte schüttelte ihren Körper. Jeder Weg, war der Falsche.

„Nein, er hat nichts zu mir gesagt.“, antwortete Alexander, wandte sich aber von ihr ab.

„Was dann?“, behaarte sie weiter. Ihr Bruder verschwieg ihr etwas, erkannte sie. Sie würde keine Ruhe haben, bis er ihr gesagt hatte, was es war. Vielleicht konnte sie so Dracos Verhalten endlich verstehen.

„Annie, du darfst das nicht falsch verstehen, bitte. Nachdem ich bei dir war, habe ich nach ihm gesucht. Ich hatte nicht einmal die Hoffnung, dass ich ihn finden würde, aber das tat ich dann tatsächlich. Ich... Ich habe ihm gesagt, dass es das Beste wäre, wenn er verschwinden würde. Wenn er nicht mehr wäre, müsstest du dich nicht entscheiden und mit der Schuld leben jemanden wehgetan zu haben.“

Ihren Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund stand offen. Entsetzen zeichnete sich deutlich auf ihrem Gesicht ab.

„Du hast was?!“, schrie sie ihn unterdrück an und ihre Stimme klang dadurch wie ein Fauchen. Sie hatte nicht vergessen, dass sie möglicherweise belauscht wurden.

„Annie, bitte, hör mir zu. Ich habe gesehen, wie schlecht es dir ging. Du warst hin und her gerissen zwischen dem was richtig war und dem was du wolltest. Du hättest dir niemals selbst verzeihen können, wenn du mit ihm gegangen wärst und Sophie und ihrer Familie dadurch ein Leid geschehen wäre. Ich war... ich bin überzeugt, dass du ihn irgendwann vergessen wirst. Dass du Menschen vielleicht in den Tod geschickt hast, hättest du niemals vergessen können. Du weißt es genauso gut wie ich und auch er wusste es. Sonst wäre er bei dir geblieben, so wie er es gesagt hatte.“

„Was?“, fragte sie erstaunt.

„Er hat gesagt, er könnte dich nicht verlassen und das es allein deine Entscheidung war. Ich habe geglaubt, er würde es nicht tun. Du kannst dir nicht vorstellen, wie überrascht ich heute morgen war, als plötzlich ein Bote von Barrington vor meiner Tür stand und mir sagte, meine Schwester hätte diesen Mann geheiratet.“

Annie sah nach unten. Sie konnte das alles nicht glauben. Alexander hatte Draco dazu gebracht, sie zu verlassen. Wie hatte er das tun können? Wusste er denn nicht...

„Du irrst dich.“, sagte sie mit leiser Stimme, als würde ihr die Kraft zum sprechen fehlen. „Ich kann ihn niemals vergessen. … Warum hast du das überhaupt getan? Du wolltest meine Entscheidung akzeptieren. Du wolltest eine anderen Lösung finden.“

„Es tut mir leid, Annie.“ Alexander seufzte schwer, als würde er die nachfolgenden Worte nicht aussprechen wollen. „Ich... Susan und ich versuchen schon seit unserer Eheschließung ein Kind zu bekommen.“.

Überrascht sah sie ihn an. „Das habe ich nicht gewusst.“, antwortete sie leise.

„Das konntest du ja auch nicht. Bisher hat es auch nicht geklappt, aber... nachdem du und... er da wart, da hat mir Susan anvertraut, dass sie möglicherweise Schwanger ist. Sie wusste, dass etwas nicht in Ordnung war und sie war besorgt um das Kind.“

„Oh, Alexander... das ist... Ich meine, ich wusste nicht, dass...“

„Sie ist nicht schwanger.“, unterbrach er sie etwas zu heftig. Zu Spät erkannte Annie seinen Schmerz. „An dem Tag, als ich bei dir war und mit ihm geredet habe, hat sie mir am Abend erzählt, dass wir uns wieder umsonst Hoffnung gemacht haben. Es war ein Irrtum.

Ich war tiefbetrübt und ich habe nicht weiter an das Gespräch mit ihm gedacht. Ich glaubte ja auch, dass er seine Meinung nicht ändern würde. … Es tut mir wirklich leid, dass ich ihn ohne dein Wissen aufgesucht habe. Aber ich hätte unmöglich, das Leben meines ungeborenen Kindes in Gefahr bringen können. Ich hielt es für das Beste. …Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“

Annie trat zurück und sah wieder aus dem Fenster. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, was sie überhaupt denken sollte. Ihre Augen suchten den Wald, der in weiter Ferne lag. „Natürlich.“, wisperte sie schließlich. „Es tut mir leid, dass es nicht so war, wie du und Susan gehofft habt. Ich verstehe dich.“, vergab sie ihrem Bruder.

Schweigen trat zwischen ihnen ein. Jeder der beiden dachte über das nach, was er gerade erfahren hatte. Sie wusste, dass es Alexander ehrlich leid tat, deswegen konnte und wollte sie ihm nicht länger böse sein. Er hatte an seine Familie gedacht. Daran war nichts Falsches.

„Ist er bei dir?“, stellte sie ihm endlich die Frage, die sie von Beginn an hatte stellen wollen. Gleich würde sie Gewissheit haben.

Irritiert sah Alexander sie an. „Wer?“

„Draco.“, sagte sie mit laut klopfendem Herzen, aber noch leiserer Stimme. Das konnte nicht...

„Draco?“, fragte er verwundert und schien die Frage nicht recht glauben können. „Nein. Warum sollte er?“

„Er ist nicht bei dir?“ In ihren Augen spiegelte sich entsetzliche Angst. Es war die einzige Hoffnung, an die sie sich geklammert hatte. Erst jetzt erkannte sie, wie dumm dieser Gedanke doch war. Warum sollte Draco auch Alexander aufsuchen. Nachdem, was sie gerade erfahren hatte, würde er das niemals tun.

„Aber er...“ Ihr Atme ging hektisch und ihre Gedanken rasten.

„Annie, was ist los? Wenn er sich entschieden hat, ohne dich zu gehen, dann wird er auch gewusst haben, wo er hin wollte.“, versuchte Alexander sie zu beruhigen.

Panisch schüttelte sie den Kopf.

„Woher soll er dass denn wissen?“, fragte sie und ließ ihre Angst die Oberhand gewinnen. Ihr ganzer Körper bebte und ihr Gesicht zeigte die gleiche Blässe, die er vor wenigen Tagen schon einmal bei ihr gesehen hatte. Ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen und sie sank auf den Boden. Alles um sie herum begann sich schwarz zu färben. Wo war er? Wie hatte sie diese Dummheit auch nur einen Moment glauben können?

Ganz einfach, gestand sie sich ein. Weil sie es glauben wollte und weil Alexander der einzige Mensch war, den Draco noch kannte.

Sie spürte, wie Alexander noch einmal die Arme um sie legte und sie an seinen Körper zog. „Annie, ich versteh nicht ganz. Warum sollte er ausgerechnet zu mir kommen? Vielleicht ist er in eine andere Stadt gegangen. Vielleicht lebt er auch irgendwo allein.“

Doch seine Worte schienen genau das Gegenteil zu bewirken. Statt sie zu beruhigen, wurde ihr Zittern noch schlimmer. Alexander konnte dies ganz und gar nicht nachvollziehen.

„Annie, warum sollte das nicht möglich sein. Er ist erwachsen. Er wird schon in der Lage sein für sich selbst zu sorgen.“, redete er weiter auf sie ein.

„Nein, dass kann er nicht.“, brachte sie mit heißerer Stimme hervor.

„Warum nicht?“

„Er kann einfach nicht, Alexander! Er kann nicht. Er hat es nie gelernt!“

„Annie, ich...“

„Bitte, du musst ihn finden!“ Ihr Anblick erschreckte ihn. Noch nie hatte er diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen.

„Aber, Annie, ich bin sicher...“

„Nein, Alexander hör mir doch zu. Er kann nicht allein sein. Er weiß nicht, wie es geht. Bitte, ich bitte dich, finde ihn. Nimm ihn mit zu dir. Kümmere dich um ihn. Aber lass ihn nicht allein! Er kann nicht allein leben. Bitte... bitte suche ihn und... Ich flehe dich an, finde ihn.“

Alexander sah schweigend auf seine Schwester herab, unschlüssig was er tun sollte. „Wirst du mir erzählen warum?“, fragte er sie dann.

Annie schüttelte den Kopf und verbarg das Gesicht hinter den Händen. „Ich habe etwas Furchtbares... Finde ihn. Bitte finde ihn.“, wiederholte sie ihre Worte abermals.

Alexander rang sich schließlich zu einem Nicken durch.

„Noch heute! Fange noch heute damit an. Bitte... Du darfst keine Zeit verlieren. Er kann nicht a-“

„Annie?“

Dumpf hörte sie seine so wohl bekannte Stimme, dann wurde alles schwarz und das Nichts schien sie zu verschlingen.
 


 

Die Sonne stand hoch.

Nicht mehr lange, dachte er. Nicht mehr lange und er würde von diesem Leben befreit sein. Endlich.

Ohne sie...

Das Bild vor seinen Augen flackerte. Es war zu hell. Aber außer dem störenden, hellen Licht nahm er nichts wahr. Weder das, was um ihn herum geschah, noch seinen eigenen Körper. Sein Körper hatte bereits aufgehört nach dem Notwendigem zu schreien, hatte sich offenbar dem gefügt, was kommen würde – was er herbeisehnte.

Er spürte wie er zurückgezogen wurde. Wann würde das Licht aufhören, ihm immer wieder aus der wohlwollenden Dunkelheit zurückzuholen?

Nur noch ein bisschen.

Dann würde er für immer in der Finsternis bleiben können. Er war in der Schwärze der Erde geboren. Nun wusste er, dass er darin auch sterben würde. Dieses Wissen beruhigte ihn, nahm ihm das letzte bisschen Angst, die er vielleicht vor dem Danach hatte. Mit dem Tod würde er zurückkehren können. Dessen war er sich sicher.

Die Dunkelheit und das Nichts rissen ihn abermals mit sich, während die Sonne das letzte Leben aus seinem Körper brannte.
 

Annie erwachte durch die warmen Strahlen der Sonne, die nun ihren Weg westwärts fand und durch das Fenster direkt neben ihrem Bett schien. Erschöpft legt e sie ihren Arm auf die Stirn und benötigte ein paar Sekunden um sich daran zu erinnern, was geschehen war, warum sie zu dieser Tageszeit bereits im Bett leg.

Alexander war da, dachte sie träge. Doch kaum hatte sie dies gedacht, kehrte auch alles andere zurück. Ihr Magen verkrampfte sich augenblicklich. Abrupt richtete sie sich auf.

Draco war nicht bei Alexander!

Wie hatte sie auch nur einen Moment daran glauben können?

Sie hätte darauf bestehen müssen, Alexander zu sehen und nicht erst darauf gewartet, bis dieser Mann es ihr erlaubte! Wie hatte sie nur so dumm sein können?!

Inzwischen konnte ihm so viel zugestoßen sein! Er kannte sich doch überhaupt nicht aus. Wohin sollte er denn gehen? Was, wenn jemand anderes ihn getroffen hatte? Was, wenn es einer von Barringtons Männer gewesen war?

Allein die Vorstellung daran ließ sie vor Angst erzittern.

Natürlich war Draco nicht schwach. Körperlich war er ihr immer überlegen, aber er wusste doch gar nicht, wie er diese Kraft einsetzen konnte. Er wusste doch gar nicht, wie man... Nein, das sollte er auch nicht wissen.

Was aber sollte sie tun, wenn Draco den Wald wirklich verlassen hatte? Was, wenn er es nicht getan hat? Würde er allein im Wald zurecht kommen? Vielleicht schon. Er hatte sie oft beobachtete und Annie wusste, dass er allein dadurch schon unglaublich viel gelernt hatte. Und das Leben in einer Dorfgemeinschaft? Würde er sich dort einleben können? Vielleicht. Aber sie glaubte nicht, dass er das überhaupt wollen würde. Lieber wäre Draco allein, als unter vielen Menschen zu leben, dachte Annie.

Aber würde er überhaupt leben?

Ihr wurde kalt und ein Schaudern durchfuhr ihren Körper. Daran durfte sie nicht einmal denken!

Verzweifelt hob Annie die linke Hand und wollte sich eine weitere Träne aus den Auge reiben, als ihr Blick plötzlich an dem kleinen roten Seidenband hängenblieb, welches um ihren Finger gebunden worden war. Ein Moment betrachtete sie es erstaunt. Es war lange her, dass sie dieses Zeichen gesehen hatte. Unwillkürlich legte sich ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen.
 

Als sie Kinder hatten Alexander und sie sich oft Versprechen gegeben. Wenn sie nun zurückdachte, waren es meist unwichtige Versprechen. Versprechen, die sich nur Kinder gaben, die für sie aber von höchster Bedeutung waren.

Hatte sie ihrem Bruder etwas versprochen, dann hatte sie ihm ein kleines Band um den Finger gebunden, um das Versprechen zu besiegeln. Hatte er ihr etwas versprochen, hatte er es genauso getan. Wichtig war, dass man immer einen Finger der linken Hand nahm. Auf dieser Seite saß das Herz und man versprach somit etwas aus ganzen Herzen.

So wie es Alexander auch heute getan hatte.

Annie legte die linke Hand auf ihr Herz und verharrte einen Moment. Er würde nach ihm suchen und ihn finden. Er hatte es versprochen.
 

Mit einem lauten Knall wurde plötzlich die Tür aufgerissen, so das Annie zusammenzuckte. John Barrington betrat mit Jonathan Semerloy den Raum. Augenblicklich ließ sie ihre Hand sinken und ihr Gesicht erstarrte.

Egal wie klein ihr Glück auch war, er zerstörte es durch seine bloße Anwesenheit, dachte sie verbittert.

„Wie ich sehe, seid ihr wach.“, stellte Barrington fest. Statt ihm die Antwort zu geben, die ihr auf der Zunge lag, nickte sie nur. Sie hörte den verärgerten Ton ihn seiner Stimme.

„Wie kam es dazu?“, fragte Barrington weiter. Annie sah ihm verwirrt an. „Ich weiß nicht, was ihr meint.“

„Euer Bruder verließ kurz nach seiner Ankunft dieses Zimmer und teilte den Kammerfrauen mit, dass ihr euch nicht wohl fühlt. Als sie dann nach euch sahen, fanden sie euch schlafend im Bett. Ich würde sehr gern wissen, wie ihr euren Bruder, den ihr ja unbedingt sehen wollte, nach so kurzer Zeit wieder wegschickt und euch dann ins Bett begebt. Meines Wissens nach, erfreutet ihr euch heute Morgen noch bester Gesundheit.“

Sie musste einmal tief durchatmen, damit sie ihm überhaupt antworten konnte. Was fiel diesem hässlichen Wicht ein, ihre Handlungen zu hinterfragen? Was sie tat, war immer noch ihre Entscheidung! Ganz besonders, wie lange sie sich mit Alexander unterhielt und wann sie zu Bett ging!

„Ich wusste nicht, dass ich mich zu rechtfertigen habe, wie lange ich mit meinem Bruder spreche oder wann ich zu Bett gehe. Wie ihr euch vielleicht erinnern könnt, habe ich in dieser Nacht nicht sehr viel geschlafen und fühle mich noch immer müde und erschöpft. Ich habe mich sehr gefreut Alexander zu sehen und ich habe ihn gebeten mich so bald wie möglich noch einmal besuchen zu kommen, aber ich konnte ihm heute keine ordentliche Gastgeberin sein. Deswegen habe ich ihn gebeten wieder zu gehen. Es wäre weitaus unhöflicher gewesen, wenn ich ihn gezwungen hätte mir Gesellschaft zu leisten, wo ich ihn nicht einmal unterhalten konnte. Aber ihr könnt versichert sein, dass es mich selbst am meisten ärgert, dass ich den Besuch meines Bruders nicht mehr genießen konnte!“

„Wagt es nicht in diesem Ton mit mir zu reden! Ihr seid immer noch meine Frau! Hätte ich gewusst, dass ihr so schwächlich seid, dann hätte ich euch aber niemals zu dieser gemacht. Sollte ich feststellen, dass ihr der ganzen Mühe gar nicht wehrt ward, werdet ihr es noch bitter bereuen.“, drohte er ihr und ballte seine fleischige Hand zur Faust.

„Ich habe nicht darum gebeten, eure Frau zu werden!“, stieß Annie unbedacht aus, bereute es im nächsten Augenblick bereits. Dennoch wand sie den Blick nicht von ihm ab. Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihm einschüchtern zu lassen.

Einen Moment sah er sie aus verengten Augen an und sie glaubte bereits, dass er sie schlagen würde. Sie wusste, dass er es tun würde und dass er keine Skrupel haben würde. Doch dann erschien ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Jonathan, wie viel Zeit bleibt mir noch, bis zu dem Treffen mit dem Finanzverwalter?“, fragte er an seinen Freund gewandt.

Anscheinend hatte dieser ihn sofort verstanden, denn auch auf seinem Gesicht erschien ein kaltes Lächeln. „Nun, ich denke es bleibt noch genügend Zeit, um eurer Gemahlin beizubringen, dass es in Zukunft besser wäre, darauf zu achten, was sie sagt.“

„Ja... dass denke ich auch.“, antwortete Barrington langsam und seine Augen funkelten, wie die eines ausgehungerten Tieres.

Mit einer leichten Verbeugung an Barrington gewandt, entfernte sich Jonathan Semerloy aus dem Zimmer. Vor der Tür blieb er noch einmal stehen und Annie erwiderte auch seinen Blick. Sein Lächeln war kalt und als sich ihre Augen trafen, leckte er sich genüsslich über die Lippen. Annie zuckte vor Angst zusammen. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde bald wieder auf Barrington gelenkt, der sich ihr näherte.

„Was soll dieses alberne Band?“, fragte er sie kalt und Annie wusste, dass er das Band um ihren Finger bemerkt hatte. Ohne überhaupt einen Antwort von ihr zu erwarten, griff er nach ihrer Hand und riss das Band von ihrem Finger. Sie hätte am liebsten aufgeschrien und sich gewehrt, doch ihr Mut war urplötzlich verschwunden, als sie Semerloys Blick gesehen hatte. Trotzdem erwiderte sie Barringtons Blick standhaft. Sie wusste, dass sie ihm ihre Angst nicht zeigen durfte, egal wie groß sie war. Er würde sie sonst noch mehr damit in die Enge treiben können.

„Ach und bevor ich es vergesse. In vier Wochen wird ein Hochzeitszug stattfinden – mir und euch zu ehren. Ihr werdet euch eine neue Garderobe anfertigen lassen.“, sagte er ohne eine geringste Regung in seiner Stimme. „ Aber erst einmal, werde ich euch zeigen, was es heißt, mir zu wiedersprechen!“, wurde sein Ton härter.

Sie erwartete, dass er sie schlagen würde oder dass er sie irgendwie auf eine andere gewaltsame Art und Weise zur Vernunft bringen wollte. Aber sie würde ihm nicht die Genugtuungen geben und Schreien oder ihn gar um Vergebung und Gnade anbetteln. Niemals würde sie das.

Doch Barrington wollte sie nicht schlagen. Stummen Entsetzens sah sie, wie er seine Hose öffnete.
 

Donner riss ihn ruckartig aus der Dunkelheit zurück. Es war das erste Geräusch, dass er seit drei Tagen richtig wahrnahm und das wohl nur, weil es so laut war.

Es war noch immer nicht geschehen, realisierte er langsam. Doch dieses Mal, war er sogar ein wenig dankbar dafür. Das Donnern hatte ihn von Traumbildern befreit, die ihn zu lange gefangen gehalten hatten. Immer und immer wieder hatte er das gleiche Bild gesehen, ohne das sich etwas daran geändert hatte: Annie mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht, strahlenden, braunen Augen und wellendem, langem Haar, dass sich an ihrem nackten Körper schmiegte. Aus dem Schatten trat eine Gestalt heraus. Die dicken Finger legten sich um ihren Hals, fuhren diesen hinab und berührten das zarte Fleisch ihres Busens. Auf Barringtons Gesicht stand ein schiefes Grinsen und seine Augen funkelten, wie an jenem Tag, als er ihn das erste Mal sah.

Hatte er sich geirrt? Würde es nicht die Finsternis sein, zu der er zurückkehrte, sondern unaufhörlich zu diesen Traumbildern? Würde er es von nun an immer sehen? Selbst dann, wenn er endlich gehen durfte? Was für einen Sinn hatte es dann? Dabei hatte er gehofft er wäre dann für immer davon befreit.

Nur langsam wurde sich Draco bewusst, dass das Donnern kein Donner des Himmels war. Es war etwas anderes, denn plötzlich endete es abrupt. Schwach nahm er nun ein anderes Geräusch war. Er konnte beinah meinen es wären Schritte.

Unmöglich.

Abermals rief und zog etwas nach ihm und nur zu bereitwillig folgte er. Es würde nicht so sein. Er würde von den Traumbildern befreit sein und zurückkehren. Und doch... aus einer anderen Richtung hörte er eine Stimme, die lauter und lauter zu werden schien. Er konnte nicht sagen, wo sie sich befand oder wem sie gar gehörte, doch nun schien sie direkt bei ihm zu sein und hielt ihn davon ab zu gehen. Die Worte, die diese Stimme sprach, waren ihm unverständlich, unvollständig, verschwommen und frei jeglicher Bedeutung.

Jemand berührte ihn, er konnte Finger auf seinem Gesicht spüren. Zumindest glaubt er das. Aber wieso und von wem?, fragte er sich verwirrt. Hatte man ihn doch gefunden? Wer?

Es war egal. Es würde nicht mehr lange dauern.

Plötzlich spürte er, wie etwas um seine Arme griff und sein Körper nach oben gerissen wurde.

Noch nie hatte er so empfunden.

Der Schwindel, der ihn schon die ganze Zeit beherrscht hatte, wurde zu seiner übermächtigen Welle, die ihn überrollte. Sein gesamtes Inneres schien aus seinem Körper ausbrechen zu wollen, suchte sich einen Weg nach oben, seinen Hals hinauf, in seine Kehle und seinen Rachen. Dann erbrach er sich heftig.

Doch er spukte nichts weiter als eine gelblich, grüne, bittere Flüssigkeit. Immer wieder musste er würgen und ein wenig von der Flüssigkeit gelangte nach draußen, doch schnell würge er nur noch vergebens. Trotzdem war da noch etwas. Draco hatte das Gefühl er würde daran ersticken, wenn es nicht bald nach draußen gelangte.

„Verdammt!“, stieß plötzlich jemand neben seinem Ohr heftig aus und dieses Mal war er sich sicher, das Wort verstanden zu haben. Doch noch bevor er sich darauf konzentrieren konnte oder gar die Möglichkeit hatte sich wieder in das Gras zurückfallen zu lassen, wurde er abermals gepackt. Sein Körper bewegte sich wie von selbst. Das grelle, warme Licht verschwand und stattdessen wurde es merklich kühler und dunkler.

Was geschah mit ihm?

Die Hände, die ihn gerade noch fest umklammert hatten, ließen ihn los und betteten ihn auf die ebene Erde. Draco versuchte den Unbekannten endlich anzusehen, doch sobald er die Augen öffnete, sah er nur die hohen Baumkronen über ihm. Sie drehten sich so schnell, dass ihm nur noch übler wurde, wenn dies überhaupt möglich war.

Draco drehte den Kopf, um auch den Rest dessen, was noch in ihm war und ausbrechen wollte, gehen zu lassen. Nochmals schoben sich zwei Hände unter seinen Körper um ihn aufzurichten. Wieder erbrach er die gleiche scharfe Flüssigkeit.

Gleich darauf wurde etwas an seine Lippen gesetzt und er spürte, die kalte Flüssigkeit, die sie benetzten: Wasser.

Augenblicklich schien sein Körper wieder zu erwachen und danach zu schreien.

Unkontrolliert begann er zu zittern. Das Wasser lief daneben, sein Kinn und anschließend seinen Hals herunter. Die wenigen Tropfen, die in seinen Mund gelangten und er schluckte, schienen wie Feuer in seiner Kehle zu brennen.

Der Schmerz war unerträglich. Die Finsternis bekam ihn abermals zu fassen.
 

Erst war alles ruhig, warm und so voller Stille, wie er es schon lange nicht mehr empfunden hatte. Selbst die Bilder verschonten ihn. Wo immer er war, er wollte auf ewig dort bleiben. War dies endlich der Tod, den er sich so sehr gewünscht hatte? Es war angenehm.

Er hatte es gespürt. Den Tag, an dem das volle Jahr vergangen war. Er war an diesen Ort gekommen, um vielleicht doch zu seinem alten Selbst zurückzufinden, obwohl er schon lange akzeptiert hatte, dass dies nicht mehr möglich war. Ein kleiner Teil hatte wohl immer noch gehofft, dass es doch gelingen würde.

Seit wann empfand er so etwas wie Hoffnung? War dies eine Gabe der Menschen? Es hatte ihn in die Irre geleitet. Er hatte für umsonst gehofft. Noch immer war er in dieser Gestalt gefangen. Und dann hatte er nur noch an sie denken müssen. Wie Gift waren die Bilder von ihr und diesem Mann durch sein Blut gekrochen und hatten ihn gelähmt. Aber seinen Lebenswillen konnte sie nicht brechen. Er hatte schon lange keinen mehr besessen.

Doch an diesem Ort, an dem er sich nun befand wollte er bleiben. Keine Stimmen bedrängten ihn, keine Bilder quälten ihn und selbst seine ewigen Erinnerungen schienen in einem dicken, undurchdringbaren Nebel verhüllt zu sein.

Kaum hatte er dies gedacht, änderte es sich sofort. Der Nebel wurde lichter und eisige Kälte griff nach ihm. Sie kroch seinen Körper entlang, durch seine Haut hindurch, in ihn hinein. Erneut erfasste ihn ein heftiges Zittern.

Der Ort, der ihm gerade noch so verheißungsvoll erschienen war, erfüllt ihn nun mit Schrecken. Mit jedem Moment, den er dort blieb, wurde die Kälte stärker, fraß sich durch seinen Körper, bis er sie an seinem Herzen spüren konnte.

Ruckartig riss es ihn in das Leben zurück. Sein ganzer Körper zitterte und er wusste, dass es von der Kälte kam, die in seinem Inneren wohnte.

Draco schloss die Augen gleich wieder, denn der Schwindel und die Übelkeit waren noch genauso mächtig wie zuvor und wurden nur noch von der Kälte überdeckt.

Was war geschehen?

Ein Knistern neben ihm, erweckte seine Aufmerksamkeit. Langsam öffnete er die Augen abermals und blickte ihn die hellen Flammen des roten Feuers, welches neben ihm brannte. Sein Körper bebte und das Feuer war so lockend warm. Wenn er doch nur zu ihm gelangen könnte. Nur ein winziger Augenblick in diesem Feuer, dachte er, würde die Kälte vertreiben und dann würde er an diesen dunklen Ort, der so ruhig und friedlich war, zurückkehren können.

Inzwischen zitterte er so heftig, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Noch nie zuvor hatte er solch eine Kälte gespürt. Noch nie hatte er sich so gefühlt... Nicht einmal zu dem Zeitpunkt, als er als Mensch erwacht war. Er streckte den Arm danach aus. Gleich würde er es berühren können und dann würde ihm wärmer sein.

Plötzlich packte ihm etwas am Arm und zog ihn heftig zurück.

„Was soll der Mist? Bist du so versessen darauf zu sterben?!“, fuhr eine laute Stimme ihn an. Sein Herz setzte einen Moment aus. Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber das war vollkommen unmöglich. Wieso sollte er...

Draco nahm den Blick vom Feuer und versuchte nach oben zu schauen. Seine Bewegungen waren zwar langsam, doch die Übelkeit war zu stark. Er konnte es nicht aushalten und schloss die Augen, versuchte den plötzlich auftauchenden Summen und Hämmern in seinem Kopf Herr zu werden. Irgendetwas schien hinter seinen Augen immer wieder auf ihn einzuschlagen. Jeder Schlag war stärker, lauter und heftiger, als der vorherige, als würde etwas versuchen aus seinem Kopf herauszubrechen. Es verdrängte den Sinn für alles andere.

„Was ist? Ich habe dich etwas gefragt? Willst du wirklich unbedingt so sehr sterben?“ Kurz schafft er es zu nicken, bevor er sich mit beiden Händen an dem Kopf griff, um es zu beenden. Doch nichts geschah. Sein Körper zitterte noch immer vor Kälte, ihm war unsagbar Schwindelig und dieses Hämmern und Dröhnen...

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so schwach bist.“, stieß die Stimme verächtlich aus und mit einmal erkannte Draco sie. Er kannte nur einen Menschen, der in diesem abwertendem Tonfall mit ihm sprach.

Mühevoll gelang es ihm seine Augen doch noch ein weiteres Mal zu öffnen, doch alles was er erkennen konnte, war ein verschwommenes Gesicht. Aber er glaubte, Alexanders Gesichtszüge ausmachen zu können.

Schweigend sahen sich die beiden Männer einen Augenblick an. Dann gab Draco Alexanders durchdringendem Blick nach. Zu einem anderem Zeitpunkt hätte er dies niemals zugelassen, doch nun bemerkte er es nicht einmal. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage, was er an diesem Ort machte. „Was machst...“, wollte er ihn fragen, doch seine Kehle war zu trocken. Draco hörte kaum seine eigenen Worte. Fast augenblicklich schlief er wieder ein. Nur als er auf einmal schweren Stoff auf sich spürte, wurde er noch einmal kurz munter. Das Zittern schien langsam schwächer zu werden.

„Morgen früh, wäre dein Wunsch sicher erfüllt worden.“, hörte er Alexander sagen. Nur schwerfällig begriff er die Bedeutung seiner Worte und wünschte es wäre tatsächlich so gewesen.

Draco hörte, wie sich Alexander neben ihm bewegte und im nächsten Augenblick seinen Kopf anhob.

„Du musst etwas trinken. Dein Körper ist vollkommen ausgetrocknet. Ich schaue morgen, ob du noch andere Verletzungen hast. Trink nicht so viel auf einmal, sonst wirst du dich nur wieder übergeben müssen.“, redete Alexander auf ihn ein, doch Draco verstand nicht einmal die Hälfte. Er spürte nur, wie abermals etwas an seinem Mund gesetzt wurde und das Wasser wieder seine Lippen benetzte. Dieses Mal öffnete er die Lippen ein wenig mehr. Er trank nur einen kleinen Schluck, zu sehr schmerzte es ihn. Aber sein Körper schien allein dafür dankbar zu sein. Er hatte das Gefühl, als würde dieser eine Schluck nur wenigen Momente später durch seinen gesamten Körper fließen.

„Hoffen wir mal, dass du dich morgen wenigstens auf einem Pferd halten kannst. Hier bleiben kannst du auf keinen Fall.“, hörte er Alexander noch sagen.

Als er bereits wieder in den Schlaf glitt, wurde sich Draco noch schwach bewusst, dass er gar kein Wasser getrunken hatte. Es hatte vollkommen anders geschmeckt und es hatte auch nicht in seiner Kehle gebrannt.
 

Draco wusste, dass er weiter leben würde, als er am nächsten Tag die Augen öffnete. So schnell würde dieses Leben ihn nicht gehen lassen.

Er fühlte sich dennoch nicht besser. Schwindel, Übelkeit und diese unerträglichen Schmerzen in seinem Kopf waren noch immer da. Der Tod wäre ihm weitaus lieber, als dies empfinden zu müssen, dachte er.

„Du bist ja doch wieder aufgewacht.“, hörte er Alexanders Stimme. Er war nicht überrascht ihn zu sehen, er hatte gewusst, dass er da war, aber er wunderte sich noch immer darüber, was er eigentlich an diesem Ort machte. Warum tat er das?

„Glaubst du, du kannst aufstehen?“

Draco versuchte es, doch allein die kleinste Regung, ließ ihn wieder so schlecht werden, dass er den winzigen Schluck, den er gestern getrunken hatte, wieder in seinem Mund schmecken konnte. Angewidert schluckte er es nach unten. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

Wieder stieß Alexander einen Fluch aus, den Draco bei Annie nie gehört hatte.

„Du musst aber. Es wird immer kälter und es sieht aus, als würde es auch noch anfangen zu regnen. Wir müssen es wenigstens versuchen.“

Noch bevor Draco reagieren konnte, hatte Alexander ihn abermals unter den Armen gepackt und richtete ihn so auf, dass er sich setzen musste. Draco presste zwar den Kiefer zusammen, um sich nicht übergeben, doch es war vergeblich.

Alexander ließ ihn einen Moment allein und kam mit seinem Pferd an den Zügeln zurück. Draco sah verschwommen, dass er dem Tier etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin dieses sich in das flache Gras legte. „Na komm schon. Du musst nur draufsitzen. Alles andere macht das Pferd.“, sagte Alexander noch zu ihm, bevor er ihn erneut packte.
 

Der Weg zu Alexanders Anwesen dauerte qualvoll lange. Immer wieder musste Draco sich übergeben und glaubte schon, dass nichts mehr in ihm sein müsste, was er wieder ausspucken konnte. Er sollte recht behalten, denn schon bald würgte er nur noch. Oft wurde ihm wieder schwarz vor Augen und ihm fehlten Erinnerungen. Er wusste nicht, wann und wie sie an Alexanders Anwesen ankamen, noch wusste er, wie er es geschafft hatte abzusitzen oder gar in das Zimmer zu gelangen, in dem er aufwachte.

Etwas kühles wurde gerade auf seine Stirn gelegt, als er wieder zu Bewusstsein gelangte. Es tat gut und linderte den Schmerz dahinter ein wenig.

Leise hörte er, wie sich Schritte entfernten und als sie ganz verstummt waren, öffnete er schließlich die Augen. Er lag in einem fremden Zimmer, welches nur von wenigen Kerzen erhellt wurde. Draußen konnte er den Wind pfeifen hören und den Regen, der gegen das Fenster schlug. Die Nacht war pechschwarz. Schritte näherten sich und er versuchte seinen Blick auf die Tür gerichtet zu halten. Alexander trat ein.

„Susan sagte mir, dass du aufgewacht bist. Auf den letzten paar Metern dachte ich wirklich, dich rafft es dahin. Du hast plötzlich Fieber kommen und da dein Körper sowieso schon angegriffen ist, hätte es mich nicht gewundert, wenn dir das den Rest gegeben hätte. Aber du bist zäher als ich dachte, wenigstens etwas.“, sagte Alexander, während er etwas aus einer metallenen Schachtel nahm. Er ließ es in einer Schüssel fallen und rührte dann in dieser. Offenbar befand sich auch etwas darin.

Draco sah, wie Alexander wenige Momente später eine zähe Masse aus der Schüssel nahm und in seinen Händen zu einer Kugel weiter formte, die so groß war, wie ein Finger breit. Diese teilte er dann noch einmal und formte zwei kleinere Kugeln.

„Warum...“, versuchte Draco noch einmal, doch wieder versagte ihm die Stimme. Offenbar hatte Alexander ihn dennoch verstanden.

„Das erkläre ich dir, wenn du auch wirklich verstehst. Momentan siehst du mir eher nicht danach aus. Es ist fertig. Mach den Mund auf.“, sagte er mit strengem Ton.

Misstrauisch sah Draco die Kugeln an, die Alexander geformt hatte. Sie erschienen ihm fast schwarz und sie glänzen merkwürdig.

Alexander seufzte kurz, als Draco nicht tat, wie ihm gehießen. Dann beugte er sich über Draco, der so geschwächt war, dass er nicht einmal reagieren konnte. Ohne zu zögern und mit wenig Kraft, drückte Alexander ihm den Kiefer auseinander und stopfte die erste Kugel tief in seinen Rachen hinein. Draco hatte gar keine andere Wahl, als sie zu schlucken. Doch kaum hatte er das getan, presste Alexander seinen Kiefer abermals auseinander und zwang ihn so auch die zweite Kugel zu schlucken.

Trotz allem konnte Draco den Geschmack wahrnehmen. Es schmeckte scharf und bitter und gleichzeitig war es so trocken, dass er glaubte daran zu ersticken.

Gleich darauf wurde sein Kopf abermals angehoben und erneut setzte Alexander ihm eine Flüssigkeit an den Mund. Dieses Mal trank Draco mehr. Er hoffte, dass es diesen Geschmack fortspülen würde.

„Das war ein Medikament.“, erklärte Alexander, als er den Becher abgesetzt hatte. „Es wird dir hoffentlich helfen, schneller gesund zu werden.“ Mit diesen Worten ließ er ihn allein zurück.

Draco starrte ihm hinterher. Er verstand noch immer nicht. Warum tat dieser Mann das? Er hasste ihn. Es war eine andere Art von Hass, als die, die er gegenüber Barrington empfand, aber dennoch konnte es nur dieses Gefühl sein. Selbst, wenn Alexander sein Leben vielleicht gerettet hatte, worum er ihn keinesfalls gebeten hatte, hasste er ihn. Alexanders arrogante Art machte ihn wütend und noch mehr hasste er sich selbst, dass er ihm ausgeliefert war.

Doch seine Augen... sie glichen ihren so sehr, dass er immer, wenn er ihn ansah, an sie denken musste. Und das ließ seinen Hass noch mehr wachsen.
 

Annie kehrte aus dem Garten zurück, den sie gerade besichtigt hatte – obwohl sie es nicht unbedingt als Garten bezeichnen würde. Wenn sie sich sehr anstrengte, dann konnte sie sich vielleicht vorstellen, dass es vor sehr langer Zeit einmal einer gewesen war, aber davon war nichts mehr übrig geblieben. Kniehohes Unkraut überwucherte die einst säuberlich angelegten Bete und von den eigentlichen Pflanzen, ganz gleich ob Blumen oder Kräutern, war nicht einmal mehr etwas zu erahnen. Jetzt, kurz vor dem Winter, würde sie nichts mehr ausrichten können, dachte sie traurig. Trotzdem war sie nicht entmutigt. Immerhin würde sie nun eine Aufgabe für das Frühjahr haben.

Nur was sollte sie bis dahin machen?

Bis sie in den Garten gegangen war, war die Schneiderin dagewesen, um die Kleider anzupassen. Maße hatte sie bereits vor vier Tagen genommen. Annie wusste nicht einmal genau, wie die Kleider aussahen. Sie hatte kaum in den Spiegel gesehen, als man sie ihr anprobiert hatte. Allerdings musste Barrington sich wohl furchtbar über die Kosten aufgeregt haben. Etwas was ihr ein klein wenig Schadenfreude bereitet. Er wollte sie schließlich präsentieren, wie ein seltenes Tier. Also würde er auch dafür aufkommen müssen. Vielleicht sollte sie einen Juwelier kommen lassen, der passenden Schmuck zu den Kleidern brachte.

Resignierend atmete sie aus. Als ob das irgendeine Bedeutung haben würde. Das Geld würde dann nur an wichtigeren Stellen fehlen, da war sich sicher. Also würde sie es lassen.

Aber irgendetwas musste sie doch tun, um ihre Gedanken zu beschäftigen und nicht jeden Augenblick mit Alexanders Besuch zu rechnen, nur um dann doch enttäuscht zu sein, wenn er wieder nicht kam. Dies war nun schon der fünfte Tag an dem sie ihn nicht mehr gesehen hatte. Hatte er Draco etwa noch immer nicht gefunden?

Sie könnte in die Küche gehen und sehen, ob man ihre Anweisungen schon befolgt hat?, überlegte sie. Als sie vor zwei Tagen das erste Mal nach unten gegangen war, um sich endlich ein wenig umzusehen, war sie auch in die Küche gekommen. Sie hatte nicht glauben können, was sie da gesehen hatte. Selbstverständlich war ihre winzige Kochstelle in ihrer Hütte nicht unbedingt die Sauberste gewesen, aber verglichen mit der von dieser Burg, war ihre geradezu tadellos. Sie konnte nicht glauben, dass zwischen diesem Dreck tatsächlich Essen zubereitet wurde. Ihr hatte sich der Magen umgedreht, als sie daran gedacht hatte, dass auch sie schon davon gegessen hatte. Sie hatte sofort Anweisung gegeben, alles zu säubern und die vergammelten Lebensmittel endlich zu entsorgen. Es war ein guter Zeitpunkt um nachzusehen, ob dem Folge geleistet wurde. Außerdem würde es helfen, dem Tag schneller seinem Ende ein Stück näher zu bringen.

Sie schritt über den Hof und zog ihren Winterumhang fester zusammen. Vor kurzem waren die Tage noch beinah heiß gewesen und nun hatten sich die Temperaturen so sehr abgesenkt. Das Wetter spielte in diesem Jahr wirklich verrückt. Bald würde es den ersten Schnee geben.

Sie richtete den Blick gegen Himmel und fragte sich einmal mehr, was wohl mit ihm geschehen war.

Annie wollte gerade den kleinen Seiteneingang nutzen, als sie hörte, wie sich das Tor öffnete. Sie warf einen flüchtigen Blick zurück und erwartete beinah Barrington zu sehen, obwohl sie wusste, dass er sich erst für den späten Abend zurückgemeldet hatte. Aber man konnte sich bei ihm nie sicher sein, ob er auch meinte, was er sagte. Doch augenblicklich blieb sie stehen, als sie einen großen stattlichen Reiter erblickte, den sie als ihren Bruder erkannte.

Sofort rannte sie zu ihm und sein Pferd kam direkt vor ihm zum stehen.

Kaum das er abgesetzte hatte, schloss sie ihn in die Arme. „Alexander!“, rief sie aufgeregt. Wenn er jetzt zu ihr kam, hatte er sicher Neuigkeiten für sie.

„Hallo, kleine Schwester.“ Annie ließ von ihm ab und sah ihm eindringlich in die Augen. Sie hoffte, dass er ihre Frage verstehen würde. Als er nickte, fiel eine so schwere Last von ihrem Herzen, dass sie glaubte zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig atmen zu können.

„Wo?“, fragte sie stumm. Doch Alexander schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über das Gelände schweifen.

Auf dem Hof befanden sich die üblichen Wachen und keiner befand sich ausreichend in ihrer Nähe, um ein Gespräch belauschen zu können, dennoch verstand Annie ihn.

„Komm mit mir. Ich freue mich, dich zu sehen. Möchtest du mit mir einem Tee trinken?“, fragte sie ihn mit gespielter Leichtigkeit und führte ihn zum offiziellen Haupteingang, damit jeder Alexander sehen konnte. Niemand sollte ihr Geheimniskrämerei nachsagen können – auch, wenn es vielleicht der Wahrheit entsprach.

„Sehr gern. Ist dein Gemahl auf der Jagd? Ich habe gehört in diesem Jahr soll es besonders viel Wild geben.“, fragte er anscheinend beiläufig, doch Annie entging auch der Sinn hinter dieser Frage nicht.

„Ja, er wird wohl erst bei Einbruch der Nacht zurück sein. Sie sind sehr erfolgreich.“ Sie nickte dem Mann, dem sie im Gang begegnet waren, höflich zu. Er hatte sie und ihren Bruder augenblicklich interessierter gemustert, als er es sonst getan hatte.

Nach dieser kurzen, unbedeutenden Unterhaltung sprachen sie nicht mehr miteinander, bis sie Annies Zimmer erreicht hatten. Annie gab der Kammerfrau eine kurze Anweisung ihnen Tee zu bringen. Dann schloss die Tür hinter sich und wollte Alexander am liebsten tausend Fragen auf einmal stellen.

„Wo hast du ihn gefunden?“, platze sie schließlich heraus.

„Auf einer Lichtung im Wald.“

„Auf einer Lichtung? Was für eine?“, fragte sie. Sie konnte sich nicht erklären, was er an so einem Ort machte.

„Das ist ja das seltsame. Ich war zwar schon lange nicht mehr in diesem Teil des Waldes, aber ich kann mich erinnern, dass es dort überhaupt eine Lichtung gab. Die Bäume sahen merkwürdig aus. Als hätte es einen heftigen Orkan gegeben, der sie geknickt hatte. Aber wir hatten in letzter Zeit nichts der Gleichen.“

Annie biss sich nervös auf die Zunge. Sie konnte sich nun sehr gut vorstellen, auf welcher Lichtung Alexander ihn gefunden hatte. Er war an jenen Ort zurückgekehrt, an dem alles begonnen hatte.

„Was hat er dort gemacht? Wie geht es ihm?“, fragte sie stattdessen weiter.

„Nun, dass... Annie...“ Alexander setzte sich auf einen der Stühle und rieb sich den Nacken. Er schien nicht recht zu wissen, wie er es ihr erklären sollte.

„Was?“ Ihre Stimme begann zu zittern. Das ihr Bruder zögerte verhieß gewiss nichts gutes. „Es geht ihm... besser.“, antwortete Alexander gleich, um sie zu beruhigen.

„Besser? Was ist denn passiert?“, flüsterte sie.

„Als ich ihn gefunden habe, muss er wohl schon ein paar-“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn und Annie ließ den Tee hereinbringen. Als sie sah wie behutsam sich die Kammerfrau bewegte, um auch keinen Tropfen zu verschütten, hätte sie ihr am liebsten das Tablett aus der Hand genommen und es selber erledigt. Es fiel ihr schwer sich zu beherrschen. Als die Frau gegangen war, sah Annie sofort wieder zu Alexander. „Nun erzähl schon!“, drängte sie ihn.

„Er muss schon ein paar Tage dort gewesen sein. Wahrscheinlich seit dem Tag an dem Barrington dich holte.“ Alexander sah sie abwarteten an, als wollte er überprüfen, ob sie von allein verstand.

Annie sah ihn verwirrt an. Sie konnte noch nichts schlimmes daran erkennen.

„Annie, du weißt dass die letzten Tage noch einmal besonders warm waren. Verstehst du denn nicht? Als ich ihn fand, lag er bereits drei Tage auf dieser Lichtung, der Sonne ausgeliefert. Er hatte weder gegessen noch etwas getrunken. Drei Tage lag er in der Sonne und hat nur darauf gewartet, bis er endlich sterben wird!“

Fassungslos sah sie ihren Bruder an, nicht in der Lage etwas zu sagen oder zu regieren. Ihr Mund stand weit offen, als wollte sie schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Sie merkte nicht, wie Alexander sich wieder erhob und sie nun ebenfalls zu einem Stuhl führte, und sie sich sogar setzte. Erst als ihr Bruder ihr direkt in die Augen sah, schien ihr Bewusstsein zurückzukehren.

„W-Wi-Wieso?“, stammelte sie.

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch nicht danach gefragt.“, antwortete Alexander leise.

„Woher weißt du, dass er st-sterb-sterben wollte?“, brachte sie heraus. „Vielleicht hast du dich geirrt.“, hoffte sie.

„Nein, ich habe ihn direkt danach gefragt. Er hat genickt.“ Annie wurde noch blasser, wenn dies möglich war und Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Warum?“, fragte sie entsetzt. Alexander legte ihren Kopf an seine Schulter und strich ihr sanft durch das Haar. „Mach dir jetzt keine Gedanken über das warum. Ich werde ihn fragen und es dir sagen. Wichtiger ist jetzt, dass es ihm besser geht. Ich habe in rechzeitig gefunden. Er wird schon wieder werden.“, murmelte er leise. Annie nickte kurz.

„W-Was ist noch passiert? Ich meine... was... wie...“

„Er hatte einen ziemlich heftigen Hitzschlag und ich glaube wirklich, dass ihm sein Wunsch erfüllt worden wäre, hätte ich ihn nicht noch am gleichen Tag gefunden. Als er zu sich kam und ich ihn in den Schatten gebracht habe, hat er sich übergeben müssen. Auch die Nacht hindurch ist er immer wieder aufgewacht. Er konnte kaum etwas trinken. Ich musste mit ihm im Wald bleiben und habe ihn erst am nächsten Tag zu mir gebracht.“

„Aber warum? Wenn es ihm wirklich so schlecht ging, dann hat ihn das doch noch mehr-“

„Ich weiß, aber ich konnte dort nichts für ihn tun. Außerdem sah es nach Regen aus und... Annie, kann ich ehrlich zu dir sein?“, unterbrach Alexander sie.

„Ja, natürlich.“, sagte sie und bereute es bereits.

„So groß war meine Wahl nicht. Ich hatte nur die Möglichkeit ihn irgendwie zu meinem Anwesen zu bringen und er wäre vielleicht unterwegs vor Anstrengung gestorben oder ich wäre mit ihm im Wald geblieben und dann wäre die Wahrscheinlichkeit noch geringer gewesen, dass er...“

Annie schluchzte heftig. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Sie konnte das alles nicht glauben. Er war doch so stark. Wie konnte er da...

„Was noch?“, fragte sie kaum hörbar weiter.

„Annie,...“, sagte Alexander sanft. „Er hat es geschafft und wird von mir und Susan versorgt. Er wird sich wieder erholen, da bin ich mir sicher. Mehr musst du wirklich nicht wissen. Du musst dich nicht unnötig quälen.“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich möchte es aber wissen. Was war noch mit ihm?“, drängte sie ihn.

„Die Sonne hat seine Haut auf der Brust verbrannt. Nicht sehr schlimm, da ihre Strahlen nicht mehr so kräftig waren und es ist nichts, wovon er sich nicht wieder erholen wird.

„Bis heute morgen hatte er hohes Fieber und Schüttelkrämpfe. Er war ziemlich oft bewusstlos. Wenn er wach war, gaben wir ihm etwas zu trinken, aber selbst jeden noch so kleinen Schluck hat er nach wenigen Stunden wieder erbrochen. Erst seit vorgestern Nacht scheint er es zu behalten.“, antwortet er ehrlich.

„Wie kannst du dann sagen, dass es ihm besser geht?“

„Es geht im besser. Seine Augen waren nicht mehr ganz so glasig, als ich heute früh nach ihm gesehen habe. Das ist ein gutes Zeichen.“

„Was ist jetzt mit ihm?“

„Er schläft, denke ich.“, antwortete er schlicht.

Abermals nickte sie, dann lehnte sie sich gegen seine Brust und schloss die Augen. „Wie hatte das passieren können?“, fragte sie mehr sich selbst, als ihren Bruder. „Er ist so stark. Er hat einen so festen Willen. Wie konnte er...“

„Woher stammen die Narben auf seinem Rücken?“, fragte sie Alexander plötzlich.

Annie zögerte, ob sie antworten sollte. Aber das war ja wohl das mindeste, was sie tun konnte.

„Deswegen war er bei mir.“, antwortete sie kurz.

Alexander hielt sie noch einen Moment in den Armen und Annie war mit ihren Gedanken nur bei ihm. Erst ein Seufzen ihres Bruders brachte sie zurück.

„Was ist?“, fragte sie ihn.

„Nichts...“, antwortete er ausweichend. „Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert, was er zu mir gesagt hat, als ich mit ihm allein im Wald war, kurz bevor... Ich weiß nicht, ob er wirklich so stark ist. Anscheinend kann er es wirklich nicht.“, sagte Alexander leise in ihr Haar.

„Was kann er nicht?“, fragte Annie weiter. „Verschweigst du mir etwas?“

„Nein. Es ist etwas, von dem ich denke, dass du es nicht wissen solltest und es hat gewiss auch nichts mit dir zu tun.“

„Aber Alexander, ich muss es wissen.“, forderte Annie ihn auf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn ihr Leben davon abhinge.

„Ich werde es dir nicht verraten. Es ist nicht so wichtig.“

„Du willst ein Geheimnis vor mir haben?“, fragte sie tonlos.

„Du weißt, dass ich das nicht will. Aber ich denke dennoch, dass es nicht mehr wichtig ist. Es würde nichts ändern, verstehst du?“

Zaghaft nickte sie. Annie wusste, dass er seine Meinung in solch einer Situation auch nicht mehr ändern würde.

„Kann er bei dir bleiben?“, fragte sie ihn anschließend.

„Ja, wenn das möchte. Ich denke ehrlich gesagt nicht, dass wir noch gute Freunde werden, nachdem ich ihn so... gesehen habe. Er scheint sehr stolz zu sein.“

Nun musste sie sogar ein wenig Lächeln. „Ja, das ist er, sehr sogar. Was hast du ihm an Medizin gegeben?“

„Ein Honig-, Fenchel – und Anisgemisch, um seinen Magen zu beruhigen und hauptsächlich Fenchel- und Anistee. Deswegen wird er mich nun noch weniger mögen, als vorher. Er hat es nicht gerade freiwillig genommen.“ Auf Alexanders Gesicht erschien plötzlich ein breites Grinsen.

„Was hast du gemacht?!“, fragte Annie allarmiert.

„Nichts, ich musste nur ein bisschen nachhelfen.“, sagte er und sein Grinsen wurde noch breiter.

„Er wird dich hassen.“

„Du weißt, dass mir das egal ist.“, erwiderte er trocken. Wieder musste sie lächeln, doch schnell zerfiel es wieder. Alexander zog sie abermals in seine Arme. „Ich danke dir.“, flüsterte sie gebrochen.

„Ich hätte es für jeden getan, aber für dich ganz besonders. Das weiß du.“

Dann begann sie zu weinen und ließ es eine ganze Zeit lang geschehen. Sie wusste nicht, ob sie glücklich darüber sein sollte, dass Alexander ihn gefunden hatte oder unglücklich, dass es Draco offenbar so schlecht ging.

Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, bat sie ihren Bruder ihr etwas von Susan und vor allem von Sophie zu erzählen. Annie wusste, dass sie, wenn Alexander erste einmal gegangen war, ohnehin nur an Draco denken würde. Sie würde sich dann noch genug Sorgen machen.
 

„Ich sollte jetzt wieder gehen.“, sagte Alexander, als die Sonne sich langsam gen Horizont senkte. Der Tee war getrunken und die Kanne war fast leer.

„Ja, er wird bald zurück sein.“, erwiderte Annie bedrückt.

„Deswegen doch nicht.“, sagte er und klang dabei ein wenig entrüstet. „Ich möchte Susan nicht so lange mit ihm allein lassen. Sie kann sich nicht so gut… durchsetzen wie ich.“ In seiner Stimme lag ein Schmunzeln.

„Ich verstehe schon. Aber bitte provozier ihn nicht zu sehr. Versprich es mir.“

„Natürlich nicht. Wir werden schon mit einander auskommen. Mach dir keine Gedanken.“

Alexander stand auf und ging durch das Zimmer. Dabei blieb sein Blick an den Kleidern hängen, die noch ausgebreitet auf ihrem Bett lagen. Barrington wollte sie sehen, wenn er zurück war.

„Sehen ziemlich teuer aus.“, bemerkte er und rieb den Stoff zwischen seinen Fingern. „Ich wusste nicht, dass dir so etwas gefällt.“

„Um ehrlich zu sein, ist es mir egal. In fast drei Wochen soll der Hochzeitszug sein. Er will mich seinem Volk präsentieren.“, stieß sie bitter aus.

„Ich werde da sein.“, erwiderte Alexander gleich und Annie fiel ihm abermals in die Arme.

„Danke. Es wäre schön dich dort zu wissen.“ Annie hielt die Umarmung noch einen Moment länger und flüsterte dann: „Ich möchte ihn gern sehen.“

„Ich weiß. Aber wir wissen beide, dass es besser ist, wenn du das nicht tust.“

Ergeben nickte sie.

„Richte Susan meine Grüße aus und sag Draco,... nein, sag ihm nichts.“

„Das werde ich. Bis bald.“, verabschiedete er sich.

Als Annie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ging sie zum Fenster und nach einer Weile sah sie, wie ihr Bruder den Hof verließ. Wieder fühlte sie sich schrecklich einsam. Dennoch war die Unruhe, die sie in den letzten Tage ergriffen hatte nicht mehr so stark. Er war noch in ihrer Nähe, er war jetzt bei Alexander und er würde sich wieder erholen. Daran glaubte sie ganz fest.

Seltsam, dachte sie. Vor genau einem Jahr war es ihm genauso schlecht gegangen. Auch damals hatte er Fieber gehabt, doch es war hauptsächlich wegen dem gewesen, was sie aus ihm gemacht hatte. Was hatte ihn diesem Mal so sehr verstört?

Sollte es wirklich ihre Trennung gewesen sein? Oder war es viel mehr, weil auch seine letzte Hoffnung wieder zu einem Drachen zu werden, nicht erfüllt worden war?

Ein Jahr... Dieses Wort kam ihr so furchtbar lang vor, dabei hätte sie meinen können, es wäre erst vor wenigen Tagen gewesen, dass sie dieses verletzte Wesen gefunden hatte. Sie sah die riesige Gestalt des Drachen vor sich und dachte dann an Dracos Gesicht. Auch wenn Draco glaubte, sein altes Selbst wäre verschwunden, so wusste sie es besser. Es gab Züge an ihm, die verrieten was er wirklich war. In der letzten Nacht, in der sie sich so sehr geliebt hatte, hatte sie es gesehen. Die Magie, die von jenem Wesen ausging. Er hatte ihr einen winzig kleinen Teil davon gezeigt.

Deswegen durfte Barrington ihn niemals sehen.
 

Ein Geräusch weckte ihn. Das Holz knarrte unter den Füßen dieser Menschen. Es hörte sich viel zu laut in seinen Ohren an. Sie war nie so laut gewesen, dachte er kurz.

Mühsam schlug Draco die Augen auf. Es war anscheinend wieder dunkel. Oder waren es doch nur seine Augen, die ihm wieder einen Streich spielten?

„Susan sagte, du hättest am Mittag wieder nichts zu dir genommen.“, hörte er Alexanders Stimme, die sich ihm näherte. Statt zu antworten, schloss er die Augen und wollte sich in den Schlaf zurückfallen lassen. Er wusste sehr genau, wann er sich das letzte Mal so gefühlt hatte und er wusste, was dann aus ihm geworden war. Welches Leben würde ihn hiernach erwarten? Musste es ein Leben danach geben?

Ein Rütteln an seiner Schulter riss ihn zurück.

„Du musst endlich etwas trinken, um wieder zu Kräften zu kommen. Schlafen kannst du später noch.“, brummte Alexander.

Müde schüttelte Draco den Kopf. Die Mühe konnte er sich sparen. Er fühlte sich als könnte er nie wieder etwas essen. Allein bei dem Gedanken daran, wurde ihm wieder schlecht. Er hatte das was man ihm gab, zu oft erbrochen. Er wollte nie wieder trinken oder essen.

„Susan sagte, dass du dich heute wieder nicht übergeben hast. Stimmt das?“, fragte Alexander weiter.

Kurz nickte er, mehr schaffte er nicht.

Für einen Moment glaubte Draco Alexander würde ihn wieder zwingen. In seinen Zustand wäre es ihm ein leichtes gewesen. Doch im gleichem Moment hörte er Alexander genervt ausatmen.

„Ich fange langsam an, dich wirklich zu hassen.“, stieß Alexander wütend aus. Draco öffnete die Augen und erwiderte den Blick, den Alexander ihm zuwarf. Er war verachtend und kalt. „Ich habe noch nie etwas so erbärmliches wie dich gesehen. Kein Wunder, dass du allein nicht überleben kannst. Ich hätte dich wirklich dort liegen lassen soll. Dann hättest du wenigstens noch als Futter für die Wölfe gedient.“

„Warum hast du es nicht getan?“, fragte Draco schwach. Was interessierte es ihn, was dieser Mensch von ihm dachte? Es war ihm gleich. Er hatte sich selbst und das was er am meisten begehrte verloren. Alles was er gewollt hatte, war sterben. War selbst das zu viel verlangt? War seine Strafe denn noch nicht schon genug? Gehörte das elende Leben, dass er nun fristet, dazu?

„Weil sie mich darum gebetet hat!“

Augenblicklich schien Draco hellwach zu sein. Der Schwindel und die Schmerzen in seinem Kopf verschwand schlagartig unter der Bedeutung, die Alexanders Worte in sich bargen.

„Ja, ganz recht. Annie macht sich selbst jetzt noch Sorgen um dich. Ich frage mich, womit du das verdient hast! Wer bist du, dass sie dich so sehr liebt? Sie ist mit ihren Gedanken immer nur bei dir, während du in deinem Selbstmitleid dahinvegetierst.“

Unbeeindruckt sah Draco sein Gegenüber an und rührte sich nicht. Doch sein Herz schlug allein bei der Erwähnung ihres Namens schneller. Er hatte sie gesehen? Er hatte mir ihr gesprochen? Wann? Wo?

„Ich würde dich augenblicklich sterben lassen, aber ich habe ihr versprochen, mich um dich zu kümmern. Also werde ich dafür sorgen, dass du weiter lebst, ob es dir nun gefällt oder nicht!“ Mit diesen Worten ging Alexander wieder aus dem Zimmer. Draco glaubte nun endlich Ruhe vor ihm zu haben, doch wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür erneut und dieses Mal trug er eine Schüssel in der Hand. Allein schon bei deren Anblick verkrampfte sich alles in ihm.

Wortlos stellte Alexander die Schüssel auf den kleinen Tisch neben seinem Bett und zog sich dann einen Stuhl heran. Draco beobachtete ihn stumm und fragte sich einmal mehr, was er damit bezweckte. Annies Bruder rieb sich über das Gesicht und begann dann erst zu sprechen.

„Annie, sagte, dass du verletzte warst, als sie dich fand und dass die Narben auf deinem Körper davon stammen, ist das wahr?“ Es fiel ihm offenbar schwer, ruhig zu sprechen, denn seine Stimme klang gepresst.

Was will er?, fragte sich Draco abermals. Er verstand ihn nicht. War er wirklich genauso wie seine Schwester?

„Wann war das?“

„Vor einem Jahr?“

„ Vor ungefähr einem Jahr... und den-“

„Nein, es war genau vor einem Jahr.“, wiedersprach Draco ihm und schloss abermals die Augen. Er wollte nur schlafen. Aber das würde ihm Alexander wohl nicht gönnen. Er machte keinerlei Bewegung, die darauf schließen ließ, dass das Gespräch bald vorbei war.

„Vor einem Jahr, also? Warum hast du es dann nicht in diesem einem Jahr geschafft für dich selbst zu sorgen? Warum bist du so lange bei ihr geblieben? Hast du keine Familie?“

Draco schüttelte den Kopf. Das Gespräch strengte ihn an. Worauf wollte er nur hinaus?

„Warst du schwer verletzt?“

Dieses Mal legte sich ein spöttischen Lächeln auf seine Lippen. Was für eine dumme Frage.

„Wie man es nimmt.“, antwortete er schließlich ausweichend. Er spürte kaum noch, wie sich seine Lippen bewegten und die Worte seinen Mund verließen. Nicht einmal der Gedanke an sie, vermochte ihn wach zu halten.

„Hättest du sterben können?“, fragte Alexander unerbittlich weiter. Draco hört seine Stimme kaum noch. Der Schlaf holte ihn immer weiter zu sich.

„Ja.“, flüsterte er.

„Und Annie hat sich gefunden und dir das Leben gerettet.“

„Ja.“

„Wie lange warst du krank.“

Draco antwortete nicht. Sein Geist, war fast vollständig wieder in das wohlwollende Nichts zurückgekehrt.

„Ich habe Annie heute gesehen.“

Abrupt riss er sich aus dem Nichts zurück und öffnete die Augen.

„Ach, so geht das also?“, sagte Alexander und auf seinen Lippen zeigte sich ein Lächeln, welches Draco ihm am liebsten vom Gesicht gekratzt hätte.

„Was. Willst. Du?“, fragte er endlich mit bebender Stimme. Die Wut schien ihm einen Teil seiner Kraft zurückgegeben zu haben.

„Dass du am Leben bleibst!“, stieß Alexander aus. „Nicht für mich! Und auch nicht für dich, aber wenigstens für sie! Annie hat dir vor einem Jahr das Leben gerettet. Sie hat sich für dich aufgeopfert. Selbst als du wieder genesen warst, hat sie sich um dich gekümmert, dir ein Dach über den Kopf gegeben und täglich für eine warme Mahlzeit gesorgt. Und nun willst du das Leben, welches sie versucht hat zu erhalten und zu beschützen einfach so wegwerfen? Nur weil du glaubst, ohne sie nicht zurecht zu kommen? Das ist erbärmlich.

Ja, ich war heute bei ihr. Sie hat mich darum gebeten, dass du bei mir und Susan bleiben kannst, obwohl sie weiß, wie wenig ich von dir halte! Ich habe zugestimmt – für sie! Weil dass das einzige ist, was sie im Moment glücklich machen kann!“

Er atmete einmal tief durch, um sich abermals zu beruhigen. „Sie macht sich sorgen um dich. Sie will das du lebst. Ist es wirklich so schwer ihr diesen Wunsch zu erfüllen?“

„Du hast keine Ahnung.“, sagte Draco schließlich und drehte den Kopf weg.

„Mag sein. Dann erzähle es mir doch. Wenn ich es verstehe, lass ich dich vielleicht krepieren, wie du es willst. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, dass du weiter lebst – egal mit welchen Mitteln.“, drohte er ihm..

Wieder sah Draco ihn an. „Nein.“, antwortete er kurz. Der kurze Moment, indem die Wut ihm Kraft verliehen hatte, war verschwunden und die Müdigkeit überkam ihn erneut.

Alexander ging zur Tür. „Ich werde dafür sorgen, dass du lebst. Ich will meiner Schwester das nächste Mal nicht sagen müssen, dass du so erbärmlich warst und das Leben, was sie gerettet hat, einfach weggeworfen hast. Ich gebe dir noch diese Nacht die Gelegenheit, um es dir anders zu überlegen oder ich bringe dich mit Gewalt dazu.“

Mit diesen Worten verließ Alexander den Raum. Zornig starrte Draco ihm hinterher. Sein Blick fiel auf die Schüssel, die Alexander mitgebracht hatte. Einige Augenblicke starrte er darauf, unentschlossen was er tun sollte. Er wusste, dass Alexander seine Drohung war machen würde und es würde ihm gelingen. Daran hatte er nicht den geringsten Zweifel.

Er hasste diesen Zustand seines Körpers.

Doch allein der Geruch des Gebräus schreckte ihn ab. Er konnte unmöglich mehr davon trinken.

Erbärmlich, das war das Wort, welches Alexander gebraucht hatte und auch, wenn Draco dessen Bedeutung nicht ganz verstand, wusste er, dass es ihn wohl am besten beschrieb. Was war aus ihm geworden?

Draco spannte die Muskeln in seinem Körper an, als sich sein Magen vor Wut abermals zusammenzog und ihm dadurch noch mehr Schmerzen bereitete.

Er tat ein paar tief und ruhige Atemzüge.

Was wollte er?

Was wollte sie?

Sie wollte dass er weiter lebte. Das hatte Alexander gerade gesagt und Alexander wollte es für Annie. Aber warum sollte er genauso denken? Was brachte ihn ein neuer Morgen, wenn er wusste, dass der Tag genauso wie jeder andere, ohne sie enden würde?

Würde sie mit seinem Weiterleben wirklich glücklicher sein? Könnte er ihr damit eine Sorge nehmen? Wie lang würde sein Leben dann sein? Plötzlich erschien ihm selbst ein Menschenleben wie eine Ewigkeit.
 

Es war morgen. Zumindest vermutete Draco dies, als er das nächste Mal die Augen öffnete. Die Sonne schien durch das Fenster und war hell und warm. Als hätte er es geahnt, ging die Tür abermals auf und Alexander trat ein. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er die Schüssel, die er dieses Mal mitgebracht hatte, auf den Tisch. Die andere war verschwunden, realisierte Draco schnell. Dann trat Alexander an ihn heran und setzte Draco wie eine Puppe auf.

Wie sehr er es verabscheute. Seine blauen Augen funkelten sein Gegenüber an, doch dieser schaute nur gleichgültig zurück.

„Wie hast du dich entschieden? Lebst du freiwillig oder muss ich dich dazu zwingen?“

Hatte er sich entschieden? Er wusste es nicht. Gestern war er eingeschlafen, noch bevor er eine Antwort hatte finden können.

„Wie geht es ihr?“, fragte Draco leise, anstatt auf Alexanders Frage zu antworten.

„So gut es ihr dort gehen kann.“, antwortete Alexander und nahm die Schüssel in die Hand.

„Ist sie glücklich?“, fragte Draco weiter und starrte weiterhin gerade aus. Alexander hielt ihm die Schüssel hin, doch Draco sah es nicht.

„So kann man es nicht unbedingt sagen, nein. Aber er hat Sophie und ihre Familie gehen lassen. Morgen werden sie das Land verlassen. Ich werde sie begleiten, deswegen wird sich Susan um dich allein kümmern. Ich rate dir, es ihr nicht schwerer als nötig zu machen.“

„Hast du keine Angst mich mit deiner Frau allein zu lassen?“ Dracos Gesicht war ausdruckslos und er selbst fühlte sich merkwürdig taub. Da war nicht mehr der Schmerz über ihren Verlust oder die Wut, ihm ausgeliefert zu sein. Da war nur noch ein dumpfes Gefühl. Es war besser als alles andere.

„Würdest du ihr etwas antun?“, fragte Alexander gerade heraus.

„Ich kann ja nicht mal allein aufstehen.“, antwortete er bitter.

„Nimmst du jetzt die Schüssel oder nicht?“, fragte Annies Bruder und beide wussten, dass es das letzte Mal sein würde, dass er ihn so höflich fragte. Alexander legte ihm die Schüssel in die Hände und schloss seine Finger darum. „Versuch es allein, sonst werde ich nachhelfen.“

Draco starrte ihn die Flüssigkeit. Sie war fast klar, nur ein paar vereinzelte Kräuterblätter schwammen an der Oberfläche. Auch roch es anders, als das, was Alexander ihm gestern gebracht hatte. Aber er konnte es nicht benennen. Der Geruch war wohltuender. Sein Gesicht spiegelte sich in der glatten Oberfläche. Seit Tagen war es das erste Mal, dass er sich selbst sah. Sein Gesicht erinnerte ihn an Annies, als es ihr so schlecht gegangen war. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, seine Wangenknochen standen hervor, die blauen Augen, waren trüb und die Lippen blass und aufgerissen.

Erbärmlich, kam ihm als erstes in den Sinn.

„Würde sie glücklich sein, wenn ich lebe?“, wisperte er schließlich.

„Das versuche ich dir doch die ganze Zeit klar zu machen. Ihr Leben mag dort, wo sie jetzt ist, nicht gut sein, aber sie... könnte besser leben, wenn sie wenigstens wüsste, dass es dem, den sie so sehr liebt, gut geht. Dein Wohl ist ihr am wichtigsten.“

Draco nickte kurz. Er hatte verstanden.

„Ich will sie sehen.“, sagte er leise.

„Ja, sie dich auch.“, antwortete Alexander und setzte sich abermals auf den Stuhl vor Dracos Bett. „Aber es wäre... nicht klug. Barrington könnte dahinter kommen.“

Bei der Erwähnung dieses Namens hob Draco kurz den Kopf und sah Alexander direkt an.

„Ich will stärker werden.“

„Warum?“, fragte Alexander sichtlich überrascht, über diese plötzliche Wendung.

„Ich will nicht mehr schwach sein. Ich will mich nicht vor ihm verstecken müssen, wenn er mich noch einmal findet.“

„Er? Wer? Barrington? Sucht er nach dir?“, fragte Alexander.

„Ich will stärker werden.“, wiederholte Draco und starrte wieder, wie gebannt, auf die Flüssigkeit vor ihm. Das dumpfe Gefühl verschwand und etwas neues schien ihn ihm zu erwachen. Etwas von dem er schon lange geglaubt hatte, dass es gestorben sei.

Er hasste die Schwäche dieses menschlichen Körpers. Irgendwann, wenn die Zeit gekommen war, würde er diesem Mann noch einmal gegenüberstehen. Und dann würden das beenden, was er vor einem Jahr begonnen hatte. Doch in diesem schwachen Körper konnte er nichts ausrichten. Er war noch zu unerfahren.

„Ich kann dir das Reiten beibringen und den Umgang mit dem Schwert.“, erwiderte Alexander kurz darauf. Er ließ es erst einmal dabei bewenden.

Ohne zu antworten, setzte Draco die Schüssel an die Lippen. Jetzt erkannte er den Geruch. Annie hatte es Kamille genannt.

Er trank zwei Schluck auf einmal. Ein Fehler wie er schnell merkte. Er musste heftig husten und dann schlucken, um es bei sich zu behalten. Wann würde es aufhören?

„Du solltest nicht so schnell trinken. Ich geh wieder. Die Pferde brauchen Heu.“, murmelt Alexander bereits am Hinausgehen. „Wenn ich zurück bin, will ich, dass die Schüssel leer ist.“, sagte er dann etwas lauter.

„Es war die falsche Frage.“, sagte Draco auf plötzlich und starrte immer noch auf die Flüssigkeit in seinen Händen. Dennoch nahm er wahr, wie Alexander kurz innehielt.

„Was?“, fragte dieser irritiert und drehte sich abermals um.

„Es war die falsche Frage.“ Mehr sagte Draco nicht und setzte die Schüssel abermals an.

Verwirrt verließ Alexander das Zimmer.

Der Festumzug

Annie stand in ihrem Zimmer und betrachtete desinteressiert die Winterrobe, die man ihr angelegt hatte. Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht darüber gefreut, doch nun spürte sie nicht mehr als den schweren Stoff, der auf ihren Schultern lastete. Nein, es war nicht nur der Stoff.

Träge hob sie den Arm und zuckte schmerzvoll zusammen. In dieser Nacht hatte er sein Recht gleich fünfmal gefordert. Oder war es doch mehr gewesen? Sie erinnerte sich nur wage daran, dass es hin und wieder plötzlich dunkel um sie herum geworden war. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann das Bewusstsein verloren. Ihr Körper verwehrte sich immer mehr gegen diesen Mann. Schon allein bei dem Gedanken an ihn schien alles in ihr zu zerbrechen. War sie am Anfang noch gegen die Vorstellung, so wünschte sie sich jetzt beinah verzweifelt ein Kind unter ihrem Herzen zu tragen. Natürlich wusste sie nicht, ob er auf sie oder das Kind Rücksicht nehmen würde, aber vielleicht konnte sie doch darauf hoffen, wenn vielleicht einer der Ärzte...

Nein, daran konnte sie nicht glauben. Niemand würde es wagen sich gegen Barrington zu stellen. Und was würde sein, wenn das Kind einmal geboren war? Würde er sich dann zufrieden geben? Wohl kaum. So vulgär, wie er von ihrem Körper sprach, würde er sie niemals in Ruhe lassen.

Wenn nun aber ihr Körper, nicht mehr so... ansehnlich war, wenn er entstellt wäre... was würde er dann tun? Würde er dann von ihr lassen? Wie konnte sie das erreichen?

Der Gedanke erschreckte sie. Soweit hatte dieser Mensch sie also schon getrieben. Wie lange konnte sie noch durchhalten?

War ein Kind wirklich ihre einzige Hoffnung? Wenn sie ihm gleich einen Erben schenkte, würde er sein Recht vielleicht nicht mehr so oft einfordern. Vielleicht... Aber was, wenn es kein Junge würde? Was, wenn es ein Mädchen wäre? Würde er dann ihr die Schuld geben? Annie konnte sich dies nur allzu gut vorstellen. John Barrington war nach eigener Ansicht unfehlbar.

Fast hätte sie bitter aufgelacht bei dieser Vorstellung. Wie eingebildet und verblendet dieser Mann doch war. Er war ein Nichts, der nur durch Mord und Intrigen diese Position bekommen hatte und dennoch musste sie sich ihm beugen. Nicht für sich, aber für andere.

Heute war es so weit, dachte sie kurz. Heute würde Sophie das Land verlassen. Sie betete, dass alles gut gehen möge. Alexander würde schon dafür sorgen, dessen war sie sich sicher. Barrington war nicht zur Jagd aus, sondern beriet sich mit diesem widerlichen Semerloy in einem der unteren Säle. Außerdem hatte Alexander von einer Verkleidung gesprochen. Es würde sie also niemand erkennen und sobald sie auch nur einen Fuß über die Nachbargrenze gesetzt hatte, würde sie in Sicherheit sein.

„Ist es ihnen auch nicht zu eng?“, wurde Annie aus ihren Gedanken gerissen, als man ihr gerade ein Mieder angelegt hatte.

„Wie? Nein.“, antwortete sie kurz. Dann sah sie wieder zum Fenster und hoffte, dass dieser Tag – genau wie die vorherigen – schnell vorüber gehen würde.
 

Die Tür öffnete sich und Draco sah, wie Susan eintrat. Zuerst war er ein wenig überrascht, hatte er sie bisher nur selten gesehen.

„Alexander hilft heute Sophie über die Grenze zu gelangen.“, schien sie seine unausgesprochene Frage zu beantworten.

Draco nickte kurz. In der Hand trug sie eine Schüssel und er ahnte, was sich darin befinden würde. Er hatte nichts mehr erbrochen und er war ehrlich froh darüber, aber diese Kräutermischungen ekelten ihn langsam an. Bei jedem Schluck hatte er das Gefühl sich allein deswegen schon übergeben zu müssen, weil er es zu trinken einfach nicht mehr ertragen konnte.

In der anderen Hand trug Susan einen Korb. Sie stellte die Schüssel auf dem Tisch ab. Den Korb daneben.

„Ich würde gern die Verbrennungen ansehen und vielleicht noch mal einen neuen Verband anlegen.“, erklärte sie ihm. „Die alten kribbeln bestimmt schon unangenehm.“

Draco sah sie misstrauisch an. Woher wusste sie das? Die heilende Haut unter den Verbänden spannte sich. Es war ihm beinah unerträglich und doch konnte er dieses Brennen und Kribbeln nicht stillen. Jede Berührung schien ein neues Feuer auf seiner Haut zu entfachen. Er hatte bisher nicht gewusst, dass die Sonne so etwas vermochte. Der Mond war so viel kühler und angenehmer, so viel schöner und mächtiger, dachte er kurz.

„Darf ich?“, fragte Susan ihn nun und deutet auf das viel zu große Hemd, welches er trug. Es war eines von Alexander. Im gleichen Moment berührte sie es und wollte ihn entkleiden. Blitzschnell packte Draco sie am Arm und funkelte sie aus seinen blauen Augen an. Er konnte die Angst in ihrem Blick sehen. Es bereitet ihm eine gewisse Genugtuung.

Sie hatte nicht das Recht so vertraut mit ihm umzugehen, dachte er. Wieso nur, musste er dies über sich ergehen lassen? Warum war er nicht stärker? Wie hatte er es dazu kommen lassen? Dass es zum Teil wirklich seine eigene Schuld war, machte ihn noch wütender auf sich selbst.

Susan und Draco sahen sich einen Moment in die Augen, abwartend was der andere tun würde. Dann änderte sich ihr Blick und er gewann den Eindruck, dass sie ihn überlegen ansah.

„Ich kann verstehen, wenn du nicht möchtest, dass ich es tue.“, sagte sie ruhig. Wachsam folgte er ihren Bewegungen. Sie ging wieder zum Korb und legte ein paar Sachen nach draußen, während sie sprach. Es waren ein Glas mit einer gelben Salbe darin, sowie ein Krug und einer weitere Schüssel. Dazu ein paar frische Leinentücher, wie er sie bereits jetzt um seinen Körper trug und die ihn sich so unwohl fühlen ließen. „Das ist vollkommen in Ordnung. Alexander sagte er würde sich auch darum kümmern, wenn er zurück ist. Du musst also noch ein bisschen Geduld haben. Es wird wohl erst heute Abend werden.“, sprach sie scheinbar unbeteiligt.

Wenn er gekonnt hätte, hätte er diesen Mann in der Luft zerrissen. Noch nie hatte er sich seine alte Gestalt so sehr zurückgewünscht, wie ihn jenem Moment.

Natürlich war ihm nur zu bewusst, was Susans Worte bedeuteten und erst recht, was sie bezweckten. Dass es ihr damit auch noch gelang, frustrierte ihn noch mehr.

Ohne ein Wort zu sprechen, zog er sich das Hemd über den Kopf. Achtlos warf er es in die nächste Ecke des Raumes. Seine Wut ließ ihn den Schmerz vergessen, den er bei dieser Bewegung empfunden hatte. Ganz egal, wie sehr Annie ihren Bruder liebte, er hasste ihn. Er benutzte und steuerte ihn und er konnte nichts dagegen tun. Irgendwann, würde er es ihm zurückzahlen. Ganz gleich, was er Annie damit antun würde.

Starr blickte Draco nach unten, als Susan begann die Verbände von seinem Körper zu lösen. Die Salbe war angetrocknet und es ziepte etwas. „Tut mir ehrlich leid.“, sagte sie schließlich leise. „Wir wollen dir nichts Böses und ganz bestimmt wollen wir dich nicht demütigen. Wir wollen dir helfen, aber... du machst es uns nicht gerade einfach. Alexanders Methoden sind vielleicht nicht gerade die sensibelsten, aber er meint es gut mit dir. Nicht nur allein deswegen, weil du Annie sehr viel bedeutest.“

Er antwortete ihr nicht, obwohl er ihre Worte sehr genau verstand. Sollte er das vielleicht glauben? Er kannte Alexanders Gesichtsausdruck, wenn er bei ihm war nur zu gut. Draco wusste, dass er die Macht, die er momentan ihm gegenüber hatte, auch genoss.

„Lehn dich zurück.“, sagte Susan und Draco tat wie ihm gehiesen.

Er beobachtete, wie sie die zweite Schüssel nahm, die sie mitgebracht hatte und Wasser aus dem Krug einfüllte. Offenbar waren darin Kräuter gekocht worden, denn es sah seltsam gelblich oder grünlich aus. Dann nahm sie eines der Leinentücher und tauchte es in die merkwürdige Mischung. Sie ließ es einige Sekunden lang einwirken, bevor sie das Tuch wieder ausrang.

„Das wird sicherlich etwas kalt, erschreck bitte nicht.“, sagte sie sanft, als sie ihm das Tuch auf die Brust legt. Kurz zuckte Draco zusammen, spürte dann aber, wie angenehm sich die Kälte gegen die Hitze, die auf seiner Haut zu sitzen schien, ausbreitete.

„Es sieht schon besser aus. Nur noch einmal, dann ist es fast vollkommen verheilt. Ein paar Narben werden wohl trotzdem bleiben, aber nur sehr kleine. Im Vergleich mit denen, die du schon hast, werden sie fast unsichtbar sein.“

Draco hörte ihr nur zur Hälfte zu. Er war zu gefangen den Gefühlen, die ihre Berührungen in seinem Inneren auslösten. Sein Verstand wusste, dass es noch nicht lang her war, als er SIE das letzte Mal in die Armen gehalten hatte, als SIE ihn das letzte Mal zärtlich berührt hatte. Doch für sein Herz schien es bereits eine Ewigkeit gewesen zu sein. Mit Susans Berührungen war eine solche Sehnsucht nach IHR erwacht, wie er sie vorher noch nicht gekannt hatte. Er wollte SIE berühren, wollte SIE küssen und seine Lippen auf ihrem Körper setzen.

Draco spürte, wie sie aufhörte ihm mit dem Tuch abzutupfen und augenblicklich entspannte er sich kurzzeitig. Dann begann sie ihn mit der Salbe einzureiben. Er spannte den Kiefer an und seine Zähne schmerzten schnell. Draco tat alles um sich nicht vom dem Traumbild, das er nur zu bereitwillig glauben wollte – das Annie es war, die ihn berührte – in die Irre führen zu lassen.

„Tue ich dir weh?“, fragte Susan. Kurz schüttelte er den Kopf. Nein, es war seine eigene Dummheit, die ihm einen Streich spielte.

„Setzt dich bitte wieder auf.“ Schweigend legte Susan die neuen Verbände an und Draco war es, als würde es schneller gehen als zuvor. So würde sie sich nicht länger in seiner Nähe aufhalten. Er ließ es nur über sich ergehen, weil er wusste, dass es den Heilungsprozess beschleunigte. Würde er es nicht tun, würde es ihn nur noch länger an die Hilfe dieser Menschen fesseln.

Als Susan geendet hatte, legte sie die Sachen wieder in ihrem Korb und reichte Draco im Anschluss die Schüssel. Ohne hinzusehen, nahm er sie. „Ich habe dir heute Fleischbrühe gemacht. Versuch sie zu trinken, aber zwing dich nicht. Anders als Alexander glaube ich, dass es dir helfen wird, wieder schneller zu Kräften zu kommen. Außerdem kannst du bestimmt versuchen aufzustehen. Eventuell gelingen dir auch schon ein paar Schritte. Das Hemd nehme ich zum Waschen mit. Zieh das hier an. Ich habe es bereits geändert.“

Stumm nickte er, nicht wissend, wie er darauf reagieren sollte. Die Menschen waren ihm einfach ein Rätsel und würden es wohl immer bleiben. Er selbst, war sich das größte.
 

Die Fleischbrühe hatte ihm gutgetan und er glaubte zu spüren, wie sie ihm neue Kraft gab. Als er am Nachmittag erwachte, fühlte er sich so erholt, wie schon lange nicht mehr. Gleich versuchte er aufzustehen. Seine Beine waren noch zittrig, aber er schaffte es sich aufzurichten. Er konnte nicht umhin zu denken, dass es fast genauso war, wie das erste Mal, als er auf diesen menschlichen Beinen gestanden hatte. Damals hatte sie ihm geholfen. Jetzt würde er es aus eigener Kraft schaffen. Es fiel ihm schwer das Gleichgewicht zu halten, aber er schaffte die wenigen Schritte bis zum Tisch. Anscheinend musste er doch nicht von vorn beginnen. Mit den Händen am Tisch abstützend, bewegte er vorsichtig den Nacken und drückte den Rücken durch. Das Liegen bekam seinem Körper nicht und quälte ihn nur noch mehr. Selbst, wenn Susan es ihm nicht „geraten“ hätte, hätte er es wahrscheinlich versucht. Jetzt da er wusste, was er wollte und sich von Tag zu Tag besser fühlte, konnte er nicht länger im Bett liegen bleiben. Es war an der Zeit selbst zu entscheiden was als nächstes geschehen sollte.

Die Stunden vergingen und der Tag zog sich scheinbar endlos für ihn hin. Er blieb in seinem Zimmer und ging hin und wieder ein paar Schritte. Alexander kam erst spät zurück und es dauert noch einen weiteren Moment, ehe er zu Draco kam. Als Alexander eintrat, saß Draco auf dem Bett, die Beine angezogen und starrte ihn aus seinen eisblauen Augen an.

„Wie ich sehe, geht es dir besser.“, sagte Alexander als Erstes. „Das ist schön, dann kann ich Annie das nächste Mal wenigstens beruhigende Nachrichten bringen. Susan sagte, du hättest dich heute auch ganz gut verhalten. Ich bin stolz auf dich.“

Aus jedem Wort, das er sprach, glaubte Draco Hohn und Spott herauszuhören. Wie konnte diese Susan behaupten, er würde es nur gut mit ihm meinen? Hatte sie denn nicht erkannt, wie er wirklich war?, fragte sich Draco zweifelnd.

„Wenn es weiter so geht, kann ich dir vielleicht in zwei oder drei Tagen ein Pferd geben. Reiten wirst du nicht gleich können, aber du kannst dich mit dem Tier schon mal vertraut machen. Genauso, wie mit dem hier.“, sagte er und hielt Draco plötzlich ein Schwert hin. Überrascht sah Draco auf. Die Scheide war aus einfachem Leder, mit nur wenigen Verzierungen, die es dadurch in seinen Augen umso edler erscheinen ließen. Der Schwergriff war aus glänzendem Metall, welches er nicht kannte, aber es war kein Gold. Vereinzelt saßen darauf matte, weiße Steine.

„Nimm schon.“, sagte Alexander ungeduldig.

Zögernd nahm Draco es ihm ab und war erstaunt über das Gewicht. Er hatte nicht erwartet, dass es so schwer war. Dennoch betrachtete er es fasziniert. Er drehte es ein wenig im Kerzenschein und bemerkte, dass sich die Farbe der Steine änderte. Von dem matten weiß, zu einem schwachen lila oder blau.

„Ich werde mein Versprechen halten und dir den Umgang damit beibringen.“, erklärte Alexander. „Allerdings musst du dafür erst wieder richtig stehen können, sonst können wir es gleich sein lassen. Du solltest dich also anstrengen. Außerdem kannst du dich geehrt fühlen, denn ich habe es extra für dich gekauft, obwohl ich dir eigentlich ein anderes von mir geben wollte. Weiß auch nicht, was mich da überkommen hat.“, murmelte er in seinen Bart.

„Was sind das für Steine?“, fragte Draco interessiert. Irgendetwas an ihnen schien ihn nicht mehr loszulassen.

„Mh? Der Verkäufer meinte, es wären Mondsteine. Recht selten, wenn du mich fragst, aber der Griff ist ohnehin egal. Wichtig ist allein, die Verarbeitung des Metalls und das ist gut. Gut geeignet für jemanden von deiner Größe und Statur.“

Unwillkürlich musste Draco ein wenig lächeln. Der Mond war also immer noch sein Begleiter.

Draco fasste die Scheide und den Griff und nach einem kurzen Moment des Zögerns zog er das Schwert schließlich heraus. Die Flammen der Kerzen reflektierten sich auf dem Metall und es glühte förmlich in seiner Hand. Die Klinge war seinem Eindruck nach recht schmal und in der Mitte auf beiden Seiten war ein filigranes Muster eingearbeitet. Er betrachtete es genauer und versuchte eine Gleichmäßigkeit darin zu entdecken, doch vergeblich.

„Tod den Verdienten.“, sagte Alexander unvermittelt und Draco sah ihn verwundert an.

„Das steht da. Latein kannst du also nicht.“, stellte Alexander damit fest.

Draco schüttelte den Kopf, bemüht nicht danach zu fragen, was „Latein“ eigentlich war. Davon hatte Annie nichts erzählt.

Er steckte die Klinge in die Scheide zurück. ‚Tod den Verdienten‘, die Worte halten in seinem Kopf. Diese Klinge würde demjenigen den Tod bringen, der ihn verdient hatte und vor seinem inneren Auge, sah er nur einen Menschen für den sie bestimmt war.

„Wann?“, fragte Draco ihn schließlich.

„Ich sagte doch, wenn du wieder richtig stehen kannst und sicherer auf den Beinen bist. Es wird vielleicht noch zwei oder drei Wochen dauern. Du musst erst wieder zu Kräften kommen. Allerdings kannst du dich in dieser Zeit schon mal an das Gewicht gewöhnen. Wir werden zwar nicht gleich mit dem Schwert selbst anfangen, aber je eher du es kennst, desto besser.“

Wieder nickte Draco. Er konnte Alexander nicht wiedersprechen. Das Gewicht war ungewohnt und im Moment konnte er sich auch nicht vorstellen, wie man mit dieser Waffe umgehen sollte.
 

Zwei Tage später entfernte Susan die Verbände endgültig. Der Rest, so sprach sie, würde so heilen müssen. Aber wenn sein Körper nur halb so robust wie sein Geist dickköpfig war, sah sie darin kein Problem. Draco konnte ihr nicht ganz folgen, aber es war ihm auch egal. Er lief inzwischen täglich und das ohne Beschwerden. Aber noch immer hatte er das Haus nicht verlassen und das machte ihn fast verrückt. Seit er wieder soweit bei Kräften war und nun auch wieder feste Mahlzeiten zu sich nehmen konnte, wurde ihm die Enge des Hauses nur umso bewusster. Selbst wenn Alexander und Susan ihn hätten gehen lassen, so verhinderte es das Wetter. Es regnete diese zwei Tage ununterbrochen durch. Noch nie war er so lange fernab des Waldes gewesen. Selbst im letzten Winter nicht, der so bitterlich kalt gewesen war. Er musste nach draußen, wollte er nicht ersticken. So zumindest hatte er das Gefühl.

„Wo willst du hin?“, fragte Alexander ihn, als er bereits an der Tür stand. Es waren die ersten Momente ohne ständigen Regen.

„Nach draußen.“, antwortete Draco einsilbig.

„Warum?“

Draco sah ihn direkt an, nicht gewillt ihm eine Antwort zu geben.

„Warum?“, fragte Alexander noch einmal.

„Du solltest ihn gehen lassen, Alexander.“, sagte Susan. „Er war jetzt tagelang hier drin. Die frische Luft wird ihm gut tun.“

Draco sah sie misstrauisch an, verstand nicht ganz warum sie offenbar bereit war ihn zu unterstützen.

Alexander musterte ihn einen Moment, scheinbar unschlüssig, ob er dem glauben sollte oder nicht. „Also schön, aber ich rate dir zurückzukommen und überanstreng dich nicht gleich, sonst lass ich dich das nächste Mal wirklich krepieren.“

Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern riss Draco die Tür auf und trat nach draußen. Die kalte und feuchte Luft umfing ihn und schmerzte in seinen Lungen, dennoch belebte es ihn sofort. Wo sollte er auch anderes hin?, dachte er bitter, während er die ersten Schritte Richtung Wald ging. Er konnte ihn klar und deutlich vor sich sehen.

Es war kalt und der Wind blies ihm unerbittlich ins Gesicht. Das Atmen fiel ihm schwer und er spürte, wie jeder Schritt ihm mehr Kraft kostete, als der vorherige. Es war etwas anderes, als wenn er sich nur im Haus aufhielt. Dennoch weigerte er sich zurückzugehen. Selbst wenn er allein in seinem Zimmer war, so waren sie trotzdem in seiner Nähe. Draco hatte das Gefühl nie wirklich allein zu sein und er wusste, dass Alexander ihn genau beobachtet. Wie lange würde er es in dessen Gegenwart noch ertragen können? Es war ihm bereits jetzt zu viel. Aber auf keinen Fall wollte er, dass sie es merkten. Sie sahen ihn ohnehin schon als schwach an, diese Genugtuung wollte er ihnen nicht auch noch geben.

Der Himmel war bereits grau und die Nacht würde bald hereinbrechen. Die Dunkelheit störte ihn nicht weiter, ganz im Gegenteil. Er fühlte sich mit ihr sicherer. Draco erreichten den Waldrand als das Dämmerlich ganz verschwunden und der erste Stern am Himmel sichtbar war. Er setzte sich dort auf einen umgeknickten Baumstumpf und blickte in die Schwärze, die die Bäume verschluckte. Er kannte den Weg zur Hütte zurück, doch er wusste, dass er länger als das letzte Mal brauchen würde, um dort hinzugelangen. Aber was sollte er auch dort? Sie würde nicht auf ihn warten.

Draco saß lange einfach da, nicht gewillt schon wieder zurückzugehen. Er hörte das Knacken des morschen Holzes und das Rauschen der Blätter über ihm. Es waren Geräusche, die ihm nur allzu vertraut waren. Genauso wie der Geruch des nassen Holzes, der aus dem Wald strömte.

Als er aufstand und sich umdrehte blieb er noch einen Moment stehen. Vor sich erstreckte sich, wie das erste Mal als er an dieser Stelle stand, die weite Wiese und in der Mitte das Haus von Alexander. Die Fenster waren erleuchtet und kleine feine Rauchwolken stiegen aus dem Schornstein empor.

Dies war nun der Ort an den er von nun an gebunden war.

Hinter sich spürte er die mächtigen Bäume, die in seinem Rücken standen. Sie gaben im Schutz und Sicherheit. Wenigstens hierher konnte er zurückkehren.

Er blickte nach oben und seine Augen fanden wie von selbst den Mond. Er war nur eine flache Sichel, aber er wusste, dass er in wenigen Tagen schon wieder am vollsten strahlen würde. Das war das Einzige, was er sicher wusste. Der Mond würde immer und immer wieder zu seiner schönsten Form zurückfinden. Das war der wahre Ort, an den er gehörte.

Für den Rückweg ließ er sich mehr Zeit. Zum Einen, weil er Alexander nicht so schnell wieder gegenüber treten wollte, zum Anderem weil er wirklich nicht schneller konnte. Als er den schwachen Hang hinab lief, konnte er die Anstrengung, die ihn dieser Weg gekostet hatte, in jedem seiner Muskeln spüren. Doch er empfand es als Bestätigung, dass seine Kraft zurückkommen würde.

Nur ungern öffnete er die Tür, doch als er eintrat wurde er nicht wie erwartet, von Alexander empfangen, sondern von Susan, die ihn mit einem Lächeln begrüßte. „Alexander ist draußen im Stall bei den Pferden.“, sagte sie, während sie in einen Topf, der auf dem Ofen stand rührte. Draco zuckte kurz mit den Schultern. Was ging es ihn an?

„Er möchte, dass du dorthin kommst. Anscheinend will er dir ein Pferd geben.“, erklärte sie weiter, bevor er ganz in seinem Zimmer war.

Draco verfluchte sich selbst und alles um ihn herum. Er hatte nun gar keine andere Wahl, als nun nach draußen zu gehen und wieder das zu tun, was dieser Mann von ihm verlangte.

Flüchtig sah er in den Himmel. Es war eine klare Sternennacht. Nur kurz dachte er, wie schön es doch war. Draco hatte die Ställe noch nie von innen gesehen, aber er folgte dem Wiehern, das er klar und deutlich hören konnte. Mit einem Ruck öffnete er die Tür und trat in den Stall ein.

Warme Luft schlug ihm ins Gesicht, die zudem einen sehr strengen Geruch mit sich trug. Sofort atmete er flacher, um nicht allzu viel davon einzuatmen.

„Hinten!“, hörte er Alexander rufen und folgte dessen Stimme. Draco ging an vier einzelnen Boxen vorbei, jeweils auf der rechten und der linken Seite. Fünf davon waren leer. In den anderen stand jeweils ein Pferd. Sie waren alle braun, nur durch die Form des hellen Fleckes auf ihrer Nase unterschieden sie sich. Draco sah sie nur kurz an. Die Ställe waren mit Stroh ausgelegt. Zwischen dem Fußboden und dem Dach war ein weiterer Boden eingezogen worden und er sah, dass darauf ebenfalls Stroh gelagert wurde. In der Mitte des Stalls stand etwas, was er bisher noch nicht gesehen hatte. Es waren zwei recht massive Stäbe, die parallel zueinander verliefen und zwischen denen weitere, kürzere Stäbe quer angebracht waren. Offenbar wurde es dazu genutzt um nach oben in den Zwischenboden zu gelangen. Als er die Mitte durchquerte hing an einem der Holzpfosten eine Laterne, die nur wenig Licht spendet. Erst am Ende sah er einen weiteren schwachen Lichtschein. Dort musste sich Alexander aufhalten.

Er fand ihn der letzten Box am Ende des Stalles, wie er sich gerade die Hufe des Pferdes besah. Draco hatte dieses Pferd schon oft gesehen, immer dann, wenn Alexander Annie besucht hatte, war er mit diesem geritten. Die braunen Augen des Pferdes schienen ihn direkt anzusehen und er fragte sich einen Moment, was es wohl über ihn dachte. Auch die Laterne, die hier hing, spendete nicht mehr Licht als die andere.

Alexander schien ihn nicht bemerken zu wollen, also ging Draco auf die letzte Box auf der linken Seite zu. Dort stand das einzige schwarze Pferd des gesamten Gestütes. Es war wunderschön, dachte er. Sein Fell glänze trotz des schwachen Lichtes und seine Farbe erinnerte ihn an ihre Haare. Er trat näher heran und im gleichen Moment machte das Pferd ebenso einen Schritt nach vorn. Es schien ihn genauso neugierig zu betrachten, wie er es. Das Pferd war größer, als er erwartet hatte. Sein Kopf reichte gerade einmal bis kurz über die Schulter des Tieres. Bei den anderen reichte er ihnen bis zur Halsmitte.

Die braunen Augen sahen ihn unverwandt an, als würde sie ihn genau kennen. Nein, als würden sie erkennen, was er war. Die Mähne war lang, genauso wie der Schweif. Beides war pechschwarz. Er blickte an dem Tier herab und er konnte die Sehnen und Muskeln genau unter dessen Haut sehen. Von den Hufen bis zu den Kniegelenken waren die Beine weiß, alles andere war schwarz. Es war ein edles Tier, dachte Draco. Vorsichtig streckte er eine Hand aus, wollte wissen ob das Fell wirklich so weich war, wie es aussah. Das Pferd tat es ihm gleich. Neugierig streckte es die Nüstern nach vorn. Doch bevor es Draco berühren konnte, riss Alexander plötzlich seinen Arm weg.

„Pass auf!“, fuhr er ihn an. Erschrocken blickte Draco zu ihm und sah in dann verständnislos an. „Ausgerechnet ihr musst du zu nah kommen.“, sagte Alexander scharf.

„Warum?“

„Das ist Hera und sie hat ihren Namen nicht umsonst. Ein sehr gutes Pferd, wirklich schnell und stark, aber ein unberechenbares Biest. Wenn sie keine Lust hat geritten zu werden, wirft sie dich ab und du kannst froh sein, wenn du hinterher noch lebst. Selbst ich hab sie bisher nur wenig geritten und dabei ist sie schon bei mir, seit sie ein Fohlen war.“

Wieder sah Draco zu dem Pferd. Etwas an ihm faszinierte ihn. Der Blick, wie es ihn ansah... „Wir werden ein anderes für dich finden.“, hörte er Alexander sagen.

„Nein.“

„Bitte? Hast du schon einmal auf einem Pferd gesessen, dass du so selbstsicher sein kannst, gerade sie nehmen zu wollen.“

„Nein.“, antwortete er abermals.

„Warum dann gerade sie?“, fragte Alexander interessiert.

Draco konnte ihm diese Frage nicht beantwortet. Er sah kurz zu dem Pferd in der Box hinter ihm und dann zu denen, die weiter vorn standen, doch keines löste in ihm das gleiche Gefühl aus, wie dieses vor ihm. Bei keinem hatte er das Gefühl, dass sie... Dass sie was?, fragte er sie selbst.

„Dir scheint wirklich nichts am Leben zu liegen.“, knurrte Alexander. „Aber von mir aus. Probier es nur aus. Ab heute wirst du dich um sie kümmern, genauso wie um die anderen Pferde. Das wird deine Arbeit hier sein. Dein Lohn wird Essen und ein warmes Bett sein. Ich lasse dich nicht bei uns leben, ohne dass du auch etwas dafür tust. Du wirst die Tiere füttern, sie striegeln, sauber machen und alles weitere was dazu gehört. Das heißt aber nicht, dass nicht auch noch andere Arbeiten für dich anfallen. Aber wenn du Hera von dir überzeugen kannst, würde mich das echt überraschen.“

„Was bedeutet der Name?“, fragte Draco. Er klang mächtig in seiner Ohren, aber auch gefährlich. Als wäre er für das Tier geschaffen worden, so wie der seine für ihn.

„Weißt du das denn auch nicht?“, fragte Alexander ihn ungläubig.

Kurz schüttelte er den Kopf und sah Alexander ernst dabei an. Dieser seufzte kurz. „Hera ist der Name einer griechischen Göttin. Sie war die Schwester und Frau des Zeus, dem mächtigsten und höchsten aller Götter. Sie wird als Göttin der Macht und des Reichtums beschrieben, aber sie ist auch Rachsüchtig, Eifersüchtig und Dickköpfig. Genauso wie diese Hera hier.“, damit zeigte er auf das schwarze Pferd und von diesem kam ein Schnaupen, als würde sie wiedersprechen wollen.

„Selbst wenn du kein Latein kannst, hast doch sicher schon davon gehört oder irgendwo einmal davon gelesen.“

„Nein.“, antwortete Draco erneut und erwiderte Alexanders Blick, wie er es schon oft getan hatte. Seine Augen waren ausdruckslos und sein Gesicht gleichgültig. Doch im nächsten Moment sah er etwas in Alexanders Augen aufblitzen und für einen Moment befürchtete er, er hätte zu viel von sich preisgegeben.

„Kannst du überhaupt lesen?“, fragte Alexander unvermittelt und dabei klang seine Frage so, als wüsste er die Antwort schon längst.

„Nein. Sie wollte es mir immer beibringen, aber dann...“, ließ er seinen Satz unvollendet.

„Mmh.“, brummte Alexander. Es schien als wüsste er, was Draco sagen wollte. „Komm mit, ich zeige dir, wo du alles für die Pferde finden kannst und dann werden wir sehen, dass wir dir das Lesen beibringen. Ich hoffe du bist ein gelehriger Schüler, ich kann sehr ungeduldig sein. … Wenigstens wird mir über den Wintern nicht langweilig werden.“, murmelte er.

Draco sah noch einmal zu Hera und das Tier erwiderte seinen Blick ebenso. Er wollte selbst bestimmen, was geschehen sollte und dennoch würde er andere für ihn entscheiden lassen. Er würde es tun müssen, um weiter zu kommen. Im Moment war Alexander der Einzige der ihm helfen konnte, so sehr es ihm auch missfiel.

Das Lesen und Schreiben, war nichts worin Draco eine Notwendigkeit sah. Obwohl es Annie ihm hatte auch beibringen wollen. Was sahen die Menschen nur darin? War Lesen und Schreiben wirklich so wichtig? Worauf begründete es sich? Draco verbot sich weiter darüber nachzudenken, denn je mehr er das tat, desto neugieriger wurde er. Aber in einem musste er Alexander sogar zustimmen: Sein Geist und auch sein Körper würde von nun an für eine Weile beschäftigt sein und das war alles was er im Moment wollte.

Es würde sie vielleicht aus seinen Gedanken verdrängen.
 

„Und es geht ihm wirklich schon so schnell besser?“, fragte Annie leicht ungläubig. Vor wenigen Minuten war Alexander zu ihr gekommen und hatte ihr auf ihr Drängen hin von Draco erzählt. Allerdings wurde es immer schwieriger, dies unbemerkt zu tun und schon gar in Anwesenheit von Barrington. Es hatte sich herausgestellt, dass dieser die Kälte ganz und gar nicht mochte und seine Zeit lieber in den Wänden der Burg verbrachte, als nach draußen zu gehen, um zu jagen oder Steuern einzutreiben. Annie hatte sogar gesehen, wie selbst die Worte von Semerloy ihn nicht hatten überzeugen können. Seine Außenaufenthalte waren also sehr gering geworden und die Zeit, die er nun dadurch zur Verfügung hatte, verbrachte er beim Kartenspiel mit seinen sogenannten Freunden, bei ihr oder betrank sich – und kam dann zu ihr. Als Alexander angekündigt worden war, hatte er sich zu ihnen gesetzt und ‚zwanglos‘ mit ihnen geplaudert, wie er es genannt hatte. Er hatte alles über Alexanders Hof wissen wollen, wie viele Pferde er im Moment besaß, wie viele Kühe, Ziegen und Hühner und was das Geschäft machte. Außerdem hatte er die drei Pferde, die Alexander ihm als Hochzeitsgeschenk gebracht hatte, sehr gelobt. Er wollte sogar wissen, ob Alexander nicht noch ein paar solch ausgezeichnete Tiere hätte, die er für seine Zucht benutzen konnte.

Alexander hatte geduldig und sehr höflich auf seine Fragen geantwortet und Annie wäre vor Ungeduld und Angst fast umgekommen, weil sie immer befürchtet hatte, dass Alexander etwas von Draco sagte. Doch das tat er nie und Annie war mehr als dankbar dafür.

Erst als Jonathan erschienen war und ein Problem im Weinkeller meldete war Barrington sofort aufgesprungen und hatte sich entschuldigt. Annie war eine schwere Last vom Herzen gefallen, als sich die Tür endlich hinter ihm geschlossen hatte.

Dann erst hatte sie endlich die Fragen stellen können, die ihr seid seinem Erscheinen auf der Zunge lagen.

Zuerst hatte sie nach Sophie gefragt. Sie hatten nur ein, zwei Sätze darüber gesprochen, aus Angst, dass zu viel sie verraten könnte. Aber allein das Wissen, dass sie nun in einem anderen Land war, fernab von den Zugriffen und Macht Barringtons beruhigte sie sehr.

Und dann hatte sie nach ihm gefragt.

„Ja, nachdem er sich selbst dazu entschieden hatte weiter zu leben, hat er sich recht schnell wieder erholt. Er ist jetzt seit fünf Tagen bei den Pferden und macht seine Arbeit schnell und ordentlich. Ich dachte erst er beschwert sich, weil er mir nicht unbedingt danach aussieht, als hätte er schon jemals in seinem Leben einen Stall sauber gemacht, aber ich habe mich geirrt. Die Tiere scheinen sogar Respekt ihm gegenüber zu haben und das ohne, dass er etwas dafür tun musste.“, flüsterte Alexander.

Annie biss sie auf die Zunge. Sie mochte sich das gar nicht vorstellen. Nein, Draco war nicht für diese Arbeit geschaffen worden. Er sollte das nicht tun, aber sie wollte Alexander auch nicht dazwischen reden. Sie war ihm allein dankbar dafür, dass er sich seiner angenommen hatte. Außerdem war sie sogar ganz froh, dass Draco eine regelmäßige Beschäftigung zu haben schien. Er war zu intelligent, um nichts zu tun. Dennoch war diese Arbeit gewiss nicht das Richtige für ihn.

„Was noch?“, fragte sie weiter. Alexander zuckte kurz mit den Schultern. „Er will den Schwertkampf erlernen. Er sagte, dass er sich nicht mehr verstecken will, wenn er ihn noch einmal findet. Allerdings weiß ich nicht, wer „er“ eigentlich ist.“

Annie erstarrte. „Offenbar weißt du es schon.“, sagte ihr Bruder und einmal mehr wurde ihr klar, dass sie für ihn wie ein offenes Buch sein musste. Knapp nickte sie.

„Aber, dass... er will... gegen... kämpfen?“, brachte sie mühsam hervor.

„Wer ist er? Und was hat das Ganze zu bedeuten? Warum war er damals so schwer verletzt, als du ihn fandest? Irgendetwas stimmt doch da nicht. Sucht jemand nach ihm?“, fragte Alexander sie eindringlich.

Wieder nickte sie. „Wer? Warum?“, drängte er sie weiter.

Annie antwortete ihm nicht. Das konnte sie ihm unmöglich erklären, sie würde ihn nur weiter in Gefahr damit bringen. Je weniger er wusste, desto besser war es für ihn. „Ist er ein gesuchter Verbrecher?“

„Nein!“, zischte Annie sofort. „Wie kommst du darauf?“

„Was soll ich denn sonst denken?“, fragte er sie anklagend. „Du willst mir ja offenbar nichts sagen!“

„Ich kann nicht.“, antwortete sie ihm bloß und schlug die Hände vor das Gesicht. Wollte sich Draco diesem Mann wirklich stellen? Hätte er denn eine Aussicht auf Erfolg, wenn sie sich gegenüberstanden? Das letzte Mal wäre er fast gestorben und da war er weitaus stärker gewesen.

„Du darfst es ihm nicht zeigen.“, sagte sie schließlich und sah ihn durchdringend an.

„Das geht nicht. Ich habe ihm mein Wort darauf gegeben.“

„Dann bringe ihm nur bei, wie er sich verteidigen kann. Aber auf keinen Fall, wie er selbst damit angreifen und kämpfen kann!“

„Wie stellst du dir das vor? Das Eine geht ohne das andere nicht!“

Annie stand auf und lief nervös im Zimmer auf und ab. Wie konnte Alexander nur so uneinsichtig sein!? Selbst, wenn Draco schnell lernte und daran hatte sie keinen Zweifel, selbst wenn er Barrington in Geschwindigkeit überlegen war, so fehlte ihm dennoch die Erfahrung! Sie verstand selbst nicht sehr viel von der Schwertkunst, aber sie wusste, dass doch die Erfahrung einen sehr großen Teil in einem Kampf ausmachte. Konnte Draco das wirklich so schnell lernen? Und selbst wenn, wer garantierte dann, dass er Barrington besiegen würde, sollte es zu einer Konfrontation kommen? Nein, die beiden durften sich nie wieder sehen!

„Du musst es versuchen, bitte!“, flehte sie ihn an. „Zeige ihm, dass er so etwas nicht einfach über Nacht lernen kann!“

„Das wird er auch so merken! Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielleicht kann ich ihn anderweitig beschäftigen und die Übungszeit dafür verkürzen. Mal sehen, wie lange er braucht um Lesen zu lernen.“, antwortete Alexander ihr, schien aber selbst sehr unzufrieden darüber zu sein.

„Was, du bringst ihm das Lesen bei?“, fragte Annie ungläubig und war erst einmal beruhigt, dass ihr Bruder wenigstens versuchen wollte ihren Wunsch zu erfüllen. Sie durfte nur nicht daran denken, wie verbissen Draco sein konnte, wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.

„Lesen und Schreiben. Oder darf ich das auch nicht?“, fragte Alexander sarkastisch.

Annie atmete einmal tief durch und setzte sich dann wieder. „Doch, natürlich. Ich freue mich sogar. Er lernt sehr schnell und wird gewiss ein guter Schüler sein.“, erwiderte sie immer noch flüsternd.

„Es hat mich verwundert, dass er das nicht kann. Von seiner Haltung und Art aus betrachtet scheint er mir niemand zu sein, der aus so ärmlichen Verhältnissen stammt.“

„Ja, du hast recht.“, antwortete sie, weil ihr nicht anderes dazu einfallen wollte.

„Ich verstehe nicht, wie du dir immer noch so viele Gedanken um ihn machen kannst. Er ist es doch gar nicht wert. Er ist nur ein gewöhnlicher Mann, der nicht von der Welt zu wissen scheint. Ich frage mich, wie er auf diese Art und Weise eigentlich so alt werden konnte.“, sagte Alexander plötzlich bissig

Annie lächelte traurig. Wenn er doch nur wüsste...

„Alexander... Die Erinnerung an ihn ist manchmal das Einzige was mir die Kraft gibt, jeden weiteren Tag zu überstehen. Ich stelle mir sein Gesicht vor, seine Augen, wie es sich anfühlt, wenn er mich berührt oder eine Umarmung von ihm. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, aber... das gibt mir Kraft und das Wissen, dass es nicht für umsonst ist.“

„Nein, das kann ich nicht verstehen.“, sagte Alexander. „Aber da ich weiß, dass du mir ohnehin nicht antworten wirst, wenn ich dich weiter danach frage, versuche ich es erst gar nicht.“

„Tut mir leid.“, sagte sie sanft.

„Schon gut. Es gibt schlimmeres.“

Die beiden Geschwister sahen sich an und Annie ahnte, dass dies nicht das letzte Wort gewesen sein würde, was er dazu zu sagen hatte.
 

Draco war im Stall, als Alexander zurückkam. Er wusste nicht, wo er gewesen war und es interessierte ihn auch nicht. Doch als eintrat und ihm die Zügel überreichte, fuhr ein Windstoß durch den Stall und wehte ihren Duft zu ihm. Er war bei ihr gewesen. Dennoch fragte er nicht danach. Das hätte er nie getan. Er führte das Pferd – dessen Name Wüstensand war – in seine Box und machte sich daran den Sattel zu lösen. Alexanders Blick im Rücken bemerkte er und Draco ahnte, was auf ihn zukam. Eine Eigenart dieses Menschen war es, wann immer es ihm beliebte mit ihm zu sprechen, ganz egal, ob Draco das auch wollte – und das war so gut wie nie der Fall. So würde es auch jetzt sein. Allerdings musste er Alexander ja nicht antworten.

„Ich muss dich was fragen.“, fing Alexander an. Draco unterbrach seine Arbeit nicht. Er würde auch so sagen, was er sagen wollte, ganz egal, ob er Interesse daran zeigte oder nicht. Aber anscheinend kannte Alexander Dracos Verhaltensmuster bereits. Hatte er sich bis vor wenigen Tage noch darüber aufgeregt, reagierte er nun nicht mehr darauf. Vielleicht war es auch nur das Wissen, dass Draco ohnehin das würde tun müssen, was er von ihm erwartete.

„Hast du meine Schwester entehrte?“ Draco kannten den scharfen und ernsten Ton in seiner Stimme. Er hatte ihm schon oft gegolten. Doch dieses Mal war es anders, realisierte er. Draco glaube etwas wie Unsicherheit darin zu hören. Er nahm Wüstensand den Sattel ab und legte ihn an seinen Platz zurück. Dann erst sah er Alexander an. Er studierte das Gesicht seines Gegenübers und versuchte so die Bedeutung der Worte zu entschlüsseln – ohne Erfolg.

„Ich weiß nicht was du meinst.“, antwortete er ihm schließlich ehrlich. Er hielt Alexanders Blick noch einen Moment und sah, wie sich dieser augenblicklich entspannt. Auch das konnte er sich nicht erklären.

Er verstand die Menschen einfach nicht.

Draco begann nun das Pferd abzureiben.

„Mir war so, als hätte sie so etwas angedeutet, aber ich habe mich geirrt. Glück für dich, sonst wäre dein Todeswunsch schneller erfüllt worden, als du ahnen könntest.“

Draco drehte sich abermals um und sah ihn irritiert an. Keines seiner Worte machte Sinn für ihn.

„Wie geht es Hera?“, fragte Alexander weiter und schien das Andere bereits vergessen zu haben. Draco war zu stolz um weiter nachzufragen oder sich nach Annie zu erkundigen. „Gut.“, antwortete er einsilbig.

„Hat sie sich an dich gewöhnt?“

„Ja.“

„Fein, dann werden wir morgen sehen, ob sie sich auch von dir reiten lässt.“ Damit verließ Alexander den Stall und ließ Draco allein zurück. Dieser warf einen Blick auf die fast vollkommen schwarze Stute und ein Gefühl der ungeduldigen Erwartung keimte in ihm auf.
 

Nebel hüllte die Landschaft ein, als Draco Hera nach draußen führte. Er hatte sie zuvor gesattelt, gefüttert und vor allem sie hinter den Ohren gestreichelt. Schnell hatte er gemerkt, dass sie sehr viel zugänglicher war, wenn er das tat. Dann ließ sie ihn immer gewähren. Es war ein einfacher Trick und er hatte nicht vor, Alexander davon zu erzählen.

Wüstensand stand neben Alexander und scharrte unruhig mit den Hufen, beruhigend legte Alexander ihm eine Hand auf die Nase.

„Sieh mir zu und versuche dann auch so aufzusitzen. Es ist jetzt nicht wichtig, wie lange du im Sattel sitzt. Du musst erst einmal hochkommen.

„Du stellst dich seitlich neben sie und legst den linken Fuß in den Bügel. Dann hältst du dich hier oben mit der linken Hand am Sattelknauf fest und stemmst dich mit linker Hand und Fuß nach oben. Das rechte Bein schwingst du gleichzeitig über den Rücken des Pferdes. Pass auf das du nicht hängen bleibst. Ach und erschrick nicht wegen der Höhe. Manche brauchen erst mal eine Weile bis sie sich daran gewöhnt haben. Versuch es mal.“, instruierte ihn Alexander kurz und zeigte es gleichzeitig.

Draco hatte Alexander schon oft dabei zugesehen, so dass er die Bewegungen schon lange verinnerlicht hatte. Er tat es genauso wie Alexander es schon so unzählige Mal vor ihm gemacht hatte. Der linke Fuß in den Bügel des Sattels, mit der linken Hand fasste er den Knauf, dann schwang er das rechte Bein über den Rücken des Pferdes. Das alles geschah innerhalb weniger Augenblicke. Dann saß Draco auf Heras Rücken.

Sie bewegte sich einen Moment unruhig, blieb dann aber beinah reglos stehen. Nur ihr Schwanz wiegte sich sacht hin und her.

„Gut.“, presste Alexander zwischen den Zähnen hervor. Offenbar war er wenig begeistert, dass es Draco schon so schnell gelungen war. „Was ist mit der Höhe? Stört es dich?“

Dracos Mundwinkel zuckte kurz nach oben. „Nein.“, antwortete er Alexander bloß. Wenn er wüsste, welche Höhe er bereits erlebt hatte, würde er nicht solch überflüssige Fragen stellen.

Die Luft war kalt und ein schneidender Wind begann zu blasen, dennoch störte es Draco nicht. Bereits jetzt fühlte er sich so frei, wie er es schon seit einem Jahr nicht mehr getan hatte.

„Wir fangen langsam an. Ich will mich nicht darauf verlassen, dass Hera die ganze Zeit so brav ist. Außerdem musst du erst ein Gefühl dafür entwickeln und das ist etwas, was ich dir nicht beibringen kann.“

Draco nickte zustimmend. Im Moment war ihm alles recht. Er wollte nur endlich beginnen. Wollte sich endlich auf andere Weise fortbewegen, als auf seinen eigenen menschlichen Beinen.

„Zieh an den Zügel, dann fängt sie an zu laufen. Du kannst auch deine Fersen in ihre Flanken drücken, allerdings würde ich es mir mit ihr nicht unbedingt verscherzen. Es ist mir sowieso schon ein Rätsel, warum sie dich oben behält. Und pass dich ihren Bewegungen an, das ist das wichtigste.“

Draco zog kurz an den Zügeln und Hera setzte sich langsam in Bewegung. Ein lang vermisstes Gefühl kehrte in ihm zurück. Es war unbeschreiblich, die Welt wieder von einer anderen Höhe zu betrachtet. Gleich gewann er den Eindruck mehr zu sehen und wahrzunehmen, wie es ihm vom Boden aus nicht möglich war. Er berührte Hera am Hals und spürte ihren gleichmäßigen Atemzug. Sie würde ihn nicht abwerfen. Draco spürte, dass sie wusste, was er einmal gewesen war und das schien sie miteinander zu verbinden. Vielleicht sah sie ihn deswegen als würdig an.
 

Die Tage vergingen und mit ihnen die Wochen. Draco zählte sie nicht. Zeit hatte keinerlei Bedeutung für ihn. Das Reiten erlernte er recht schnell und immer, wenn Alexander ihn nicht für eine Arbeit brauchte, ritt er mit Hera aus. Sie waren lange unterwegs und auch die Kälte trieb ihn nicht in das warme Haus zurück. Die Ausritte klärten seine Gedanken und halfen ihm sie für eine Weile zu vergessen. Wenn das Wetter doch zu schlecht war, verbrachte er die Zeit im Stall, fernab von den ständigen und misstrauischen Blicken.

Lesen und Schreiben hatte ihm Alexander noch nicht beigebracht. Er wollt dies in den vor ihn liegenden Wintermonaten tun. Draco wusste, dass er dann nicht mehr so oft würde Reiten können und er bedauerte es bereits.

In all er Zeit erfuhr er nichts von Annie. Er wusste, dass Alexander noch einmal bei ihr gewesen war, aber wenn er beim Abendessen davon erzählt, hatte Draco das Zimmer verlassen. Er wollte nichts von ihr hören. Jedes Wort über sie, hätte ihn noch mehr gequält. Das taten seine Erinnerungen bereits zur Genüge. Es war genauso, wie Draco immer gefürchtet hatte, nur dass er kein Drache war. Er war ein Mensch und doch war sie nicht bei ihm. Es gab nichts was ihn sie vergessen lassen könnte. Alles war ihm so klar im Gedächtnis, als würde es im gleichen Moment geschehen und doch konnte er sie nicht bei sich spüren. Am Tage vermochte er es die Erinnerungen zu kontrollieren und sie zu bestimmen, des Nachts aber war es ihm unmöglich.
 

Als Draco eines Morgens aus seinem Zimmer kam, verzichtete Alexander auf eine Begrüßung und sagte stattdessen: „Du wirst mich heute in die Stadt begleiten.“

„Warum?“

Noch nie hatte Alexander ihn dahin mitgenommen und er wollte es auch gar nicht. Was sollte er auch dort? Er hatte gehört, dass viele Menschen dort leben sollten und er wollte nicht mehr mit Menschen zu tun haben, als nötig und schon gar nicht wollte er noch mehr um sich herum haben. An die Gesellschaft von Alexander und Susan hatte er sich inzwischen gewöhnt, Er wusste, wie sie sich in bestimmten Situationen verhielten und vor allem, wie er ihnen am besten aus dem Weg gehen konnte. In der Stadt würde das nicht der Fall sein.

„Ich muss ein paar Geschäfte erledigen und Besorgungen machen. Es ist besser, wenn wir mit zwei Pferden unterwegs sind. Außerdem kann es nicht schaden, wenn du mal etwas anderes siehst. Ausreiten kannst du mir Hera auch am Nachmittag noch, wenn du das vorhattest.“

Da Draco nicht mit Alexander sprach, nickte er bloß.

Sie aßen schweigend ihr Frühstück und machten sich danach auf den Weg. Alexander ritt mit Wüstensand voraus und Draco folgte ihm in einem langsameren, widerwilligeren Trott mit Hera.

Nachdem sie ein paar Meilen zurückgelegt hatten, erhoben sich die Tore der Stadt vor ihnen. An dessen Seiten waren sechs Wachen positioniert. Draco sah es bereits, als sie eine kleine Anhöhe erreichten und die Stadt noch in einiger Entfernung lag. Plötzlich hielt Alexander und drehte sich zu ihm um.

„Wir können sie sehen, aber sie uns noch nicht. Mach die Kapuze deines Umhanges nach oben, so dass man dein Gesicht nicht sieht. Das du nicht reden sollst, brauche ich dir nicht zu sagen, dass machst du ja ohnehin nicht. Bleib in meiner Nähe.“

Ohne zu fragen, tat Draco was er ihm gesagt hatte, etwas verwundert zwar, aber es war ihm sogar recht. Die Kapuze bot ihm einen gewissen Schutz vor den vielen fremden Menschen. Es war unsinnig, aber er fühlte sich so etwas sicherer.

Sie durchquerten das Tor ohne aufgehalten zu werden. Alexander hatte den Wachen nur kurz zugeknickt und sie waren vorbeigeritten. Dennoch zog Draco die Kapuze noch etwas weiter ins Gesicht.

Alexander ritt nur langsam durch die Straßen, denn sie waren überfüllt. Draco musste an sich halten, nicht gleich wieder umzukehren. Noch nie hatte er so viele Menschen auf einmal gesehen. Jeder bewegte sich hektisch durch die Menge, alte sowie jung. Jeder hatte etwas in seinen Händen oder auf seinen Schultern tragend. Manche zogen einen Karren hinter sich her, der beladen war mit Säcken oder anderen Dingen, die Draco nicht benennen konnte. Wieder Andere zogen Tiere mit sich, Ziegen oder Schafe und ein andere hatte ein Tier bei sich, dass auf den ersten Blick wie ein graues, viel zu kleines Pferd mit zu langen Ohren wirkte.

Die Geräusche drangen aus allen Richtungen zu ihm hin. Rufe, Begrüßungen, Geschrei aber über allem stand das unablässige Gemurmel der Masse, dass fast wie das wilde Rauschen des Baches in seinen Ohren klang. Aber anders als das schmerzte es ihn.

Nicht viel anders erging es ihm mit dem Geruch. Bei jedem Mensch, an dem sie vorbei ritten nahm er einen anderen Geruch war, selbst wenn es noch so kurz war. Mal war er unerträglich süßlich, ein anderes Mal stechend und brennend in seiner Nase, so dass ihm fast schlecht wurde.

All dies verwirrte Draco, verunsicherte ihn auf eine neue, unbekannte Weise. Es war ihm, als bliebe ihm wegen all der vielen Menschen an einem so kleinen Ort, selbst nicht genug Luft zum atmen. Seine Sinne waren auf alles gerichtet, um jede mögliche Gefahr aber auch Andersartigkeit wahrzunehmen. Sie waren vollkommen überreizt. Er versuchte seinen Geist dagegen zu sichern, sich nur auf Alexander vor ihm zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Ihm wurde schwindelig.

Heras bewegte sich unruhig. Es zeigte ihm, dass es ihr nicht anders erging. Wahrscheinlich spürte sie sein eigenes Unbehagen und das verstärkte ihres nur noch. Dies hier war kein Ort für sie beide.

Plötzlich bemerkte er, wie Alexander neben ihm war und nach den Zügeln von Hera griff. Er ritt mit Wüstensand dicht neben ihm, so dass Draco seine Stimme unter all den anderen Geräuschen verstehen konnte. „Du warst noch nie in einer Stadt oder?“

„Nein.“, flüsterte Draco und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme seltsam fremd in seinen Ohren klang. Das Murmeln war inzwischen zu einem Summen geworden, das sich in seinem Kopf festsetzte.

Alexander antwortete nicht und beide ritten schweigend weiter. Irgendwann zog er die Pferde in eine Seitengasse, durch diese hindurch und sie stand auf einer weniger belebten Straße. Sie ritten weiter nach links und schließlich machte Alexander vor einem Haus halt, dessen Dach schief saß. Es war nur eines von vielen in einer langen Reihe fast identisch aussehender Häuser. Das Fachwerk war braun und die Balken von der Zeit zerfressen. Die Fenster hingen nicht richtig in den Angeln und zeigten an einigen Stellen Risse und Sprünge.

„Steig ab.“, sage Alexander kurz und Draco hatte nicht die Kraft um zu wiedersprechen. Jetzt da sie von der Menge weiter entfernt waren, hörte er das Summen in seinem Kopf nur noch lauter. Es machte ihn schier wahnsinnig.

„Warte hier.“ Alexander verschwand in dem Haus und kam wenige Augenblicke später mit einem älteren Mann heraus.

„Oh, ihr seid heute nicht allein unterwegs.“, fragte der Mann und seine Stimme klang zerbrechlich. „Nein, er hilft mir seit ein paar Wochen und nimmt mir ein bisschen Arbeit ab. Er spricht nicht.“, antwortetet Alexander ihm.

„Hat er denn auch ein Gesicht?“, fragte der alte Mann weiter und schien voller Neugier zu sein.

Alexander lachte sein brummiges Lachen. „Natürlich hat er das, Pop. Allerdings würde ich euch nicht raten es anzusehen. Ein Feuer hat es fast vollkommen entstellt.“

Verwirrt sah Draco ihn an. Warum erzählte er so etwas? War sein Gesicht so viel anders, als das anderer Menschen? Er konnte keinen großen Unterschied zu dem von Alexander oder Susan entdecken. Was würde er tun, wenn er die Kapuze einfach abnahm und jeder sein Gesicht sah? Warum sollte er überhaupt die Kapuze tragen? Nur seine eigene Unsicherheit hielt ihn davon ab.

Er verabscheute dieses Leben und noch mehr sich selbst. Wo war sein Stolz, seine Würde, die er besessen hatte? War alles an jenem Tag mit seiner Gestalt verschwunden? Alexander kannte ihn nicht, aber er selbst schien sich ebenso wenig zu kennen, realisierte er schwach.

Warum wurde er sich dessen erst nach so langer Zeit bewusst? Warum hatte es ihn früher nicht schon gestört? War es wirklich nur gewesen, weil sie bei ihm war?

Wie weit hatte er sich bereits von seinem alten Selbst entfernt? Wie weit, ohne das er es bisher bemerkt hatte?

„Ah, verstehe, wenn ihr es sagt, wird es seine Richtigkeit haben. Was kann ich heute für euch tun?“, fragte Pop weiter.

„Nun, das übliche, wenn ihr so hilfsbereit wäret. Ich muss noch ein paar Geschäfte erledigen, aber es wäre überaus freundlich von euch, wenn ihr die lange Liste, die meine Frau geschrieben hat, übernehmen würdet. Ich würde dann alles bei euch nach dem Mittag abholen. Selbstverständlich sollen eure Mühen auch belohnt werden.“ Draco sah, wie Alexander in seine Umhangtasche griff und ein kleines blaues Säckchen hervorholte. Darin konnte er ein paar Münzen zusammenschlagen hören.

„Ihr versteht es wirklich einen Mann ein Angebot zu machen.“, erwiderte der alte Mann und entblößte eine Reihe fauler Zähne, bei denen Draco angewiderte den Kopf wegdrehte.

„Ich weiß, dass ich mich auf euch verlassen kann. Hier habt ihr die Liste. Susan hat wirklich nichts ausgelassen.“

„So sind die Frauen nun einmal.“ Alexander und Pop stimmten in ein gemeinsames Lachen ein und Draco wunderte sich, was es zu bedeuten hatte.

„Aber sagt mal Pop, soll es denn noch heute sein?“, fragte Alexander plötzlich unvermittelt.

„Natürlich. Du solltest das doch am besten wissen.“

„Mag sein und das letzte Mal, war es auch noch so. Allerdings kann es ja auch sehr gut sein, dass der Herr es sich anders überlegt hat. Er soll ja kein Freund von diesem kalten Wetter sein.“

„Ah, er würde es sich niemals überlegen, wenn es um so etwas geht. Er ist viel zu sehr... von sich eingenommen. Würde er nur halb so gut zu uns sein, wie ein Ego groß ist, wäre das schon ein Segen für so einfache Leute wie uns. Aber so lange, wie es noch Menschen wie euch gibt, können wir noch überleben.“, flüsterte Pop nun so leise, dass Draco richtig hinhören musste, um ihn zu verstehen.

„Zu viel der Ehre Pop, ich verlasse mich dann auf euch und komme nach dem Mittag zurück, um meine Ware zu holen.“

„Ganz wie ihr wünscht, es wird alles bereit sein.“

Alexander nickte kurz und gab Draco dann ein Zeichen wieder aufzusitzen. Sie ritten weiter die Straße entlang, während Alexander ihm erklärte, was es mit dem Mann auf sich hatte.

„Pop hat lange für meine Eltern gearbeitet, bis er zu alt dafür wurde. Annie und ich sind praktisch mit ihm aufgewachsen, genauso wie mit Sophie. Allerdings waren meine Eltern nicht besonders großzügig, was die Bezahlung anging und mit fünf Kindern konnten sie auch nichts für sich zurückbehalten. Drei seiner Kinder sind bereits gestorben und die anderen beiden haben selbst kaum genug zum Überleben. Die Abgaben sind einfach zu hoch. Deswegen lasse ich ihn meine Aufträge erledigen und bezahle ihn dafür. So kann er wenigstens die nächste Steuer bezahlen und für ihn und seine Kinder bleibt noch ein bisschen übrig.“

Draco hatte ihm nicht richtig zugehört, denn seine Augen hatten etwas anderes entdeckt. Hinter der Stadt sah er Türme in den Himmel ragen. Die Burg war vielleicht nur ein paar Meilen entfernt, mit Hera sicher schnell zu erreichen. Instinktiv wusste er, dass dies der Ort war, an dem sie war. Warum hatte er ihn hierher gebracht?

„Es fängt bald an.“, sagte Alexander unerwartet und wieder nahm er den Weg in eine Seitengasse. Sie war schmaler und dunkler, als die vorherige und Draco sah sich angewidert um. Das wäre kein Ort an dem er sich freiwillig aufhalten würde.

„Gleich wird es einen Festumzug geben.“, erzählte Alexander leise. „Ich will dass du ihn dir ansiehst. Nur ansehen, haben wir uns verstanden?! Wir werden getrennt sein, ich will nicht, dass jemand uns zusammen sieht. Annie sagte, dass niemand wissen soll, dass du bei mir bist, deswegen die Kapuze und das Schweigen.“

„Warum sollte ich mir sowas ansehen?“, fragte Draco und es war der erste richtige Satz, den er an diesem Tag mit ihm gesprochen hatte. Alexander sah ihn scharf an. „Das wirst du dann schon sehen. Aber wage es nicht, irgendetwas Unbedachtes zu tun. Ich tue das für sie und nicht für dich.“

Verwirrt sah Draco ihn an. „Sie?“

„Meine Schwester, wen sonst und jetzt hör zu. Wir reiten weiter diese Straße entlang, wenn du den Turm der Kirche siehst, befinden sich auf der linken Seite zwei Gassen. Die eine links von einem großen, weißen Fachwerkhaus, die andere genau auf der rechten Seite gegenüber. Du nimmst die linke, ich die rechte. Wenn du sie durchquert hast, befindest du dich wieder auf der großen Hauptstraße, auf der wir vorhin schon waren. Dort wirst du wahrscheinlich auf beiden Seiten eine Menschenansammlung finden. Reihe dich zwischen ihnen ein. Du kannst auf Hera sitzen bleiben, ich gehe davon aus, dass viele Reiter dort sein werden, um es sich anzusehen. Du wirst also nicht weiter auffallen. Irgendwann wird eine Kutsche an dir vorbeifahren. Wenn sie vorüber ist, gehst du sofort durch die Gasse zurück. Wir treffen uns dann an der Kirche. Hast du verstanden?“, fragte er scharf.

„Ja.“, sagte Draco leicht genervt. Was sollte das Ganze? Die Schmerzen in seinen Kopf wurden größer. Seite er wieder gegessen hatte, hatte er sie nicht mehr empfunden, umso schmerzvoller kamen sie ihm nun vor.

Er ritt durch die linke Gasse, wie Alexander es ihm gesagt hatte und bemerkte, dass viele Menschen den gleichen Weg hatten. Auf der Hauptstraße sammelten sie sich an beiden Seiten und ließen auf der Straße selbst Platz. Gebannt sahen sie die Straße nach oben und schienen auf etwas zu warten. Draco folgte ihrem Blick und machte in der Entfernungen einen noch nicht weiter zu erkennenden Punkt aus. Er ließ den Blick weiter schweifen und sah weiter vor ihm Alexander, der ihm einen strengen Blick zu warf. Noch immer fragte sich Draco was das zu bedeuten hatte. Ein Festumzug? Was immer es war, er wollte es nicht wissen. Aber es war angeblich für sie. Was hatte sie damit zu tun? Draco sah sich weiter um und entdeckte viele Reiter zwischen den umstehenden Menschen. Er und Alexander fielen wirklich nicht weiter auf.

Er hörte die Leute, die weiter oben standen etwas rufen und mit der Zeit wurde es lauter und lauter. Der Punkt wurde größer und langsam konnte er eine Kutsche ausmachen. Wieder verging etwas Zeit und Draco folgte desinteressiert dem Punkt – bis er erkannte, was es war.

Und als er es sah, fühlte er das erste Mal seit Wochen wieder etwas in seinem Herzen: Hass und Glück zugleich.

Draco erkannte sie sofort. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus dem Zopf gelöst, der ihr Haar streng zusammenhielt und bewegten sich spielerisch im Wind. Ihr Haar zierte ein Reif aus Gold, besetzt mit roten, feurigen Steinen. Sie trug Kleidung, die er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte und die auch Susan nicht trug. Ihr Umhang war aus einem tiefen Rot und erinnerte ihn an die Farbe von frischem Blut. Auch dieser war mit merkwürdigen Gebilden verziert worden. Er wirkte schwer und kostbar.

Es passte nicht zu ihr, stellte er simpel fest.

Doch noch mehr verwunderte ihn ihr Gesicht. Sie lächelte, so sah es zumindest aus, aber es war nicht das Lächeln, welches er von ihr kannte. Es erreichte nicht ihre Augen und sie strahlte auch nicht, wie sie es zuvor getan hatte. Ihr Gesicht war steif und das Lächeln eisig. Draco sah, wie sie die Hand bewegte, als wollte sie all die Menschen grüßen, die ihr zuriefen und zujubelten. Doch es wirkte auf ihn mehr gezwungen, als gewollte. Er konnte nicht sagen, ob sie dabei überhaupt etwas empfand. Seine Annie, die Annie mit der er zusammengelebt hatte, war ein Mensch gewesen dem man alles hatte am Gesicht ablesen können: Freude und Glück, Traurigkeit und Wut. In diesem einen Jahr, hatte er als das bei ihr gesehen. Aber die Person, die er jetzt sah, war im seltsam fremd und doch vertraut.

Was hatte man ihr angetan?

Und doch... er sah sie wieder. Es war mehr, als er in den letzten Wochen zu denken gewagt hatte. Die Kutsche zog weiter und Dracos Blick glitt zu ihrem Begleiter.

Ihr gegenüber saß der Mensch, dessen Blut er sehen wollte. Selbstsicher und grinsend saß Barrington in der Kutsche, blickte selbstgefällig über die Menge und hob ab und an eine Hand. Konnten all diese Menschen wirklich ihn meinen mit ihren Rufen?, fragte sich Draco zweifelnd. Liesen sich die Menschen wirklich so leicht blenden? Er konnte den Blick nicht von ihm lösen, obwohl er ihn regelrecht anekelte. Eines Tages würde er diesen Mann gegenübertreten und das beenden was Barrington begonnen hatte. Neben Barrington tauchte eine weitere Gestalt auf. Er ritt auf einem weißen Pferd. Auch ihn hatte Draco schon einmal gesehen. Ebenfalls das erste Mal vor einem Jahr. Draco unterdrückte das Gefühl, welches ihn bei dem Anblick der beiden Männer überkam. Doch eines entschied er noch im gleichen Augenblick: Barrington würde nicht genug sein.

Aus den Augenwinkeln nahm er auf einmal eine Veränderung in Annies Gesicht wahr. Ihre Augen strahlten plötzlich und ihr Lächeln wurde echt. Draco folgte ihrem Blick und sah, dass sie Alexander entdeckt hatte. Er verbeugte sich leicht vor der Kutsche und auch John Barrington hob für ihn grüßend die Hand.
 

Diese eine Person zwischen all den fremden Gesichter zu sehen, gab ihr mehr Halt und Hoffnung, als es tausend gute Bekannte hätten tun können, dachte Annie still. Alexander stand zwischen zwei anderen Reitern und doch hatte sie ihn schnell erkannt. Mit seiner Größe und Statur war er auffälliger, als die anderen. Das letzte Mal hatte sie ihn vor zwei Wochen gesehen. Dass sie so lange nichts mehr von ihm gehört hatte, hatte sie beunruhigt, auch wenn sie wusste, dass es besser war, wenn er nicht zu oft zu ihr kam. Selbst das Versprechen an diesem Tag zu erscheinen, hatte sie nicht beruhigen können. Sie sehnte sich sehr nach seiner Gesellschaft, genauso sehr wie nach der eines anderen geliebten Menschen.

Annies Tage waren einsam und grau. Immer wieder hatten sie nur den gleichen Rhythmus, ohne Abwechslung und immer verbrachte sie sie in Gesellschaft anderer, ihr unbekannter Leute. Dieser Tag brachte zwar in gewisser Weise die ersehnte Abwechslung, doch kam sie sich eher vor, wie ein gut gemästetes Tier, was dem Fleischer vorgeführt wurde.

Annie hielt Alexanders Blick so lange sie konnte. Sie bemerkte wie Jonathan, der neben der Kutsche geritten war und die Soldaten überwachte, die die Kutsche begleiteten, neben Barrington auftauchte und ihm etwas sagte. Es interessierte sie nicht und sie gab sich auch keine Mühe hinzuhören. Doch plötzlich wurde sie stutzig. Alexander stand immer noch reglos in der Menge, doch seine Augen deuten auf etwas anderes, in eine andere Richtung. Sie zeigten nach rechts. Verwundert folgte sie dieser Richtung und ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches sehen. Die Menge war gesichtslos für sie. Es waren alles unbekannte Menschen, zu denen sie keinerlei Bezug hatte.

Unerwartete wurde ihre Aufmerksamkeit auf einmal auf jemanden gezogen, der aus der Menge herauszustechen schien, obwohl er nicht viel anders aussah, als die anderen Menschen. Er saß auf einem schwarzen Pferd und war vollkommen untern einem Umhang und Kapuze verborgen. Sie versuchte seine Augen auszumachen und augenblicklich war ihr als würden ein paar Augen sie durchdringen und sie gefangen nehmen. Ein Schauer durchlief sie, ließ sie tief in ihrem Inneren erzittern und richtete die feinen Härchen auf ihrem Arm auf.

Sie schloss die Augen, zwang sich zum Atmen. Das war unmöglich. Langsam sah sie erneut hin, wollte sich davon überzeugen, dass ihre Augen und ihre Gefühle ihr nur einen dummen Streich gespielt hatten, doch der fremde Reiter stand noch immer an der gleichen Stelle und wieder spürte sie seinen durchdringenden Blick auf sich. Jetzt sah sie ganz genau hin.

Dieses Pferd... sie kannte es, wurde ihr klar. Sie hatte es so oft bei ihrem Bruder im Stall bewundert. Schnell hatte sie keinen Zweifel daran, dass es Hera war, auf der der unbekannte Reiter saß. Und der verhüllte Reiter saß stattlich auf dem Tier. Seine Haltung war aufrecht, der Rücken gerade und doch wirkte es vollkommen entspannt und natürlich. Die Zügel lagen lose in seinen Händen.

Es war, als würde er auf dieses Tier gehören, nein, vielmehr als würde er nach oben gehören, weit über die andern gewöhnlichen Menschen hinaus, die sie unten auf dem Boden standen. Hera war ein wunderschönes Tier und sie verlieh ihm über seine natürliche Erscheinung hinaus etwas Stattliches, Herrschaftliches.

Es war ein atemberaubendes Bild – als hätte er derjenige sein sollen, den die Menschen feierten.

Sein Kopf war gerade und noch immer spürte sie, wie er sie direkt ansah. Sie sah das eisige Blau vor sich, das Leuchten in ihnen von jener letzten Nacht und auf einmal schien ihr Herz vor Freude zu zerspringen.

Er war es tatsächlich! Er war hier! Nur wenige Schritte von ihr entfernt! Wenn sie doch nur davon laufen könnte! Hera war schnell, sie würden fliehen können. Es wäre doch so einfach... und doch so unmöglich.

„Wen seht ihr an?“, hörte sie Semerloys Stimme plötzlich neben ihrem Ohr und Annie erschrak. Sie hatte vergessen, wo sie sich befand und wer in ihrer Nähe war.

„Niemand bestimmten.“, antwortete sie hastig, konnte aber nicht vermeiden, dass ihr Blick wieder zu ihm schweifte. Sie spürte, wie Barrington und Semerloy ihrem Blick folgten. Alles in ihr schrie, dass es falsch war, dass sie wegsehen sollte, doch seine Augen ließen sie nicht gehen. Sie merkte nicht einmal, wie die Kutsche ihn langsam passierte.
 

Er atmete ein und wieder aus, darum bemüht sich zu beruhigen. Er durfte nicht länger bleiben. Noch war es nicht so weit.

Draco zog kurz an den Zügeln. Hera tat daraufhin einen Schritt zurück und sich nach links drehte. Ganz so, wie er es wollte. Er warf noch einen letzten Blick zu ihr, dann zu Barrington. Irgendwann würde sie wieder bei ihm sein.

Im gleichen Augenblick kam ein Luftzug auf und blies ihm ins Gesicht. Der Wind zog an seiner Kapuze und entblößte einige seiner Haarsträhnen. Doch noch bevor sie ganz von seinem Kopf rutschten konnte verschwand Draco in der dunklen Gasse.
 

Annie starrte schockiert zurück. Plötzlich hatte man einige seiner hellen Haarsträhnen und ein bisschen von seinem Profil sehen können. Von der Seite hatte sie gesehen, wie Barrington auf einmal sehr aufmerksam geworden war. Sein Kopf hatte sich gehoben und seine kleinen Augen noch mehr verengt. Doch schon im nächsten Augenblick war Draco in der Gasse hinter ihm verschwunden und auch Alexander war nicht mehr zu sehen.

„Wer war das?“, fragte Barrington leise.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete Annie so gut sie konnte.

„Danach sah es aber nicht aus.“

„Ich war nur verwundert, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. So kalt ist es heute gar nicht.“, log sie frei heraus.

„Mmh.“, brummte Barrington. Er glaubte ihr nicht, realisierte sie ängstlich.
 

Sie ließen die Tore der Stadt hinter sich und Draco war im gleichen Moment erleichtert. Doch ein kleiner Teil von ihm wollte bleiben, wollte zu ihr und sie mit sich nehmen.

Bisher hatte er nicht mit Alexander darüber gesprochen aber er würde es tun. Das was geschehen war, war etwas, worüber er nicht schweigen konnte und wollte. Als sie die Anhöhe erreicht hatte und außerhalb der Sichtweite der Wachen waren, setzte er die Kapuze ab und sprach ihn an.

„Warum hast du das getan?“, forderte er augenblicklich zu wissen.

Alexander ritt unbeirrt weiter und nur widerwillig folgte Draco ihm.

„Ich sagte doch, ich tue es für sie. Ich habe ihr zwar erzählt, dass es dir gut geht, aber sie... sie hat mir schon geglaubt, aber sie war dennoch beunruhigt. Sie wollte sich gern mit eigenen Augen. Natürlich hat sie das nicht gesagt, aber es war ein leichtes das zu erahnen.

Ich habe mich dazu entschieden, weil ich glaubte es würde ihr helfen. Wenn sie weiß, dass es dir wirklich gut geht, kann sie vielleicht etwas beruhigter sein. Die Sorge um dich schadet ihr zusätzlich.“

Draco antwortete nicht, sondern dachte über seine Worte nach. Ging es ihr damit besser? Ging es ihm besser, jetzt da er sie endlich wieder gesehen hatte? Er wusste es nicht richtig. Er war glücklich gewesen, sie wiederzusehen, aber es hatte ihm auch deutlich den Verlust vor Augen geführt. Erging es ihr nicht ähnlich? Doch sie nicht gesehen zu haben, diese Gelegenheit nicht genutzt zu haben, wäre genauso schmerzlich. Was war also richtig und was falsch?

„Allerdings... glaube ich, dass Barrington dich ebenso bemerkt hat. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, was zwischen euch vorgefallen ist. Aber Barringtons Aufmerksamkeit zu haben ist niemals gut. Wir können froh sein, dass er dein Gesicht nicht gesehen hat. Dennoch war dies das erste und letzte Mal, dass ich dich in die Stadt mitgenommen habe.“

Draco nickte. Er verstand Alexanders Worte klar und deutlich. Doch er würde ihn nicht darin hindern können, wenn er den Weg zu dieser Stadt das letztes Mal suchen würde.

Unerwartetes

„Wie war es in der Stadt? Habt ihr sie gesehen?“, fragte Susan als erstes, nachdem Draco und Alexander die Tür durchquert hatten.

„Ja, das haben wir. Sie war wunderschön.“, antwortete Alexander und gab seiner Frau zu Begrüßung einen Kuss auf die Stirn.

„Wenn sie nicht deine Schwester wäre, würde ich glatt eifersüchtig werden.“, erwiderte Susan lächelnd. „Wie fandest du es Draco? Hat es dir in der Stadt gefallen?“, wandte sie sich dann an ihn. Alexander sah ihn streng an und Draco wusste, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde. Aber er antwortete nicht.

Stattdessen ging er in sein Zimmer.

„Was ist mit ihm?“, hörte er Susan noch fragen und Alexander mit zusammengebissenen Zähnen darauf antworten: „Es geht ihm nicht gut.“

Draco ließ sich augenblicklich auf das Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kopfkissen. Hinter seinen Augen saß noch immer dieser dumpfe Schmerz und selbst jetzt, nachdem sie die Stadt weit hinter sich gelassen hatten, glaubte er deren durchdringende Geräusche immer noch hören zu können.

Und die Geräusche vermischten sich mit ihrem Anblick.

Ja, sie war schön, dachte er. Das war sie immer. Aber diese Kleidung... als hätte sie einer anderen gehört. War es wirklich die gleiche Annie gewesen, die ihn gerettet hatte? Sie hatte am Anfang so anders gewirkt. So steif und erhaben. Erst als sie Alexander gesehen hatte und dann ihn, hatte er sie wirklich erkannt. Sie hatte sich verändert. Er konnte es spüren. Was hatte dieser Mann mit ihr gemacht? Wie weit würde er sie noch verändern? Existierte seine Annie noch?

Was, wenn sie so werden würde, wie er? Wäre das möglich? Würde sie den gleichen, kalten Blick, wie dieser Mann haben? Würde sie genauso grausam sein?

Draco verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Nein, das war vollkommen unmöglich. Er hatte sie ein Jahr lang kennengelernt. Niemals wäre sie fähig etwas Böses zu tun. Die letzte Woche ihres Zusammenseins hatte ihm das deutlich gezeigt. Dennoch war die Veränderung nicht zu übersehen. Noch nie zuvor hatte sie auf ihn so traurig, aber vor allem einsam gewirkt.

Er wollte bei ihr sein. Wollte sie berühren und küssen, immer und immer wieder, bis sie beide vergaßen wer sie waren oder woher sie kamen.

Allein mit diesen Gedanken gelang es ihm einzuschlafen, begleitet von dem leisen Pochen in seinem Kopf, das selbst die Erinnerung an ihren Anblick nicht besänftigen konnte.
 

Die nachfolgenden Wochen vergingen nicht mehr so schnell wie zuvor. Die Tage wurden immer kürzer und zogen sich trotzdem scheinbar endlos. Dracos Tagesablauf hatte sich nicht geändert. Er versorgte die Tiere und hakte Holz, weil Alexander oft den ganzen Tag nicht da war, um, wie er selbst sagte, ein paar Geschäfte zu erledigen. Wenn Draco Zeit hatte, dann nutzte er diese, um mit Hera auszureiten.

Dann war es nicht er, der entschied, wohin es gehen sollte, sondern er ließ sich von ihr tragen. Hera wählte oft den Weg in den Wald, durch den sie langsam trabte. Draco wusste, dass dies der eigentliche Ort war, an den sie beide gehörten. Doch nie kehrte er bei solcher Gelegenheit zu der kleinen Hütte zurück. Was sollte er auch dort? Es gab nichts, was ihn an diesen Ort band außer seinen Erinnerungen. Und diese Erinnerungen schienen ihn mit jedem Tag schwerer. Was sollte er mit all diesen Erinnerungen, wenn sie ihn doch nur quälten? Er wünschte sich mehr und mehr vergessen zu können. Aber er wusste, dass das vollkommen unmöglich war. Nur der Tod selbst konnte ihm vielleicht diesen Wunsch erfüllen.
 

Es waren bereits drei Wochen vergangen, seit er Annie in der Stadt gesehen hatte, als Susan mit einer Neuigkeit aufwartete, die er zu Beginn nicht ganz verstand. Ihm war nur aufgefallen, dass sie sich anders benahm, doch er hatte damit ebenso nichts anfangen können. Sie hatte nur immer wieder die Stirn gerunzelt und dabei gelächelt. Er hatte sich nichts dabei gedacht und Alexander schien das Verhalten seiner Frau auch nicht aufzufallen.

„Willkommen daheim.“, begrüßte Susan Alexander eines Abends, während sie und Draco schon beim Abendessen waren und ihr Mann gerade erst zurückkam. Sie küsste Alexander flüchtig auf die Lippen, etwas was sie noch nie in Dracos Gegenwart getan hatte und ihre Augen strahlten ihn so glücklich an, dass Draco nicht anders konnte als wegzuschauen. Er kannte diesen Blick. Es gab eine Zeit, da hatte Annie ihn ebenso angesehen.

„Was ist denn in dich gefahren? So glücklich habe ich dich schon lange nicht mehr erlebt.“, fragte Alexander und sah sie genauso liebevoll an, wie sie ihn. Draco beeilte sich sein Abendessen zu beenden und sich dann zurückzuziehen. Diesen Anblick konnte er aus irgendeinem Grund nicht ertragen.

„Ich muss dir etwas ganz fantastisches erzählen.“, redete Susan weiter und Draco hörte, dass ihre Stimme leicht zitterte.

„Was denn? Spann mich nicht so auf die Folter.“, drängte Alexander sie.

„Nun, das... Das, was wir uns am sehnlichsten gewünscht haben, ist endlich in Erfüllung gegangen.“, sagte Susan aufgeregt und doch mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Nun drehte sich auch Draco neugierig um und sah, dass Alexanders Gesicht für einen Moment erstarrt war und er sie dann ungläubig ansah. Als könnte er nicht ganz begreifen, was sie da sagte. Genauso, wie es Draco erging. Es schien ewig zu dauern, eher Susans Mann seine Sprache wieder gefunden hatte und brachte dann nicht mehr als ein gekrächztes „Ist das wirklich wahr?“ zustande.

Draco verstand die Menschen einfach nicht.

Susan nickte mit dem Kopf und ihre Wangen färbten sich leicht rosa. Sie sah glücklich aus.

„Du bist wirklich schwanger?“, fragte Alexander noch einmal und schien es immer noch nicht begreifen zu können.

„Ja, ich bin mir ganz sicher. Ich wollte dir vorher nichts sagen, weil ich es nicht genau wusste, aber jetzt... Oh, Alexander endlich ist unser Wusch in Erfüllung gegangen.“ Sie umarmte ihn und er zog sie fest an sich. „Das ist wunderbar.“, hörte Draco Alexander leise sagen, konnte ihnen aber noch immer nicht folgen.

Draco erhob sich. Er spürte, dass es besser war die beiden allein zu lassen. Außerdem konnte er es nicht ertragen sie so zusammen zu sehen. Er würde sie wohl nie wieder so in seinen Armen halten können. Selbst dann nicht, wenn er endlich den Umgang mit dem Schwert erlernen würde. Schon lange hatte Alexander ihm versprochen, es ihm beizubringen, doch bisher war nichts dergleichen geschehen. Allerdings hatte er auch noch nicht wieder von diesem Lesen und Schreiben angefangen. Wie auch, wenn er oft erst wieder zurückkam, wenn selbst das Abendessen bereits beendet war?

Schwanger?, fragte sich Draco, als er die Tür hinter sich schloss. Er hatte dieses Wort noch nicht gehört. Annie hatte es nie gebraucht und er konnte sich nichts darunter vorstellen.

Aber musste er es wirklich wissen? Es ging ihn nichts an und wenn es wirklich von so großer Bedeutung war, wie die Worte und Handlung der beiden vermuten ließen, dann würden sie es ihm vielleicht schon sagen. Wenn, nicht, dann war es ihm genauso gleich. Es hatte offenbar nichts mit ihm zu tun.

Draco sollte sich irren, denn nur wenige Augenblicke später betrat Alexander den Raum.

„Warum hast du dir keine Kerze angezündet? Es ist viel zu dunkel hier drin.“, bemerkte er gleich und kehrte noch einmal in die Küche zurück, um eine Kerze zu holen. Alexander stellte die brennende Kerze auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl, wie er es schon so oft zuvor getan hatte. Draco sah ihn ausdruckslos an und wartete bis er reden würde. Denn nur deswegen war Alexander hier, dessen war er sich durchaus bewusst. Das tat er schließlich immer: Reden.

„Du hast gehört was Susan gesagt hat?“, fragte er. Natürlich hatte er es gehört, dachte Draco bissig. Statt es auszusprechen nickte er kurz.

„Jetzt, da wir ein Kind erwarten und meine Familie schon bald zu dritt sein wird, wirst auch du einige Einschränkungen hinnehmen müssen.“, begann Alexander. Draco musterte ihn. Ein Kind erwarten? War es das, was dieses Wort „Schwanger“ bedeutete? Ein Kind?

„Ich will, dass du Susan gerade jetzt mehr im Haushalt zur Hand gehst. Ich werde zwar wieder mehr zu Hause sein, aber es kann nicht schaden, wenn du auch mithilfst und dich mehr einbringst. Ich will nicht, dass sie schwer hebt oder sich sonst irgendwie anstrengt. Ich erwarte, dass du alles tun wirst, worum sie dich bittet, ohne wenn und aber. Hast du mich verstanden?“, fragte Alexander und seine Stimme hatte einen scharfen Unterton bekommen.

Ja, das hatte er, klar und deutlich. Alexander hatte in einem Ton gesprochen, der eigentlich keinen Widerspruch zuließ. Es war nicht so, dass das Draco beeindruckte, aber er wusste, dass keinen Sinn haben würde. So lange, wie er bei diesem Mann lebte und auf ihn angewiesen war, blieb ihm nichts anderes übrig. Also nickte er kurz.

„Gut.“, sagte Alexander, offenbar zufrieden, dass es so schnell ging. „Was geschehen wird, wenn das Kind da ist, werden wir dann sehen. Es kann sein, dass du in ein anderes Zimmer musst. Aber das entscheiden wir später. Morgen beginnen wir mit der ersten Lektion in Lesen und Schreiben. Mal sehen, wie du dich da anstellst.“ Damit erhob sich Alexander und wollte den Raum gerade verlassen.

„Was ist mit der Schwertkunst?“, fragte Draco.

„Jetzt im Winter ist es ungünstig. Wir haben im Haus nicht genügend Platz und im Stall würden wir nur die Tiere verschrecken. Der Schnee kommt bald und da werden wir keinen festen Halt finden, also werden wir es auf das Frühjahr verlegen.“

Draco sah ihn misstrauisch an. Der Winter war zuvor kein Hindernis gewesen. Doch da Alexander ihm direkt anschaute und seine Stimme vollkommen überzeugt geklungen hatte, konnte Draco nicht anders, als ihm zu glauben. Er verstand von diesen Dingen nicht viel und würde sich nach ihm richten müssen. Wenigstens würde ihm das Lesen und Schreiben die Zeit vertreiben, das hoffte er wenigstens.
 

Er lag noch im Bett, als es an eine Tür klopfte. Er hatte nicht mehr geschlafen, aber er hatte sich auch nicht dazu aufraffen können aufzustehen. Was brachte das auch? Es war ein weiterer Tag mit dem gleichen Abläufen, an dem er nur darauf wartete, bis er vorbei war.

Er antwortete nicht und richtete sich schließlich auf. Im gleichen Moment streckte Susan ihren Kopf durch die Tür und sah ihn ein wenig entschuldigend an.

„Guten Morgen, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist noch nicht aufgestanden und das Frühstück wird sonst kalt.“, fragte sie ihn.

Draco nickte kurz, wie es sonst auch seine Art war.

„Könntest du mir dann einen Eimer Wasser vom Brunnen holen, bevor du zu den Pferden gehst?“, fragte sie unsicher weiter.

Wieder nickte er. Hatte er eine andere Wahl? Alexander hatte ihn am vergangenen Abend ja direkt darauf hingewiesen.

„Danke.“, sagte sie erleichtert und schloss dann die Tür wieder hinter sich.

Nach einem kurzen Frühstück ging Draco zum Brunnen, der hinter dem Stall stand. Er machte den Eimer fest und ließ ihn am Seilzug hinunter. Er hörte wie das runde Holz auf der Wasseroberfläche aufschlug und spürte wie der Eimer schwerer wurde, als er sich langsam mit Wasser füllte. Nach einer Weile zog er ihn wieder nach oben. Das Seil war von den geringen Temperaturen ganz steif geworden und scheuerte unangenehm auf seiner Haut, als er daran zog. Die Temperaturen störten ihn noch nicht weiter. Auch im letzten Winter hatte es lange gedauert, bis er so etwas wie Kälte empfunden hatte. Er war sich sicher, dass es in diesem ebenso sein würde. Dennoch dachte er daran, wie viel wärmer es mit ihr an seiner Seite gewesen war.

Draco trug den Eimer in die Küche zurück. Susan war bereits über den Herd gebeugt und etwas schien in einer großen Pfanne zu brachten. Es war ein wohlriechender Duft, der in der Luft hing.

„Zur Feier des Tages gibt es einen Hasenbraten.“, erklärte sie ihm, als sie seinen Blick bemerkte. „Es war ein großes kräftiges Tier, ich denke er wird ganz ausgezeichnet schmecken. Damit er nicht zäh wird, werde ich ihn ganz langsam garen lassen. Hast du schon mal Hase gegessen?“, fragte sie ihn und sah ihn mit einem Lächeln auf den Lippen an.

Draco schüttelte den Kopf.

„Du wirst gewiss begeistert sein. Aber noch besser als das Fleisch sind die Leber und die Nieren. So schon zart und weich.“, schwärmte sie. „Allerdings wirst du dich da wohl mit Alexander einigen müssen, wer was bekommt.“ Die Vorstellung schien sie wohl zu amüsieren, denn sie lachte kurz.

„Alexander ist in der Stadt und macht ein paar Besorgungen.“, sprach sie weiter, als würde es Draco interessieren, wo dieser Mann sich aufhielt. „Er will schon bald zurück sein. Ich hoffe es für ihn, sonst erfreuen wir beide uns allein an dem Braten.“

Draco sah sie verwundert an. Noch nie hatte er sie so reden gehört. Aber vielleicht konnte er jetzt von ihr mehr erfahren.

Er hasste seine Neugier wahrlich.

„Was bedeutet es schwanger zu sein?“, fragte er sie zögerlich.

Verwundert sah Susan ihn an. Die Überraschung über solche eine intime Frage war ihr anzusehen, auch wenn Draco sich um die Intimität der Frage nicht bewusst war. Einen Augenblick schien sie zu überlegen, ob sie ihm antworten sollte, dann wurde ihr Gesicht ganz sanft und ein kleines Lächeln umspielte ihre Züge.

„Wo kommst du eigentlich her, dass du es nicht weißt? Hast du denn noch nie eine schwangere Frau gesehen?“

Draco schüttelte den Kopf und verfluchte sich bereits dafür, dass er nicht einfach zu den Pferden gegangen war. Die stellten ihm wenigstens keine Fragen, die er ohnehin nicht beantworten konnte, geschweige denn wollte. Doch anders als Alexander, ging Susan auch darauf nicht weiter ein.

„Ganz einfach ausgedrückt, wächst der Bauch um ein vielfaches an. Der kleine Mensch in einem wächst ja auch, als muss sich auch der eigene Körper verändern. Meine Mutter sagte immer, man ist nach neun Monaten froh, wenn das Kind endlich seinen Weg nach draußen gefunden hat. Da ich soweit aber noch nicht bin, werde ich versuchen es anders zu formulieren.

„Es ist... ein unbeschreibliches Gefühl. Zu wissen, dass etwas in einem wächst, das in vielen vielen Jahren einmal ein erwachsender Mensch sein wird, so wie du und ich, erscheint mir unfassbar. Ich frage mich selbst die ganze Zeit, wie so etwas eigentlich möglich ist. Warum ist der Körper einer Frau dazu in der Lage und der eines Mannes nicht? Uns ist dadurch ein Privileg zuteil geworden, das ohne Gleichen ist. Zu wissen, dass in einem ein Kind wächst und dafür verantwortlich zu sein, dass es behütet aufwächst, ihm das Sprechen, Gehen, Schreiben und Lesen zu lehren ist ein faszinierender Gedanke. Gleichzeitig ängstig er mich aber auch ein wenig. Woher weiß ich, dass ich es richtig mache?“, fragte Susan mehr sich selbst und sah ihn nachdenklich an. „Das sind die Gedanken, die einen durch den Kopf gehen. Diese und noch viel mehr. Aber ich weiß, dass sie unbedeutend werden, wenn das Kind erst einmal da ist.“

Ein Kind? War es so ähnlich, wie bei uns, fragte er sich? Langsam schien er zu verstehen.

„Wie lange dauert es bis aus diesem Kind ein Mensch, wie du und Alexander wird?“

„Schließt du dich denn selbst nicht als Mensch, wie wir sie sind mit ein?“, fragte Susan und Draco biss sich auf die Lippen. Nein, das tat er nicht. Auch, wenn er es vielleicht akzeptiert hatte, für den Rest seines Lebens ein Mensch zu bleiben, so machte ihn das noch lange nicht zu einem von ihnen.

Wieder erwartete Susan keine Antwort und sprach weiter. „Der Mensch entwickelte sich beständig weiter, selbst ich und Alexander lernen jeden Tag neue Dinge kennen. So gesehen, kann man kein Alter festmachen. Aber es wird so an die sechzehn Jahre dauern, ehe das Kind erwachsen sein wird. Bis dahin dauert es also noch ein bisschen.“

So lange brauchte ein Mensch um zu wachsen?, fragte sich Draco verwundert.

„Gibt es noch etwas, was du wissen möchtest?“, fragte Susan und wandte sich wieder dem Braten in der Pfanne zu.

„Nein.“

„Dann solltest du dich um die Pferde kümmern. Ich brauche nachher deine Hilfe noch einmal. Ich sage dir dann bescheid.“

Also ließ Draco sie allein und widmete sich seiner Aufgabe die Tiere zu versorgen. Er begann immer mit den anderen Tieren im zweiten Stall und wandte sich dann erst den Pferden zu, um genügen Zeit für sie zu haben. Würde er an diesem Tag noch einmal Gelegenheit haben mit Hera auszureiten?, fragte er sich, als er gerade dabei war, frisches Stroh in Wüstensands Box zu verteilen. Hinter ihm scharrte Hera bereits ungeduldig mit den Hufen und wartete darauf, dass er zu ihr kommen würde.
 

Dieser Tag verging schneller als erwartet und sobald das Abendessen vorbei war und der Tisch abgeräumt war, sagte Alexander zu Draco: „Warte hier. Ich hole Papier, Feder und Tinte, dann können wir anfangen.“

Es dauerte nicht lange ehe Alexander zurückkam, mit all den Dingen in der Hand, die er aufgezählt hatte. Draco hatte das Alles schon einmal kurz gesehen, allerdings nie, wie es benutzt wurde. Annie hatte so etwas auch nicht besessen. Zumindest hatte er nichts der gleichen gesehen.

Alexander legte die Sachen auf dem Tisch ab und reihte sie ordentlich nebeneinander auf. Ganz links lag das Papier. Es war merkwürdig braun-gelb und jedes Blatt hatte eine andere Größe, als das andere und schlug leichte Wellen. Rechts daneben lagen zwei Federn und daneben stand das Fass mit der Tinte. Draco sah es ungläubig an. Mit all dem sollte man schreiben können? So recht konnte er sich das noch nicht vorstellen.

„Also, pass genau auf.“, sprach Alexander dann und zog ein Blatt Papier zu sich. „Das hier ist das große A.“, lautierte er und schrieb gleichzeitig den Buchstaben. Draco beobachtete ihn genau und folgte der Bewegung seiner Hand mit seinen Augen. „Die Worte Ameise, Apfel, Ast oder auch Alexander beginnen mit diesem Buchstaben. Das hier ist das kleine a.“, sprach er weiter und schrieb es daneben. „Das kleine a ist in Wörtern, wie Susan, Draco, Kalender oder Blatt. Verstanden?“

Draco nickt kurz. Das war nun wirklich nicht allzu schwierig.

„Gut, dann versuch es selbst. Erst das große A, dann das kleine.“, kommandierte Alexander.

Draco nahm die Feder in die recht Hand und setzt sie auf das Blatt Papier, genauso wie es zuvor bei Alexander beobachtet hatte. Er setzte die Feder neben Alexanders geschriebenen Buchstaben.

„Nein, du hältst sie vollkommen falsch.“, wurde er sofort von Alexander unterbrochen. „Du nimmst sie zwischen Daumen und Zeigefinger, den Mittelfinger legst du so dahinter und nimmst ihn als Stütze.“ Alexander legte seine Finger neu an die Feder, bis er zufrieden war. „Jetzt versuch es.“, sagte er noch einmal.

War es nicht vollkommen egal, wie er die Feder hielt, so lange nur das Ergebnis stimmte?

Draco wusste genau wie Alexander begonnen hatte und versuchte den Aufstrich ebenso glatt und gleichmäßig zu machen, wie er es gesehen hatte. Doch seine Hand fühlte sich bereits nach wenigen Sekunden, die sie die Feder gehalten hatte, verkrampft an, so dass der Strich weit länger als beabsichtig wurde, dazu noch vollkommen verwackelt und zu schief. Er war regelrecht entsetzt über das, was er sah.

„,Mach den Abstrich.“, verlangte Alexander. Draco tat es, nur um ein ähnliches Ergebnis zu erhalten. Seine Finger schmerzten inzwischen und seine Hand begann zu zittern. Trotzdem versuchte er sich an dem waagerechten Strich in der Mitte, der ebenso misslang. Sein großes A war völlig verwackelt, verzerrt, mit unterschiedlich langen Seiten und hatte nur weit entfernt Ähnlichkeit mit dem was Alexander ihm aufgeschrieben hatte.

„Versuch das Kleine.“, sagte Alexander. Seine Stimme klang ebenso wenig begeistert über das Ergebnis, wie Draco selbst war. Er hatte nicht erwartet, dass es so schwierig sein würde. Draco versuchte es dennoch. Der Krampf in seinen Fingern breitete sich inzwischen über seine Hand aus und kroch langsam in sein Handgelenk. Er hatte nicht erwartet, dass es so anstrengend sein würde.

Auch das kleine a wurde nicht viel besser. Der Bogen glich eher einem gekrümmten Strich und mit dem Abstrich am Ende, sah sein a eher aus wie ein Viereck. Erschöpfte ließ Draco die Feder sinken und besah sich sein missglücken Versuch. Man konnte es nicht einmal als Buchstaben erkennen.

„Du hast auch noch nie eine Feder in der Hand gehabt.“, sagte Alexander trocken und Draco hätte ihm bei diesem Tonfall am liebsten den Hals umgedreht. Natürlich hatte er das nicht! Warum sollte er auch?!

„Ich hätte es eigentlich wissen müssen.“, sprach Alexander weiter und erwartete offenbar nicht einmal eine Antwort von ihm. „Es war mein Fehler, ich selbst habe auch anders Schreiben gelernt.

„Beim Schreiben werden viele Muskeln auf einmal beansprucht und für jemand unerfahren, ohne Übung, kann es sehr schwer sein. Es hat so keinen Sinn weiter zu machen. Das Beste ist, wenn du erst einmal ein Gefühl für die Feder und Tinte bekommst. Zeichne Kreise und Linien, Schleifen, Bögen und Muster - alles was dir einfällt. Das ist die einzige Möglichkeit um deine Hand daran zu gewöhnen. Eher brauchen wir gar nicht weiter zu machen.“ Als Alexander die Dinge aufgezählt hatte, die Draco zeichnen sollte, hatte er sie selbst gemalt, um es ihm zu demonstrieren. Die Worte allein haben Draco auch nicht viel gesagt.

Draco nickte kurz. Das schien ihm einleuchtend. Alexander stand auf und sagte: „Du kannst die Buchstaben auch erst einmal mit den Finger auf die Tischplatte zu schreiben. So werden die großen Muskeln beansprucht und du bekommst vielleicht eher ein Gefühl dafür. Die Bewegungsabläufe werden besser in Gedächtnis gespeichert. Ich gehe jetzt in mein Arbeitszimmer. Wenn was ist, findest du mich dort.“

Draco nickte kurz und wartete bis Alexander die Küche verlassen hatte. Dann schrieb er das große A und das kleine a mit dem Finger auf die Tischplatte. Er konnte nicht feststellen, dass ihm das irgendwie half, aber er hatte es getan. Anschließend tauchte er die Feder in das Tintenfass, wie er es zuvor bei Alexander gesehen hatte. Draco blicke kurz in die Flamme des Kerzenleuchters, der vor ihm stand, bevor er die Feder wieder auf das Papier setzte. Er versuchte sich nicht gleich an dem A, sondern nahm Alexander Rat an und zeichnete Kreise und Linien. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl es würde sich etwas ändern. Die Feder lag schwer in seiner Hand und seine Finger verkrampften sich nach wenigen Augenblicken aufs Neue.

Es verwunderte ihn nicht. Er war von vornherein nicht dafür geschaffen zu schreiben. Vielleicht sollte es also einfach nicht sein. Aber es wurmte ihn ungemein, dass es etwas geben sollte, was er nicht erlernen konnte und sein Ehrgeiz war angestachelt. Demnach probierte er es weiter. Je mehr er es aber versuchte, desto größer wurde der Schmerz in seiner Hand, der sich schon bald über sein Handgelenk in den Arm zog und desto unansehnlicher wurden die Muster auf dem Papier. Trotzdem ließ er es nicht bleiben.

Er musste schon eine ganze Weile dort gesessen haben, als er immer noch keinen Fortschritt feststellen konnte. Stattdessen musste er immer häufiger die Feder absetzen um seine Hand zu bewegen, um den Schmerz und den Krampf zu vertreiben – mit nur wenig Erfolg. Offenbar sollte er wirklich nicht schreiben können, begann er zu denken. Plötzlich betrat Susan den Raum und brachte ein paar Kerzen mit. Erst da fiel Draco auf, dass die alten schon fast herunter gebrannt waren.

„Du solltest es nicht krampfhaft versuchen. Niemand kann das Schreiben über Nacht lernen, auch Alexander und ich haben Jahre dafür gebracht.“, sagte sie, während sie die neuen Kerzen in den Halter steckte.

Draco erwiderte, wie so oft, nichts und setzte die Feder abermals an. Inzwischen hatte er unzählige Linien, Kreise, Schleifen, Bögen und andere Muster auf das Papier gezeichnet, doch nie war es so geworden, wie er es sich vorgestellt hatte. Doch kaum hatte er einen weiteren Strich gezogen, warf er die Feder beiseite. Er konnte sie absolut nicht mehr in der Hand halten. Inzwischen fühlten sich seine Hand und sein Arm nicht nur steif, sondern auch taub an. Zu allem Überfluss war er frustriert, dass es ihm einfach nicht gelingen wollte. Draco spürte, wie Susan ihn beobachtet und er wünschte sie würde einfach verschwinden. Er drehte vorsichtig sein schmerzendes Handgelenk und war wütend über sich selbst, dass es ihm nicht gelang. Aber erst recht, dass er es überhaupt so lange probiert hatte. Es sollte nicht sein und damit konnte er leben.

Wortlos drehte sich Susan um und füllte ein wenig Wasser in eine Schüssel ab. Er glaubte schon, sie würde ihn endlich in Ruhe lassen. Susan tauchte ein Tuch in die Schüssel, nur um es im Anschluss auszuwringen. Als sie fertig war, kam sie wieder auf ihn zu.

„Darf ich?“, fragte sie. Er verstand nicht, was er meinte. Ohne die Antwort abzuwarten, nahm sie vorsichtig seinen rechten Arm. Er wollte ihn zurückziehen, doch noch bevor er schnell genug war, hatte sie das feuchte Tuch darauf gelegt. Als er merkte, wie kühl es war, hielt er inne und ließ sich das Tuch ganz um das Handgelenk wickeln. Sofort klang der Schmerz etwas ab.

„Danke.“, presste er widerwillig zwischen den Zähnen hervor.

„Schon gut. Aber... Vielleicht solltest du mal die anderen Hand probieren.“, flüsterte sie leise und sah über ihre Schulter, als wollte sie sicher gehen, dass Alexander auch plötzlich nicht im Raum stand.

„Was?“, fragte Draco ebenso leise, der nicht wusste, was sie ihm damit sagen wollte.

„Es heißt man soll nur mit der guten Hand, der rechten Hand schreiben, aber manche können das einfach nicht. Sie benutzten nur die linke. Vielleicht bist du ja auch so jemand. Probier es einfach mal, dann wirst du es ja sehen. Aber sag Alexander nicht, dass ich dir das geraten habe. In der Sache ist er genauso altmodisch, wie die ganzen anderen Lehrmeister. Dabei ist es vollkommen egal mit welcher Hand man schreibt, wenn du mich fragst. Hauptsache man kann Wörter und Sätze aufs Papier bringen.“ Sie sah ihn an und Draco nickte kurz.

„Und vielleicht solltest du nicht mehr ganz so lange hier sitzen. Das Feuer ist fast herunter gebrannt und Alexander und ich gehen gleich zu Bett. Es wird dann schnell kühl hier drin. Morgen ist auch noch Zeit für so was. Guten Nacht.“

Damit ließ Susan ihn wieder allein. Draco sah ihr noch einen Moment hierher und dachte über ihre Worte nach. War das denn wirklich möglich? Erneut nahm er die Feder in die Hand, dieses Mal in die Linke. Die Rechte lag neben dem Papier auf dem Tisch, immer noch eingeschlagen in das kühlende Tuch. Im Moment hatte Draco das Gefühl, dass er sie so schnell nicht wieder bewegen könnte ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Er nahm die Feder so in die Hand, wie es Alexander ihm gezeigt hatte, tauchte sie abermals ein und als er sie auf das Papier setzte hatte er das Gefühl, dass es wesentlich leichter ging, als zuvor. Die Bewegung wirkte nicht falsch in seiner Hand. Er zeichnete Bögen, Schleifen und Kreis und die Bewegungen gingen ihm leichter aus dem Handgelenk. Allerdings ergaben sich nun zwei neue Probleme: Er schob nun mehr die Feder, als das er sie zog, wie er es zuvor getan hatte und dadurch verrutschte das Papier. Dieses Problem löste er in dem er einfach das Tintenfass als Beschwerer darauf stellte. Das andere Problem allerdings, konnte er nicht so einfach lösen. Denn jedes Mal, wenn er einen Strich gezogen hatte, verwischte er die Tinte mit seiner eigenen Hand und es verschmierte. Er machte noch ein paar Versuche, hielt die Feder etwas anders und doch gelang es ihm nicht, das Verschmieren ganz zu verhindern. Langsam wurden ihm die Augen schwer und sein Körper müde. Kurz bevor er die Feder endgültig bei Seite legen wollte, versuchte er noch ein letztes Mal ein großes A und ein kleines a zu schreiben. Es sollte ihm zeigen, ob Susan wirklich recht gehabt hatte. Bereits nachdem er den ersten Strich gemacht hatte und dieser fast gerade, ein wenige schräg nach oben lief, wusste er, dass es wohl stimmte. Er war jemand der mit der linken Hand schreiben konnte, während seine Rechte mit einer Feder in der Hand scheinbar vollkommen nutzlos war. Er vollendete die beiden A und betrachtete sie, nicht ohne eine gewissen Selbstzufriedenheit zu verspüren. Es war noch lange nicht so sauber, wie bei Alexander, aber er wusste, dass er es schaffen konnte.

Als er zu Bett ging fühlte sich sein Kopf abermals schwer an und in seinem rechten Handgelenk pulsierte es leicht. In dieser Nacht brauchte er nicht lange, um Schlaf zu finden.
 

Er erwachte später, als an all den anderen Morgen und seine rechte Hand war immer noch steif. Als er in die Küche trat, waren Susan und Alexander bereits beim Frühstück und noch bevor er sich richtig gesetzt hatte, schob ihm Alexander das Blatt Papier hin, welches er gestern beschrieben hatte.

„Das hier sieht schon sehr viel besser aus.“, sagte er und deutete auf die letzen beiden Buchstaben, die er vor dem Zubettgehen geschrieben hatte. „Es hat den Anschein, als hättest du plötzlich eine ziemliche Wende gemacht. Dieses A hier sieht sehr viel besser aus, als die vorherigen. Wie kam es, dass es dir plötzlich so gut gelang?“, fragte er und klang scheinbar wirklich interessiert.

„Ich hab die linke Hand benutzt.“, antwortete Draco kurz und nahm die Schüssel, die Susan ihm in dem Moment reichte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Alexanders Blick sofort verdunkelte.

„Die linke Hand?“

Draco nickte abwesend und begann mit seinem Frühstück.

„Du kannst nicht die linke Hand nehmen!“, sagte Alexander aufgebracht und klang schockiert. Draco sah ihn kurz an und erinnerte sich an das, was Susan ihm am Abend gesagt hatte.

„Warum nicht?“, fragte er zurück, ließ sich bei seinem Frühstück aber nicht unterbrechen.

„Die linke Hand ist keine gute Hand. Man muss mit der Rechten Schreiben oder gar nicht. Nur mit der rechten Hand kann es einem gut gelingen.“

„Dann eben gar nicht.“, antwortete Draco gleichgültig und kaute weiter.

„Was?!“

„Alexander nun reg dich doch nicht auf.“, ging Susan nun dazwischen. „Es ist doch wirklich vollkommen egal mit welcher Hand er schreibt. Wenn es ihm mit links leichter fällt, dann lass ihn doch. Es wird ihm auch so schwer genug fallen, in dem Alter noch das Schreiben zu lernen. Außerdem kann die linke Hand nicht so verkehrt sein. Vergiss bitte nicht, dass das Herz auch auf der linken Seite sitzt.“

Alexander warf rasch einen Blick zu Susan und auch Draco sah sie unverwandt an. Er hätte nicht gedacht, dass sie ihrem Mann wiedersprechen würde. Sie erschien ihm nicht die Person für so etwas – und schon gar nicht für ihn.

„Wenn du meinst. Ist mir doch egal.“, knurrte Alexander und konnte Draco nicht anders, als ihn ungläubig anzusehen. Er machte nicht einmal den Versuch seiner Frau zu widersprechen. Mit so etwas hatte Draco nicht gerechnet. Er fand dieses Verhalten höchst interessant. Alexander konnte ihn also doch noch überraschen.
 

Die folgenden Tage verliefen ohne dass dieses Thema noch einmal angesprochen wurde. Jeden Abend zeigte Alexander ihm einen neuen Buchstabend, der Reihenfolge des Alphabetes nach. Er sagte auch nichts mehr, wenn Draco die Feder jedes Mal in die linke Hand nahm, obwohl Draco spüren konnte, dass es ihm immer noch nicht passte. Alexander presste dann jedes Mal die Lippen zusammen und musste offenbar an sich halten, nicht zu widersprechen. Aber da Susan sich jedes Mal mit in der Küche aufhielt, wagte es Alexander nie seinen Unmut kund zu tun. Draco konnte dann nie anders und lächelte in sich hinein. Sogar der scheinbar noch so starke Alexander hatte einen Schwachpunkt. Nur würde Draco den nicht nutzen können. Susan hatte ihm schon zu oft geholfen, als das er sich jetzt gegen sie wenden könnte.
 

Sechs Tage nachdem Draco den ersten Buchstaben kennengelernt hatte, besucht Alexander endlich nach vier Wochen Annie wieder. Sie hatte seinen Besuch nach dem Festumzug jeden Tag ungeduldig erwartet, nur um am Abend, als es zu dunkel geworden und Besuch nicht mehr zu erwarten war, enttäuscht zu werden. Es brannten ihr viele Fragen auf der Zunge, die sie ihm unbedingt stellen musste und mit jedem Tag, der verging und sie ihn nicht sah, hatte sie Angst, möglichweise etwas zu vergessen. Selbstverständlich konnte sie sich in Gegenwart von John Barrington oder Jonathan Semerloy nichts dergleichen anmerken lassen. Sie war unendlich froh, dass keiner der beiden nicht noch einmal nach dem merkwürdigen Reiter gefragt hatte und sie tat alles, um sie nicht wieder darauf zu stoßen.

Ohnehin hatte sie momentan andere Sorgen.

Als Alexander ihren Raum betrat war sie erleichtert ihn wieder zu sehen. Sie umarmten sich fest und innig und wieder einmal hätte sie ihn am liebsten nie wieder gehen lassen.

„Wo warst du so lange?“, flüsterte sie vorwurfsvoll, bevor sie ihn aus der Umarmung erließ.

„Es tut mir leid. Ich will mich geschäftlich ausweiten und hatte deswegen ein paar Gespräche die keinen Aufschub duldeten.“

„Und das ist ein Grund deine Schwester zu vernachlässigen?“, fragte sie und setzte sich. „Was waren das für Geschäfte?“

„Interessiert dich das denn wirklich?“, fragte er und zog eine Augenbraue nach oben.

„Nein, eigentlich nicht. Aber es ist schön mal etwas von der Außenwelt zu hören.“

Alexander lächelte sie sanft an und Annie verspürte wieder das vertraute Gefühl von Heimat, wenn sie ihn sah.

„Ich habe versucht ein paar neue Kunden zu gewinnen und ich musste es in diesem Jahr noch klären, um zu wissen, wie viel ich im nächste Jahr anbauen muss.“, erklärte er ihr kurz.

„Aber ist es denn noch sicher?“, fragte sie und wusste, dass er wohl verstehen würde, was sie meinte.

„Bisher wurde noch nichts gegenteiliges bekannt gegeben und gegen Küchenkräuter wird wohl kaum jemand einen Einwand haben.“, sagte er und sie verstand. Er würde sich schon zu helfen wissen. Das hatte er immer und sie konnte nun, gefangen in diesem Mauern, auch nichts mehr tun, um ihn zu helfen.

„Was gibt es sonst noch neues? Wie geht es Susan?“, fragte Annie weiter.

„Es geht ihr gut.“, antwortete Alexander und auf einmal breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, das sich Annie nicht ganz erklären konnte. Was war an dieser Frage so lustig? „Offen gestanden geht es uns beiden sehr gut. Unser sehnlichster Wunsch ist endlich erfüllt worden.“, sagte er und seine Augen strahlten sie regelrecht an. Noch nie hatte sie ihren Bruder so glücklich gesehen und es dauerte nur einen kurzen Moment, ehe Annie begriff, was er ihr damit sagen wollte.

„Oh, Alexander, das ist wunderbar!“, sagte sie euphorisch, sprang auf und umarmte ihn gleich noch einmal. „Ich freue mich sehr für euch!“

„Danke schön.“, sagte er und erwiderte ihre Umarmung.

„Ihr müsst wahnsinnig glücklich sein. Ich werde Tante! Ich kann es noch gar nicht glauben! Ich hoffe, ich kann das Kleine auch mal sehen kann.“

„Natürlich wirst du das, daran besteht doch gar kein Zweifel.“, sagte Alexander und meinte es auch so.

„Ich weiß nicht.“, erwiderte sie und ihre Stimmung war nicht mehr ganz so zuversichtlich.

„Warum denn nicht? Du kannst nicht immer hier in den Wänden bleiben und ich kann das Kind, wenn es erst einmal ein wenig älter ist, auch mitbringen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das wollen würde. Ich finde nicht, dass ein Kind an diesen Ort passt. Aber natürlich werde ich alles versuchen, um es mir anzusehen, wenn es geboren ist.“ Sie lächelte schwach und versuchte sich schon einmal zu überlegen, wie sie die Erlaubnis bei Barrington erhalten sollte, ihren Bruder sehen zu dürfen. Aber brauchte sie überhaupt eine Erlaubnis? Eigentlich nicht. Sie war nicht minderwertiger als er. Sie konnte doch selbst über ihr Leben entscheiden – zumindest wollte sie das glauben.

Und sie würde ihn wiedersehen. Allein schon bei dem Gedanken an ihn, schlug ihr Herz so viel schneller, dass es ihr augenblicklich besser ging. Die Gedanken der letzten Tage schienen für wenige Augenblicke, wie verschwunden.

„Wie geht es dir?“, fragt Alexander sie schließlich.

„Gut.“, antwortete sie mit einem Lächeln. Sie freute sich zu sehr für ihn, um ihm von ihren eigenen Sorgen zu erzählen.

Alexander schaute sie skeptisch an. „Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin.“, sagte er dann und nahm ihre Hände in seine. „Was stimmt nicht?“

Alles, hätte sie am liebsten geantwortet, aber das wäre gelogen gewesen. Dadurch dass Barrington kaum noch ausritt und seine Zeit lieber mit Festen und Alkohol verbrachte, war er nachts schon gar nicht mehr in der Lage sie regelmäßig aufzusuchen. Etwas, worüber sie äußerst froh war. Dennoch konnte sie nicht sagen, dass es ihr dadurch viel besser ging. Allerdings konnte sie auch nicht sagen, was ihr fehlte.

„Nichts, es geht mir gut. Ich bin nur... Ich weiß nicht... Ich kann es nicht erklären. Wenn ich mich hinlege, dann fühle ich mich aufgewühlt, angespannt und rastlos. Ich wälze mich im Bett und kann doch keinen Schlaf finden - egal zu welcher Tageszeit ich es auch versuche. Stehe ich dann aber doch auf und gehen ein paar Schritte oder suche mir eine Näharbeit oder etwas zum lesen, dann bin ich nach wenigen Augenblicken so sehr erschöpfte, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Lege ich mich aber wieder hin, beginnt die Rastlosigkeit von neuem und ich kann es kaum ertragen im Bett zu liegen. Ich weiß nicht... ich schlafe nur noch wenig und sehr unruhig und jede noch so kleine Bewegung strengt mich unglaublich an.“, versuchte sie ihm ihre Situation verständlich zu machen.

Alexander stand auf und hob ihr Kinn an. Er sah ihr in die Augen und Annie vermutete, dass er Anzeichen für eine Krankheit suchte. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als er ihre Stirn fühlte und ihre Schläfen abtastete.

„Ich kann nichts ungewöhnliches bemerken.“, sagte er schließlich, nachdem er auch kurz ihren Hals berührt hatte.

„Ich weiß, so gesehen fehlt mir ja auch nichts. Ich weiß nicht... Vielleicht ist es bald vorbei. Irgendwann muss ich ja mal so erschöpft sein, dass ich gar nicht mehr anders kann als schlafen.“, sagte sie und merkte selbst, wie bissig es klang.

„Das hört sich nicht gut an. Ich werde versuchen morgen noch mal kommen und dir etwas zur Beruhigung mitbringen. Ein wenig Hopfen und Baldrian, das sollte dir helfen leichter Schlaf zu finden.“

„Nein tut das nicht. Das ist viel zu gefährlich. Du weiß, was Barrington davon hält und ich will nicht, dass er wieder etwas hat, womit er uns...“ Sie brach ab. Es war nicht nötig, dass sie es aussprach.

„Annie, das ist wirklich-“

„Nein, du solltest jetzt besonders vorsichtig sein. Immerhin hast du bald eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Ich komme schon zurecht und es ist nicht so, dass ich mich täglich überanstrenge. Vielleicht kommt es auch nur von der Langweile.“, sagte sie. Schon wieder klang es so bissig, dafür konnte Alexander nun wirklich nichts dafür. Sie lächelte ihn an und hoffte, dass er nicht merke, wie schwer es ihr fiel.

„Bitte sag ihm nichts davon.“, flüsterte sie schließlich und hörte wie Alexander daraufhin geräuschvoll ausatmet.

„Sicher.“, antwortete er knapp. Annie sah sich noch einmal kurz um, um sicher zu gehen, dass niemand sie hören konnte. Der Raum war zwar leer, aber sie wusste mit Sicherheit, dass draußen vor der Tür die Kammerfrauen warteten oder noch ein paar Wachen. Seit acht Wochen lebte sie in der ständigen Angst irgendwas Falsches zu sagen oder zu tun, was andere in Gefahr bringen konnte. Es zerrte an ihren Nerven und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, dass das die eigentliche Ursache ihres Unwohlseins war.

„Warum hast du das getan?“, fragte sie dann endlich kaum hörbar.

„Ich wollte, dass du dich selbst davon überzeugen kannst, dass es ihm gut geht. Ich weiß, dass du mir nicht ganz geglaubt hast und zweifeltest. Ich hoffte, ich könnte dir damit eine Sorge nehmen.“

Annie lächelte wieder und dieses Mal war es echt. „Das hast du. Das hast du wirklich.“, sagte sie sanft. „Ich kann dir nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt habe, als ich ihn erkannte. Es war als würde mein Körper mit neuem Leben gefüllt werden.“, wisperte sie.

„Das freut mich.“, antwortete er. Annie lachte leise auf.

„So ganz glaube ich dir das nicht.“

„Na ja... es macht mich einfach glücklich zu sehen, dass ich dir dadurch helfen konnte. Ich bin schließlich nicht ganz schuldlos.“, sagte er und wirkte sehr nachdenklich.

Es war das erste Mal, dass er so etwas ausgesprochen hatte und obwohl sie wusste, warum und seine Gedanken ahnte, konnte sie sie dennoch nicht nachvollziehen.

„Was du getan hast, war vollkommen richtig, wirklich.“, sagte sie deswegen ernst. „Du wolltest deine Familie beschützen und das ist dein Recht. Es ist sogar deine Pflicht. Außerdem weiß ich nicht, ob es mir besser gegangen wäre, wenn ich wirklich davongelaufen wäre. Ich glaube nicht, dass ich den Gedanken euch allein und eurem Schicksal überlassen, lange ertragen hätte. Ihr habt das beide erkannt. Deswegen ist es in Ordnung.“

„Annie, du brauchst meine Handlung nicht zu rechtfertigen.“

„Das tue ich nicht. Es war richtig, was du getan hast. So sehe ich es und wir brauchen darüber auch nicht weiter zu reden. Ich komme zurecht. Denen, die ich liebe geht es gut und das ist das Einzige was zählt. Alles andere kann ich ertragen.“

Alexander schwieg und sah nach unten. Annie wusste, dass dies nicht die Worte gewesen waren, die er hatte hören wollen, aber sie konnte ihm absolut nichts anderes sagen.

„Wie geht es ihm? Hat er sich inzwischen bei euch eingelebt?“, fragte sie schließlich neugierig.

„Mehr oder weniger. Wir... geraten nicht mehr aneinander. Oder besser ich habe es aufgegeben.“, antwortete er und klang auch ehrlich entnervt. Noch immer flüsterten sie mit einander, damit niemand hörte worüber oder über wen sie sprachen. Er sprach weiter und Annie nahm jedes Wort in sich auf und verschloss es tief in ihrem Herzen.

„Es geht im körperlich ausgezeichnet, das hast du ja hoffentlich selbst gesehen. Wir haben vor sechs Tagen mit dem Schreiben und Lesen angefangen. Inzwischen sind wir beim Buchstaben F und er lernt recht schnell.“

„Ich habe nichts anderes erwartet.“, unterbrach sie ihn kurz und lächelte in sich hinein.

„Er schreibt mit links.“, machte Alexander seinen Unmut darüber Luft und Annie sah ihn überrascht an.

„Oh.“, stieß sie aus und es dauerte etwas ehe sie sich weiter dazu äußerte. Sie selbst fand es nicht besonders schlimm, aber sie kannte Alexanders Ansicht darüber nur zu genau. „Aber im Grund ist das doch nichts schlechtes.“, sagte sie endlich. „Solange wie es ihm gelingt, ist es in Ordnung. Ich denke nicht, dass er diese Kunst irgendwann einmal intensiv anwenden muss und selbst dann ist es doch eigentlich keine Frage dessen, welche Hand er benutzt. Solange wie die Buchstaben leserlich sind, ist doch alles in Ordnung und vergiss nicht, das Herz sitzt ebenfalls links.“

„Das gleiche hat Susan auch gesagt.“, erwiderte ihr Bruder und verdrehte die Augen.

„Sie ist eine sehr klug Frau.“, schmunzelte Annie. „Ich kann verstehen, dass du darüber nicht erfreut bist. Wenn ich daran denke, wie unserer Lehrmeister sich verhalten halt, wenn wir auch nur einmal die Feder ausversehen in der falschen Hand hatten. Jedes Mal ist er zu einem echten Ungeheuer geworden.“

„Ich hoffe, dass ich nicht so bin wie er oder zumindest nicht ganz so schlimm. Aber du hast schon recht. Ich denke, ich werde ihn dann für mich Rechnungen schreiben und die Bestände aufnehmen lassen. Das sollte er hinbekommen. Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell er begreift. Aber vor allem wird es ihn beschäftig halten.“

„Was ist mit der Schwertkunst?“, fragte sie vorsichtig weiter.

Wieder atmete Alexander tief ein und aus und Annie erkannte, dass er mit ihrer Bitte immer noch nicht ganz zufrieden war.

„Ich habe ihm gesagt, dass wir im Frühjahr anfangen werden. Ich musste mir einen plausiblen Grund einfallen lassen und offenbar hat er mir geglaubt. Ich habe dich das schon einmal gefragt: Warum will er es so unbedingt lernen? Damals hast du mir nicht geantwortet, wirst du es jetzt tun?“

Müde lächelte sie ihn an. „Nein, tut mir leid.“

„Dachte ich mir.“

„Wie hat Draco reagiert... Ich meine, wusste er, dass er mich... das wir uns sehen werden?“, kam sie nun endlich auf den Festumzug zu sprechen.

„Nein, er wusste es nicht. Er war ebenso überrascht, aber vielleicht auch dankbar, wie du. Trotz der acht Wochen, die er nun schon bei uns ist, ist er immer noch schwer einzuschätzen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Die Stadt muss ihn allerdings schwer zugesetzt haben. Ich hätte nicht erwartet, dass er noch nie in einer war.“

„Wie meinst du das?“

„Er war vollkommen... erschöpft von den ganzen Eindrücken, die er hier bekommen hat. Man konnte es ihm gerade zu ansehen und er ist an dem Tag auch gleich zu Bett gegangen.“

„Wirst du ihn wieder mitnehmen?“, fragte sie zaghaft und wusste nicht, ob sie sich ein Ja oder ein Nein als Antwort wünschte.

„Nein, ich denke nicht. Außerdem ist es wohl zu gefährlich.“

Annie nickte. Alexander hatte es also auch bemerkt.

„Offenbar versteht er sich mich Susan. Er hilft ihr, wenn sie ihn darum bittet und das ist eigentlich mehr als ich erwartet habe.“, wechselte ihr Bruder nun das Thema.

„Sei nicht ungerecht zu ihm. Es hört sich ja fast so an, als würde er sonst nichts tun.“

„So meinte ich es nicht. Natürlich hilft er. Er tut was man ihm sagt und das ohne Widerspruch, aber er spricht ja auch sonst nicht viel.“, murmelte Alexander. „Die Tiere haben sich inzwischen an ihn gewöhnt und das reicht mir im Moment eigentlich schon.“

„Wie kommt es dass er gerade Hera hat?“, fragte sie nun. „Ich hätte nicht gedacht, dass du Hera ausgerechnet ihm gibst. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, war sie nicht sehr zugänglich.“

„Oh, ich habe sie ihm nicht gegeben. Glaube mir, es hätte mir nichts ferner gelegen. Aber offenbar hat es einfach gepasst. Sie hat ihn gewählt und er sie, von Anfang an. Sie hat ihn nicht einmal beim ersten Mal abgeworfen. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mich das geärgert hat.“, knurrte er. „Dabei habe ich sie zugeritten. Er reitet jeden Tag mir ihr aus, so lange bis es dunkel wird.“

„Das klingt wundervoll. Er scheint sein Leben endlich akzeptiert zu haben.“, sagte sie und ihr Blick war traurig. Vielleicht konnte sie ihres dann auch endlich akzeptieren.

„Ich weiß nicht. Wie ich sagte, er ist schwer einzuschätzen. Er spricht immer noch nicht viel und sein Blick ist manchmal seltsam leer, als wäre er gar nicht da und ganz wo anders. Ich kann nicht unbedingt sagen, dass er mir sympathischer geworden ist, aber wir kommen miteinander aus.“

„Es macht mich sehr glücklich, dass zu hören. Ich weiß nicht, wie ich dir das je danken soll.“

Alexander machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du weißt, dass du das nicht musst. Ich würde alles für dich machen.“

„Aber es ist nicht selbstverständlich jemanden fremdes aufzunehmen. Deswegen nimm meinen Dank an und belasse es dabei.“ Ihre Worte ließen keinen Widerspruch zu und doch wusste sie, dass Alexander dem nicht zustimmte.

„Was macht dein Gemahl?“, fragte Alexander sie nun und Annie zuckte bei dem Wort unweigerlich zusammen. Nie würde sie sich auch nur an den Gedanken gewöhnen können, dass dieser Mann ihr Ehemann war und das so lange bis einer von ihnen sterben würde. Sie hoffte, dass sie die Erste sein würde. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was mit ihr geschehen würde, wenn Barrington vor ihr ging. Würde sie dann einen anderen Mann ehelichen müssen? Sie bezweifelte, dass sie das Glück haben würde und man sie dann gehen ließe. Also konnte sie nur auf einen früheren Tod hoffen.

„Er spielt Karten und der Wein fließt in Mengen.“ Mehr konnte und wollte sie sich dazu nicht äußern. Sie wollte Alexander nicht noch mehr mit ihren trüben Gedanken belasten.

„Hat er irgendwas gesagt?“, fragte Alexander sie weiter und in Annie machte sich abermals das Gefühl von Angst breit. Ihr Bruder konnte nur diesen einen Moment während des Festumzuges meinen, als Dracos Haare kurz sichtbar gewesen waren.

Kurz nickte sie. „Sie haben bemerkt, wie ich zu ihm geschaut habe. Allerdings habe ja selbst ich sein Gesicht nicht richtig gesehen. Ich wusste nur, dass er es war, eben weil er es war. Aber sie? Nein, ich denke nicht, dass sie deswegen etwas bemerkt haben. Es war meine Schuld, dass sie dann doch misstrauisch geworden sind. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von ihm lösen. Ich weiß nicht, ob sie mir meine Ausflucht geglaubt haben. Es ist gut, dass du ihn nicht wieder mit in die Stadt nehmen wirst.“

„Wie kommt es, dass er noch nie eine Stadt gesehen hat?“

„Warum fragst du ihn das nicht selbst?“, erwiderte sie.

„Du weißt, dass er mir nicht antworten wird. Und du?“

Abwartend sah Alexander sie an und Annie schüttelte gleich den Kopf. Auch sie würde ihm keine Antwort geben.

„Ich verstehe.“, sagte Alexander daraufhin. „Ich muss mich auf den Weg machen, aber ich komme so bald wie möglich wieder, um nach dir zu sehen. Ich muss die Gärten und Ställe endlich winterfest machen. Ruh dich aus und versuch zu schlafen. Irgendwann wird es schon gelingen. Ich werde versuchen ein paar Kräuter zu dir zu bringen.“

„Ich danke dir, aber bitte tu es nicht. Du weiß warum.“

„Wir werden sehen.“, sagte Alexander unbestimmt. „Vielleicht brauchst du sie dann gar nicht mehr.“ Er küsste seine Schwester flüchtig auf die Stirn und verabschiedete sich dann.

Annie blickte nachdenklich auf die Tür. Es war nicht gut, wenn Alexander so viel riskieren wollte. Jetzt im Moment schon überhaupt nicht.

Sie schüttelte kurz den Kopf. Es brachte nichts darüber nachzudenken, dass wusste sie. Alexander hatte seinen eigenen Kopf. Sie würde sich hinlegen und versuchen zu schlafen, ganz so, wie er es gesagt hatte. Sie konnte ja nicht für immer wach sein und das Gespräch hatte sie noch müder werden lassen. Sie musste jetzt einfach schlafen.

Doch kaum hatte sie dies gedacht, klopfte es erneut an ihre Tür, doch ihr blieb nicht einmal Zeit den Besucher hereinzubitten, als sie auch schon auf ging.

Jonathan Semerloy betrat den Raum.

Sofort schien alles in ihr wieder zu erwachen. Ihr Körper wusste instinktiv, dass er bei diesem Mann nicht schwach sein durfte, dass er jeden noch so kleinen Moment Schwäche von ihr ausnutzen würde, um sie zu brechen. Annie richtete sich gerade auf, straffte die Schulter und sah ihn mit entschlossenem Blick an.

„Was führt euch zu mir.“, verlangte sie zu wissen, noch bevor er ein Wort der Begrüßung verloren hatte.

„Ich freu mich auch sehr euch zu sehen.“, sagte Jonathan Semerloy dennoch und behielt das kühle Lächeln, welches seine Lippen umspielte. Er ging auf sie zu und Annie ließ es geschehen, dass er ihre Hand nahm, um sie zu küssen.

„Nun?“, verlangte sie noch einmal zu wissen.

„Offenbar war euer Bruder zu Besuch. Hat er gute Nachrichten gebracht?“

„Ich habe Alexander schon vier Wochen lang nicht mehr gesehen und habe mich sehr darüber gefreut und ja er hatte gute Nachrichten. Aber ich denke nicht, dass es euch etwas angeht. Daher werdet ihr sicher Verständnis dafür haben, wenn ich nicht weiter darüber rede.“

„Aber natürlich.“, sagte er einschmeichelnd und deutet eine Verbeugung an.

„Wie steht es sonst um euer Befinden? Geht es euch gut?“

Misstrauisch sah sie ihn an. Ahnte er etwas? Aber woher? Sie hatte sich gegenüber den Kammerfrauen, Barrington oder ihm nie etwas anmerken lassen. Er konnte nichts wissen. Sicher stellte er sie nur auf die Probe.

„Mir geht es gut.“, und um nicht mehr ganz so bissig zu klingen - wusste sie doch, dass es nicht gut sein konnte, ihre Feindseligkeit ganz so offen zu zeigen - fügte sie etwas schmeichelhafter an: „Danke, dass ihr euch Gedanken um mich macht, aber das ist wirklich nicht nötig.“

Wieder umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel und Annie gewann den Eindruck, dass es nicht mehr ganz so kühl wirkte.

Er streckte einen Arm nach ihr aus und berührte sanft ihre Wange. Zu schockiert von dieser Geste, um auch nur überhaupt reagieren zu können, starrte sie ihn überrascht an.

„Ich muss sagen ihr fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Wie ihr von einem Moment zum anderen so Angewidert sein könnt und dann im nächsten wieder voller Liebreiz zu mir sprecht, ist wahrlich bemerkenswert. Es ist nicht nur eure Schönheit, die euch auszeichnet.“

Sie war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte das alles? Er hatte sie vom ersten Moment verachtet, sie als Minderwertig, als Spielzeug gesehen und nun war er fasziniert von ihr? Das musste ein übler Scherz sein!

„Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass ihr mich sonderlich zu mögen oder zu schätzen scheint.“, sprach sie ihre Gedanken laut aus und versuchte die Gänsehaut zu ignorieren, die seine Berührungen bei ihr auslösten. Es war nicht die Gleiche, die sie bei Draco jemals empfunden hatte. Vielmehr war dies der Beweis ihrer Angst, die ihren Körper erfasst hatte.

„Das kann ich euch selbst nicht beantworten, obwohl ich nichts lieber täte. Vielleicht ist es gerade diese direkte Art, die mich so in den Bann zieht. Aber vielleicht ist es auch nur eine kurzzeitige Verwirrung. Wer weiß...“ Gedankenverloren strich er von ihrer Wange ihr Kinn entlang und fuhr anschließend mit dem Daumen über ihre Lippen. „Ich würde gern wissen, wie diese Lippen schmecken.“

Annie begann zu zittern. Seine Worte waren andere, als Dracos, kurz bevor er sie geküsst hatte und doch hatte sie die gleiche Sehnsucht daraus gehört. Würde er sie ebenfalls...

„Ihr seht ein wenig blass aus. Ihr solltet euch für heute hinlegen und ausruhen. John ist bereits in seinem Gemach eingeschlafen. Ich hoffe euch bald wieder sehen zu können, Mylady.“

Ohne eine Verbeugung, wie es der Anstand verlangen würde, verließ er den Raum. Annie starrte ihm hinterher. Was sollte dieser Besuch? Was ging in seinem Kopf vor?

Wollte er mit ihr spielen? Wollte er ihr Angst machen? Wollte er ihr seinen Spott spüren lassen?

Alles davon war ihm perfekt gelungen.

Sie stolperte rückwärts zum Bett und ließ sich darauf fallen. Ihr Körper zitterte noch immer unkontrollierbar und ihr Unwohlsein war vollkommen vergessen. Sie biss sich heftig auf die Lippen, um seine Berührung an dieser Stelle vergessen zu können.

Nur zu genau erinnerte sie sich an seine Worte, als sie das erste Mal allein gewesen waren. Er würde nicht mehr lange warten wollen.

In der Stille des Winters

Am nächsten Tag nach Alexanders Besuch setzte der Schnee ein und zwar so heftig, wie es Annie noch nicht erlebt hatte. Sie hatte geglaubt, der letzte Winter wäre unerbittlich gewesen, aber dieser schien noch schlimmer zu werden.

Dieses Mal würde sich niemand nachts heimlich neben sie legen, an den sie sich würde anschmiegen können und der sie wärmte.

Annie stand am Fenster und betrachtete das Treiben da draußen. Die Flocken fielen so groß und dicht, dass sie den Wald kaum noch sehen konnte. Sie wusste, dass er da war und das gab ihr Sicherheit und besänftigte ihr unruhiges Herz etwas, dennoch war ihr wohler, wenn sie ihn sehen konnte.

Semerloys Worte verfolgten sie immer noch. Woher kam dieser plötzliche Wandel? Nein, das war falsch. Es hatte sich nicht wirklich etwas geändert. Er betrachtete sie immer noch als ein Objekt, dass er sein machen würde, sobald sie ihre Aufgabe als Barringtons Ehefrau erfüllt hatte. In diesem Moment dachte sie wieder, wie viel besser es doch war, kein Kind zu haben. Barrington war grob zu ihr und nahm sich was er wollte, aber sie wusste, dass Jonathan Semerloy noch weniger auf sie achten würde. Vielleicht würde er noch viel schlimmer sein. Er hatte etwas in seinem Blick, was sie erschaudern ließ. Er konnte bestimmt sanft und zärtlich zu einer Frau sein, aber genauso gut auch grausam und unerbittlich. Aber ganz egal, sie wollte keine dieser Seiten je kennenlernen.

Annie atmete schwer durch. Es war nicht einmal Mittag und sie fühlte sich wieder so müde, als könnte sie den ganzen Tag über durchschlafen. Sie wusste, dass sie sich das nicht erlauben konnte. Inzwischen war John Barrington gewiss wieder nüchtern und würde sie aufsuchen. Ihr wurde allein bei dem Gedanken daran schlecht. Trotzdem sah sie keinen Ausweg. Es gab keinen, das wusste sie. Es wäre sinnlos sich weiter Hoffnung zu machen. Sie konnte nur versuchen es so gut wie möglich zu ertragen, bis ihr Körper es nicht mehr aushalten könnte. Ihr Gedanken in eine andere Richtung lenkend, überlegte sie, dass sie nach dem Essen in die Küche gehen würde. Sie wollte sich erkundigen, ob ihre Anweisung, dass alle noch genießbaren Überbleibsel des Essens in die Stadt geschafft und unter den Leuten aufgeteilt werden, befolgt worden waren. Der Küchenchef hatte sich wenig begeistert davon gezeigt, aber in dem Falle hatte sie ihm gezeigt, wer sie inzwischen war. Es konnte nicht sein, dass all dieses Essen sonst den Schweinen vorgeworfen wurde. Es blieb jedes Mal so viel übrig, dass sie eigentlich gleich alles von vornherein wegwerfen konnten.

Sie machte sich nichts vor, in dem sie glaubte, dass sie Leute diese Gabe mit offenen Armen empfangen würden, aber der Winter war bereits jetzt hart und da würden sie je Hilfe brauchen, die sie bekommen konnten.
 

Die Tage zogen sich dahin und der Schnee ließ nicht nach. Es gab nur wenige Augenblicke in denen die Schneeflocken nicht vom Himmel fielen und die Welt in ein neues prächtiges, weißes Kleid hüllten. Ausritte mit Hera waren für Draco so gut wie unmöglich. Der Schnee, der unten lag, begann zu frieren und überall konnte man ausrutschen. Es war zu gefährlich für das Tier. Da hatte er sogar Alexander rechtgeben müssen, als dieser es ihm eines Morgens erklärt hatte. Also blieb er auf dem Anwesen und ging seinen täglichen Beschäftigungen weiterhin nach. Er fühlte sich regelrecht eingesperrt und die Stunden, die er im Stall verbrachte, konnten ihn nicht davon ablenken.

Zumal seine Gedanken immer wieder zum letzten Jahr zurückkehrten, als er seinen ersten Winter als Mensch erlebte. Wie fremd und unwirklich ihm das alles erschienen war, dachte er. In jenem letzten Winter hatte er zum ersten Mal wahrgenommen, dass Menschen frieren konnten und das er ebenfalls dazu in der Lage war, auch, wenn es bei ihm um einiges länger dauerte als bei den Menschen, und er hatte zum ersten Mal erfahren, wie lieblich sie doch roch.

Was würde diesen Winter geschehen?

Wie würde er die Kälte empfinden?

Wie würde sie sie empfinden?

Würde sie nachts in ihrem Bett liegen und frieren? Oder würde er...

Er biss sich auf die Lippen bis es schmerzte. Er durfte nicht einmal daran denken, um nicht so wütend zu werden, dass ihm ganz heiß wurde!

Um sich abzulenken nahm er noch einen Ballen Stroh und verteilte ihn mit der Heugabel in den vorderen zwei Pferdeboxen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er das den ganzen Winter über tun würde, ohne jemals etwas anders zu sehen. Wenn er Hera nicht benutzen konnte, konnte er vielleicht zu Fuß in den Wald gehen, dachte er. Es wäre besser, als den ganzen Tag Alexander oder auch seine Frau um sich zu haben. Inzwischen hatte er sich mit ihnen... abgefunden, dennoch sehnte er sich nach Momenten in denen er allein war. Ganz allein, ohne ihre Stimmen oder Schritte hören zu müssen.

Als er auch das letzte Pferd gefüttert hatte, legte er den Umhang wieder um und trat nach draußen. Er sah Alexander aus dem anderen Stall kommen und dieser nickte ihm kurz zu. Sie liefen beide über den frisch gefallenen Schnee und Draco wusste, was als nächstes zu tun war. Sie mussten die Wege zu den Ställen und vor allem zum Brunnen freihalten, um zu verhindern, dass sich dort eine ebenso dicke Eisschicht bildete, wie auf dem restlichen Gelände. Außerdem musste auch die Wasseroberfläche des Brunnen vom Eis befreit werden, dass sich des nachts darauf legte. Alexander gab ihm einen Besen und die beiden Männer verrichteten schweigend ihre Arbeit, während der Schnee um sie herum tanzte und der kalte, blasende Wind in ihren Augen schmerzte.

Die Abende verliefen auf die gleiche Art und Weise, wie zuvor. Alexander lehrte Draco die Buchstaben – inzwischen waren sie bei dem Buchstabend U – und er konnte inzwischen schon recht viele Wörter lesen. Zumindest war es das, was Alexander glaubte. Doch Draco konnte die Wörter weniger lesen, als das er sich vielmehr daran erinnerte, wie eine bestimmte Anordnung und Abfolge von Buchstaben ausgesprochen wurde. Hatte ihm Alexander einmal ein neues Wort gezeigt und ihm vorgesprochen, prägte es sich in seinem ewigen Gedächtnis ein. Immer wenn er es brauchte, griff er darauf zurück. Es war als würde er die Wörter auswendig lernen, nur dass dies ohne Mühe geschah. Alexander konnte sein Erstaunen nicht zurückhalten und sagte Draco eines Abends, wie bemerkenswert er seine Auffassungsgabe fand, doch Draco schwieg dazu – wie bei fast allem was er tat.

Das Schreiben viel ihm leichter und ging inzwischen fast flüssig von der Hand. Neue Buchstaben konnte er schon bald genauso sauber schreiben, wie Alexander. Gleiches galt für Worte und Sätze. Und auch das Verschmieren der Buchstaben hatte aufgehört, als Alexander ihm geraten hatte, das Papier ein wenig nach schräg nach links zu legen. Es zeigte sich, dass es ihm wirklich leichter viel auf diese Weise zu schreiben. Da Draco schon bald alle Buchstaben und Laute beherrschen würde, hatte Alexander bereits davon gesprochen, ihm auch die Zahlen und das Rechnen beizubringen. Der Winter würde offenbar noch lange dauern und sie würden noch eine Menge Beschäftigung brauchen, hatte er gesagt. Draco hatte daraufhin mit den Schultern gezuckt. Er würde ohnehin keine Wahl haben und es war immer noch besser als nichts zu tun.
 

Es war eine der Nächte in denen es selbst für den Schnee zu kalt war. Draußen gefror es beständig und Draco wusste, dass er noch einmal nach draußen musste, um den Brunnen vom Eis zu befreien. Allerdings wusste er ebenso wie Alexander, dass es sinnlos sein würde. Bis zum Morgen, wenn sie wieder aufstehen würden, würde es abermals zugefroren sein. Vorräte konnte sie keine anlegen, da es sich nur ein oder zwei Tage halten würden.

Draco lag wach in seinem Bett. Es war warm und angenehm und doch ließ ihn etwas nicht schlafen. Seine Sinne waren alle angespannt und sein Herz schlug ungewöhnlich schnell und gleichzeitig schwer in seiner Brust. Als würde jedem Augenblick etwas geschehen, ein Feind in der Tür auftauchen und ihn angreifen. Dabei wusste er doch, dass es vollkommener Unsinn war. Nichts würde hier erscheinen. Es war eine Nacht, wie jede andere.

Der Schein des zunehmenden, halben Mondes wurde auf dem Schnee reflektiert und ließ die Nacht beinah taghell erscheinen. Draco legte den Kopf schief, sah den Mond einen Moment an und spürte die selbe, altvertraute Sehnsucht in sich. Wenigstens war ihm das geblieben.

Dann schloss er die Augen und versuchte sich vom Schlaf finden zu lassen.

Es war still, dachte er. Sehr still. Kein Wind ging, kein Schnee fiel vom Himmel. Schon lange hatte er so eine Nacht nicht mehr erlebt. Gleich nach diesen Gedanken öffnete er die Augen ruckartig wieder. Jetzt wusste er, was ihn wachhielt. Es war diese Stille. Es war zu still.

Unheilverkündend.

Er stand auf und trat an das Fenster heran. Draußen schien alles normal. Er hatte einen Blick auf den Stall, der inmitten des Schnees lag und eine hohe Schneedecke hatte sich auf das Dach gelegt. Am Morgen würden sie den Schnee beräumen müssen, dachte er kurz, als er sah, dass der Weg schon wieder vollkommen zugeschneit war. Dann ließ er seinen Blick noch einmal über das Gelände wandern, um sich wirklich davon zu überzeugen, dass alles so war, wie es sein sollte. Das beklemmende Gefühl schien nur noch stärker zu werden. Sein Blick glitt noch einmal zum Pferdestall und blieb daran hängen. Der Mond schien direkt darauf zu scheinen. Er erleuchtete das Gebäude hell und klar, als wollte er einen Hinweis geben. Draco betrachtete das Dach weiterhin, besah sich das ganze Gebäude soweit er es erkennen konnte, doch nichts schien ihm auffällig. Er drehte sich um und war gerade dabei sich wieder hinzulegen, als er inne hielt. Er würde keine Ruhe finden, ehe er nicht nachgesehen hatte, sagte er sich. Außerdem musste er den Brunnen vom Eis befreien.

Er zog sich die Schuhe an und warf den dicken Mantel über. Es sollte nicht lange dauern.

Als er die Tür öffnete schlug ihn der eisige Wind ins Gesicht und sofort begann es ihn leicht zu frieren. Der Wind drang erbarmungslos durch den Mantel, seine Kleidung, durch seine Haut in seine Knochen hinein.

Schnellen Schrittes bahnte er sich einen Weg durch den Schnee, bis er vor dem Stall stand. Er lauschte kurz an der Tür. Die Pferde wieherten leise, was ihn verwunderte, schliefen doch auch sie zu dieser Zeit meist. Vielleicht hatten sie ein ähnliches Gefühl, wie er selbst. Noch einmal sah er zum Mond und er konnte wieder nicht anders denken, als das das helle Licht direkt auf den Stall gerichtet war. Draco trat einen Schritt zurück und noch einen. Er ging langsam durch den hohen Schnee. Er konnte einfach nichts Ungewöhnliches feststellen. Sollte er sich so sehr geirrt haben?

Vielleicht spielte das eisige Wetter auch ihm einen Streich.

Gerade wollte er sich zum gehen wenden und zum Brunnen laufen, als er ein kurzen Knacken hörte. Nur kurz und nicht laut, als hätte jemand einen Ast entzwei gebrochen. Er dreht sich um und seine Augen suchten ein letztes Mal den Stall ab. Sein Blick huschte über das Dach und blieb plötzlich an einer Stelle hängen.

Bildete er sich das ein, oder war da wirklich eine Vertiefung im Dach? An einer Stelle schien es, als würde das Dach uneben sein und nach innen eingedrückt werden. Aber er war sich sicher, dass das Dach am Morgen vollkommen in Ordnung gewesen war. Andererseits... so genau hatte er nicht darauf geachtet. Draco beobachtet die Stelle noch einen weiteren Augenblick, dann abermals ein kurzes Knacken, dass umso grausamer klang, gefolgt von einem Ächzen und Stöhnen. Die Stelle, an der das Dach so uneben schien, war noch tiefer geworden.

Plötzlich begriff er.

Das Dach würde zusammenbrechen.

Und es würde die Pferde unter sich begraben!

Augenblicklich rannte er zurück zur Tür, löste den Verschluss so schnell es seine Finger es ihm erlaubten und trat ein. Abermals ertönte ein Ächzen über ihm, dieses Mal länger und gefährlicher. Er riss die Tür auf und die Pferde standen bereits nervös in ihren Boxen, bewegen den Kopf unruhig hin und her und scharrten mit den Hufen. Hastig legte er den ersten Metallriegel um und öffnete die Box. Das Pferd – Sonnentanz – stieb sofort aus der Box und rannte nach draußen, als er schon im Begriff war das nächste rauszulassen. Sie witterten die Gefahr von allein. Wieder Stöhnten die Holzbalken über ihm. Er schaute nach oben und dann sah er es. Ein Balken hatte bereits einen Knick, als hätt wäre jemand dabei ihm mit den Händen zu zerbrechen. Ein erneutes Knacken und er Balken brach weiter. Konnte von einem gebrochenen Balken wirklich alles einstürzen? Doch als sein Blick weiter das Dach absuchte, da er neben dem in seinem Sichtfeld liegenden Balken einen weiter, der bereits gebrochen war.

Sein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich und das Blut begann ihm in den Ohren zu rauschen. Er musste sich beeilen!

Er befreite auch das zweite Pferd aus seiner Box, öffnete sie halb, so dass das Tier allein gehen konnte und machte sich an der dritten Verriegelung zu schaffen. Die letzen beiden waren Wüstensand und Hera. Vom hinteren Teil des Stalles hatte er nun einen genauen Überblick. Es waren bereits zwei Balken gebrochen und auch, wenn er nichts von der Konstruktion dieses Gebäudes verstand, wusste selbst er, dass es ein Wunder war, dass das Dach noch nicht eingestürzt war. Wieder ächzten die umliegenden Balken und Bretter unter der Last, die sie zu tragen hatten und Dracos Bewegungen wurden fahriger. Seine Finger schmerzen, als er den Metallriegel von Wüstensands Box umlegte. Für einen kurzen Moment bliebe er mit dem Daumen an einer vorstehenden Spitze hängen und er riss sich den Handballen auf. Doch er spürte es nicht einmal. Die Angst, dass sie unter der Last des Daches begraben würde, lies keinen Platz für weiteren Schmerz. Nur wage nahm er das Blut war, welches aus auf den Boden tropfte, als er Wüstensands Box endlich öffnete.

Ein erneutes Ächzen, ein kurzer Blick nach oben.

Er würde es nicht schaffen.

Draco drehte sich um, begann Heras Box zu öffnen. Anders als die anderen Pferde sah sie ihn ruhig an und schien keineswegs nervös. Als würde sie wissen, dass er es schaffen würde. Draco blickte ihr kurz in die Augen und hoffte, dass sie sich nicht irrte.

Der Riegel sprang auf und Hera trat mit großen Schritten heraus. Sie galoppierte nach draußen. Zur gleichen Zeit gab es einen letzten lauten Knack und dann herrschte wieder diese seltsame, alles verschlingende Stille, die nur durch seinen Atem unterbrochen wurde. Sie hielt nur für einen einzigen Wimpernschlag an, dann setzte ein Ächzen und Stöhnen ein, so laut und unvorstellbar, dass es Draco durch Mark und Bein ging. Der dritte angebrochene Balken gab endgültig nach und das Dach über ihm begann einzustürzen.

Draco rannte so schnell er konnte. Der Ausgang schien unendlich weit von ihm entfernt. Über all um sich herum sah er herunterfallende Bretter, Balkenstücke und Stroh, dass von dem Zwischenboden viel, welchen die herabstürzenden Balken zerrissen hatten. Es nahm ihm die Sicht, doch er kannte den Ausgang. Er hätte ihn auch blind gefunden. Plötzlich mahnte in seine innere Stimme stehen zu bleiben und er sah kurz nach oben. Ein Balken viel direkt vor seine Füße und hätte ihn erschlagen, wenn er auch nur einen Schritt weiter gegangen wäre. Draco überlegte nicht, sondern sprang über den Balken und lief weiter. Er hörte kurz ein Pferd schmerzvoll wiehern – Hera? – doch da hatte er endlich das Tor erreicht. Er durchquerte es und lief weiter. Hinter ihm wurde das Krachen und Dröhnen lauter, war grauenvoll in seinen empfindlichen Ohren, als der Rest des Stalles, kaum dass er ihn verlassen hatte, gänzlich in sich zusammenbrauch und in einer Wolke aus Stroh, Staub und Schnee verschwand.

Erst als Draco das Haupthaus fast wieder erreicht hatte, spürte er, wie sehr seine Lungen brannten. Kurz nahm er die entsetzten Gesichter von Alexander und Susan war, als er sich vorn überbeugte und die Hände auf die Knie stütze. Er war vollkommen am Ende seiner Kräfte.

Er war schon oft gelaufen, lange und schnell, aber das hier hatte alles andere bisher übertroffen. Dieses Mal war er wirklich um sein Leben gerannt. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Etwas, was ihm schwer fiel, denn ein ganz anderes Bild war vor seinen Augen aufgetaucht. Er, hoch in den Wolken, mit Verletzungen, von denen er sicher war, sie würden ihn töten. Damals hatte er die gleiche Angst empfunden. Auch, wenn er schon oft hatte sterben wollen, so wollte er es nun nicht mehr. Es gab noch etwas was er tun musste. Er konnte noch nicht sterben.

„Bist du verletzt?“, fragte Alexander ihn, der plötzlich vor ihm stand. Draco versuchte zu antworten, doch war er immer noch nicht in der Lage Worte zu formulieren. Stattdessen schüttelte er kurz den Kopf. Ein Fehler, denn gleich darauf wurde ihm auf einmal schwindlig und er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. „Komm hoch.“, sagte Alexander weiter und stützte ihn mit seinen Händen. Erst jetzt viel Draco auf wie zittrig Alexanders Stimme sich anhörte und dass dessen Hände zitterten.

„Wie konnte das passieren?“, hörte er Susan neben sich fragen, die vollkommen aufgelöst klang.

Da richtete sich Draco auf und wagte es sich umzudrehen. Seine Beine zitterten und er atmete immer noch viel zu schnell, aber er wusste, dass es bald vergehen würde. Es war nichts worüber er sich Sorgen machen musste. Die Wolke, die den eingestürzten Stall umgeben hatte, legte sich langsam und gab den Blick auf das Frei, was noch übrig geblieben war.

Lediglich zwei Wände standen noch. Die linke und die hintere. Die anderen beiden waren nach innen oder außen zusammengeklappt, die Bretter aus denen sie gemacht waren, waren zersprungen. Das Dach vermutete er in der Mitte, des einstigen Stalles. Vereinzelt ragten dicke Balken in den dunklen Himmel, die vor wenigen Augenblicken noch das Dach getragen hatten. Über all dem lag Stroh und Schnee. Es war ein seltsam grotesker Anblick. Man konnte nicht einmal mehr vermuten, dass es einmal ein Pferdestall gewesen war.

„Was ist passiert?“, fragte Alexander ihn noch einmal. Fassungslos starrte er auf die Trümmer.

„Der Schnee...“, brachte Draco schließlich heraus und atmete immer noch schwer. „Ich glaube er war zu schwer und hat das Dach zum Einsturz gebracht.“

Draco sah, wie Alexander heftig schluckte. „Ich glaube es einfach nicht.“, brachte er schließlich hervor. Draco sah ihn kurz an und es ging ihm ebenso. Noch nie hatte er diesen Mann so bestürzt gesehen.

„Warum haben wir vorher nichts gemerkt?“, fragte Alexander weiter. Draco konnte nicht antworten.

„Was das Holz bereits so alt?“, fragte Susan, die einen Schritt vor ging, bis sie vor den Trümmern stand.

„Nein, eigentlich nicht.“, antwortete Alexander ihr. „Es muss vielleicht wirklich am Schnee gelegen haben, aber dann...“ Er ließ seinen Blick zu dem anderen Stall und anschließend zu seinem Haus wandern. Abermals schluckte er heftig. Er hatte offenbar den gleichen Gedanken wie Draco, als er es sah. Auf beiden anderen Gebäuden lag ebenso viel Schnee. Wenn das Dach des Pferdestalles nachgegeben hatte, dann konnte das mit diesen Gebäuden ebenso geschehen.

„Wir müssen die Dächer räumen.“, sprach Alexander den Gedanken laut aus und Draco nickte kurz.

„Wo sind die Pferde?“, fragte Susan nun und alle drei sahen sich suchend um. Die drei Tiere, die vorn gestanden hatten, standen am Brunnen und schienen sich wieder beruhigt zu haben. Ein wenig weiter daneben stand Wüstensand, aber wo war Hera?

„Ich kann sie nicht sehen.“, sagte Alexander.

Draco schüttelte den Kopf. Er auch nicht. Er erinnerte sich, dass sie vorhin gewiehert hatte.

„Vielleicht ist sie verletzt?“, sagte er schließlich.

„Was?“

„Ich habe sie vorhin gehört, als ich nach draußen gerannt bin.“

„Auch das noch.“, murmelte Alexander. „Wir müssen sie suchen gehen und den Schnee von den Dächern schieben, heute Nacht noch.“

„Heute noch?“, fragte Susan ungläubig. „Aber es ist viel zu kalt und dunkel. Ihr friert euch die Finger ab.“

„Wir haben keine andere Wahl. Ich kann nicht wieder ins Bett gehen, wenn ich weiß, dass die Last des Schnees auf das Dach drückt und es uns genauso gehen kann.

„Draco sieh zuerst im anderen Stall nach, ob du irgendwas sehen kannst. Irgendwas, das die Balken nachgeben. Ich sehe im Haus nach. Dann holst du die Pferde und bringst sie, wenn alles in Ordnung ist, in den Stall. Danach suchst du Hera. Ich glaube sie würde eher mit dir mitgehen, als mit mir, wenn sie wirklich verletzt ist. Ich versuche schon mal ein wenig

Schnee von den Dächern zu schieben.“

Draco nickte kurz zustimmend. Er ging zum zweiten Stall und sah kurz zu den Überbleibseln des anderen. Der Schrecken saß ihm noch immer in den Gliedern.

Er schob den Riegel der Holztür zur Seite und kurz durchzuckte ihn ein Schmerz. Er sah auf seine recht Hand und nahm zum ersten Mal die Wunde wahr. Es war ein tiefer Schnitt, der sich vom Daumen über seinen Handballen zog. Ein wenig blutete es noch, aber er hatte jetzt keine Zeit um sich darum zu kümmern. Er betrat den Stall und sah zur Decke. Auf den ersten Blick konnte er nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie war genauso ebenmäßig, wie sonst auch. Dennoch betrat er die Leiter und kletterte auf den Zwischenboden. Er lief oben entlang und hob den linken Arm. Mit der Hand fuhr er das Holz entlang, um irgendwelche Unebenheiten zu bemerken, doch alles schien ihm normal. Dieses Dach war noch nicht so gefährdet. Aber Alexander hatte recht. Sie würde das Dach vorsichtshalber räumen müssen.
 

Als er draußen war, kam Alexander gerade aus dem Haus zurück.

„Und?“, fragte er ihn und Draco schüttelt kurz den Kopf.

„Es sieht alles normal aus.“, antwortete er.

„Im Haus auch. Der Kamin hat das Dach offenbar gewärmt. Ist dir nicht kalt?“, fragte Alexander ihn und reichte ihm gleichzeitig ein paar Handschuhe.

„Nein.“, antwortete er ihm. Er nahm die Handschuhe dennoch und zog sie über die Hände. Abermals zuckte er zusammen, als er den Stoff über die rechte Hand schob.

„Hol die Pferde und such Hera. Wenn du fertig bist, hilf mir. Ich fange schon mal an.“

Er nickte als Antwort und ging dann zu den Pferden. Sie standen ruhig da und wurden auch nicht unruhig, als er sich ihnen näherte. Anscheinend hatten sie den Schreck bereits überwunden. Er streichelte Wüstensand kurz an der Nase und gab ihm dann einen Klaps auf den Hintern. Das Pferd trabte los. Genauso machte er es auch bei den anderen. Dann ging er voraus und sie folgten ihm in den anderen Stall. Dort war nur noch wenig Platz. Die paar Kühe, Ziegen, Schweine und Hühner, die Alexander hielt, waren erwacht und starrten ihn ängstlich an. Offenbar ahnten sie, was geschehen war. Draco trieb die Ziegen mit zu den Kühen, so dass die Pferde erst einmal Platz fanden. Es war eng und Hera würde ebenfalls noch dazu kommen, aber es war besser, als sie draußen zu lassen. Er schloss die große Box hinter den Pferden und machte sich dann auf die Suche nach Hera.
 

Die Suche nach ihr war allerdings alles andere als leicht. Sie hatte sich nicht mehr in der Nähe aufgehalten, wie er gehofft hatte, sondern war weiter zum Wald hoch gelaufen. Er hatte ihren Spuren im Schnee sehen können. Es war der Weg, den sie immer nahmen, wenn sie ausritten. Seine Augen waren gut an das Licht des Mondes gewöhnt und es kam ihm vor, als würde er genauso gut sehen, wie am Tag. Schließlich, hatte es eine Zeit geben, in der der Mond wirklich seine einzige Lichtquelle gewesen war.

Draco stand am Waldrand und lauschte. In der Nähe glaube er das Schnauben eines Pferdes zu hören. Er war auf dem richtigen Weg. Er folgte dem Geräusch und fand Hera schließlich vor einem großen, mächtigen Baum stehen. Ihre Gestalt verschmolz mit dem Schwarz der Umgebung und nur die Bewegung ihres Schwanzes, ließ sie deutlich als Lebewesen erkennen. Er näherte sich ihr vorsichtig von der Seite, um sie nicht zu verschrecken. Dennoch hörte sie ihn und hob augenblicklich den Kopf. Bisher konnte er keine schweren oder lebensbedrohlichen Verletzungen ausmachen. Er erwartete, dass sie davon laufen würde, es wäre die erste logische Reaktion eines Tieres, doch sie blieb wo sie war und schien darauf zu warten, dass er zu ihr kam. Draco streckte den linken Arm aus und streifte den Handschuh ab. Behutsam strich er über ihre Nüstern und sie ließ es geschehen.

„Komm mit mir.“, flüsterte er und Hera bewegten den Kopf. Offenbar in Zustimmung, denn sie lief wirklich neben ihm. Draco versuchte einen Blick auf ihren Körper zu werfen und glaubte etwas rot Schimmerndes an ihrer Flanke zu erkennen. Dort muss sie wohl ein herunterstürzender Balken getroffen haben. Aber da sie nicht lahmte oder sich sonst schwerfällig bewegte, schien es nichts Ernstes zu sein.

Er würde es sich bei Tageslicht ansehen müssen.
 

Nachdem Draco das Tier zu den anderen in den Stall gebracht hatte, kletterte er die Leiter zu Alexander auf das Dach herauf. Er sah kurz zum Haus. Dort lag der Schnee noch auf dem Dach, aber er sah jetzt, dass es weitaus weniger war, als auf den Stall. Offenbar hatte die Wärme des Kamins wirklich dafür gesorgt, dass nicht allzu viel darauf liegen geblieben war.

„Pass auf wo du hintrittst. Es ist verdammt glatt.“, sagte Alexander durch seinen dicken Schal hindurch und reichte Draco schließlich einen Spaten, den Alexander im Sommer wohl für die Felder und den Garten benutzte. „Einfach runter schieben.“, wies Alexander ihn an und setzte seine Arbeit fort. Draco sah ihm kurz zu und tat es ihm dann gleich. Es war glatt und nicht ganz ungefährlich, das sah sogar er ein, aber sie kamen gut voran. Störender und vor allem schmerzvoller empfand er das Gefühl in seiner rechten Hand. Der Handschuh scheuerte bei jeder Bewegung unangenehm auf der Wunde und schien sie jedes Mal aufs Neue aufzureisen. Die Stelle begann zu jucken und brennen, doch er beklagte sich nicht. Es war nicht mehr viel und sie würden es bald geschafft haben, sagte er sich selbst. Wenn sie auch das Hausdach vom Schnee befreit haben, würde er die Wunde auswaschen und zu Bett gehen. Am Morgen würde er nichts mehr davon spüren.

Sie kamen gut voran, dennoch brauchten sie länger als erwartet, bis sie den letzten Schnee nach unten geschoben zu hatten. Als sie wieder nach unten geklettert waren, mussten sie zudem den Weg abermals freiräumen. Zum Schluss blieb noch ein letzter Blick auf die Tiere zu tun, die die ganze Zeit unruhig gewesen waren, und den Stall zu verriegeln. Sie machten sich sogleich an das Hausdach. Dies allerdings war nach kurzer Zeit getan. Als sie den letzten Schnee nach unten geschoben hatten, kehrten sie ins Haus zurück.

Dort war es angenehm warm und Susan wartete bereits mit einem heißen Tee auf sie.

„Du solltest dich doch schon längst wieder hingelegt haben.“, mahnte Alexander sie sanft, nahm die Teetassen aber bereitwillig entgegen.

„Als ob ich jetzt schlafen könnte!“, erwiderte Susan und reichte auch Draco einen Becher mit der dampfenden Flüssigkeit. Draco nahm sie dankbar an. Er trank sie nicht gleich, sondern wollte sie mit auf sein Zimmer nehmen. Erst musste er sich der Handschuhe entledigen, aber er wollte nicht, dass die beiden es sahen. Er würde es nicht ertragen können, sich schon wieder von ihnen versorgen lassen zu müssen.

„Bevor du zu Bett gehst, Draco...“, unterbrach Alexander ihn auf seinem Weg und Draco blieb entnervt stehen. Was denn noch? „Danke für deine Hilfe.“, beendete er seinen Satz und Draco sah in seinen Augen, dass er es durchaus so meinte. „Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn du die Pferde nicht herausgelassen hättest und erst recht nicht, was geschehen wäre, wenn du es nicht...rechtzeitig herausgeschafft hättest. Meinen Dank dafür.“

Draco nickte zur Erwiderung kurz. Nie hätte er damit gerechnet einmal einen Dank von Alexander zu bekommen. „Aber noch etwas... wir sollten das Feuer im Kamin immer brennen lassen, um zu verhindern, dass sich über Nacht zu viel Schnee auf dem Dach sammelt. Solltest du also sehen, dass es abgebrannt ist, sei bitte so gut und lege ein paar Holzscheite nach.“

Wieder nickte Draco kurz, dann ging er in sein Zimmer.

Dort stellte er den Becher ab und zog den Handschuh der linken Hand aus. Bei der rechten verzog er schmerzvoll das Gesicht. Das Futter der Handschuhe klebt an dem getrockneten Blut und mit jedem Stück, dass er die Handschuhe herunter rollte, riss er ein Stück Haut mit ab. Wieder begann es zu bluten. Er wusch die Wunde in der Waschschüssel sauber, die neben seinem Bett stand und umwickelte sie dann provisorisch mit einem Hemd. Die Stelle in seiner Hand pochte und der Schmerz zog sich durch seinen Arm. Dann trank er einen Schluck Tee um sich innerlich aufzuwärmen und ließ sich dann aufs Bett fallen. Erst da merkte er, wie müde er war. Er wusste, dass er sofort würde schlafen können, wenn er nicht dieses Pochen in seiner Hand verspüren würde. Es schien den ganzen Raum einzunehmen und mit der Zeit immer lauter zu werden. Draco starrte zum Mond und hoffte, dass dieser ihn beruhigen würde. Draußen hörte er Stühle über den Boden scharren und dann Schritte auf der Treppe. Susan und Alexander gingen zu Bett. Dann lauschte er abermals dem Pochen in seiner Hand. Es sollte bis zum Morgengrauen dauern, ehe er endlich schlaf fand.
 

Draco wurde vom stechenden Schmerz geweckt, der noch immer in seiner Hand saß. Das Pochen war stärker geworden und als er sich aufsetzte wurde ihm schwindlig. Behutsam löste er das Hemd, welches er in der Nacht zuvor darum gewickelt hatte. Es blutete nicht mehr, aber es heilte auch nicht. Aber das würde es schon, dachte er und stand auf. Er musste langsam gehen und schnelle Bewegungen vermeiden. Draco kannte schlimmere Schmerzen, aber für seine Aufgaben, die er zu erledigen hatte, musste er diese Hand gebrauchen. Es würde abermals ein anstrengender Tag werden.

Bevor er den Raum verließ sah er zum Fenster. Es war bereits hell und er überlegte kurz, wie lange er geschlafen hatte. Als er die Küche betrat, sah er Alexander bereits am Tisch sitzen und Draco erkannte, dass er müde aussah.

„Ich dachte ich lass dich noch ein bisschen schlafen, aber offenbar kannst du auch nicht mehr länger im Bett liegen.“, sagte Alexander freundlich. Ein Ton der Draco ungewohnt vorkam und dem er nicht ganz traute. „Es ist schon Mittag. Susan wird gleich etwas Kochen, deswegen fällt der Frühstück kleiner aus. Wir müssen erst nach den Pferden sehen, ob sie wirklich nicht verletzt sind. Außerdem müssen wir sehen, dass sie alle Platz haben. Ich will gar nicht wissen, wie es da draußen jetzt aussieht.“, murmelte Alexander, als er sich auch schon erhob.

Die beiden Männer gingen nach draußen und im schwachen Sonnenlicht, sahen die Trümmer noch erschreckender aus, als in der Nacht. Sie konnten den Stall nicht wieder aufbauen, sagte Alexander nach wenigen Augenblicken, die sie herumgegangen waren. Sie würden das Holz beiseiteschaffen müssen und im Frühjahr einen neuen bauen lassen müssen.

„Das Holz können wir verbrennen. Das Stroh allerdings ist nutzlos. Vollkommen nass und zerdrückt und ich weiß auch nicht, wie man es jetzt trocknen könnte. Lass uns nach den Satteln und Zaumzeug suchen. Vielleicht haben sie es heil überstanden.“, sagte Alexander, als er sich schon an die Arbeit machte.

In den dicken Wintermänteln fiel das Arbeiten schwerer und Draco versuchte nur die linke Hand zu benutzen, als er die Holzbretter umdrehte und beiseite räumte, die einmal die Wände des Stalles gewesen waren. Am Ende fanden sie tatsächlich noch drei Sattel die zu gebrauchen waren, das Zaumzeug, Heugabeln und noch andere Kleinteile, für die Pferde und die sie somit nicht ersetzen mussten.

Den Tieren ging es gut. Hera hatte wirklich nur einen Kratzer auf der Flanke. Allerdings war es wirklich recht eng und Alexander überlegte mit ihm bis zum Mittag, wie sie die Tier anders aufteilen konnten – zu einem befriedigenden Ergebnis kam er dabei aber nicht.
 

Am Nachmittag räumten Draco und Alexander die Überreste des Stalles beiseite. Bretter die noch in Ordnung waren stapelten sie hinter dem zweiten Stall, die anderen kamen zu dem Haufen hinter dem Haus, der das Feuerholz lagerte. Das Stroh ließen sie liegen. Es hatte keinen Sinn es zusammenzutragen, da sie ohnehin nicht wusste, wohin damit.

Draco fiel es schwer diese Aufgaben zu verrichten. Der Schmerz war schlimmer geworden und er konnte die Bretter nicht richtig anfassen. Packte er nur mit Links zu hatte er das Gefühl nicht genügend Kraft dafür zu haben und es kostete ihn Mühe sich vor Alexander nichts anmerken zu lassen. Und als dieser ihn aber doch darauf ansprach, nahm Draco lieber die verletzte Hand hinzu als zuzugeben, dass er Schmerzen hatte. So lange wie er arbeitet bemerkte er auch den Schwindel nicht. Nur wenn er sich kurz ausruhte, schien sich alles um ihn herum zu drehen. Aber sein Stolz verbot ihm, etwas zu sagen.

Selbst als Susan ihn am Abend fragte, woher das Blut in seiner Waschschüssel kam, log er und sagte es sei von Hera.

Allerdings bereute er es am nächsten Morgen bereits.

Die ganze Nacht hatte er vor Schmerzen kaum geschlafen und als Susan ihn am nächsten Morgen weckte, stolperte er mehr zur Tür als das er ging. Er schaffte es bis zum Tisch und ließ sich dann auf seinen Stuhl sinken. Ihm war nicht mehr nur schwindlig, sondern schlecht. Seine Beine fühlten sich an, als würden sie sofort nachgeben, wenn er auch nur einen weiteren Schritt tat. Als er seine Hand kurz besehen hatte, war es nicht besser geworden. Inzwischen war die Wunde merkwürdig gelb. Auch, wenn er keine Erfahrung mit dererlei Dingen hatte, so wusste er doch, dass es nicht normal war.

„Alles in Ordnung mit dir? Du siehst so blass aus?“, fragte Susan ihn, als sie ihm das Frühstück hinstellte. Draco unterdrückte ein würgen. Das letzte was er sehen wollte, war etwas Essbares.

Einen Moment zog er es in Erwägung es zu bejahen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber er konnte die Hand kaum noch bewegen. Nicht nur den Daumen, sondern auch die anderen Finger. Und der Schmerz würde nicht geringer werden, sah er ein.

Doch statt zu antworten zog den Arm nach oben und legte die recht Hand auf den Tisch, mit der Handfläche nach oben, so dass die Wunde zu sehen war.

Augenblicklich ließ Alexander den Löffel sinken, mit dem er gerade sein Frühstück gegessen hatte und stieß einen Fluch aus: „Verdammt!“

Auch Susan schnappte laut nach Luft, als sie es erblickte.

Alexander besah sich die Verletzung. Erst betrachtete er es nur, doch als er Dracos Hand berühren wollte, zuckte dieser bereits vorher zusammen, wissend, dass es schmerzen würde. Dann er ließ er es geschehen.

„Wann ist das passiert?“, fragte er und sah Draco dabei in die Augen.

„Vorgestern.“, presste dieser hervor.

„Wie?“

„Ich bin an der Verrieglung abgerutscht, als ich Wüstenssand rausgelassen habe.“

„Und da sagst du erst jetzt was?!“, fuhr Alexander ihn an. „Es eitert bereits! Du kannst von Glück reden, wenn du keine Blutvergiftung hast!“

Draco blickte ihn stumm an und versuchte hinter die Bedeutung seiner Worte zu kommen. Aber sein Kopf war so vernebelt, dass er es nach wenigen Augenblicken aufgab.

„Ich dachte es heilt von allein.“, sagte er schwach zu seiner Verteidigung, da er das Gefühl hatte, das tun zu müssen.

„Das sehe ich.“, knurrte Alexander. „Susan setz bitte heißes Wasser auf.“ Dann stand Alexander auf und verschwand in der Kammer, in der er all seine Kräuter lagerte.

Als er zurück kam warf er ein paar Blätter in eine Schüssel und stellte sie auf den Tisch. „Übergieß sie, wenn das Wasser kocht.“, sagte er kurz zu Susan. Diese nickte.

Dann ging Alexander zum Schrank und holte etwas aus einer Schublade heraus. Es war ein kleines Messer mit einer spitzen Klinge. Draco fragte sich, was er damit wohl vorhatte. Als Alexander es neben ihn auf den Tisch gelegt hatte, öffnete er einen anderen Schrank. Über die Schulter hinweg fragte er Draco: „Hast du schmerzen?“

Was für eine dumme Frage, dachte dieser bissig. Aber er nickte bloß.

„Freu dich daran. Es wird gleich noch schlimmer.“ Mit diesen Worten nahm er einen Becher aus dem Schrank und ging damit in die Vorratskammer für Lebensmittel. Das Wasser kochte inzwischen und Susan übergoss damit die Blätter in der Schüssel, wie Alexander es ihr aufgetragen hatte. Draco erkannte den Geruch sofort. Es war Kamille. Sollte er etwa die ganze Schüssel trinken?

Doch stattdessen stellte Alexander den Becher vor ihm ab und sagte: „Trink das. Langsam und nicht so hastig. Du wirst es brauchen. Susan, bring mir bitte ein Tuch und wenn du noch heißes Wasser übrig hast, das auch.“

Draco nahm den Becher und setzte ihn an die Lippen. Was immer sich darin befand, er kannte es nicht, aber es roch anders, als alles was er bisher zu sich genommen hatte. Es brannte scharf in seiner Nase und er war sich nicht sicher, ob er es wirklich trinken sollte. Dennoch setzte er an und nahm einen kleinen Schluck. Kaum schmeckte er es, spuckte er es auch schon wieder in den Becher zurück. Es war scharf und bitter zugleich, aber hauptsächlich schien es seinen ganzen Rachen zu verbrennen und seine Geschmacksnerven zu töten.

„Trink es.“, mahnte Alexander noch einmal.

„Was ist das?“, stieß Draco aus, fest entschlossen lieber den Schmerz zu ertragen, als das Gebräu noch einmal zu schmecken.

„Whisky. Trink es, es wird den Schmerz lindern.“, sagte Alexander in Gedanken versunken, als er sich die Wunde noch einmal genauer besah.

Wiederstrebend setzte Draco noch einmal an und trank vier große Züge auf einmal und ohne es zu schmecken, schluckte er es augenblicklich herunter.

„Langsam! Du weißt nicht, wie du es verträgst.“ Aber da war es bereits zu spät. Draco schmeckt es zwar nicht ganz so intensiv, aber er spürte wie es sich in seinen Köper blitzschnell ausbreitet und ihn von innen zu wärmen begann. Weitere Augenblicke später war die Wärme nicht nur in seinem Bauch, sondern auch in seinen Beinen und Armen. Er trank einen weiteren Schluck und nach diesem spürte er die Wärme auch in seinem Kopf. Plötzlich erschien ihm das alles nur noch halb so schlimm und schmerzvoll. Er hätte Alexander gar nicht davon erzählen müssen. Sicher wäre es auch so verheilt. Er hatte zu voreilig und schnell reagiert.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Alexander dann.

„Gut.“, antwortete Draco und war überrascht, dass er Alexander so ohne weiteres geantwortete hatte.

Alexander grinste. „Anscheinend wirkt es schon. Bei Menschen, die noch nie Alkohol getrunken haben, kann das ziemlich schnell gehen. Glück für dich.“

Fragend sah Draco ihn an und verstand wieder nicht, was er eigentlich meinte. Aber sein Kopf fühlte sich inzwischen nicht nur warm, sondern auch wunderbar leicht und befreit an, dass er sich gar keine Mühe mehr machte, darüber nachzudenken.

„Dann wollen wir mal.“, murmelte Alexander und setzte die Spitze des kleinen Messer auf die Wunde. „Vielleicht solltest du lieber wegsehen.“, mahnte er Draco noch. Doch dieser schüttelte kurz den Kopf. „Wenn du es nicht mehr aushältst, trink noch einen Schluck.“, sagte Alexander und dann fuhr er mit der Spitze langsam in die Wunde und öffnete sie wieder.
 

Draco erwachte in seinem Bett und ihm war einfach nur schlecht. Er versuchte das Würgen zu unterdrücken, das sich in seinem Hals festsetzte. Er brauchte Wasser und zwar sofort.

Er richtete sich langsam auf, ließ es aber gleich wieder bleiben, als er merkte, dass die Übelkeit noch mehr anschwoll, als wenn er lag.

Er hasste dieses Leben als Mensch. Egel wie sehr er glaubte sich bereits damit arrangiert zu haben, es war einfach nicht sein Leben.

Draco hatte Alexander dabei zugesehen, wie er die Wunde geöffnet und den Eiter entfernt hatte. Er war unfähig gewesen seinen Blick zu lösen, obwohl das Summen in seinem Kopf immer lauter geworden war. Selbst das seltsame Gebräu, was Alexander ihm zu trinken gegeben hatte, hatte seine Übelkeit nicht zu stillen vermocht. Vielmehr hatte es sie noch bestärkt, aber der Schmerz war weniger geworden. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, wie er überhaupt in sein Zimmer gekommen war.

Sein Kopf fühlte sich immer noch trübe an und in seinem Mund hatte er einen seltsamen, und widerwärtigen Geschmack. Was für ein Zeug war das bloß gewesen?, fragte er sich, ärgerlich über sich selbst, dass er es einfach so getrunken hatte.

Träge drehte er den Kopf und blickte seinen rechten Arm hinab. In seiner Hand pulsierte der Schmerz noch immer, auch wenn er inzwischen dumpfer war. Dort wo die Wunde war kribbelte es leicht.

Auf dem Stuhl stand die Schüssel, die Alexander mit Kamille gefüllt hatte und Dracos verletzte Hand lag darin. Langsam zog er die Hand zurück und richtete sich mühevoll auf, langsam und äußerst behutsam. Die Wunde blutete nicht mehr und auch das merkwürdige gelb, welches Alexander als Eiter benannt hatte, war verschwunden. Die Wunde war noch offen und das rot seines Fleisches leuchtete ihm entgegen. Aber es war besser, dachte er.

Die Tür ging auf und Alexander trat ein. „Du bist wieder bei Bewusstsein.“, merkte er kurz an, als er Draco sah. Mit sich brachte er eine kleinere Schüssel in der wohl irgendeine Salbe war und einen Becher.

„Ich sagte doch, du sollst mit dem Whisky vorsichtig sein und dann schaust du auch noch die ganze Zeit zu, wie ich den Eiter entferne. Kein Wunder, dass du umgekippt bist.“, erzählte Alexander, während er Draco den Becher reichtet. Ohne zu zögern setzte dieser ihn an die Lippen und trank das Wasser gierig in einem Zug aus. Währendessen nahm Alexander ungefragt Dracos Hand in seine und besah sich sein Werk.

„Sieht gut aus.“, murmelte er.

Als er ausgetrunken hatte, sah Draco Alexander dabei zu, wie er die Wunde vorsichtig mit einem Tuch trocken tupfte und dann nach der Schüssel griff, die er mitgebracht hatte.

„Was ist das?“, fragte Draco sofort. Wenn er eines gelernt hatte, dann dass er nie wieder etwas von Alexander nehmen würde, ohne zu wissen, was es war. Alexander schien seine Gedanken zu erahnen und grinste ihn breit an.

„Honig und Kapuzinerkresse. Es verhindert Entzündungen und hilft der Haut sich schneller zu regenerieren.“ Er wartete nicht einmal Dracos Einverständnis ab, sondern schmierte die Paste behutsam auf seine Hand. Im Anschluss deckte er sie mit einen Stück Stoff ab und legte einen Verband an.

„Halt die Hand möglichst still und schlaf noch ein bisschen deinen Rausch aus. Susan wird dir noch einen Becher Wasser bringen und dich dann zum Abendessen holen. Ich bin so lange draußen.“

Draco ließ sich zurück in die Kissen sinken und starrte auf den Verband an seine Hand. Die Menschen waren so viel verletzlicher. Ihre Haut war empfindlich und dünn. Die Verletzungen, die er einst gehabt hatte, hatten einen ganz anderen Ursprung gehabt, als diese. Das selbst so etwas Geringfügiges menschliche Haut so verletzen konnte, erschreckte ihn ein wenig.

Draco schloss die Augen und es dauerte nicht lange ehe er wieder eingeschlafen war.
 

Sie war so furchtbar müde. Schlaf war alles, was sie sich wünschte.

Annie drehte sich zu Seite und schaute auf die andere Wand ihres Zimmers. Sie betrachtete das Muster der Steine, wie sie es zuvor schon bei der Tür getan hatte, auf die sie die ganze Zeit gestarrt hatte. Die Steine waren grob und ungeschliffen. Der Mörtel dazwischen saß fest. In der Dunkelheit wirkte die Mauer schwarz und bedrohlich. Am Tage waren die Wände um sie herum trist und beengend, sprachen von der Gefangenschaft, in der sie sich eigentlich befand. Aber egal, wie langweilig das Muster auch sein mochte auf das sie starrte, sie konnte keinen Schlaf finden. Zwei Tage und Nächte ging das bereits so und sie merkte wie müde sie war, wie erschöpft ihr Körper und doch konnte sie ihre Augen nicht schließen und in den Schlaf hinüber gleiten.

Wollte Alexander ihr nicht ein paar Kräuter mitbringen? Er war vor Tagen das letzte Mal bei ihr gewesen und obwohl sie wusste, dass es besser war, wenn er sie nicht so oft besuchte und schon gar keine Kräuter mitbrachte, wünschte sie sich genau das. Vielleicht würde es ihr helfen endlich Schlaf zu finden. Was hielt ihn dieses Mal so lange auf? Die Geschäfte waren erledigt und sein Hof musste doch inzwischen winterfest sein oder nicht? Hatte er denn keine Zeit um sie zu besuchen.

Annie schloss die Augen und atmete scharf aus. Was für selbstsüchtige Gedanken sie hatte, schallte sie sich selbst. Alexander hatte ein eigenes Leben, mit einer Frau und bald würden sie ein Kind haben. Sie war verheiratet und musste sich um sich selbst kümmern. Sie konnte sich nicht immer auf ihn verlassen. Wenn das Kind geboren würde, würde er sie noch weniger besuchen, dachte sie schmerzhaft. Es war sein recht und sie machte ihm keine Vorwürfe. Aber was würde sie dann tun? Seine Besuche waren das Einzige, was sie manche Tage überstehen ließ, immer in der Hoffnung, dass er vielleicht zu ihr kommen würde, mit neuen Nachrichten von ihm. Sie bezweifelte, dass es genügend Ablenkung geben würde. Nicht in diesen Mauern und nicht mit den Personen, die sie umgaben.

Semerloy hatte sie nicht wieder aufgesucht, aber wahrscheinlich waren es seine Worte gewesen, die sie seitdem noch weniger Schlaf finden ließen. Annie hatte Angst, dass er eines nachts zu ihr kommen könnte. Sie würde versuchen sich gegen ihn zu wehren. Sie würde nicht irgendein Ding sein, das er benutzen konnte, wie es ihm beliebte, auch wenn sie vielleicht wusste, dass es aussichtslos war. Dieser Mann machte ihr noch mehr Angst als Barrington. John Barrington war offensichtlich böse und grausam. Seine Worte, seine Taten, selbst sein Aussehen ließen darauf schließen. Er tat nicht so, als sei er jemand anderes. Er war durchschaubar. Bei Jonathan war nichts von dem der Fall. Er war stets adrett gekleidet, seine Wortwahl war höfflich und ausgesucht, er verhielt sich allen anderen Damen gegenüber respektvoll – selbst den Kammerfrauen gegen über zeigte er mehr Respekt als ihr – und sein Gesicht, seine Stimme ließ nichts Böses vermuten. Genau das machte ihn so gefährlich, dachte Annie. Man wusste nie, was er dachte oder was er vorhatte. Wie konnte John ihm vertrauen? Sie würde nicht überrascht sein, wenn Jonathan John eines Tages hintergehen würde. Nicht das sie für einen der beiden Männer Mitleid empfand, aber sie dachte an ihr eigenes Schicksal.

Seufzend atmete sie aus. So würde sie niemals schlafe finden. Jonathan würde sich nicht an ihr vergehen, solange sie nicht von Barrington schwanger war. Und da dieser sie seit einigen Tagen nicht mehr aufgesucht hatte, würde es auch noch eine Weile dauern, hoffte sie zumindest inständig.

Annie zog die Decke weiter über ihre Schultern. Das Bett war warm, der Raum erwärmt und draußen hörte sie auch keinen Wind. Der Schnee hatte vor dem Abendessen aufgehört zu fallen und alles schien ruhig zu sein. Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, um einzuschlafen. Keine lauten Stimmen, keine Schritte auf den Gängen.

Im letzten Winter hatte sie an seiner Seite geschlafen, dachte sie wehmütig. Sie vermisste seine Nähe, seine Körper, seine Umarmung, seinen Geruch, seine Küsse. Eines mehr als das andere. Nach dem sie eingeschlafen war, hatte er sich zu ihr gelegt und sie mit seinem Körper gewärmt und später dann, als der Winter schon längst vorbei gewesen war, hatte sie immer noch nebeneinander geschlafen. Er hatte den Arm um sie gelegt und sie hatte ihn an ihrem Rücken spüren können.

Ihr Atem wurde ruhig und gleichmäßig, als sie sich in dieser Erinnerung verlor. Schon lange nicht mehr war die Erinnerung so intensiv gewesen. Sie spürte seinen Körper an ihrem und wie er den Arm um sie legte. Sie konnte seinen warmen Atem in ihrem Nacken spüren, konnte seinen Duft riechen. Sie kuschelte sich an ihn, schloss die Augen und genoss das Gefühl, wieder bei ihm zu sein. Sie spürte wie das Feuer im Ofen langsam herunter brannte, wie es knisterte und knackte und sie in die Welt des Traumes begleitet. So war es perfekt. So war es gut. So musste es sein. Nur sie und er. Nichts weiter.

Ein Knall ließ sie ruckartig ihre Augen aufreisen. Ihr Herz raste in ihrer Brust. Verwirrt sah sie sich um. Wo war der Ofen mit dem knisternden Feuer? Wo war Draco? Wo ihre Hütte? Nur langsam erkannte sie die Steinmauer vor sich.

Richtig, sie war auf dieser Burg, ergriff es sie, wie ein heftiger Schlag.

Dann drehte sie den Kopf und sah, wie die massige Gestalt von Barrington auf sie zuwankte. Sie konnte den Alkohol schon von weitem riechen. Angewidert zog sie die Nase kraus.

„Weib!“, brüllte er auf einmal, so dass sie zusammenzuckte. „Wo bist du – hicks – “, verlangte er nach ihr.

Annie war erstarrte. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn er sie entdeckte. Vielleicht... wenn sie einfach starr sitzenbleiben würde, nicht atmen würde, keinen Ton von sich gab, würde er sie übersehen und unverrichteter Dinge wieder gehen.

Doch mit Schrecken realisierte sie, dass er den Weg zu ihrem Bett stolperte. Er schwankte gefährlich und sie hätte alles dafür gegeben, wenn er hinfiel und dort für den Rest der Nacht dort liegen blieb. Aber das tat er nicht. Stattdessen setzte er seinen Weg fort.

Wie konnte es sein, dass er überhaupt noch laufen konnte, bei den Mengen die er bereits zu sich genommen haben musste? Wie konnte es sein, dass er den Weg in ihr Zimmer gefunden hatte? Wie konnte es sein, dass er genau wusste, wo sie sich nun befand?!, dachte sie verzweifelt.

Da stand er schon vor ihrem Bett und Annie sah, wie er die Augen zusammenkniff um sie erkennen zu können. Von Anfang an, war ihre Hoffnung vergebens gewesen.

„Da bist du – hicks – ja! – hicks – “ , lallte er, als er sie erkannte hatte.

Annie wich zurück, wusste aber gleichzeitig, dass es vollkommen sinnlos war. Warum gerade jetzt?, fragte sie sich gequält. Jetzt, da sie endlich in der Lage gewesen war zu schlafen. Jetzt, da sie sich endlich ein Traumbild geschaffen hatte, in das sie nur zu gern eintauchen wollte!

„Komm – hicks – her!“, rief Barrington und griff nach hier.

„Nein!“, rief sie entsetzt aus. Er war zu betrunken. Jetzt hatte sie die Möglichkeit ihm zu entkommen. Sie sprang aus dem Bett und suchte Halt an einer der Bettpfosten. Schwer atmend sah sie ihn an. Allein sein Anblick ließ sie beinah erbrechen. Die Vorstellung ihn jetzt näher an sich heran zu lassen, war ihr unerträglich.

„Du kleines – hicks -“ stieß er wütend aus.

Panisch schaute sie zum einzigen Ausgang aus diesem Zimmer. Sie könnte es schaffen. Sein Reaktionsvermögen war noch langsamer als sonst. Aber dann? Wo würde sie hinlaufen? Wo sich verstecken?

Ganz egal, sie musste nur weg von ihm und das so schnell wie möglich. Sie würde schon einen Platz finden.

Sie sah ihn noch einmal an. Er bewegte sich auf wackligen Beinen auf sie zu. Sie wartete bis er sie fast erreicht hatte, bis sie einen stinkenden Atem riechen konnte. Dann rannte sie los.

Annie spürte, wie seine fettigen Finger ihre Haut streiften, aber sie wich nur ein klein wenig zurück und entkam ihm. Sie rannte an ihm vorbei, zur Tür zu.

„Mist – hicks – stück!“, rief er polternd aus.

Sie riss die Türen auf und ihm gleichen Moment rief Barrington über ihren Kopf hinweg: „Haltet sie!“ Nur einen Wimpernschlag später wurde sie grob an beiden Armen gepackt und festgehalten.

Sie hatte die Wachen vergessen!

Schwer atmend sah sie in die Gesichter der Männer. Ihre Blicke waren ausdruckslos. Sahen sie denn nicht was geschah? Warum taten sie das?

Verzweifelt versuchte sie sich von ihnen loszureisen. Bewegte ihren Körper ruckartig, um sie abzulenken und wollte dann gleichzeitig nach links davon laufen, doch die Hände der Männer hielten sie fest umklammert.

„Bringt sie – hicks – her!“, befahl Barrington abermals. Die Wachen begannen sie in das Zimmerinnere zurückzuziehen. Vergeblich versuchte sie sich dagegen zu wehren. „Nein, bitte nicht...“, wisperte sie flehentlich.

Aus dieser Hölle gab es kein Entkommen.

Sie schleiften sie ins Zimmer zurück, zu Barrington, der sich inzwischen auf das Bett gesetzt hatte. Sonst wäre er wahrscheinlich schon längst umgefallen, dachte sie in einem letzten Anflug von Sarkasmus.

Er packte sie grob am Arm und zog fest an ihr. Im gleichen Moment ließen die Wachen los und sie stolperte zum Bett. Gerade so konnte sie sich mit den Armen abfangen. Doch sie hatte keine Zeit das überhaupt zu realisieren, als er sie schon wieder packte.

„Du kleine Hure!“, fauchte er sie gefährlich an und eine Wolke aus den Gerüchen von Alkohol, Abendessen und faulen Zähnen traf auf ihr Gesicht. Annie musste würgen.

Ihr Körper lag halb auf dem Bett und nur mit dem Füßen fand sie am Boden halt, um nicht wegzurutschen. John Barrington drückte sie auf das Bett, so fest, dass sie glaubte ihre Handgelenke würden jeden Moment brechen.

„Du bist meine Frau!“, sprach er fest. „Und du wirst mir zu Diensten sein! Wann immer ich es will!“ Seine Stimme war merkwürdig klar, aber seine Augen nicht. Sie wusste, dass der Alkohol seinen Verstand noch immer benebelte. Dabei war sie sicher, dass es ohnehin keinen Unterschied machen würde.

„Nein, lasst mich los!“, sagte sie unter Aufbringung all ihrer Kräfte, doch seine Körperfülle war ihm zum Vorteil und sie schaffte es nicht einmal ansatzweise sich gegen ihn zu stemmen.

Dennoch gab sie nicht auf. Sie konnte einfach nicht mehr. Weder ihr Körper, noch ihr Herz oder ihre Seele konnten sich länger von ihm benutzen lassen.

„Nein!“, schrie sie noch einmal, doch plötzlich traf sie etwas so unerwartet hart im Gesicht, dass sie augenblickblich erstarrt.

Er hatte sie geschlagen.

Vor ihren Augen tanzen auf einmal schwarze und weiße Punkte. Annie schluckte heftig und schmeckte Blut - ihr eigenes.

„Dir werde ich zeigen, wie du dich zu verhalten hast.“

Was dann geschah spürte sie nicht mehr. Ihr Körper gab den Wiederstand auf, ließ es geschehen, während sie dieses grausame Szenario, wie von außen zu beobachten schien. Sie konnte nicht wegschauen, sie konnte nicht gehen, sie sah es und doch wieder nicht. Sie spürte weder seine Berührungen, noch wie er sie nahm. Sie war eine leere Hülle, die benutzt wurde. Ganz so, wie man auch einen Handschuh benutzte. Nicht mehr war sie wert.

Nein, nicht einmal das.

Wenn Alpträume wahr werden

Annie saß auf dem kalten Boden. Ihr Nachthemd war noch immer nach oben geschoben und bedeckte gerade ihren Po. Sein Schnarchen dröhnte in ihren Ohren, so dass sie langsam in ihren eigenen Körper zurückkehrte – äußerst widerwillig. Ihre Finger begannen zu kribbeln, genauso wie ihre Zehn. Das Kribbeln breitete sich aus und nur wage nahm sie war, dass es sich dabei um Kälte handelte. Es war doch egal. Es war alles egal. Nun hatte sie nicht einmal mehr ihre Würde.

Nichts war ihr geblieben. Er hatte ihr alles genommen.

Ihr Kopf schmerze heftig und dennoch nahm sie war, wie sich der Raum mit seinem Geruch füllte. Er verpestete die Luft und raubte ihr die Kraft zum Atmen. Warum musste sie überhaupt atmen? Konnte sie nicht einfach aufhören? Konnte nicht jetzt alles vorbei sein? Konnte er nicht fester zugeschlagen haben, so dass sie nie wieder etwas spüren könnte?

Wie von selbst drehte sich ihr Kopf und sie blickte seinen schlafenden Leib an. Wie ein großes Ungetüm lag er auf dem Bett, alle Gliedmaßen von sich gestreckt. Aus seinem Mund tropfte Speichel und selbst im fahlen Licht des Mondes sah sie, dass ihm Zähne fehlten. Die anderen waren schwarz.

Langsam erhob sie sich. Ihre Beine zitterten, ihr gesamter Körper und doch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie musste fort von diesem Mann. Die ersten Schritte waren nur zögerlich und ängstlich. Vielleicht schlief er ja doch nicht. Doch je mehr Schritte sie tat, umso schneller wurde sie. Schließlich lief sie zur Tür, riss sie auf und erwartet fast, dass die Wachen sie abermals aufhalten würden. Doch das taten sie nicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte Annie weiter.

Sie rannte die Treppen herunter. Immer wieder suchten ihre Finger an den Mauern nach halt, wenn sie drohte zusammenzubrechen. Dennoch rutsche sie ab und riss sich die Fingerkuppen auf. Aber gleich darauf erhob sie sich wieder und rannte weiter. Ihr Weg war ziellos. Sie lief durch unzählige Gänge, treppauf, treppab, ging nach rechts, nach links, wieder nach links und rechts. Die Korridore waren scheinbar endlos lang und führten nirgendwohin. Sie war gefangen in einem unbezwingbaren Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab. Doch sie wusste selbst nicht einmal wohin so wollte.

Irgendwann hörte das Mauerwerk plötzlich auf und ihre Finger streiften Holz. Eine Tür.

Annie drückte die Klinke nach unten und stemmte sich mit aller Kraft, die noch in ihr verblieben war, dagegen. Knarrend ging die Holztür auf und öffnet sich nach draußen. Kalte, eisig Winterluft fuhr ihr unter das Nachtgewand, doch sie spürte es nicht einmal.

Ihre Füße berührten den Schnee, aber sie bemerkte es nur, weil er unter ihren Füßen so weich war. Mit tränennassen Augen lief Annie weiter. Nicht einmal mehr der Mond konnte ihr wie sonst Trost spenden. Sie setze einen Fuß vor den anderen, dann blieb sie mitten im Hof stehen. Ihr wurde klar, dass er sie von nun an immer so behandeln würde. Sie hatte versucht sich gegen ihn zu wehren und er würde sich daran erinnern. Von nun an würde sie noch mehr zu befürchten haben.

Annies Knie gaben nach und sie sank in den Schnee. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, um die Tränen daran zu hindern, ihre Wangen hinabzufließen. Sicher würden sie gefrieren. Doch es war vergebens.

Sie konnte nicht mehr. Sie wollte sterben. Jetzt, auf der Stelle. Sie wollte weg von diesem Ort. Annie wusste, dass sie es niemals bis in den Wald schaffen würde, bevor er ihre Abwesenheit bemerkte. Sie hatte keine Kraft mehr. Man würde sie jagen und irgendwann finden. Wenn nicht sie, dann Alexander und mit ihm Susan und vor allem ihn.

Sie ließ sich in den Schnee sinken, zog die Beine an und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Wenn sie einfach dort bleiben würde, wenn sie sich nicht bewegte, dann durfte sie vielleicht gehen.

Der Schnee war gar nicht so kalt, wie sie immer geglaubt hatte. Vielmehr fühlten sich die Schneeflocken so viel wärmer an, als alles andere in ihrem Körper. Sie würde bleiben. Alles schlief bereits. Niemand suchte jetzt nach ihr. Bis man sie am Morgen fand, würde es zu spät sein. Dann würde sie endlich wieder frei sein.

Noch einmal rief sie sich die Erinnerung an seine Umarmung ins Gedächtnis zurück. Hielt sie fest, bis sie ihn wieder spüren konnte. Seinen Atem, seinen Arm um ihren Körper, seine Wärme. Das alles war da, als sie weinend und im Schnee liegend endlich den ersehnten Schlaf fand.
 

Heiß.

Ihr Atem ging schwer und rasselte. Es kribbelte in ihrer Kehle und sie musste husten. Es war schmerzhaft und sie glaubte ihre Lungen würden platzen. Sie konnte die Augen kaum öffnen. Ihr Körper fühlte sich so unglaublich schwer an, als hätte man einen Stein darauf gelegt.

Sofort erschien eine Gestalt über ihr. Annie erkannte sie nicht. Zu verschwommen war alles um sie herum. Wo war sie? Was war passiert?

Dann spürte sie etwas kühlendes auf ihrer Stirn und augenblicklich sank sie in den Schlaf zurück.
 

Stimmengemurmel weckte Annie abermals. Erst hörte sie sie nur dumpf, doch dann wurden sie immer klarer und deutlicher. Zwei Männer, wenn sie nicht irrte.

Sie versuchte sich zu konzentrieren. Kannte sie die Stimmen? Vielleicht. Sie war sich nicht sicher.

Sie versuchte weiterhin bei Bewusstsein zu bleiben, merkte jedoch, wie ihr Geist langsam wieder abdriftete. Sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen, bis sie den Schmerz fühlen konnte. Er hielt sie wach und machte ihren Kopf klarer.

Eine der Stimmen gehörte eindeutig Barrington, erkannte sie dann. Er sprach laut und ungezügelt, benutzte Ausdrücke, die ihr in den Ohren weh taten. Die andere Stimme? Sie war sehr viel leiser, bedachter und schien auf Barrington einzureden. Ihr Herz schlug für einen kurzen Moment schneller, als Annie glaubte den Besitzer zu erkennen. Alexander!

Doch im nächstem Moment wurde sie mit Nüchternheit geschlagen, als Barrington sagte: „Jonathan! Mir ist egal, wie es ihr geht! Bisher hat sie sich noch nicht einmal als nützlich erwiesen! Nicht einmal schwanger ist sie! Wenn sie sterben würde, wäre mir das lieber, als das hier. Dann kann ich mir wenigstens eine neue Frau suchen. Außer ihrem hübschen Gesicht und Körper hat die ja nicht viel zu bieten.“

Wie ein eisiger Dolch bohrten sich die Worte in ihren Körper. Sie hatte gewusst, dass sie für ihn wertlos war und dennoch kränkten seine Worte sie. Und sie war enttäuscht, dass es nicht Alexander war, der bei ihr war.

Aber je mehr sie darüber nachdachte, was Barrington gesagt hatte, desto mehr konnte sie sich daran erinnern was geschehen war. Sie war nicht für immer eingeschlafen, realisierte sie matt.

Annie wagte es die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Sie war in ihrem Zimmer und lag in ihrem Bett. Warum? Wie war das möglich? Sie konnte sich nicht erinnern, diesen Weg allein gegangen zu sein. Wer hatte sie also gefunden?

Sie hörte ein Rascheln und dann Schritte sich entfernen. Die Tür ging auf und fiel wieder zu. War sie allein?

Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihre Augen huschten die Decke entlang, ohne dass sie eigentlich etwas sah. Wieder Schritte, die an ihr Ohr drangen. War noch jemand im Zimmer gewesen? Es fiel ihr schwer, die Geräusche auseinander zu halten.

Ein Schatten tauchte über ihr auf und sie musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen. Es war ein Mann. Zumindest glaubte sie das. Die Schultern waren breiter, es konnte also nur ein Mann sein.

Und er war blond.

Draco...

„Ihr seid wieder bei Bewusstsein. Wie nett.“, sprach er sarkastisch und Annie zuckte zusammen.

Jonathan Semerloy.

Was machte er noch hier? Wollte er sich jetzt an ihr vergreifen? Waren seine Begierden schon so groß, dass er vor nichts zurückschreckte? Wie auch. Er war mit diesem Mann befreundet. Beide waren die skrupellosesten Wesen, die ihr je begegnet waren. Aber er würde ihr nun nichts mehr nehmen können. Sie hatte nichts mehr.

Als sie nicht antwortete, beugte er sich zu ihr herunter, so dass sein Gesicht dem ihren ganz nahe war. Da das Atmen ihr ohne hin schon schwer fiel, hatte sie nun das Gefühl, dass es ganz aussetzen würde.

„Ihr könntet dankbarer sein. Immerhin habe ich euch aus dem Schnee geholt, als ihr es euch dort gemütlich gemacht habt. Ich frage mich, was passiert ist, dass ihr den Schnee eurem Zimmer vorgezogen habt.“

„Als ob ihr das nicht wüsstet.“, presste sie mit einem Atemzug heraus, nur um dann angestrengt nach Luft zu schnappen. Ihr Hals hatte sich rau und trocken angefühlt. Jedes Wort hatte ihr Schmerzen verursacht und ihre Stimme hatte sie selbst nicht erkannt. Sie musst schlucken. Im gleichen Augenblick bereute sie es auch schon wieder. Annie hatte das Gefühl als wäre ihr ganzer Hals zugeschwollen. Es bereitete ihr unglaubliche Qualen. Sie war schon oft krank gewesen, aber niemals war es ihr dabei so ergangen.

„Das ist es ja gerade.“, sagte Jonathan gedehnt. Mit dem Finger strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und Annie hasste sich selbst für den Gedanken, dass sie seine Finger angenehm kühl fand. „Als ich euch zurückbrachte, lag John auf dem Bett, tief schlafend. Er kann sich an nichts erinnern, was geschehen ist.“

Mit großen Augen sah sie ihn an. Sie wusste, dass es so war, denn sie spiegelte sich in den seinen. Er konnte sich an nichts mehr erinnern?! Wie konnte das möglich sein? Wie konnte man so etwas vergessen? Wie konnte er...

Ohne das sie es aufhalten konnte, stahl sich eine Träne aus ihrem Auge, die er mit seinem Zeigefinger auffing. „Allerdings kann ich mir bereits denken.“, sagte er anschließend. „Die Wachen waren sehr viel auskunftsfreudiger als ihr und der blaue Fleck auf eurer Stirn auch.“

„Was wollt ihr?“, fragte sie und selbst in ihren Ohren klang es nicht so gleichgültig, wie sie es gern gehabt hätte. Das sie noch immer leicht weinte, machte die Sache nicht besser.

„Vieles.“, antwortete Jonathan Semerloy schlicht. „Ihr solltet noch etwas schlafen. Durch das Wetter braucht der Arzt länger hierher.“

„Ich will keinen Arzt.“, sagte sie zischend und versuchte noch immer seinem Blick so fest wie möglich zu begegnen.

Der Mann vor ihr zuckte mit den Schultern und verließ dann das Zimmer. Annies Atem ging schwer. Inzwischen war die Ursache nicht nur ihr allgemeines Unwohlsein, sondern viel mehr ihre Wut, aber noch mehr ihre Verzweiflung. Sie würde dieser Hölle niemals entkommen, dachte sie. Es begann zu schmerzen. Ein Stechen in ihrer Brust, das sich in ihre Schulter durch ihren linken Arm zog. Nun wurde sie panisch. Solch einen Schmerz kannte sie nicht. Es war anders als zuvor, beängstigender und bedrohlicher. Doch war sie des Nachts vielleicht noch bereit zu sterben, so war sie es nun nicht mehr. Irgendetwas in ihr klammerte sich an das erbärmliche Leben, welches sie in diesen Mauern führte.

Was war es?, fragte sie sich selber.

Sie schloss die Augen und sah sein Gesicht vor sich. Sie sah Alexander und Susan.

Ach ja, erkannte sie. Dieses dumme Gefühl namens Hoffnung. Sie hoffte immer noch, dass sie eines Tages wieder bei Draco sein würde, dass es irgendwann ein Erwachen aus dem Alptraum gab, in dem sie gefangen war. Warum ließ sie nicht einfach los? Warum konnte sie es nun nicht mehr? Dabei war es doch in dieser Nacht so einfach gewesen.

Womit hatte sie all dies verdient? Warum wurde sie so bestraft?

Bestraft... Ah, ja... Annie erinnerte sich gut an Dracos Worte. Die Drachen hatten etwas verbotenes getan. Er hatte etwas verbotenes getan. Sie hatten etwas verbotenes getan. Draco hatte immer davon gesprochen, dass sie eines Tages dafür bestraft werden würden. War dies nun ihre Strafe? War es ihre Strafe, dass sie sich in die Natur eingemischt und ihn in einen Menschen verwandelt hatte? Warum? Was war falsch daran ein Leben zu retten? Hätte sie es nicht getan, dann würde Draco... er würde eine von Barringtons Trophäen sein, seine Reste ausgestellt und für jeden sichtbar.

Sie musste ruhig bleiben, denn der stechende Schmerz in ihrer Brust kehrte zurück.

Draco ging es gut. Das war alles, was wichtig war, sagte sie sich immer wieder selbst. So lange wie es ihm gut ging, würde sie gern, anstatt seiner, diese Strafe annehmen. Sie würde nicht mehr davon laufen. Sie würde sie so lange ertragen, bis sie sich endgültig erfüllte.

Mit diesem Wissen und dieser Vereinbarung, die sie nun mit sich selber getroffen hatte, versuchte sie ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Etwas schöneres und hoffnungsvolleres. Sicher würde Alexander sie bald wieder besuchen kommen. Sicher würde er Nachricht von Draco bringen. Sicher würde er ihr irgendetwas erzählen, was sie das alles vergessen ließe. Nur für ein paar Augenblicke. Er musste sie bald wieder besuchen kommen. Er musste... denn von jetzt an würde Jonathan Semerloy sie nicht mehr aus den Augen lassen.
 

Ihr Zustand änderte sich in den nächsten Tagen nicht. Das Fieber ging nicht zurück und in ihrem Herzen konnte sie immer noch ein Stechen verspüren. John Barrington hatte sie nicht mehr gesehen und sie war froh darum. Überhaupt hatte sie kaum jemanden gesehen. Selbst die Kammerfrauen kamen nur selten, um sie umzuziehen oder zu waschen. Aber auch ein Arzt erschien nicht und dafür war sie dankbar. Einem Arzt, der von Jonathan Semerloy geschickt worden war oder von Barrington, konnte und wollte sie nicht vertrauen. Also war sie die meiste Zeit allein mit ihren Gedanken und wenn sie nicht schlief, wartete sie sehnsüchtig auf Besuch von Alexander. Warum kam er nicht? Er hatte doch versprochen, bald wieder zu ihr zu kommen. Was hielt ihn so lange auf?

Annie hatte inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war sie nun schon an ihr Bett gebunden? Wann war es Tag und wann Nacht? Sie wusste es nicht.

Der Schnee schien aufgehört zu haben, zumindest konnte sie das dem Kommentar der Kammerfrauen entnehmen. Warum also kam er nicht gleich zu ihr?

Schwach nahm sie war, dass die Türen geöffnet wurden und sie brauchte nicht einmal hinzusehen, um die Person zu erkennen. Inzwischen kannte sie seine Schritte sehr genau. So fest sie konnte sah sie ihn ins Gesicht. Sie hatte sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden, aber niemals würde sie das diesen Mann spüren lassen.

„Wollt ihr immer noch keinen Arzt?“, fragte Jonathan Semerloy sie abermals.

„Nein.“, sagte sie mit gebrochener Stimme. Die Schmerzen in ihrem Hals waren ebenfalls nicht besser geworden. Wie auch, wenn man ihr nur wenig zu trinken gab und dann nur Wasser.

„Langsam wird John ungeduldig. Beständig fragt er mich, warum ihr immer noch nicht genesen seid. Er zweifelt langsam daran, ob es wirklich eine gute Entscheidung war, euch zu heiraten.“

„Ich bedauere ihn zutiefst.“, antwortete sie bissig. Selbst, wenn es sie alle Kraft kosten sollte, die sie noch hatte, sie würde keine Schwäche vor diesem Mann zeigen. Sie wusste, dass jedes Wort an Barrington weiter getragen würde.

„Offenbar leidet nur euer Körper unter dem Fieber, nicht aber euer Verstand. Das gefällt mir.“, erwiderte Jonathan und lachte leise in sich hinein. Annies Nackenhaare sträubten sich. Dieser Laut hatte etwas unheimliches an sich, etwas dass ihr Angst machte.

„Aber das solltet ihr vielleicht.“, sprach er weiter und sah sie ernst an. „Ich kann ihn nicht mehr lange hinhalten. Die Mätressen können ihm keinen legitimen Erben schenken. Er wird euch schon bald aufsuchen. So lange bis ihr eure Pflicht erfüllt habt.“, sagte er langsam und emotionslos.

„Was interessiert es mich?“, sagte sie. Annie versuchte sich nicht von seinen Worten beeindrucken zu lassen.

„Es hat euch zu interessieren! Eure Nutzlosigkeit wird sich sonst schnell herumsprechen und dass würde zweifellos auch ein schlechtes Licht auf euren Bruder werfen oder nicht? Die Beziehung zwischen euch und ihm ist doch sehr eng. Es wäre doch recht bedauerlich, wenn plötzlich ein Gerücht in Umlauf geraten könnte, nach dem ihr keine Kinder bekommen könnte, weil ihr mit eurem Bruder...“

Entsetzt schnappte sie nach Luft. Das bisschen Blut, was noch in ihr gewesen war, war aus ihrem Körper gewichen. Sie konnte nicht einmal etwas erwidern, so schockiert war sie.

Ein Lächeln umspielte Jonathan Mundwinkel. „Ich sehe wir verstehen uns.“, sagte er leise.

„Warum ich?“, fragte sie, bevor er ging. „Warum nicht irgendeine andere?“ Sie wusste, dass sie damit jemand anderem ihr Schicksal wünschte und niemand hatte ein solches verdient. Aber sie begriff es einfach nicht.

„Das ist ganz einfach. Wie ihr wisst, ist John nicht gerade... Nun, sagen wir, er findet sich selbst nicht makellos genug. Aber er will, dass sein Erbe es ist. Er glaubt, dass ihm ein hübsch anzusehender Sohn, noch mehr Tore in die Welt öffnen kann. Und dafür kommt nun mal nur eine ausgesprochene Schönheit in Frage. Eine wie ihr.“

Annies Mund stand offen und sie sah ihn ungläubig an.

Das war es?

Deswegen hatte er sie so unbedingt heiraten wollen? Es war ihr klar gewesen, dass es nur wegen ihres Aussehens geschehen war und sie hatte sich auch mit den Gedanken abgefunden, dass das Kind ebenso benutzt werden sollte, aber so... nur damit Barrington es leichter mit irgendwem verheiraten konnte, damit sein eigener Einfluss noch größer wurde? Nur deswegen!?

Fast erschien es ihr, als würde sie lieber Semerloys Drohung in Kauf nehmen, anstatt so etwas einem unschuldigen Kind zuzumuten. Das könnte sie niemals verantworten.

„Im übrigen ist euer Bruder heute gekommen. Er ist noch unten und spricht mit John. Was würde er wohl sagen, wenn er von den Gerüchten hören würde? Immerhin wart ihr bisher jedes Mal allein mit eurem Bruder. Niemand kann sagen, was hinter der Tür geschehen ist.“

„Ihr seid ein widerlicher, abscheulicher Mensch, der keinen Respekt vor anderen hat!“, schrie sie ihn an. Selbst, wenn es das Letzte war, war sie tat, sie würde niemanden erlauben ihren Bruder so zu beleidigen. „Ihr könnt keine Familie haben, sonst wüsstet ihr, was für Ungeheuerlichkeiten ihr von euch gebt!“

Jonathan machte auf dem Absatz kehrte und kam wieder zu ihrem Bett. Unerschrocken blickte Annie ihn an und wartete auf eine Reaktion von ihm. Würde er sie schlagen? Sollte er doch. Nun würde es nicht mehr das erste Mal sein. Ihr Körper wurde bereits geschändet. Sie besaß nur noch die wenigen Besuche ihres geliebten Bruders. Aber das würde sie sich nicht nehmen lassen.

„Wenn eure Augen Funken sprühen, wie jetzt im Moment, möchte ich euch am liebsten in die Kissen drücken und auf der Stelle nehmen.“, flüsterte Jonathan heißer und ein Glanz trat in seine Augen, den Annie zuvor noch nie beobachtet hatte. Doch sie wich nicht zurück. Innerlich hatte sie sich bereits auf alles vorbereitet. Er konnte mit ihrem Körper tun, was er wollte, aber niemals würde er darüber hinaus an sie gelangen.

Sie ließ seinen Blick nicht los, hielt ihm stand. Sie wusste, dass es ein Kräftemessen war. Würde sie wegsehen, hatte sie als erstes verloren. Dann würde sie für immer in seinen Fängen sitzen.

„Was werdet ihr jetzt tun?“, fragte Semerloy sie, während er sich ihrem Gesicht Stück für Stück näherte. Noch immer sah sie ihn an, fühlte sich zunehmen aber unsicher. Doch sie verbot sich ihm kleinbeizugeben.

Plötzlich lachte er wieder in sich hinein. „Ich kann es kaum noch erwarten.“, sagte er dann. Im nächsten Moment klopfte es an der Tür.

„Ja.“, antwortete Jonathan wie selbstverständlich und die Tür öffnete sich. Nur verschwommen nahm Annie die Umrisse einer vertrauten Gestalt war. Groß und breitschultrig, ein dichter Bart und braune hervorstechende Augen.

Sie konnte nicht anders und atmete erleichtert aus, was ihr aber einen vielsagenden Blick von Semerloy einbrachte, ebenso wie ein listiges Lächeln. Er kannte ihre Schwachstelle nur zu gut.

„Ich werde euch allein lassen. Wenn ihr die Güte hättet eure Schwester dazu zu überreden, einen Arzt kommen zu lassen, wäre John euch sicherlich sehr verbunden.“, sagte Jonathan galant an Alexander gewandt. Dann verbeugte er sich höflich vor ihm und verließ den Raum.

Noch bevor Alexander bei ihr war, erkannte Annie den besorgten Blick auf seinem Gesicht.

„Was ist passiert?“, fragte er sie sofort. „Ist es schlimmer geworden?“

Annie schüttelte den Kopf und verbarg das Gesicht hinter den Händen. Sie konnte ihm unmöglich sagen, was vorgefallen war.

„Ja.“, antwortete sie schwach. Alles andere hätte er ohnehin nicht geglaubt.

„Wie kommt das? Hast du Fieber?“

„Nein, dass...“, begann sie doch da hatte er bereits die Hand an ihre Stirn gelegt und konzentrierte sich auf das was er fühlte.

Alexanders Hand glitt von ihrer Stirn zu ihren Schläfen und strich behutsam über die Stelle, an der Barrington sie geschlagen hatte. Kurz zuckte sie unter seiner Berührung zusammen.

„Wie ist das passiert?“, fragte er sie leise.

„Ich bin gestolpert. Diese Kleider, die ich hier tragen muss sind furchtbar lang. Ich bin über den Saum gestolpert... auf die Tischkante...“, log sie sofort. Sie wusste, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte. Alexander war immer schon viel zu impulsiv. Sie hatte Angst, dass er etwas tun würde, was sie beide hinterher bereuen würden. Er fragte sie nicht weiter danach, aber er glaubt ihr auch nicht. Sie konnte es in seinen Augen erkennen.

„Das Fieber scheint nur noch gering zu sein. Ich habe dir wie versprochen ein paar Kräuter mitgebracht. Etwas getrockneten Baldrian zur Beruhigung, aber auch Pfefferminze und Kamille. Ich hatte so eine Ahnung, dass du es bei diesem Wetter gebrauchen kannst.“, sagte er und zog aus einem Mantel drei kleine Beutel hervor.

„Ich danke dir.“, antwortete sie erleichtert und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Die Auseinandersetzung mit Jonathan Semerloy hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie geglaubt hatte und nur zu gern wollte sie sich in den Schlaf zurückfallen lassen. Doch da Alexander einmal da war, wollte sie seine Anwesenheit auf jeden Fall genießen.

„Warum kommst du jetzt erst?“, fragte sie ihn dann. „Du hattest doch versprochen mich eher zu besuchen.“ Es war eine Frage, um ihn von ihrem Zustand abzulenken. Sie wollte nicht, dass er weiter nachfragte oder sie gar zu einem Arzt drängte. Sie wusste, dass sie Alexanders Bitte nicht lange wiedersprechen würde können. Sie wollte nicht, dass er sich sorgen machte und das würde er zweifellos, wenn er von ihrer Gegenwehr erführe. Er würde den Grund wissen wollen und den konnte sie ihm nicht nennen.

Aber kaum hatte sie diese Frage gestellt, verfinsterte sich Alexanders Blick sofort.

„Was ist los? Was ist passiert? Ist irgendwas mit-“ Augenblicklich hatte sich Angst in ihr breit gemacht. Etwas war mit Draco geschehen. Aber noch bevor sie es aussprechen konnte, schüttelte Alexander den Kopf und unterbrach sie somit.

„Nein, ihm geht es wieder gut.“

„Wieder?“, fragte sie nervös und ihre Stimme war eine Spur höher als gewöhnlich.

„Annie, glaube mir, ich wäre sofort wieder zu dir gekommen. Gleich am nächsten Tag meines letztes Besuches, aber der Schnee hatte eingesetzt und ich musste zusehen noch alles winterfest zu machen. Allerdings habe ich nicht auf die Dächer der Ställe geachtet. Mein Pferdestall ist in einer Nacht, innerhalb von weinigen Atemzügen zusammengebrochen.“

„WAS?!“, fragte sie entgeistert und richtete sich wieder auf. Die Müdigkeit war auf einmal von ihr abgefallen und sie sah Alexander mit großen, ungläubigen Augen an.

„Was ist mit den Pferden? Konntest du sie retten oder...“ Sie mochte sich nicht einmal vorstellen, wie es ausgesehen haben könnte.

Alexander schilderte Annie die Ereignisse jener Nacht und diese konnte nur immer wieder den Atem anhalten oder fassungslos mit dem Kopf schütteln.

„Ich muss sagen, wenn er nicht gewesen wäre, wäre die Pferde umgekommen und nicht nur dass. Ich hätte wahrscheinlich nie nach den Dächern gesehen und es hätte noch weit aus schlimmer kommen können. Ich bin ihm wirklich dankbar für das, was er getan hat. Hätte ich nicht erwartet.“

Annie lächelte leicht. Es machte sie glücklich Alexander so über Draco reden zu hören.

„Sein Instinkt hat euch in dieser Nacht wirklich geholfen.“, sagte sie schließlich. Alexander nickte kurz. Dann schwiegen sie eine Weile. Annie vor allem, weil sie das eben erfahrene erst einmal verarbeiten musste.

„Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, warum es ihm wieder gut geht.“

Alexander rieb sich den Nacken und vermied es sie anzusehen. „Er hatte sich bei dem Versuch die Tiere zu befreien, an der Hand verletzt. Eigentlich nichts ernstes, aber du weißt, wie verdammt stur er ist. Er ist mit der Verletzung noch herumgelaufen und hat mir bei den Aufräumarbeiten geholfen. Er hat sich nicht einmal beklagt. Erst am nächsten Tag hat er uns dann die Wunde gezeigt, weil sie sich entzündet hatte. Ich habe sie gesäubert, allerdings hat er hingesehen und den Anblick wohl nicht verkraftet oder er hat den Whisky nicht vertragen. Ich glaube aber es war beides. Jedenfalls war er dann kurz weggetreten. Aber es geht ihm ja wieder gut.“

„Whisky? Was machst du mit ihm, Alexander?!“, rief Annie entrüstet, bemühte sich aber ihre Stimme weiter gesenkt zu halten.

„Irgendwie musste man die Schmerzen ja betäuben und es war schließlich seine Schuld, dass er nicht eher etwas gesagt hatte. Außerdem war es wirklich nicht viel und er hat es ja überlebt.“ Plötzlich erschien ein Grinsen auf Alexanders Gesicht. „Der Alkohol hat ihn gesprächiger gemacht.“

Verdutzt sah Annie ihn an. „Wie meinst du das?“

„Als ich den Verband anlegen wollte, ist er aufgewacht und wollte freiwillig wissen, was ich ihm da auf die Hand schmiere. Ich glaube er hat es selbst bereut etwas gesagt zu haben. Aber wenigstens weiß ich jetzt wie man ihn aus der Reserve locken kann. Man muss ihm nur ein bisschen Alkohol geben.“

Annie schüttelte den Kopf. „Du solltest nicht mit ihm spielen. Er ist ein Mensch und kein...“

„Das weiß ich ja, aber es nervt mich ungemein, dass er – bis auf die ersten Tage, die er bei mir war – immer so beherrscht ist. Du kannst es mir nicht verübeln, wenn ich mich freue, auch mal ein paar typisch menschliche Reaktionen bei ihm zu sehen. Ich muss sagen manchmal ist er mir recht unheimlich.“

„Und trotzdem gewährst du ihm Schutz und Obdach. Das ist sehr edel von dir. Ich danke dir.“

„Und trotzdem gewähre ich ihm all das, ja. Weil ich es für dich tue und weil ich nicht glaube, dass er eine große Gefahr ist. Er ist anders ja, aber ich denke nicht, dass er mir oder Susan ernsthaft schaden könnte. Sonst hätte ich ihn schön längst zum Teufel gejagt. Manchmal kommt er mir vor wie ein Kind.“, äußerte Alexander sich leise.

„Wie meinst du das?“, fragte Annie vorsichtig. War es möglich, dass ihr Bruder unbewusste etwas ahnte?

„Er... Es gibt so viele Dinge, die er nicht weiß oder nicht kann... nicht kennt, dass ich mich einfach nicht des Eindrucks erwehren kann, dass er wie ein Kind ist, was erst nach und nach die Welt kennenlernt. Nur, dass er sich im Körper eines erwachsenen Mannes befindet. Versteh mich nicht falsch, ich sage nicht, dass er zurückgeblieben ist, er ist überdurchschnittlich Intelligent. Aber manchmal ist sein Blick, als hätte er all das, was für uns in diesem Altern doch verständlich ist – noch nie gesehen. Es ist seltsam. Ich möchte zu gern wissen, woher er kommt.“

Annie sah ihren Bruder sanft an. Es wäre nicht gut, wenn er hinter Dracos Geheimnis kommen würde. Es würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen. Andererseits, wenn er es wüsste, vielleicht konnte er dann besser damit umgehen, es verstehen und verhindern, dass Draco irgendwann etwas Dummes tat. Besonders jetzt, da sie nicht wusste, ob sie wieder gesund würde. Und es würde vielleicht eine Last von ihr nehmen.

„Willst du mich nicht fragen, ob ich dir etwas erzähle?“, fragte sie dann. Wenn er es tat, würde sie es ihm erzählen, entschied sie sich.

„Nein, ich habe es aufgegeben. Du wirst schon deine Gründe haben.“, antwortete Alexander und Annie war erleichtert und enttäuscht zu gleich. „Er wird bei mir bleiben, solange wie er das selbst will. Ich werde ihn nicht hindern, wenn er eines Tages zu gehen wünscht. Solange werde ich deinen Wunsch befolgen, aber... dafür wirst du auch meinen Wunsch folgen.“

Alexanders sah sie aus seinen Augen durchdringend an und Annie wartete, was wohl sein Wunsch sein mochte. Was konnte sie ihm schon geben? Nichts und schon gar nicht von diesem Gefängnis aus.

„Ich möchte, dass du einen Arzt aufsuchst.“, sagte Alexander dann. Annies Gesicht erstarrte. „Du siehst wirklich nicht gut aus. Deine Augen sind ganz leer und du bist schrecklich blass. Fast genauso wie in der Woche vor... Lass dich untersuchen, dass ist mein Wunsch. Werde wieder gesund. Der Winter wird irgendwann vorbei sein und du hattest doch so viele Pläne für den Garten da draußen.“

Wiederstrebend schüttelte sie den Kopf. „Ich kann... Ich will nicht...“, sagte sie schließlich. Sie wollte Alexander jeden Wunsch erfüllen, aber sie hatte sich bereits entschieden.

„Dann kann ich Draco nicht länger bei mir lassen.“, antwortete er hart. Ausdruckslos sah sie ihn an.

„Aber du hast gerade gesagt, dass er bei dir bleiben kann, dass du ihn akzeptierst und sogar dankbar bist.“, wiedersprach sie.

„Ja, das habe ich und das meinte ich auch alles so. Aber, ich werde nicht zulassen, dass du sterben wirst. Denn das wirst du, wenn du so weiter machst, nicht wahr?“

Kurz nickte sie. Dennoch gab sie nicht so einfach auf. Alexander war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Er konnte Draco nicht fortschicken.

„Ich glaube dir nicht. Du würdest ihn nicht gehen lassen. Was willst du ihn auch sagen?“

„Dass wir Platz für das Kind brauchen, dass seine Dienste nicht mehr nötig sind.“ Alexander sah sie kurz an und in seinen Augen schien etwas aufzuflammen. „Oder ich sage ihm einfach die Wahrheit. Ich berichte ihm von deinem Zustand und-“

„Nein!“, rief sie sofort. Sie klammerte sich verzweifelt an seinen Arm. „Nein, alles nur das nicht. Bitte.“, wimmerte sie beinah. „Du darfst es ihm nicht erzählen. Nichts von alle dem. Er würde sonst irgendetwas unbesonnenes tun. Bitte, Alexanders sag es ihm nicht.

Egal was passiert. Du darfst es ihm nicht sagen.“

Aus tränennassen Augen sah sie ihn an. „Wirst du einen Arzt kommen lassen?“, fragte er steif. Annie nickte ergeben. Sofort entspannte sich Alexanders Haltung und er nahm sie in die Arme. „Es tut mir leid, dass ich das sagen musste. Ich tue es nur für dich. Warum hast du solche Angst davor?“

„Ich vertraue ihnen nicht.“, flüsterte sie. „Keinem von ihnen.“

„Das verstehe ich. Aber haben sie den ausdrücklich gesagt, dass du einen Arzt von ihnen kommen lassen sollst?“

Wiederstrebend schüttelte sie den Kopf. „Das ist doch offensichtlich.“, antwortete sie dennoch.

„Das kannst du nicht wissen, so lange du nicht danach gefragt hast. Mach einen eigenen Vorschlag. Wähle einen Arzt den weder sie noch du kennen.“

„Und wer soll das sein?“, antwortete sie matt. „Fällt dir jemand ein? Gute Ärzte sind nicht gerade häufig anzutreffen.“ Alexander schwieg und in Annie wuchs die Hoffnung, dass er keine Antwort wusste und sie in Ruhe lies.

„Susans.“, sagte er auf einmal.

„Was?“

„Du kannst Susans Arzt kommen lassen. Er wohnt in dem kleinen Dorf Miree, dort wo sie herstammt. Der Weg wäre zwar für ihn etwas weiter, aber ich bin sicher mit einem ansprechenden Honorar ließe sich das machen. Er soll recht gut sein und hat sich offenbar auf Frauenheilkunde spezialisiert.“

Enttäuscht blickte sie nach unten. Würde ihr nichts anderes übrig bleiben?

Im gleichen Moment ging die Tür abermals auf und Semerloy trat wieder ein. „Ich muss sie nun leider bitten zu gehen.“, sagte er mit süffisantem Unterton. „Ihre Schwester braucht Ruhe, wie sie sicher selbst sehen können. Konnten sie sie denn überreden einen Arzt kommen zu lassen?“, fragte er scheinbar höchst sorgenvoll.

Alexander blickte zu seiner Schwester und erwartet ihre Antwort. Annie schluckte heftig und nickte dann.

„Sehr schön, dann werde ich den Arzt ihres Gatten kommen lassen.“ Um Semerloy Mundwinkel zeigte sich wieder das kalte Lächeln, welches sie so sehr hasste.

„Nein!“, wiedersprach sie ihm mit fester Stimme. „Ich möchte einen anderen Arzt kommen lassen.“ Wenn sie sich schon dem Willen anderen Beugen musste, dann wollte sie wenigstens diesbezüglich ihre eigene Entscheidung treffen, selbst, wenn diese eingeschränkt war.

„Verzeiht mir die Frage, aber stimmte etwas nicht mit unserem Arzt?“ Seine Stimme triefte gerade zu vor Hohn und Annie wusste, dass er nicht mit einer glaubhaften Antwort rechnete.

„Ich... habe gehört, dass es in einem kleinen Dorf Miree einen Arzt geben soll, der sich der auf Frauenheilkunde spezialisiert hat.“, wiederholte sie Alexanders Worte. „Ich möchte mich von diesem Arzt untersuchen lassen.“

„Ich sehe keinen Unterschied von diesem Arzt zu unserem.“, antwortete Jonathan Semerloy.

„Dieser oder kein anderer.“, sagte sie mit möglichst fester Stimme. Ihr Hals begann wieder wahnsinnig zu schmerzen. Sie hatte schon zu viel gesprochen und sie brauchte dringend etwas zu trinken. Der Krug mit dem Wasser stand auf dem Tisch. Vielleicht konnte sie Alexander bitten ihn ihr zu geben.

Semerloys Augen hatten sich fest auf ihre gerichtet und das Grün schien sie zu durchdringen. Wieder das Lächeln an seinen Mundwinkeln. Alexander stand hinter ihm, so dass er es nicht sehen konnte.

„Natürlich. Ganz wie ihr wünscht. Wir wollen doch schließlich alle, dass es euch bald wieder besser geht.“ Seine Augen funkelten sie an und Annie lief ein Schauer über den Rücken. Das Wort alle hatte er besonders gedehnt und betont gesprochen und es fiel ihr nicht schwer die Bedeutung dahinter zu erkennen. Er spielte mit ihr. Ihm war offenbar ganz besonders an ihrer Genesung gelegen. Mit Grauen erinnerte sie sich an seine Worte. Er würde alles tun um sie zu bekommen. Warum hatte Alexander sie dazu gebracht, ihre Entscheidung zu ändern? Flehendlich sah sie zu ihrem großen Bruder, doch dieser sah es nicht, da seine Augen auf Jonathans Hinterkopf gerichtet waren. Offenbar war ihm die Zweideutigkeit seiner Worte ebenso nicht entgangen.

Jonathan Semerloy verließ das Zimmer wieder und Alexanders Blick richtete sich wieder auf sie. „Was ist mit ihm?“, fragte er sie gerade heraus und vergaß dabei leise zu sein.

Annie legte verschwörerisch die Finger auf die Lippen, um ihn daran zu erinnern, dass diese Wände – so dick sie auch sein mochten – wahrscheinlich Ohren hatten.

„Ich weiß es nicht.“, log sie, obwohl sie seine Worte sehr wohl verstanden hatte. Nur durfte Alexander nichts davon wissen. Es waren nur Vermutungen und ein falsches Worte gegen Semerloy könnte sie mehr kosten, als sie sich vorstellen mochte. Seine Drohung war eindeutig.

„Also gut... Ich gehe davon aus, dass der Arzt morgen hier sein wird. Das hoffe ich zumindest für sie.“, knurrte Alexander. Er beugte sich zu seiner Schwester herunter und küsste sie auf die Stirn. „Versuch noch ein wenig Schlaf zu finden, auch, wenn es dir vielleicht schwer fällt. Bis morgen.“, sagte er und reichte ihr, ohne das sie danach gefragt hatte einen Becher mit Wasser. Dankbar nahm sie ihn entgegen.

„W-Was?“, stammelte Annie, die ihm nicht ganz hatte folgen können.

Verdutzt sah Alexander sie an. „Ich werde natürlich auch da sein, wenn dieser Arzt kommt. Ich lasse dich doch jetzt nicht allein.“, sagte er wie selbstverständlich.

Annie sah getroffen nach unten. Seine Führsorge kannte keine Grenzen und dennoch durfte es nicht sein. Wenn ihr Bruder da war, wenn sie einen Arzt bei sich hatte, würde Semerloy es als gefundenes Fressen ansehen und es noch mehr gegen sie benutzen. Nein, Alexander durfte nicht da sein – obwohl sie sich tief in ihrem Inneren nichts sehnlichster wünschte. Würde sie weiterhin auf seine Zuverlässigkeit vertrauen und sich darauf stützen, würde sie ihn früher oder später ins Verderben stürzen.

„Nein, ist schon gut. Das musst du nicht.“, sagte sie und versuchte so entschlossen und sicher, wie möglich zu klingen. „Ich habe dir mein Wort gegeben und ich werde es halten. Ich werde diesen Arzt kommen und mich ordnungsgemäß von ihm untersuchen lassen. Deswegen sollst du dich also nicht sorgen. Sollte er aber... sollte er mir aber nicht helfen können, bitte ich dich, dies zu akzeptieren.“, flüsterte sie.

Alexander atmete hörbar aus, sehr wohl nicht zufrieden mit ihrer Antwort. Dennoch wiedersprach er nicht.

„Dann bin ich aber übermorgen wieder da. Ich will schließlich auch wissen, was der Arzt festgestellt hat.“

Dem konnte sie nichts erwidern. Es war doch nur normal, dass er wissen wollte, wie es ihr ging. Sie wollte ja, dass er sie besuchte. Bereits jetzt erschienen ihr die kommenden Tage ohne ihn wieder endlos lang, wo doch die wenigen Augenblicke, die sie mit ihm verbrachte, viel zu schnell verflogen. Tapfer setzte sie ein Lächeln auf.

„Ich freue mich darauf.“, sagte sie schließlich. Alexander ging und ließ sie allein zurück. Sofort schien es kälter im Zimmer zu werden, der Himmel dunkler und nicht einmal die Sterne waren zu sehen.
 

Jonathan Semerloy hatte sein Wort gehalten und am nächsten Nachmittag, öffnete sich Annies Zimmertür erneut und der Arzt aus Miree trat ein. Er wurde ihr als Doktor Storm vorgestellt und war ein Mann der seine Fünfziger schon lange hinter sich gelassen hatte. So zumindest schätzte sie ihn ein. Aber er war ein freundlicher Mann, der trotz der grauen, sehr buschigen Augenbrauen so wirkte. Annie mochte ihn wiedererwartend und noch mehr, als Doktor Storm darauf bestand, die Patientin allein zu untersuchen.

Daraufhin hatten Semerloy und Barrington zähneknirschend das Zimmer verlassen. Offenbar kannten diese beiden Männer doch noch so etwas wie Respekt gegenüber Ärzten. Sie fragte sich nur, wie lange das Anhalten mochte.

„Das hätten sie vielleicht nicht tun sollen.“, murmelte Annie und wollte den Mann warnen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wirklich einfach so davon kommen sollte. Immerhin ließ sich Barrington niemals etwas von anderen sagen.

„Das geht schon in Ordnung.“, beruhigte er sie und zwinkerte sie aus seinen grauen Augen an. Anscheinend war alles an dem Mann grau: seine Haare, Augenbrauen und Augen selbst. Fragend sah sie ihn an.

„Ich habe mich nur bereit erklärt hier zu kommen, wenn man mich nach meinen Methoden behandeln lässt. Mein Ruf ist in dieser Gegend sehr verbreitet und es wäre zu auffällig gewesen, wenn man mich... gezwungen hätte zu folgen. Ich denke nicht, dass Jonathan gegen die aufgescheuchte Bevölkerung eine Möglichkeit gehabt hätte, zu entrinnen. Zumindest nicht mit ein paar Blessuren und einem angeknackten Stolz.“, sagte er frei heraus, während er seine Untersuchungsinstrumente auf den Tisch aufreihte, an dem sie schon lange kein Tee mehr getrunken hatte.

„Aber... wie können sie sich so sicher sein. Haben sie gar keine Angst, um ihr eigenes Wohl oder um das der Leute. Was, wenn Semerloy oder Barrington sich anderweitig an ihnen für ihre Unverschämtheit rächen?“

„Alles kommt, wie es kommen muss. Glauben sie mir. Und wenn es soweit ist, werde ich es mit offenen Armen empfangen. So lange allerdings, bin ich meinen Patienten verpflichtet. Außerdem... Jonathan Semerloy würde es sich wohl zwei Mal überlegen, bevor er sich an mir vergreift.“

Nun wurden ihre Augen noch größer und ihre Neugier ungeduldiger, als er verstohlen in sich hinein lächelte.

„Wie...“

„Ich habe ihm auf den Weg ins Leben geholfen.“, antwortete Doktor Storm kurz. „Er wusste wohl nicht, dass ich der Arzt war, nachdem sie schicken ließen und ich war nicht minder überrascht als er, als wir uns heute morgen wieder sahen.“

„Ja, aber das...“ Das war ihr immer noch keine einleuchtend, ausreichende Erklärung.

„Er und seine Mutter wären bei der Geburt fast gestorben. Ziemlich kompliziert und äußerst blutig. Es kommt mir immer noch wie ein Wunder vor, dass beide überlebt haben. Hätte ich damals nicht ihren Leib aufgeschnitten und ihn direkt geholt, wäre er wohl nicht hier.“

„Sie haben was?“, fragte sie mit trockener Kehle, doch er schien sie nicht einmal zu hören.

„Trotz des ganzen Blutes, war er ein äußerst hübscher Junge, der in den nachfolgenden Jahren von seiner Mutter abgöttisch geliebt und leider genauso verwöhnt wurde. Aber egal, was aus solchen Kindern wird, sie vergessen nie, wem sie ihr Leben verdanken. Das sollten sie sich gut merken. So aber nun genug geplaudert. Bitten machen sie sich frei.“, sagte er mit beschwingter Stimme. Das Thema schien damit für ihn erledigt und Annie hatte Mühe ihm zu folgen.

Annie gehorchte schweigend und dennoch gingen ihr seine Worte nicht aus dem Kopf. Der Glaube dieses Mannes in die Menschen musste unerschütterlich sein. Vielleicht konnte sie etwas von ihm lernen. Vielleicht war er aber auch nur ein alter Narr, dem seine Gutgläubigkeit eines Tages zu Verhängnis werden sollte.
 


 

Der Boden unter ihren Füßen war verschwunden. Da war nur noch Dunkelheit und Schwärze, die sie verschlang. Nichts war mehr. Alles war dahin. Es war vorbei. Endgültig. Kein zurück mehr. Keine goldenen Tag voll Glück.

Nur noch Dunkelheit, für immer.

Eine Stimme dran an ihr Ohr und eine Hand berührte sie sanft.

„Annie?“, hörte sie seine Stimme fragen und sie schaffte es ihre Tränen und das Schluchzen so lange zurückzuhalten, bis sie ihn erkannte.

Alexander war bei ihr. Ohne zu überlegen, warf sie sich in seine Arme und weinte hemmungslos an seiner Brust.

Sie spürte, wie er die Hände auf ihren Körper legte, die selbst zitterten. Es tat ihr leid. Sie wusste, dass er sich sorgen um sie machen musste, dass er nicht verstand. Immer wieder sagte er ihren Namen und versuchte zu ihr durchzudringen. Doch es dauerte lange, bis Annie seine Frage annähernd verstand.

„Weißt du dass denn nicht?“, fragte sie ihn tonlos zwischen zwei Schluchzern, bevor der Heulkrampf sie abermals packte.

„Nein!“, stieß er ungeduldig aus. „Barrington sagte nur, dass du seit gestern weinend in deinem Zimmer liegst und niemanden antworten willst. Er ist außer sich.“

Sie konnte nicht anders und stieß ein bitteres Lachen aus, vermischt mit dem Schluchzen kam es eher einem Grunzen gleich.

„Um Gottes willen Annie, was ist denn passiert?“ Alexander Stimme klang flehendlich, als er mit ihr sprach. Ihr verhalten machte ihm Angst.

Nun sah Annie ihn endlich an. Vermischt mit Trauer und Verzweiflung, spiegelte sich auch Ungläubigkeit in ihrem sonst so hübschen Gesicht.

„W-weißt du... das... denn... nicht?“, fragte sie stockend noch einmal.

„Nein! Woher denn?!“, fragte er sie aufgebracht.

Sie sah nach unten und vermied es somit ihn anzusehen. Das Gesicht verbarg sie zudem an seiner Brust. Sie wisperte die Worte, die ihr kaum über die Lippen kommen wollten und brach dann noch einmal weinend zusammen.

„Was?“, fragte Alexander und zog sie wieder hoch, damit sie ihn endlich ansah. „Annie, ich habe kein Wort von dem verstanden, was du mir sagen wolltest!“, sagte er verzweifelt.

„Ich bin schwanger!“, wiederholte sie noch einmal und dieses Mal schrie sie ihre Hoffnungslosigkeit heraus.

Auf Alexanders Gesicht legte sich ein verdatterter Gesichtsausdruck und für einen Moment, sagte er gar nichts.

„Aber das... ist wunderbar... oder nicht?“, fragte er zweifelnd.

Betroffen schüttelte sie den Kopf. Verstand er denn nicht? Ein Kind von Barrington konnte niemals etwas gutes sein. Nicht von diesem Mann!

Wieder begann sie zu weinen und sank in sich zusammen. Plötzlich fasste Alexander ihr Gesicht mit beiden Händen und zwang sie ihn anzusehen.

„Annie, sieh mich an. Ganz langsam atmen, siehst du. Dann wirst du mir erzählen, was eigentlich los ist.“, sagte er und zeigte ihr was sie tun solle. „Ein und wieder aus. Komm schon, ein und aus.“

Annie folgte ihm. Sie wusste nicht warum oder woher sie die Kraft dafür nahm. Sie hatte einfach nur die Hoffnung, dass dann schon alles gut werden würde. Das hier war immerhin ihr Bruder. Er wusste für alles eine Antwort. Ganz sicher wusste er das.

Nachdem ein paar Augenblicke verstrichen waren und sie so dagesessen hatten und Annie sich tatsächlich ein wenige beruhigt hatte, ließ er sie schließlich los.

„Gut und nun erzähle mir bitte von Anfang an, was gestern geschehen ist.“

Zaghaft nickte sie und noch langsamer begann sie zu erzählen. Über den Besuch des Arztes und sein Untersuchungsergebnis, sowie die Ängste, die sie seit ihrer Hochzeit und an den Gedanken an eines Kindes quälten.

Alexander hatte sie nicht unterbrochen, sondern ihr schweigend zugehört, aber sie glaubte in seinem Gesicht erkennen zu können, dass er sie verstand.

„Aber warum... warum hast du das nicht schon vorher gemerkt? Ich meine... offenbar... bist du schon ziemlich... weit?“, fragte Alexander zögernd.

Annie atmete schwer aus. Die gleiche Frage hatte ihr Doktor Storm auch gestellt. Doch jetzt war sie immerhin in der Lage zu antworten. Am Tag zuvor hatte sie nicht mehr herausbekommen, als ein Schluchzen und Weinen.

„Du weißt doch, dass ich schon immer sehr empfindlich gewesen war.“, wisperte sie. „Allein schon der kleinste Wetterumschwung reicht, um bei mir alles durcheinander zu bringen.“ Genauso war es auch gewesen, als sie in den Wald gezogen war oder als sie herausgefunden hatte, dass Draco sprechen konnte. Die Aufregung und Wut hatte ihr Innenleben so sehr durcheinander gewirbelt, dass es geschlagene drei Wochen gedauert hat, bis sie einen neuen Rhythmus gefunden hatte.

„Mein Ankommen hier, war bisher die größte Veränderung, die ich je gemacht habe. Zudem war sie... ungewollt. Ich habe mir nie Gedanken darum gemacht, was wäre, wenn... Ich habe... es... Ich weiß nicht. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es bereits so ist.“, sagte sie kraftlos.

Nun da sie sich einmal beruhigt hatte, spürte sie, wie erschöpfte sie war. Die ganze Nacht hatte sie nicht geschlafen können, hatte es nicht einmal gewollt. Aber nun, da sie sich jemand anvertraut hatte und ihr ohnehin angeschlagener Körper seine letzten Kraftreserven aufgebracht hatte, wollte sie nichts weiter tun, als schlafen. Vielleicht würde sie, wenn sie aufwachte, wieder in ihrem Wald sein und es würde sich alles als ein böser Traum herausstellen. Sie hätte Draco nie kennengelernt und er könnte noch sein freies Leben führen. Sie wäre Barrington niemals über den Weg gelaufen und ihnen allen wäre so viel Kummer erspart geblieben.

Sie ließ ihren Kopf an Alexanders Brust sinken und war bereit sich den Träumen hinzugeben, wenn sie sie nur abholen würden. Annie spürte, wie Alexander sie sanft auf die Kissen legte und anschließend zudeckte.

„Bitte sag es ihm nicht.“, flüsterte sie ihm Halbschlaf. „Bitte, sag es ihm... nicht.“

Sie blieb nicht mehr lange genug wach, um seine Antwort zu verstehen, denn im gleichen Moment, in dem sie diese Worte ausgesprochen hatte, hatte sie sich auf einer herrlichen Sommerwiese wiedergefunden, die übersäht mit den schönsten Blumen war und in der Mitte stand er...
 

Alexander trat ein und Draco schaute kurz desinteressiert auf. Er wusste, wo er gewesen war und wollte gar nichts näheres darüber wissen. Er war nur in der Küche, weil Susan das Abendessen fertig hatte. Außerdem wollte sich Alexander seine Hand noch einmal anschauen. Die Wunde heilte gut und er würde wohl endlich den Verband abnehmen können. Er hinderte ihn ohnehin nur daran, sich richtig zu bewegen und zuzugreifen. Merkwürdigerweise konnte er beim Arbeiten seine linke Hand nur selten gebrauchen. Schwere Gegenstände konnte er kaum damit tragen und auch sonst war der Arm scheinbar recht schnell ermüdet. Deswegen hatte Alexander die Stunden zum Lesen und Schreiben intensiviert und auch die Zahlen kannte er bereits.

Doch als Draco aufsah, blieb sein Blick an Alexander haften. Er sah merkwürdig angespannt aus, seine Stirn war in Falten gelegt und sein Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Draco atmete einmal tief durch. Es war nichts, sagte er sich selbst. Was ging es ihn an, warum er so ein Gesicht machte, als wäre auch die zweite Scheune eingestürzt. Sie stand noch, wollte er sich einreden.

Dennoch ließ er Alexander nicht aus den Augen, als dieser in der kleinen Kammer mit den Vorräten ging und mit der Flasche in der Hand zurückkam, an die Draco keine gute Erinnerung hatte. Jetzt sah selbst Susan ihren Mann beunruhigt an.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie ihn, und stellte die Teller auf dem Tisch ab.

Alexander goss sich wortlos einen Becher voll und sah seine Frau und Draco erst an, als er die Flasche wieder verschlossen und einen großzügigen Schluck von dem Gebräu genommen hatte.

„Nichts.“, antwortete er einsilbig.

„Was ist mit ihr?“, fragte Draco ohne groß weiter darüber nachzudenken. Es musste etwas mit Annie geschehen sein! Warum sollte sich Alexander sonst so seltsam benehmen? Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

Sein Herz schlug vor Aufregung schneller und nervös fuhr er sich über die Lippen. Gleichzeitig spürte er abermals wie er wütend wurde. Allein der Gedanke an Barrington ließ ihn alles andere beinah vergessen. Nur die Tatsache, dass er immer noch nicht kämpfen konnte, wie ein Mensch, ließ ihn an seinem Platz bleiben.

Alexander sah ihn kurz schweigend an und seine Augen verengten sich dabei merkwürdig.

„Ich sagte doch es ist nichts. Annie geht es gut. Sie ist ein wenig erkältet, nichts Ernstes. Der Arzt war bereits da und hat sich um sie gekümmert.“

„Aber warum stürzt du dann den Alkohol so herunter?“, fragte nun auch Susan und Draco war ihr dankbar dafür. Das ersparte ihm eine weitere Frage.

Alexander schaute seine Frau kurz an und dann wieder auf den Becher in seiner Hand. Danach zuckte er kurz mit den Schultern. „Es ist verdammt kalt da draußen und der Weg zurück war nicht sonderlich angenehm. Es hat wieder angefangen zu schneien und dieser Whisky wirkt nun mal schneller als jedes Feuer, um mich wieder aufzuwärmen.“

Susan nickte kurz mit dem Kopf und wandte sich wieder dem Abendbrot zu, doch Draco sah Alexander immer noch an. Er konnte nicht sagen, ob er gelogen hatte oder nicht. Sein Verhalten war den Rest des Abends vollkommen normal. Trotzdem wurde Draco das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Besuch um Mitternacht

Am nächsten Morgen, als sie erwachte, spürte Annie es in sich. Zumindest glaubte sie es zu spüren. Gleichzeitig wusste sie jedoch, dass das eigentlich nicht möglich war. Bis vor zwei Tagen hatte sie ja auch noch nichts dergleichen empfunden. Warum sollte es jetzt anders sein? Weil sie es wusste? Sollte das allein genügen, um sie das Wesen in ihrem Körper empfinden zu lassen?

Noch nie hatte sie so etwas gehört und doch... es war da. Annie konnte es regelrecht vor ihrem Auge sehen, wie es sich in ihrem Leib ausbreitete und sie von innen vergiftete. Das tat es doch oder nicht? Es war ein Kind Barringtons. Nichts Gutes konnte von diesem Mann kommen.

Sie starrte weiterhin nach oben. Das Dach aus feinstem Stoff spannte sich über sie und schien eine eigene Welt zu schaffen. Eine Welt in Gefangenschaft.

Annie richtete sich langsam auf. Was sollte sie tun? Was blieb ihr zu tun übrig?

Die Tür wurde aufgestoßen und Jonathan trat ein. Um seinen Mundwinkel hatte er einen scharfen Zug. Ein Zeichen dafür, dass er sich bei ihr nicht länger zu verstellen gedachte.

„Wie geht es euch?“, fragte er sie mit Gleichgültigkeit in der Stimme.

Sie antwortete ihm nicht.

„John wird gleich bei euch sein. Er freut sich sehr darüber. Endlich wart ihr ihm doch zu etwas nützlich.“

Erschrocken sah Annie ihn an. Woher wusste er es?!

Als hätte er ihre Gedanken geahnt, zog sich einer seiner Mundwinkel nach oben. „Ihr Bruder hat es uns erzählt. Offenbar hatte er Angst, dass euch etwas zustoßen könnte, wenn John sich nicht beruhigen ließe. Er war sehr... ungehalten.“

„Ihr müsst unglaublich glücklich sein.“, erwiderte Annie bissig.

„Oh...das bin ich.“, antwortete er kurz. Annie sah in misstrauisch an. Sie hatte erwartete, dass er sich nicht länger zurückhalten würde, war doch nun das eingetreten, von dem er die ganze Zeit erzählt hatte. Warum verhielt er sich nun anders? Sie schüttelte über ihre Gedanken sofort angewidert den Kopf. Was kümmerte es sie, was in diesem Mann vorging? Sie sollte froh sein, dass er sich ihr nicht näherte. Wer wusste schon, wie lange das anhielt? Dennoch machte es sie nur umso misstrauischer. Niemals würde sie ihm dieses Verhalten glauben.

„Ich werde ihm sagen, dass ihr bereit seid ihn zu empfangen.“, wandte sich Jonathan Semerloy ab.

„Nein, bin ich nicht, aber das interessiert euch auch nicht.“, sagte sie und biss sich im gleichen Moment auf die Zunge. Warum konnte sie nicht einfach den Mund halten? Aber der Gedanke diesen Mann wieder zu sehen, ertrug sie einfach nicht. Selbst, wenn er sich an nichts erinnern konnte. Sie konnte es umso besser. Nie würde sie es vergessen.

„Das ist wirklich äußerst bedauerlich.“, antwortete Jonathan merkwürdig ruhig, doch um seine Mundwinkel legte sich abermals ein kleines Lächeln. Offenbar genoss er es ungemein zu wissen, wie sehr sie diesen Mann hasste und doch nichts dagegen tun konnte.

Annie biss die Zähne zusammen, um nicht weiter zu antworten. Sie wusste, dass er genau das wollte und sie wusste ebenso sicher, dass jedes ihrer Worte an Barrington herangetragen werden würden.

Jonathan verließ ihr Zimmer und nur wenige Augenblicke später erschien Barrington vor ihr. Wie von selbst drückte sich Annie in die Kissen zurück, um sich so klein, wie möglich zu machen und so viel Abstand, wie möglich zwischen sich zu bringen. Vergebens. Barringtons fleischiges, mit Narben übersätes Gesicht blickte drohend auf sie herab und sie spürte, dass er bereit war seine ganze Wut an ihr auszulassen. Egal ob er nun etwas getrunken hatte oder nicht.

„Was sollte dieses Verhalten?!“, fragte er sie scharf und seine Stimme hallte durch den Raum.

Stumm sah sie ihn an, rang sich dann doch zu einer Antwort durch. Auf keinen Fall, wollte sie ihn weiter provozieren. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, wozu er in der Lage war, auch wenn das wohl nur ein Bruchteil war.

„Ich weiß nicht, was ihr meint.“, antwortete sie ruhig.

Barrington funkelte sie an und begann dann vor ihrem Bett auf und ab zu laufen. Annie hatte den Verdacht, dass er es tat, damit er ihr keine Gewalt antat und somit anderweitig beschäftigt war. Nicht, dass er um sie besorgt war. Die Vorstellung allein war lächerlich, aber wahrscheinlich weil sie sein Kind in sich trug.

„Erst seid ihr tagelang zu nichts zu gebrauchen, schließt euch in eurem Zimmer ein und liegt im Bett wie eine Tote und dann erfahrt ihr, dass ihr ein Kind erwartet und ihr brecht heulend zusammen! Wenn ich auch nur ansatzweise geahnt hätte wie kümmerlich ihr seid und wie schwach, hätte ich mir niemals die Mühe gemacht euch zur Frau zu nehmen. Ihr könnt von Glück reden, dass euer hübsches Gesicht euch Dinge erspart hat, die sonst jede andere erwartet hätten.“, sagte er scharf. „Aber... wie ich höre hat sich meine Geduld und Großzügigkeit nun doch noch ausgezahlt. Ihr erwartet ein Kind. Glück für euch. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen jämmerlichen Anblick noch hätte ertragen können. Nicht einmal im Bett seid ihr noch eine besondere Freude.“

Annie sah ihn unverwandt an und biss sich wieder auf die Zunge, so dass es schmerzte. Sie durfte nichts sagen, redete sie sich selbst ein. Sie durfte sich von seinen Worten nicht weiter provozieren lassen.

„Doch ich frage mich...“, fuhr Barrington in einem anderen Ton fort, „was euch an diesem Kind so verzweifeln lässt?“ Er blieb stehen und sah sie abwartend an. Erwartete er wirklich eine Antwort von ihr? Als wäre das nicht offensichtlich.

„Wisst ihr wie demütigend es für mich ist, wenn meine Frau – MEINE FRAU – erfährt ein Kind zu erwarten und dann nichts besseres zu tun hat, als zwei Tage lang durchzuheulen?! ERKLÄRT EUCH!“ Doch er ließ ihr gar keine Gelegenheit dazu, denn er hatte sich bereits in Rage geredet.

„Und kaum ist euer Bruder da, beruhigt ihr euch auf wundersame Weise! Als wäre nie etwas gewesen! Ich hoffe für euch und euren Bruder, dass ihr eine gute Erklärung habt, sonst Gnade euch Gott! Denn ich werde es gewiss nicht tun!“, schrie er sie an.

Annie erzitterte. Schlagartig erinnerte sie sich an Semerloys Worte, die Drohung die er unausgesprochen gelassen hatte, die dennoch unmissverständlich war.

Man würde sie und Alexander beschuldigen, sie hätten... Sie konnte es nicht einmal zu Ende denken, so sehr ekelte sie der Gedanken an. Wie gern würde sie diesem Monster von Mann die Wahrheit sagen! Wie gern würde sie ihm sagen, dass sie es einfach nicht ertragen konnte, von ihm ein Kind zu bekommen! Doch sie konnte nicht. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Diese Hilflosigkeit, dieses Gefangen sein - nicht nur in diesem Raum, sondern in ihrem Leben - trieb sie fast in den Wahnsinn. Niemals würde sie es bis zum Ende ihres Lebens in diesen Mauern aushalten können. Wenn dieses Kind geboren war, würde sie nach einem Weg suchen dem zu entkommen.

Und sie wusste, dass es ihr wohl nicht auf dem Weg der Lebenden gelingen würde. Aber das Kind... meldete sich eine leise Stimme in ihr, so dass sie überrascht zusammenzuckte.

„Was ist?! Ich erwartet eine Antwort von euch!“, fuhr Barrington sie abermals laut an und ein Schwall seines Mundgeruchs traf sie.

„Nein.“, sagte sie, ohne dabei einzuatmen.

„Was nein?!“

„Ich... war... überwältigt.“, sagte sie zögernd und suchte nach den richtigen Worten einer Lüge. „Ich... bin erst zwanzig.“, antwortete sie langsam und vermied es ihm in die Augen zu sehen. „Ich fühle mich noch nicht bereit ein Kind zu bekommen. Ich habe nicht... erwartet, dass es... so schnell geschehen würde.“

Keines ihrer Worte war gelogen, stellte sie fest. Es stimmte alles und doch spürte sie tief in ihrem Herzen, dass es nicht ganz stimmte. Wäre es das Kind eines anderen gewesen, wäre es seins... sie biss sich auf die Lippen, damit der Schmerz sie aus dieser trügerischen und naiven Fantasie zurückriss.

„Pah! Als ob ihr mit dem Kind etwas zu tun hättet!“, stieß Barrington aus und er klang dabei reichlich amüsiert. Als wäre die Vorstellung einer Mutter, sich um ihr Kind zu kümmern, das lächerlichste, was er je gehört hatte. Entgeistert sah sie ihn an. Sie hatte es geahnt, hatte es so kommen sehen, aber dass es wirklich so sein sollte, entsetzte sie zutiefst. War sie denn wirklich nicht mehr als ein Objekt, nur dazu da ein Kind in die Welt zu setzen? Ah... sie vergaß, schalte sie sich selbst. Sie war nichts in seinen Augen, egal ob er Alkohol zu sich genommen hatte oder nicht.

„Dann braucht ihr euch auch nicht zu wundern, wenn ich mich nicht so über das Kind freuen kann, wie ihr es vielleicht gern gesehen hättet.“, sagte sie endlich und machte damit nur einem sehr geringen Teil ihrer Wut Luft.

Verdutzt sah er sie an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

„So gefallt ihr mir schon viel besser! Diese Spitzzüngigkeit steht euch außerordentlich gut! Eure Augen funkeln dann regelrecht. Offenbar bekommt euch die Schwangerschaft bereits jetzt. Mal sehen, ob ihr diese Energie auch anderweitig einzusetzen wisst.“

„W-Was?“, stammelte sie. Er konnte doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dass sie jetzt, in diesem Zustande... Niemals. Das konnte nicht sein ernst sein!

„Aber... ihr könnt nicht.“, versuchte sie ihn daran zu hindern und sah bereits mit wachsender Angst, wie er sich die Schuhe abstreifte.

„Warum nicht?“, fragte er desinteressiert und entkleidete sich dabei weiter.

„D-Das K-Kind... es... könnte ihm schaden.“

Er hielt in seiner Bewegung inne. Das Hemd bereits halb über den Kopf gestreift, so dass das Fett seines dicken Bauches, über der Hose hing, ihr regelrecht entgegenstarrte. Dann entkleidete er sich weiter.

„Offenbar seid ihr heute besonders vergnüglich. Aus eurem Mund kommen lauter seltsame Sachen.“ Seine Stimme war ruhig und doch konnte sie die Schärfe aus jedem seiner Worte hören. Es war ihm egal, wie es ihr ging, dass hatte sie begriffen, aber dass ihm auch das Kind egal war, schockierte sie vielleicht noch ein wenig mehr. Wollte er denn keinen gesunden und schönen Erben haben, wie es Semerloy beschrieben hatte?

„Aber-“, wollte sie erwidern, doch er ließ sie nicht einmal dazu kommen.

„Kein aber! Ich hab nie davon gehört, dass es dem Kind schaden kann, wenn man während der Schwangerschaft den Beischlaf vollzieht.“ Als er die Hand hob zuckte Annie unwillkürlich zusammen. Die Erinnerung an seinen Schlag saß noch immer tief und auch, wenn sie sich selbst geschworen hatte keine Angst zu zeigen, ließ sich ihr Körper nicht so einfach überzeugen. Sie wusste, dass er in der Lage war ihr noch weitaus schlimmeres anzutun und doch ängstigte sie bereits dieses bisschen.

Sie war nicht stark. Sie hatte es sich einreden wollen, warum wusste sie nicht einmal mehr.

Die hörte das klirren von Metall auf dem Boden. Wahrscheinlich hatte er sich gerade der Hose entledigt. Starr blickte sie nach unten. Ihr Herz zitterte, als er sich vollständig entkleidet hatte. Sie wollte gehen, fort von diesem Ort, weit weg. Ganz egal wie, ganz egal wohin.

„Es wird höchste Zeit, dass wir dieses freudige Ereignis auch gebührend feiern.“, sagte Barrington lächelnd. Jeden anderen Menschen machte ein Lächeln schöner, doch bei ihm wirkte es grotesk und unheimlich. Wieder blitzte etwas in seinen Augen auf und ließ ihr das Blut gefrieren.
 

Man hatte eine Wanne in ihr Zimmer gebracht und sie mit heißem Wasser gefüllt. Es war ihr egal, dass die Männer viel zu tragen hatten. Keine Sekunde länger konnte sie seinen Gestank an sich haften lassen. Sie würde ersticken, wenn sie es nicht sofort abwusch.

Aber egal, wie oft sie sich auch nach jedem Mal gewaschen hatte, egal wie lange oder wie gründlich, sie hatte das Gefühl nie wieder anders riechen zu können, als nach ihm. Ihr drehte sich der Magen um und sie musste all ihre Kraft aufbringen, um sich nicht in das Wasser zu erbrechen.

Das Wasser war heiß, vielleicht zu heiß, aber dieser Schmerz war erträglicher, als all der andere. Annie legte eine Hand auf ihren Bauch. Jetzt da sie es ganz sicher wusste, glaubte sie es nicht nur spüren zu können, sondern auch die Veränderung an ihrem Körper zu bemerken. Es war nur gering und sie wusste, dass ihr Leib in den nächsten Monaten noch mehr anschwellen würde. Dennoch löste es in ihr kein Gefühl der Glückseligkeit aus, wie es sonst wohl üblich wäre.

Annie tauchte in der kleinen Wanne unter. Wie gern würde sie wieder im See im Wald baden. Sie würde niemals an diesen Ort zurückkehren. Sie hielt den Atem an. Die Geräusche, die zuvor bereits nur gedämpft in ihr Zimmer gedrungen waren, verschwanden nun ganz und eine Stille senkte sich über sie. Sie hörte nur das leise Rauschen des Wassers, welches sich um ihren Körper schmiegte. Ihr Haar wirbelte auf den sanften, kleinen Wellen. Sie stellte sich vor, dass ihre Gedanken mit dem Wasser davon getragen wurden, dass es ihren Kopf spülte, um Platz für etwas Neues zu schaffen. So blieb sie eine Weile im Wasser. Selbst als ihre Lungen zu schmerzen begannen, weigerte sie sich immer noch aufzutauchen.

Denn etwas hatte sich geändert. Vor ihren Augen war ein Leuchten erschienen, das heller und heller wurde, je länger sie unter Wasser blieb. Annie fühlte, dass etwas dabei war zu geschehen, dass sie kurz davor war, etwas zu erfassen. Es lag greifbar vor ihr und doch konnte sie es nicht berühren. Das seltsame Leuchten beruhigte sie, gab ihr etwas von Kraft zurück, von der sie sich nicht hatte vorstellen können, sie überhaupt noch zu besitzen. Es ließ sie den Schmerz in ihrer Seele vergessen. Das Leuchten veränderte sich und nahm langsam vor ihr Gestalt an. Die Konturen waren schwach und verschwommen. Was war es?

Annie versuchte sich stärker zu konzentrieren und an dem Bild festzuhalten und den Schmerz in ihren Lungen weiter zu ignorieren. Doch sie konnte ihm nicht länger entkommen. Das Bild entglitt ihr, noch bevor sie es überhaupt richtig gesehen hatte und sie fuhr mit einen Keuchen aus dem Wasser nach oben.

Gierig sog sie die Luft ein. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte dem Zittern Herr zu werden. Annie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dabei spürte sie den Schmerz jedes Mal aufs Neue. Dennoch fühlte sie sich so lebendig, wie lange nicht mehr. Was war gerade geschehen? Was war das für ein Bild?

Sie schüttelte den Kopf. Sicher war es nur ihre Fantasie, die sie das hatte sehen lassen. Trotzdem klang das beruhigende Gefühl auch jetzt noch nach. Irritiert stieg sie aus der Wanne und wickelte sich eilig in ein großes Handtuch. Sie nahm ihre Kleidung und nachdem sie sich abgerieben hatte, zog sie sie an. Dann setzte sie sich vor den Kamin und begann ihr Haar zu bürsten. Ihr Blick war in die Flammen geheftet und sie versuchte eine ganze Zeit lang, dieses Gefühl zu ergründen, der Gestalt, die sie vor ihrem inneren Auge gesehen hatte, eine festere Kontur zu geben. Doch je mehr sie es versuchte, desto mehr schien sie wieder zu verschwimmen.

Sie legte die Bürste beiseite. Dann erhob sie sich und ging zum Fenster. Es begann schon wieder zu dämmern. Diese kurzen Tage mochte sie nicht so gern. Selbst im Licht schien alles so trist und grau und die Nacht holte sie so schnell ein. Man hatte keine Gelegenheit sich am Tag zu erfreuen.

Annie stellte sich sein Bild vor. War er es gewesen, den sie gesehen hatte? Vielleicht.

Resignierend seufzte sie. Es brachte sie nicht weiter darüber nachzudenken. Aber sie dieses merkwürdige Ereignis hatte ihr auf noch merkwürdigere Weise zu einer Entscheidung verholfen. Sie wusste nicht, was dazu geführt hatte, doch seit sie die Wanne verlassen hatte, trug sie diesen Gedanken bereits in sich. Jetzt, da sie am Fenster stand mit dem wärmendem Feuer im Rücken und einer Welt vor sich, die sich zum Schlafen niederlegte, sah sie es klar und deutlich vor sich. Sie wusste nun, dass es das einzig Richtig war. Alles andere würde sie sich selbst nicht verzeihen können.

Annie würde dieses Kind in ihr beschützen. Sie wusste nicht, ob sie es jemals lieben konnte, wenn man ihr nicht einmal erlaubte ihm eine Mutter zu sein, aber sie wollte es beschützen. Nicht nur in den nächsten Monaten, bis es geboren sein würde, sondern auch danach. Sie wollte es versuchen. Immerhin war dieses Kind noch wehrloser als sie selbst. Es brauchte jemanden, der es beschützte und darauf acht gab. Barrington würde es ganz gewiss nicht tun.
 

Die Sonne war bereits ganz unter gegangen, als sich ihre Türen erneut öffneten und Jonathan abermals eintrat. Seit dem Morgen hatte sie ihn nicht mehr gesehen und sie konnte nicht sagen, dass sie ihn besonders vermisst hatte. Sie blickte nicht von ihrer Strickarbeit auf, die sie seit langem wieder einmal in die Hand genommen hatte. Nachdem sie sich entscheiden hatte, das Kind zu akzeptieren und für sein Wohl zu sorgen, war ihr Kopf klarer geworden und sie versuchte sich wieder auf andere Dinge zu konzentrieren.

„John will euch sprechen.“, sagte er sofort, ohne ein Wort des Abendgrußes zu verlieren.

„Warum kommt er dann nicht her?“, erwiderte sie. Das Wissen, um die Schwangerschaft hatte sie mutiger gemacht. Man würde ihr nichts tun, solange das Kind in ihr war. Und sie brauchte diesen Mut, um das durchzusetzen, was sie erreichen wollte. Außerdem wusste sie sehr genau, was sie bei Barrington sollte.

Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Jonathan sie musterte. Ein Leuchten war in seine Augen getreten und sie hoffte, dass er nicht bemerkte, wie sich ihr vor Unwohlsein die Nackenhaare aufrichteten. Dieser Mann war ihr einfach unheimlich.

„Ich wüsste nicht, warum er sich vor euch rechtfertigen sollte. Er will euch sehen und zwar gleich.“, erwiderte er fest und löste den Blick nicht von ihr.

„Dann richtet ihm aus, dass ich zu müde bin. Was immer er von mir will, kann auch bis morgen warten. Ich gehe zu Bett.“

„Vor dem Essen?“, fragte er spitz.

„Ja. Mir ist schlecht.“, antwortete sie kurz. Sie legte ihr Strickzeug beiseite und wandte sich von Jonathan ab. „Wenn ich mich jetzt entschuldigen würdet.“, sagte sie, um deutlich zu machen, dass er gehen sollte.

Annie ging zu ihrer Kleidertruhe und nahm ein neues Nachthemd heraus. Gerade als sie sich wieder erheben wollte, wurde sie plötzlich am Handgelenk gepackt und unsanft nach oben gezogen. Sie drehte sich herum und sah in die kalten Augen von Semerloy. Doch sie war zu erschrocken, über die Tatsache, wie nah sein Gesicht dem ihrem war, um weiter darüber nachzudenken.

„Ihr solltet vorsichtig sein, mit dem was ihr sagt. Nur weil ihr ein Kind von ihm erwartet, heißt es nicht, dass ihr euch alles erlauben könnt. Ich kann euch versichern, dass John zu dem, was er euch im betrunkenen Zustand bereits angetan hat, auch nüchtern in der Lage ist. Noch weitaus schlimmer, als ihr es euch vorstellen könnt.“, sagte er scharf.

Annie bemühte sich nicht zurückzuweichen, seinem Blick stand zu halten und darauf zu achten, dass ihre Stimme möglichst gleichgültig klang, während sie die nächsten Worte sprach.

„Das ist mir durchaus bewusst. Wenn ihm aber das Leben seines Kindes nichts wert ist, soll es mir gleich sein.“

Sie beobachtete Semerloy genau und sah für einen kurzen Augenblick eine Veränderung in seinen Augen. „Was meint ihr damit?“

„Ich nehme an John will, dass ich diese Nacht bei ihm liege. Wahrscheinlich hat er schon vor dem Essen so viel getrunken, dass er nicht einmal mehr laufen kann.“ Doch dafür reicht es bei ihm immer, dachte sie bitter.

„Das meinte ich nicht!“, fuhr er sie an. Da war es wieder gewesen, dieses Blitzen in seinen Augen. Irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht sollte sie doch aufpassen, was sie sagte, überlegte sie kurz. Aber nun hatte sie einmal begonnen und würde dabei bleiben.

„Nun, ich...“, mit einem Ruck befreite sie ihren Arm aus seinem Griff und rieb sich das Handgelenk. „Nachdem mich mein... Mann...“, es hörte sich an, als hätte sie dieses Wort ausgespuckt, „heute Morgen aufgesucht hat, fand ich... Blut auf meinen Bettlaken.“ Noch bevor Semerloy etwas erwidern konnte, sprach sie mit fester Stimme weiter. „Ihm ist doch ein Erbe so wichtig. Er wird niemals einen bekommen, wenn er mich und das Kind nicht zufrieden lässt. Offenbar bekommen uns seine Besuche nicht. Er sollte davon absehen, will er das Leben des Kindes garantieren. Sollte er dennoch darauf bestehen, werde ich mit euch kommen.“

Annie blicke ihn direkt an, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Sie sah wie sein Kiefer angespannt arbeitete. Sie betete gleichzeitig, dass sie die richtigen Worte gewählt hatte. Wenn sie Semerloy überzeugen konnte, würde Barrington nicht weiter danach fragen. Jonathan Semerloy würde dann dafür sorgen, dass John sie nicht mehr behelligen würde – zumindest die nächsten paar Monate nicht. Das sollte ihr erst einmal reichen. Vielleicht würde er bis dahin vollkommen das Interesse an ihr verlieren.

„Zeigt es mir!“, forderte er sie auf.

„Geht in die Wäscherei, dort werdet ihr es finden oder fragt eine der Kammerfrauen. Ich habe das Laken selbstverständlich wechseln lassen.“

Ja, das hatte sie und sie hatte davor auch dafür gesorgt, dass man tatsächlich einen Blutfleck finden konnte. Behutsam strich sie über den Nadelstich an ihrem Finger.

Ein unheimliches Lächeln umspielte seine Züge. Jenes Lächeln, bei dem sie am liebsten davon laufen würde, jenes Lächeln, was sie nur umso mehr an seine Worte erinnerte. Er trat einen Schritt auf Annie zu und sie konnte ihm nicht ausweichen, da die Kleidertruhe direkt hinter ihr stand. Im nächsten Moment war sie jedoch dankbar dafür. Davonzulaufen würde nur wieder ihre Schwäche offenbaren. Also reckte sie ihm stattdessen das Kinn entgegen, bereit für jede Antwort und Reaktion von ihm.

„Das werde ich.“, sagte er und blieb doch nicht stehen. Er stand direkt vor ihr, so sah, dass sie glaubte seine Körperwäre spüren zu können. Mit dem Kopf beugte er sich zu ihr. Sein Atem auf ihrer Haut, ließ sie erschaudern. Er war nicht ekelerregend, wie der von Barrington, sondern süßer und einladender. Vielleicht war das einer der Gründe, warum die Kammerfrauen ihm heimliche Blicke zuwarfen, dachte sie kurz.

„Ihr seid wirklich bewundernswert.“, flüsterte er gegen ihr Ohr und ein Schauer rann durch ihren Körper. Seine Stimme war rau und doch... lag darin nicht die Kälte, die sie von ihm kannte. Ihr Herz schlug laut in ihrer Brust und sie glaubte, es würde vor Angst jeden Augenblick stehen bleiben. Es war doch Angst oder nicht?

„Ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich mich bereits danach sehne euren Mund zu schmecken. Ob eure Zunge mit anderen Dingen genauso scharf ist, wie mit Worten? Ich würde es am liebsten sofort herausfinden wollen.“ Seine Lippen streiften ihr Ohr und zeichneten es nach. „Leider werde ich mich noch etwas in Geduld üben müssen.“ Dann sah er ihr in die Augen und sein Blick riss sie aus ihrer Erstarrung zurück. Sie hob die Hand und wollte ihm zeigen, was sie davon hielt, als er sie mit seiner abfing.

„Na, na, na. Noch einmal werdet ihr nicht die Gelegenheit dazu bekommen.“, sagte er tadelnd, doch seine Augen schienen etwas anderes zu sagen. Semerloy drehte ihre Hand in seiner und hauchte schließlich einen Kuss auf den Handrücken. Wieder ergriff sie ein Schauer.

„Ich werde mit ihm sprechen. Der Arzt wird es bei seinem nächsten Besuch sicher bestätigen.“, sagte er und Annie nickte dumpf. Was war gerade geschehen?, fragte sie sich, als sich Jonathan bereits anschickte, den Raum zu verlassen.

Das Knallen der Tür ließ sie zusammenfahren und erst da merkte sie, dass sie wieder allein war. Erschöpft sank sie auf den kalten Boden. Dieses Gespräch hatte mehr an ihren Kräften gezerrt, als die vorherigen.

Vielleicht hatte sie sich doch übernommen.
 

Alexander war über ihre Entscheidung, alles für das Kind tun zu wollen, weitaus erleichterter als sie angenommen hatte. Es waren drei Tage seit seinem letzten Besuch vergangen und Annie hatte diese Tage in Ruhe verbracht. Barrington war nur einmal sehr zornig in ihrem Zimmer erschienen, um sie zu fragen, ob Semerloys Worte wahr wären. Sie hatte nur ein Nicken zu Stande gebracht. Umso unglaublicher erschien ihr seine Reaktion, denn John Barrington hatte von diesem Moment an tatsächlich von ihr abgelassen – allerdings nur, bis der Arzt sie noch einmal gründlich untersucht hätte.

Barrington war bei der nachfolgenden Untersuchung anwesend und achtete sehr genau darauf, was der alte Doktor Storm tat und wie er sie untersuchte und selbstverständlich befragte er ihn, ob es wirklich stimmte, was seine Frau erzählte. Annie brauchte Doktor Storm nicht einmal anzusehen, da hatte er ihr bereits zugestimmt. Für die Entwicklung des Kindes sei es wirklich besser, wenn sich auch die Mutter so viel wie möglich schonte. Diese Aussage musste John Barrington zähneknirschend hinnehmen. Sollte dem Kind nun dennoch etwas zustoßen, würde er sie allein verantwortlich machen, hatte er ihr gleichzeitig gedroht. Und was genau das bedeutete, hatte er ihr mit einer unmissverständlichen Handbewegung deutlich gemacht.

Annie versuchte nicht daran zu denken, als sie Alexander gegenüber saß. Sie konzentrierte sich allein auf sein Gesicht und seine Worte und erlaubte ihren Gedanken nicht weiter in die Zukunft zu wandern. Es würde alles gut werden und wenn nicht... dann wäre sie vielleicht von ihrem Kummer erlöst, dachte sie doch einen kurzen Moment. Sofort schüttelte sie den Kopf. Sie wollte nicht daran denken. Sie wusste, dass sich jeder solcher Gedanken auf das Kind übertragen würde und das wollte sie auf keinen Fall. In den kommenden Monaten würde sie genug Zeit haben sich auszuruhen. Barrington würde sie sicher so schnell nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nur die Mätressen taten ihr leid. Er hatte vorher schon viele besessen, doch nun würde er noch ungehaltener mit ihnen umgehen. Annie hatte sie gesehen. Es waren recht junge Dinger, teilweise noch jünger als sie. Aber sie musste auch an ihr eigenes Wohl denken.

„Was ist mit dir Annie? Ich dachte nun da du dir sicher bist, bist du etwas glücklicher.“

Sie schrak kurz auf und sah Alexander an. Schon wieder hatten ihren Gedanken sie gelenkt.

„Entschuldige.“, sagte sie sanft lächelnd. „Das war alles etwas zu viel auf einmal.“

„Kannst du wieder schlafen?“, fragte er sie besorgt.

„Es geht. Jetzt da ich weiß, was mir fehlt, fühle ich mich beruhigter und Barrington lässt mich auch zufrieden, dennoch fällt es mir schwer mich über meinen Zu-... das Kind zu freuen.“, antwortete sie ehrlich.

„Ich verstehe dich, aber du hast dich richtig entschieden. Ich bin froh, dich nicht mehr in dem Zustand anzutreffen, wie das letzte Mal. Besonders nicht mit diesen Gedanken, die du in dir getragen hast.“, sagte er ernst. Sofort beschlich Annie ein schlechtes Gewissen, denn die negativen Gedanken waren nicht gänzlich verschwunden. Doch Alexander sprach weiter und bemerkte es nicht. „Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet.“

„Wie meinst du das?“ Was hatte er von ihr erwartet?

„Annie, du bist niemand der andere einfach im Stich lässt. Nur deswegen bist du doch hier oder nicht?“, sprach er sanft und nahm ihre Hand in seine. „Du bist ein guter Mensch, manchmal denke ich viel zu gut für diese Welt. Du kannst andere nicht sich selbst überlassen. Nicht, wie ich es getan habe.“

„Alexander.“, mahnte sie ihn. Sie würde nicht noch einmal darüber reden.

„Ich weiß.“, antwortete er kurz. „Trotzdem... Das Kind ist auch ein Teil von dir. Ich habe niemals geglaubt, dass du es verstoßen könntest.“

Annie lächelte schwach. „Vielleicht hast du recht.“, gestand sie sich ein. „Aber ich weiß nicht, ob ich es jemals lieben kann. Ich darf es nicht.“

Alexander nickte traurig, wissend wovon sie sprach. „Du weißt, dass du dir das nicht wirst aussuchen können.“, sprach er die Wahrheit aus, auch wenn er sie damit vielleicht quälte.

Zögernd nickte sie. „Ich kann es versuchen oder? Wenigstens das bleibt mir. Ich will das Kind in mir beschützen, aber ich werde versuchen es nicht zu lieben. Es wird mir Schmerzen ersparen, wenn es nicht bei mir bleiben darf.“

„Ja, versuch es.“, stimmte er schließlich zu, seine Augen sprachen aber etwas anderes.

„Hast du es ihm erzählt?“, fragte sie ihn schließlich unsicher.

„Nein, ich habe es dir versprochen und daran halte ich mich auch.“

„Aber du hast es Barrington gesagt.“, erwiderte Annie. Sie wollte ihm keinen Vorwurf machen, er hätte es ohnehin erfahren, dennoch beunruhigte es sie. Wann war es geschehen, dass sie ihrem Bruder nicht mehr vertraute?

„Ich musste es tun, Annie. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend er gewesen war. Er war bereits außer sich, als ich hier erschienen war. Er hat mich überhaupt nur zu dir gelassen, in der Annahme, dass du mir schon erzählen würdest, was los ist. Nur so konnte ich dich sehen! Als ich dein Zimmer wieder verlassen habe, stand er direkt vor mir und ich wollte... ich wollte es ihm wirklich nicht sagen. Ich wollte dein Vertrauen nicht missbrauchen und ihn davon überzeugen zu warten, bis du dich selbst an ihn wendest. Aber er... hat darauf bestanden.“

Annie sah ihn mit großen Augen an und wusste, dass es etwas gab, was er ihr nicht erzählte. Sein Ton hatte ihn verraten. Doch sie entschied sich nicht danach zu fragen. Sie hatte das Gefühl im Moment einfach nicht mehr ertragen zu können.

„Ich verstehe, was du sagen willst.“, sagte sie dann. „Und Draco weiß wirklich nichts davon?“

„Nein. Ich habe es nur Susan gesagt, im Vertrauen, als wir allein in unserem Schlafgemach waren. Sie wird es ihm nicht sagen. Sie ahnt, was zwischen dir und ihm war.“ Annie wollte bereits erleichtert aufatmen, als sie Alexanders nachfolgende Worte, doch noch in Unruhe versetzten.

„Allerdings... war er der Erste, der mir nach meiner Rückkehr begegnet ist. Er saß in der Küche, als ich eintrat. Ich muss gestehen, ich war von dieser Neuigkeit selbst sehr... überrascht und auch... durcheinander. Ich denke er hat gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war und er hat mir auch nicht geglaubt, als ich es verneinte.“

„Du meinst er ahnt etwas?“

„Ja. Er hat wirklich ein sehr gutes Gespür, aber er hat nicht weiter danach gefragt. Ich werde ihm heute nach meiner Rückkehr sagen, dass alles in Ordnung ist. Du fühltest dich nur nicht wohl, aber nun geht es dir schon wieder besser. Mach dir keine Gedanken, er wird es nicht herausfinden.“, versuchte er sie zu beruhigen. „Es geht dir doch wirklich besser oder nicht?“, fragte er sie noch einmal.

Annie war von dieser Frage etwas überrascht, war sie in ihren Gedanken doch immer noch bei Draco. Sie musste sich kurz sammeln, um ihren Bruder antworten zu können.

„Ja, es geht mir besser. Der Arzt hat Barrington davon abgeraten mich... weiter aufzusuchen. Das hilft mir sehr, mich endlich darauf einzustellen.“

Alexander nickte kurz, offenbar zufrieden mit der Antwort. „Was ist mit diesem Jonathan Semerloy? Das letzte Mal verhielt er sich äußerst merkwürdig.“

„Mach dir keine Gedanken. Er hat nicht noch einmal etwas gesagt oder getan, was mich beunruhigt hätte. Es ist alles in Ordnung.“

Ihr Bruder ließ ein leises Brummen hören. Offenbar nahm er es erst einmal so hin, auch, wenn er ihr wohl nicht ganz glaubte.

„Bist du dir wegen Draco wirklich sicher?“, fragte Annie noch immer zweifelnd.

Alexander atmete einmal angestrengt aus. Anscheinend wollte er nicht mehr über ihn reden. Dennoch antwortete er ihr. „Weder Susan noch ich werden es ihm sagen und er wird mich nicht mehr in die Stadt begleiten. Andere Menschen meidet er. Er wird es ganz gewiss nicht erfahren. Zumindest nicht in nächster Zeit, aber ich... denke, irgendwann wird es dennoch passieren. Er ist nicht dumm.“

„Ich weiß, nur jetzt noch nicht. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn er es erführe. Ich kann es dir nicht einmal beschreiben.“

„Warum hast du solche Angst davor?“, fragte Alexander. Offenbar konnte er die Gefühle seiner Schwester, für diesen fremden Mann noch immer nicht nachvollziehen.

„Ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht genau sagen. Ich habe nur Angst, dass er irgendetwas tun wird, was ihn ins Verderben stürzen könnte.“

„Aber er war es, der dich gehen ließ. Er wusste, dass du ein Leben an der Seite eines anderen Mannes führen würdest – mit allen Verpflichtungen.“, erwiderte er, etwas schärfer als beabsichtigt.

„Ich weiß. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben muss. Er...“

„Was?“, fragte Alexander weiter, als sie abbrach und in ihren Gedanken versunken vor sich hinstarrte.

Annie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte sie ihrem Bruder nicht anvertrauen. Es war ein viel zu kostbarer Schatz, als dass sie hätte darüber reden können. Mit niemanden.

„Ich vermisse ihn. Es sind fast drei Monate, die ich nun hier bin. Trotzdem fühlt es sich an, wie eine Ewigkeit.“, gestand sie. Sie hörte Alexander scharf ausatmen.

„Ich weiß, aber du weißt, warum ich ihn nicht hierher bringen kann.“, sagte er wie schon oft zuvor.

„Natürlich und das will ich auch gar nicht. Es wäre furchtbar, wenn er ihn sehen würde.“

„Wer? Barrington oder Draco?“

„Es wäre gleich.“

Wieder atmete Alexander aus und Annie wusste, dass es ihn frustrieren musste, dass er nicht wusste, worum es ging und er auch nicht mehr nachfragen wollte.

„Solange er niemanden umgebracht hat, soll es mir egal sein.“, sagte er schließlich und wollte ihr offenbar zeigen, dass er sich ein für alle Mal damit abgefunden hatte, weder von ihr noch von ihm etwas zu erfahren.

„Nein!“, rief sie etwas zu laut, erschrocken, dass er überhaupt so etwas denken konnte. „Wie kommst du denn darauf?“

„Schon gut.“, wehrte er ab und hob zum Zeichen die Hände dafür.

„Glaubst du das wirklich?“

„Was?“

„Das er dazu in der Lage wäre? Ich meine Draco. Glaubst du er wäre in der Lage jemanden... umzubringen?“, flüsterte sie, mit aufgerissenen Augen. Sie kannte keine Antwort darauf, denn sie hatte bisher nicht darüber nachgedacht. Annie wusste, wie sehr Draco Barrington verabscheute und sie wusste auch, dass der Drache in ihm, immer einen Teil seiner Persönlichkeit ausmachen würde. Aber jemanden töten? Sie wollte sich das nicht vorstellen. Ein Mord würde ihn in ihren Augen beschmutzen, etwas von dem nehmen, was sie an ihm so sehr liebte: diese Unschuld und Reinheit.

Aber was dachte sie da? Das waren nur ihre eigenen selbstsüchtigen Gedanken und Wünsche. Draco ließ sich nicht beeinflussen und wenn er Barrington gegenüberstand und die Gelegenheit hätte, würde er wohl nicht zögern. Und doch... ein kleiner Teil wünschte sich, dass dem nicht so wahr, dass mit seiner Menschwerdung, die Schwelle zum Töten größer geworden war.

„Ich weiß nicht.“, antwortete Alexander. „Ich sagte doch, dass er schwer einzuschätzen ist. Ich denke... er wäre durchaus in der Lage dazu. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er wie ein wildes Tier ist, dass nur vorrübergehend gezähmt wurde. Jeden Augenblick könnte es sich daran erinnern, was es eigentlich ist und schnapp dann erbarmungslos zu.“

Annie sah ihn schweigend an. Konnte man so viel über Draco erfahren, wenn man nur mit ihm zusammen lebte und nichts über seine wahre Natur wusste? Sie selbst hatte dieses Gefühl ebenso gehabt, aber sie hatte ihn nie als Bedrohung empfunden. Andererseits war ihre Sicht auf ihn sowieso eine andere, als Alexanders. Sie liebte Draco und sie hatte in seinen Augen nichts dergleichen erkennen können. Am Anfang vielleicht, aber dann nicht mehr. Aber sie wusste auch, dass er vielleicht immer noch mit seinem Leben als Mensch haderte. Etwas, dem sie sich schuldig gemacht hatte.

„Vielleicht hast du recht.“, stimmte sie ihrem Bruder zu.

„Danke sehr. Das ist nicht gerade sehr beruhigend.“

„Du brauchst nicht besorgt zu sein. So lange, wie er Barrington nicht begegnet, wird nichts geschehen. Er könnte der einzige sein, der Draco daran erinnert, was einmal war. Wobei er es wohl nie vergessen wird.“, sagte sie so leise, dass Alexander es kaum verstand.

„Doch genug davon.“, sagte sie dann endlich entschlossen und setzte ein Lächeln für ihren Bruder auf. Sicher war Alexander schon ganz darauf erpicht, ihr zu erzählen, wie es um Susans Schwangerschaft stand. Das auftretende Leuchten in seinen Augen verriet ihn.
 

Barrington ließ ihr auch in den nachfolgenden Tagen ihren Frieden. Er kam nicht mehr zu ihr und erkundigte sich nur noch über Jonathan über den Zustand des Kindes. Es beruhigte sie, dass sie diesen Mann nur noch selten sah, meistens bei den Mahlzeiten. Allerdings suchte Jonathan sie dafür immer häufiger auf. Er stand dann in ihrem Zimmer und redete mit ihr über irgendwelche Dinge, die sie nicht im Geringsten interessierten. Sie wollte ihm nie antworten, doch immer schaffte er es sie zu provozieren. Manchmal stand er auch einfach nur da und beobachtete sie. Annie versuchte ihn zu ignorieren, zeigte ihm die gleiche Kühle und Reserviertheit, wie zuvor, doch sie konnte sich den Gedanken nicht verwehren, dass es genau das war, was Jonathan immer wieder zu ihr zog. Wie die Motte, die immer wieder zum Licht fliegt.
 

Die kurzen Momente Sonnenlicht zerrten langsam an ihren Nerven. Aber schon in der übernächsten Nacht, würde das neue Jahr beginnen und mit einem neuen Jahr, würde auch der Frühling zurückkehren. Das war das einzige, war ihr Hoffnung machte.

Annie stand am Fenster und sah wie so oft nach draußen. Manchmal machte sie dies stundenlang und es wurde ihr nie langweilig. Selbst, wenn sie vom Schnee bedeckt war, schien sich die Landschaft ständig zu verändern. Auf dem Hof herrschte immer ein reges Treiben und auch, wenn sie ihr Gemach nicht oft verließ, bekam sie doch vieles mit, was um sie herum geschah. Die Kammerfrauen bemühten sich zuweilen auch gar nicht ihren Klatsch und Tratsch leise zu verbreiten.

Wieder war Vollmond. Es war eine klare Nacht und die Sterne strahlten, wie tausende von Glühwürmchen im Sommer. Abermals ließ das silberne Mondlicht den Schnee glitzern, als wären es Diamanten, die zur Erde gefallen waren.

Immer, wenn sie den Vollmond ansah, musste sie an Dracos Worte denken. Das tat sie ohnehin schon, aber bei Vollmond hörte sie die Geschichte der Monddrachen noch einmal. Wie er sie mit seiner weichen und leisten Stimme erzählte hatte. Allein die Erinnerungen ließ sie leicht erzittern. Die Monddachen waren aus dem Wunsch entstanden, dem Mond so nah zu sein, wie kein anderer. Sie verehrten den Mond, waren fasziniert von ihm und Annie konnte es verstehen.

Natürlich hatte Annie den Mond auch schon als schön empfunden, bevor Draco ihr davon erzählt hatte und natürlich wusste sie auch um dessen Kraft, aber nun sah sie ihn vollkommen anders. Immer wenn sie zum Vollmond sah, wusste sie, dass er den gleichen Mond ansehen würde. Sie stellte sich vor, was er empfinden würde und versuchte ebenso zu fühlen. Der Mond... eine Macht, die es selbst vermocht hatte, Drachen aus tiefster Dunkelheit in strahlenden Wesen zu verwandeln, ihnen eine Erinnerung zu geben, die ewig währen wird. Er hatte diesen Wesen ein ewiges Gedächtnis geschenkt.

Obwohl Annie nicht sicher war, ob es wirklich ein Geschenk war. Die Monddrachen würden es wohl so sehen. Mit jeder Generation wurden sie intelligenter. Aber für Draco, würde es wohl auf ewig ein Fluch sein. Er würde alle diese Erinnerungen in sich tragen, so lange bis seine menschliche Hülle vergehen würde. Immer würde er sich an das erinnern, was einst war und immer würde er sich danach zurücksehnen. Nur mit dem Tod, würde es aufhören und dann würden seine Erinnerungen mit ihm sterben.

Annie zog den Umhang, der über ihren Schultern lag, fester zusammen. In den letzten Tagen hatte sie sich angewöhnt damit zu schlafen. Sie hatte das Gefühl, dass das Bett trotz der Bettwärmpfanne zu schnell auskühlte. Sie ging zu Bett und dachte noch immer an die Geschichte, die er ihr erzählt hatte. Auch, wenn sie wusste, dass sie wahr war, so kam sie ihr immer noch unwirklich vor. Fantastisch. Einzigartig. Traumhaft.

Und vielleicht würde ihr in diese Nacht ja ein Traum mit ihm gegönnt sein. Jeder Traum mit ihm brachte ihr mehr Schlaf, als eine ganze Nacht es vermochte.
 

Es war dunkel. Kein Licht drang zu ihr. Nur Schwärze und unsägliche Hitze umgab sie. Sie drehte den Kopf. Wo war sie? Sie wusste es nicht, sie konnte es sich nicht einmal vorstellen und doch barg dieser Ort etwas Vertrautes. Aber diese Hitze, diese Dunkelheit... Wo war das Licht? Annie wusste irgendwie, dass sie sich in einer Höhle befand, die unglaublich klein war. Die Wände hätten sie sicher verschlungen, wenn sie nicht ohnehin schon in ihren gefangen gewesen wäre. Doch sie bewegte sich vorwärts, sicher, dass schon bald ein Ausgang kommen würde. Und immer war Hitze und Dunkelheit ihr ständiger Begleiter. Nachdem sie scheinbar eine Ewigkeit gelaufen war, spürte sie, wie die Luft langsam klarer wurde. Es war noch immer finster, aber die frische Luft allein schien sie zu beleben und schneller werden zu lassen. Auch, wenn sie nicht richtig wusste, wohin sie ging.

Ihre Augen waren so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie es sofort bemerkte, als sie sich veränderte. Das Schwarz schien transparenter zu werden und sich langsam in ein dunkles Grau zu verwandeln. Die Luft wurde noch kühler und doch fror sie nicht. Plötzlich hatte sie den Drang schneller zu laufen, um den vielversprechenden Ausgang bald zu erreichen. Denn nur dieser konnte die Quelle der süßen, kühlen Luft sein und des silbernen Lichtes, das das Schwarz auflöste.

Sie erreichte den Höhlenausgang kurz darauf und wie von selbst, blickte ihr Kopf nach oben in den dunkelblauen Nachthimmel hinein. Der Mond war noch da, dachte sie beruhigt, als wäre ihre größte Sorge gewesen, er könnte in den wenigen Stunden des Schlafes verschwunden sein. Er war wunderschön und er erschien ihr so nah, so voll, als bräuchte sie nur eine Hand auszustrecken und sie könnte ihn berühren.

Eine nie gekannte Sehnsucht wuchs in ihr. Sie wollte dieser Schönheit so nahe sein und ihn besitzen, ganz gleich, was sie dafür auf sich nehmen müsste.

Plötzlich hielt sie inne. Was spürte sie auf einmal auf ihrem Rücken? Annie wagte es nicht sich umzudrehen, aber sie wusste, dass sie da waren: große, mächtige Schwingen. In der tiefe der Erde waren sie ihn nutzlos erschienen, hatte sie sie fast vergessen doch nun... Vielleicht würden sie sie bis zu dieser herrlichen, silbernen Scheibe, die so viel zu versprechen schien, tragen. Sie breitete die Schwingen aus, schlug mit ihnen und ein heftiger Wind spielte um ihre Beine. Aber er riss sie nicht zu Boden. Annie wagte nicht an sich herunter zu sehen, aus Angst den Zauber damit zu brechen. Also sah sie nach oben zum Mond, während sich ihre Beine langsam von der festen Erde lösten, die sie so lange gefangen gehalten hatten. Obwohl es doch der einzige Ort war, der ihr Schutz bot.

Sie würde es schaffen. Sie könnte nicht mehr leben, wenn sie die glänzende Scheibe nicht erreichte. Höher und höher flog sie in den Himmel hinein. Die Welt unter ihr wurde klein und doch sah sie alles: Wälder, Hügel, Ebenen und Lebewesen, die wie sie nur des Nachts herauskamen.

Sie flog weiter. Ihr wurde kalt und sie merkte, wie sehr es sie anstrengte. Etwas, was sie sehr überraschte. Dennoch gab sie nicht auf. Sie würde es schaffen. Nur noch ein Stück. Annie spürte, wie der Mond ihr Kraft verlieh. Er würde sie willkommen heißen. Sie wusste nicht woher sie diese Sicherheit nahm. Sie wusste es einfach. Sie flog weiter nach oben. Irgendwann verspürte sie einen Schmerz in ihren Schwingen. Wie lange war sie schon auf dem Weg?

Wohl noch nicht lange genug, denn der Mond war noch immer in unerreichbarer Ferne. Sie schien ihm einfach nicht näher zu kommen. Dennoch gab sie nicht auf. Aber der Schmerz wurde größer und die Luft um sie herum kälter. Für jemanden, der nur die Hitze der Erde kannte, war es eine Qual. Aber sie war schon zu weit gekommen. Annie blickte nicht zurück. Ihre Augen waren unverwandt auf den Mond geheftet, schienen sein Leuchten in sich aufzunehmen und ihr noch ein wenig mehr Kraft zum weiter fliegen zu geben.

Trotzdem wurde ihr umso kälter, je höher sie kam. Ihr Herz schlug immer langsamer und schwerer in ihrer Brust. Es zog sie wie ein riesiger Stein nach unten. Aber sie ließ es nicht zu. Die Sehnsucht war übermächtig. Gewiss fehlte nicht mehr viel und sie würden den Mond erreichen. Sie würde sterben, wenn sie es nicht tat.

Das Fliegen fiel ihr schwerer. Ungekannter Schmerz drang durch ihren Körper und ließ sie erstarren. Sie blickte noch immer zu der hellleuchtenden Quelle ihrer Sehnsüchte. Dann hörte sie auf zu sein.
 

Im gleichen Moment erwachte Annie schweißgebadet in ihrem Zimmer auf Barringtons Anwesen. Ihr Atem ging schwer und ihre Lungen schmerzen, als wäre sie stundenlang umhergerannt. Hämmernd schlug ihr Herz gegen die Rippen. Doch noch schlimmer war die Übelkeit, die sie empfand. Sie hatte schon oft von dieser Geschichte geträumt. Sie war empfindlich für so etwas. Doch noch nie zuvor, war es so real gewesen. Sie glaubte sich an den Moment ihres eigenen Sterbens erinnern zu können.

Annie zwang sich dazu durchzuatmen. Den Kopf auf die Hände gestützt, rang sie nach Atem und mit der Übelkeit. Noch nie war einer ihrer Träume so intensiv und real gewesen. Sie brauchte ein Schluck Wasser. Vielleicht würde es dann aufhören. Gerade wollte sie die Decke zurückschlagen, um ihren Becher zu füllen, als eine Stimme die Stille des Zimmers zerschnitt.

„Schlecht geträumt?“, fragte er sie und Annie erstarrte augenblicklich. Sie hob den Blick und auch, wenn der Raum halb im Dunkeln lag erkannte sie diesen Mann sofort. Sie sah direkt in die unergründlichen Augen von Jonathan Semerloy.

Traumbilder

Annie war so über seine Anwesenheit so sehr erschrocken, dass sie nicht einmal reagieren konnte. Sie starrte in einfach nur an, den Mund weit aufgerissen und konnte einfach nicht glauben, dass er wirklich die Dreistigkeit besaß sie nachts in ihrem Zimmer aufzusuchen.

„So erfreut mich zu sehen?“, fragte er spitz und selbst in diesem schwachen Licht konnte sie sein Grinsen sehen. Erst da fasste sie sich wieder.

„Was fällt euch-“, wollte sie ihn anschreien, doch blitzschnell legte er ihr die Hand auf den Mund.

„Wir sind doch beide erwachsen. Wir können uns doch in einer angemesseneren Lautstärke unterhalten oder nicht?“, fragte er leise, doch seine Stimme klang bedrohlich. Dann nahm er seine Hand weg.

„Warum sollte ich das tun?!“, fuhr sie ihn zischend an, keineswegs eingeschüchtert von ihm. „Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so unverschämt, so widerwärtig war, wie ihr es seid.“, beschimpfte sie ihn. „Ihr seid wirklich das Letz-“

Ein Kuss versiegelte ihren Mund.

Für wenige Augenblicke verschwand alles um sie herum, ja sogar sie selbst. Annie wusste nicht, was sie denken, was sie fühlen sollte, so unglaublich erschien ihr dieser Moment. So voller... ekel.

Das war das Erste, was sie wieder empfand. Im nächsten Moment verspürte sie einen Drang in sich, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Selbst Barrington gegenüber nicht. Bei diesem Mann spürte sie schon lange nichts mehr und dafür war sie inzwischen dankbar. Es schütze sie.

Doch dieser Jonathan Semerloy ließ Gefühl in ihr wachwerden, vor denen sie sich selbst erschreckte. Gefühle, die sie bisher verabscheut hatte und nicht verstehen hatte können.

Bis jetzt.

Sie wollte diesem Mann weh tun. Sie wollte ihm Schmerzen zufügen, so sehr, dass er es niemals wieder wagen würde, sie zu berühren. Es sollte eine Narbe auf ihm hinterlassen, die ihn davon abhalten würde, auch nur an sie zu denken. Doch wie?

Erst als dieser Gedanke in ihr keimte, kam sie wieder ganz zu sich und erst dann bemerkte sie, dass er ihre Handgelenke fest umklammert hielt. Sein Gewicht lag auf ihrem Körper. Sie war seine Gefangene, unfähig sich zu bewegen.

Und sie ließ ihn gewähren. Langsam löste sich ihre verkrampfte Körperhaltung und Semerloy beugte sich noch ein wenige mehr über sie. Annie konnte die Wärme seines Körpers spüren. Ebenso fühlte sie langsam auch den Kuss auf ihren Lippen. Waren ihre Sinne zuerst noch taub dafür gewesen, konnte sie es nun nicht mehr ausblenden.

Ihr wurde schwindlig. Es würde nicht mehr lang dauern und sie würde ihn schmecken können. Dann würde sie sich übergeben müssen. Noch dazu kam die Erinnerung des Traumes. Das allein reichte schon, damit ihr noch übler wurde.

Jonathan Semerloy drängte sich noch mehr an sie heran und sie drückte sich gleichzeitig weiter in die Kissen. Sie wartete auf den richtigen Moment, von dem sie nicht wusste, wie er eigentlich aussah. Sie hoffte, dass sie es wissen würde, wenn es so weit war. Und dass sie dann auch wusste, was sie tun musste.

Plötzlich atmete sie erschrocken ein, als Jonathan seine Zunge zwischen ihre Zähne hindurchpresste. Etwas, was ihm noch mehr Spielraum gab. Sie stöhnte vor ekel auf und glaube jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Doch anscheinende verstand er es als Zeichen ihres Wohlgefallenes, denn seine Bewegungen wurden noch fahriger und er drängte sich noch weiter in sie.

Da erkannte Annie, den Moment auf den sie gewartet hatte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ sie ihren Kiefer zusammen schnappen. Mit dieser Bewegung biss sie Semerloy so fest sie konnte auf die Zunge, so dass sie selbst glaubte zu spüren, wie ihre Zähne sich in das zarte Fleisch bohrten.

Augenblicklich stieß er sich unter einem Schmerzensschrei von ihr weg.

Schwer atmend lag Annie auf ihrem Bett, alle Sinne angespannt und Semerloy nicht aus den Augen lassend. Sie wollte jeden weiteren Schritt von ihm voraussehen und wenn möglich so verhindern. Doch offenbar hatte sie ihn wirklich stark getroffen. Er hatte den Kopf weggedreht und hielt sich die Hand vor den Mund.

Annie zog sich die Decke unter das Kinn, um sich noch ein wenig mehr Schutz zu geben. Als sie wieder aufsah, verschwand ihre neugewonnene Selbstsicherheit schnell wieder. Denn als Semerloy sie ansah, trug er wieder dieses kalte Lächeln auf den Lippen. Mit den Daumen wischte er sich eine kleine Blutspur aus dem Mundwinkel.

„Ich muss sagen, ich habe mich nicht in euch getäuscht. John sagte, dass ihr im Bett steif wie ein Brett seid, aber in euch schlummern ganz andere Dinge. Das habt ihr mir gerade eindrucksvoll bewiesen.“ Er kicherte leise in sich hinein, so dass ihr die Haare zu Berge standen.

„Ich freue mich schon darauf, wenn dieses Kind geboren ist und ihr frei für andere... Dinge seid.“, sagte er mit säuselnder Stimme. Dann erhob er sich ohne weiteres und Annie starrte ihm hinterher, bis er gegangen war.

Erst als die Türen sich hinter ihm schlossen und sie der Stille, die darauf folgte, lauschte, atmete sie endlich aus. Doch keinesfalls war sie erleichtert. Vielmehr war es die Notwendigkeit überhaupt zu atmen, dass sie dies tun ließ.

Annie wusste, dass wenn das Kind geboren war, es nichts mehr gab, was Semerloy daran hindern würde, über sie zu verfügen, wie es ihm beliebte. Das hatte er gerade deutlich gemacht.

Und wenn sie Barrington keinen Erben schenkte? Was würde dann geschehen? Würde er sich trotzdem nehmen was er begehrt? Würde Barrington es unterbinden, bis sie ihm endlich einen männlichen Erben schenkte? Sie konnte keine Sicherheit geben, dass es tatsächlich ein Junge wurde.

Ganz egal, wie sie es wendete, sie würde immer nur zu den Gunsten der Männer benutzt werden, dachte sie bitter. Egal ob nun für den einen oder anderen. Sie waren beide die abscheulichsten Personen, denen sie jemals begegnet war. Nein, sie brauchte eine andere Möglichkeit um sich zu schützen. Irgendeine...
 

Ihr Leben änderte sich in den kommenden zwei Monaten nicht. Doch Semerloy hatte immerhin keinen weiteren Versuch unternommen ihr näher zu kommen und jedes Mal, wenn sie sich doch beim Essen trafen, sah sie direkt durch ihn hindurch. Natürlich bestand die Gefahr, dass sie ihn dadurch nur noch mehr anstachelte, dennoch war dies die einzige Möglichkeit für sie, diesen Mann überhaupt zu ertragen.

Alexander besuchte sie oft und immer gelang es ihm ihre trüben Gedanken für die Zeit seines Aufenthaltes aufzuhellen. Es gab ihr ein beruhigendes Gefühl, zu hören, dass es Draco gut ging und er auch sonst nichts anstellte, wegen dem sie sich sorgen müsste.

Obwohl das Gespräch den ganzen Nachmittag einen ungezwungenen Verlauf genommen hatte, konnte Annie dennoch nicht umhin, eine Frage zu stellen, die ihr bereits die ganze Zeit schwer auf dem Herzen lag.

„Draco hat wirklich noch nichts erfahren?“

Alexander sah sie einen Moment überrascht an, dann antwortete er: „Nein. Woher sollte er auch? Er geht nicht fort und wenn, dann reitet er mit Hera in den Wald. Ich denke nicht, dass er freiwillig in die Stadt zurückkehren würde. Er fragt nicht nach dir und ich erzähle ihm auch nichts. Bist du traurig darüber?“ Anscheinend hatte er den enttäuschten Gesichtsausdruck, der über ihr Gesicht gehuscht war, bemerkt.

Sie schüttelte dennoch den Kopf. „Nein. Du sagtest, dass Draco mich vermisst und das glaube ich dir auch. Aber er würde er es niemals zeigen oder zugeben und auch nicht weiter daran rühren. Er ist sehr viel schlauer als ich.“, gestand sie mit einem traurigen Lächeln.

„Ich... ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es ohne Susan wäre, ich will es mir auch gar nicht vorstellen. Deswegen bewundere ich dich. Du schaffst es auch ohne ihn, auch wenn es dich manchmal viel Kraft kostet.“

„Tue ich das?“, fragte sie zweifelnd. „Ich weiß es nicht. Manchmal fühlt es sich so an, als würde alles zusammenbrechen.“

„Natürlich, schaffst du es! Du hast es bis hierher geschafft und du wirst es auch weiter schaffen. Das Kind bereitet dir doch keine Schwierigkeiten oder?“

„Nicht direkt. Ich kann nachts nicht richtig schlafen, aber das liegt eher an meinen Träumen als an dem Kind.“, erwiderte sie lächelnd. Dann kehrte die Unterhaltung zu anderen Themen zurück und Annie vermied es an ihren Geliebten zu denken.
 

Annies Leben hatte sich zwar in seinen Grundzügen nicht geändert, dafür aber ihre Träume sehr. Nachdem sie in der Jahreswende, das erste Mal diesen merkwürden Traum gehabt hatte, in dem sie versuchte den Mond zu erreichen, war er immer wieder zu ihr zurückgekehrt. Zuerst waren die Abstände zwischen den Träumen noch größer. Zwischen dem ersten und zweiten Traum lagen immerhin vier Wochen. Doch dann wurden die Abstände kürzer und seit einer Woche hatte sie ihn nun jede Nacht. Immer wieder suchte sie in ihrem Traum einen Weg fort von der Dunkelheit und Hitze, hin zu dem verlockendem Licht des Mondes und der Kälte, die er versprach. Und immer wieder endete es auf die gleiche Weise: Ihre Kraft verließ sie irgendwann und sie fiel sterbend auf die Erde zurück. Schweißgebadet wachte sie jedes Mal auf und brauchte einen Moment bis sie sich wieder daran erinnerte, wer und wo sie eigentlich war.

Doch in dieser Nacht änderte sich der Traum. Das Ende nahm eine andere Gestalt an und erschreckte sie umso mehr.

Der Anfang war gleich, wie in den anderen Träumen zuvor auch.
 

Ihre Sehnsucht zum Mond war so groß, dass sie nicht aufhören konnte danach zu streben. Höher und höher flog sie, egal, wie sehr es an ihren Kräften zehrte, bis es zu kalt wurde, bis ihr Herz aufhört zu schlagen. Bis sie hinab fiel auf die Erde zurück, der sie doch entkommen wollte.

Plötzlich änderte sich ihr Blickpunkt.

Für einen winzigen Augenblick war sie diejenige, die fiel und gleichzeitig auch diejenige, die es beobachtete.

Und dann... war sie auf einmal nur noch Beobachter.

Sie sah eine massige Gestalt vom Himmel fallen. Leuchtend weiß in der Farbe des Mondes, hell strahlend und ebenso wunderschön. Es war ein Drache, wie sie ihn erst einmal gesehen hatte. Doch Dracos Anblick, selbst als sein Körper verwundet und zerschunden gewesen war, war nichts im Vergleich zu dem Wesen, das sie jetzt sah. Niemand würd es wagen sich gegen dieses Tier zu erheben. Der Drache war atemberaubend, mächtig und furchteinflößend. So hell und unbeschreiblich – selbst im Tod. Annie konnte seine Augen sehen. Sie waren klar und blau, eisig und strahlend. Genau wie Dracos.

Als nächstes verspürte sie einen Drang, der dem, den Mond erreichen zu wollen, in seiner Heftigkeit ebenbürtig war. Sie wollte es haben! Sie wollte dieses Leuchten, dieses Strahlen und die Kühle seiner Schuppen, seiner Augen. Sie wollte seine Schönheit und die Kraft. Sie wollte dem Mond so nah sein, wie er es gewesen war, wollte einen Teil dieser Macht besitzen. Kostete es, was es wolle! Sie wollte auch einen Teil des Mondes besitzen. Denn schließlich konnte nur der Mond die Veränderung des Drachen hervorgerufen haben.

Das riesige Tier fiel schneller zu Boden und schlug mit voller Kraft auf. Es geschah ein Knall, wie sie ihn noch nie gehört hatte und die Erde bebte unter ihr. Staub wirbelte in der Nacht auf und erzeugte unter dem Sternenhimmel eine graue Wolke. Als sie sich wieder gelegt hatte, war da nichts mehr außer einem riesiger, tiefer Krater.

Langsam bewegte sie sich darauf zu, bis sie am Rand stand. Sie sah hinunter.

Der Drache war tot.

Seine Augen waren noch geöffnet und blickten sehnsuchtsvoll nach oben. Die langen Stacheln, die von seinem, Kopf über seinen Rücken wuchsen und schließlich am Schwanz ausliefen, waren spitz und gefährlich. Er hatte einen massigen Leib, der dennoch nicht dick wirkte. Eher passend, im Vergleich mit seinen Schwingen wiederum schmal. Und die Schwingen erst...Sie glaubte ihr würde das Herz stehen bleiben, so vollkommen war der Anblick. Sie waren beinah durchsichtig, feine Äderchen waren darunter zu sehen, ebenso wieder der Bau der Knochen, die sie formten. Und sie schimmerten genauso leicht silbern im Mondlicht, wie der Rest seines Körpers. Wunderschön! Einzigartig! Faszinierend!

All das wollte sie auch haben!

Sie ging hinunter zu dem Tier, stand vor ihm und sie fühlte die Anwesenheit anderer. Sie alle dachten das Gleiche. Sie hörte ihre Gedanken in ihrem Kopf. Sie alle wollten etwas von der Kraft des Mondes haben, welche in den Körper von einem der ihrem gefahren sein musste. Er hatte den Mond erreichen wollen und er wurde mit dem Tode bestraft. Niemals würden sie dahin gelangen, sie waren verdammt dazu in Dunkelheit und Hitze zu leben, verborgen unter der Erde. Das wussten sie. Aber sie wollten ein Stück von ihm für immer besitzen. Auch, wenn sie dafür einen der ihren verschlingen mussten.

Begierig beugte sie sich über das tote Wesen, riss ihren Rachen weit auf und versenkte so fest sie konnte ihre Zähne in seinem Fleisch, das nicht einmal durch den Panzer aus Schuppen geschützt war. Ohne zu zögern, riss sie ein Stück heraus.
 

Als sie aus dem Schlaf hochschreckte, konnte sie noch immer das Blut auf ihren Lippen schmecken. Annie begann heftig zu würgen, versuchte es zurückzudrängen und schaffte es doch nicht. Sie schaffte es gerade noch bis zum Fenster, bevor sie sich erbrach.

Danach fühlte sie sich nicht mehr ganz so elend. Zumindest war ihr nicht mehr speiübel. Dennoch schüttelte es sie erbärmlich. Was war das nur für ein Traum?, fragte sie sich verzweifelt. Er erschien ihr so real, wie ihr eignes Leben, als wäre es gerade wirklich vor ihren Augen abgespielt. Als wäre sie wirklich dabei gewesen. Ihr Bewusstsein war abermals im Körper eines anderen, etwas anderem gewesen.

Warum nur träumte sie davon? Sie verbot sich doch schon allein den Gedanken an Draco, um diese Träume zu vermeiden und an diesen Teil seiner Geschichte hatte sie ohnehin nur ungern gedacht. Schon immer war es ihr unheimlich erschienen, doch nun verspürte sie eine regelrechte Angst davor. Der Traum war ihr so realistisch erschienen.

Es ängstigte sie, dass allein Dracos Worte noch immer solche Macht auf sie ausübten. Was würde geschehen, wenn sie sich wirklich irgendwann einmal wiedersahen? Sie würde sich wohl selbst verlieren.

Annie atmete einmal tief durch und noch ein zweites Mal. Dann ging sie mit zitternden Beinen ins Bett zurück. Sie sollte sich davon nicht so erschrecken lassen. Immerhin war es nur ein Traum, der ihr nichts anhaben konnte. Und sie war schließlich schwanger, da war es nur normal, dass sie sich hin und wieder übergeben musste. Es war zwar das erste Mal gewesen, aber es überraschte sie nun auch nicht so sehr.

Mit diesen beruhigenden Gedanken schlief sie schnell wieder ein und wurde in dieser Nacht von keinen weiteren Träumen mehr heimgesucht.
 

Auch dieser Traum wiederholte sich von da an regelmäßig. Frühs fühlte sie sich erschöpfter, als zuvor und selbst der Arzt bemerkte ihren Zustand. Aber sie konnte ihm unmöglich sagen, was ihr den Schlaf raubte.

Doch nach wenigen Nächten begann sie sich langsam auch daran zu gewöhnen. Sie wusste, dass diese beiden Träume zu ihr kommen würden, ganz gleich, was sie auch unternahm. Somit erwartete sie sie bereits und dieses Wissen machte die Sache leichter. Erwachte sie dann des nachts, schluckte sie einmal, trank dann einen Schluck Wasser, um das Blut – von dem sie wusste, dass es überhaupt nicht da war – wegzuspülen und legte sich wieder schlafen. Sie hatte es einfach akzeptiert.

Gänzlich unheimlich wurde es ihr aber erst, als sie von anderen Dingen träumte, die zweifellos ebenso etwas mit den Monddrachen zu tun hatten. Es war nicht so klar und detailliert, wie in den Träumen zuvor – zumindest anfangs – aber es gab ihr ein mulmiges Gefühl. Denn davon hatte Draco nie gesprochen.

Der nächste Traum dieser Art – in dem sie offenbar im Körper eines andere war – kam genau eine Woche später.
 

Erneut fand sie sich in einer dunklen Höhle wieder. Sie war erwacht, weil sie einen von ihnen spüren konnte. Sie verließ die schützende Dunkelheit im Inneren der Erde und trat nach draußen. Der Mond würde erst in zwei Tagen wieder voll sein. Sie ließ ihren Blick schweifen und auch, wenn sie ihn noch nicht sah, wusste sie, dass der andere Drache in der Nähe war. Sie konnte hören wie er sich über ihr bewegte. Erst wenn sie ihn sah, würde sie wissen, wie sie sich verhalten musste.

Die Wolken schoben sich auseinander und sie entdeckte ihn. Was war der Grund seiner Nähe? Suchte er einen Partner. Würde sie in ihn einen Gefährten für die Ewigkeit ihres Lebens finden? Könnte sie mit ihm all ihre Erinnerungen weitergeben?

Was für Erinnerungen?, fragte sich der Teil, der immer noch Annie war. Im Moment besaß sie nicht eine einzige. Wie kam es, dass sie in ihren Träumen immer noch sie selbst war und doch gleichzeitig jemand ganz anderes? Etwas anderes...

Doch kaum hatte sie dies zu Ende gedacht, stürzte sich der Neuankömmling nach unten, auf sie zu. Er griff sie direkt an. Jetzt wusste sie, was er wollte: ihr Revier, den Platz, den sie sich vor langer Zeit selbst erkämpft hatte. Niemals würde sie ihre Höhle freiwillig verlassen. Dann übernahm das Wesen, das sie in ihrem Traum war, gänzlich die Kontrolle. Ohne Schwierigkeiten erhob sich die Gestalt in die Luft schoss pfeilschnell auf den Gegner zu. Sie trafen mitten in der Luft mit ihm zusammen. Der Aufprall stieß sie heftig zurück und ein furchtbarer Laut drang in ihre Ohren und fuhr durch ihre Glieder.

Es war weder ein Schrei noch ein Brüllen. Es war irgendetwas anderes, was vielleicht dazwischen lag. Doch sie hatte es noch nie zuvor gehört. Umso erschrockener war sie, dass es offenbar aus ihrem Mund kam. Das andere Wesen flog einen Kreis über ihr und sie machte sich bereit für den nächsten Angriff.

Dieses Mal wartete sie nicht auf seinen Zug, sondern führte ihn selbst aus. Mit wenigen Schlägen ihrer Schwingen schoss sie nach oben und wieder hörte sie diesen erschütternden Laut aus ihrer Kehle dringen. Sie sah das Eisblau in den Augen ihres Kontrahenten aufblitzen, bevor auch er sich nach unten stürzte.

Sie kämpften in der Luft, schnappten mit ihren Mäulern nacheinander, versuchten sich gegenseitig mit ihrem Klauen zu vernichten. Unten ihnen brachen die schwächsten der Bäume, weil die Luftstöße, die ihre Schwingen erzeugten, so stark waren.

Immer wieder stieß ihr Kopf nach vorn, suchte gleichzeitig eine Lücke in seinen Bewegungen, die es ihr ermöglichen würden ihn mit dem Klauen zu verletzen. Annie wusste nicht, was sie tat, das Wesen tat es für sie.

Noch einmal griff sie an und stieß nach vorn, an der Seite des anderen vorbei, drehte ihren langen Hals ruckartig wieder und biss den anderen tief in die Kehle. Ihr Gegner stieß einen markerschütternden Schrei aus und sie glaubte ihre Ohren müssten platzen.

Er wand sich unter ihrem Biss, versuchte sich herauszuwinden, doch instinktiv spannte sie ihren Kiefer noch mehr an, verstärkte ihren Biss, so dass es für ihn kein Entkommen geben würde.

Doch dann spürte sie einen tiefen, brennenden Schmerz in ihrer Brust, der sie den anderen augenblicklich loslassen ließ.

Er hatte ihr die Brust aufgerissen.
 

Wieder erwachte sie und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie verspürte Schmerzen an der Stelle, an der sie gerade noch in ihrem Traum, die Verletzung davon getragen hatte. Augenblicklich betastete sie ihre Brust, erwartete beinah eine klaffende Wunde zu sehen, als sie hinunterblickte.

Aber sie war unversehrt. Abermals schallte sie sich selbst, so töricht zu sein und sich von ihrem Träumen ängstigen zu lassen. Es waren nur Träume. Sie konnten ihr nichts anhaben.

Glücklicherweise wiederholte sich dieser Traum nicht so oft.

Vielmehr schienen sich ihre Träume nun abzuwechseln. Neue kamen fast jede Nacht hinzu und in anderen wurden die älteren wiederholt. Als wären sie bedeutender.

Manche Träume waren nur ein einziges Mal Begleiter ihrer Nacht. Träume wie der, in der sie durch den Nachthimmel flog. Über ihr die Sterne, dominiert von einem wunderschönen vollem Mond, der Sehnsucht abermals in ihr weckte. Doch die Erinnerung an das Schicksal des anderen Drachen hielt sie davon ab zu ihm fliegen zu wollen. Stattdessen glitt sie weiterhin beinah lautlos durch die Nacht. Sie überquerte einen See, in dem sich die Sterne spiegelten. Für einen kurzen Moment dachte sie, dass sie den glänzenden Steinen unter der Erde glichen. Solche Träume ließen sie ausgeruht am nächsten Morgen erwachen.

Ein anderer Traum gab ihr einen kurzen Einblick in die Geburt eines Drachens. Wieder war sie Beobachter und Handelnder zugleich.
 

Sie sah einen riesigen Monddrachen, der leise Laute ausstieß. Es war eine Neumondnacht. Sie sah es nicht, aber sie wusste es. Um sie herum war es vollkommen dunkel, aber sie brauchte kein Licht um sehen zu können. Das tat sie auch so.

Der Drache – sie – krümmte sich plötzlich. Im nächsten Moment – sie wusste nicht woher sie es wusste, sie wusste es einfach – würde ein neuer Drache geboren. Und als es soweit war, war sie nicht mehr nur Beobachter oder der Drache, der der Gebar, sondern für einen kurzen Moment auch der Drache, der geboren wurde. Es dauerte nicht lange und sie war ganz das neue Lebewesen. Die Welt erschien ihr fremd und groß, aber nicht bedrohlich. Sie besaß das Wissen ihrer Vorfahren. Nichts konnte ihnen etwas anhaben, außer sie selbst.

Nun sah sie einen weiteren Drachen, der auf sie zukam. Sie verspürte nicht die geringste Angst, obwohl er so viel größer war als sie. In seinem Maul trug er ein totes Tier, einen Hirsch. Sie war erst verwirrt, wusste nicht, was jetzt geschehen sollte. Dennoch spürte sie keine Angst, vielmehr Aufregung und... konnte das sein? Hunger.

Der Drache ließ den Hirsch fallen und sie stürzte sich gierig darauf.
 

Dies war immer der Moment in dem sie erwachte. Die Instinkte des... Tieres, das sie in ihrem Schlaf war, erschreckten sie jedes Mal aufs Neue.

Ganz gewiss lag es nur an der Schwangerschaft, redete sie sich auch noch fast fünf Wochen später ein. Ihr Bauch war inzwischen deutlich gewachsen und sie wusste nicht, ob sie sich damit wohlfühlten sollte oder nicht. Es war das Kind eines anderen, nicht das ihres Geliebten. Trotzdem versuchte sie das Kind zu akzeptieren, zu mögen und betet, dass es wohlauf und gesund sein würde, wenn es geboren war.

Die wahre Bedeutung ihrer Träume aber, sollte sie erst begreifen, als sie zwei weitere hatte.

Und dann wusste sie nicht, was sie weder denken noch fühlen sollte.

Den ersten dieser bedien Träume hatte sie ungefähr zu der Zeit, in der sie Draco im vergangenem Jahr noch die Schneeglöckchen gezeigt hatte.
 

Dieses Mal schlief sie selbst in ihrem Traum. Es war ein friedlicher Schlaf ungestört, so wie die letzte Nächte auch. Das wusste sie, auch wenn sie eigentlich keine Ahnung hatte, woher. Doch sie hatte es schon lange aufgegeben über irgendetwas aus ihrem Träumen nachzudenken oder es tiefer zu hinterfragen.

Sie vernahm ein Geräusch und dann nahm sie die Gegenwart von anderen Lebewesen war. Sie dachte sich nichts weiter dabei. Ab und an verirrten sich Tiere in die Nähe ihres Verstecks und drangen tiefer in ihre Höhle ein, auf der Suche nach einem neuen Unterschlupf. Erst wenn sie tief in der Dunkelheit waren bemerkten sie ihre Anwesenheit und verschwanden dann so schnell sie konnten. Manchmal schnappte sie nach den Tieren und verzehrte es, doch heute wollte sie den Schlaf noch etwas länger genießen. Sie würde des Nachts noch genug Gelegenheit haben ihre Beute zu finden.

Dann hörte sie einen unbekannten Schrei, wie ein Grunzen nur dumpfer und augenblicklich richtete sie sich auf und stieß einen Laut aus, der tief aus ihrem Innern kam. Jeden anderen – außer Ihresgleichen – hätte dies gereicht, um ihn zu vertreiben.

Doch den Mensch vor ihr schien das nicht einmal zu beeindrucken.

Sie glaubte zumindest es sei ein Mensch, ein Mann. Sie kannte sie aus ihren Erinnerungen.

Neben und hinter ihm standen weitere Männer.

Da sie sie selbst war und dann doch wieder nicht, erkannte sie ihn.

John Barrington.

Gleichzeitig spürte sie in ihrem Traum, dass das Wesen nicht begriff, was geschah. Noch einmal stieß sie diesen seltsamen Laut aus und stieß ihren Kopf drohend nach vorn. Dabei richtete sie sich auf, soweit es die Höhle zuließ. Niemand konnte ihr etwas anhaben.

„Damit machst du mir keine Angst.“, sagte der beleibte Mann vor ihr. Er vollführte eine Handbewegung und im nächsten Moment traten die Männer zur Seite. Erst da erkannte sie die zwei riesigen Geschosse, die plötzlich in ihrer Höhle standen.

Warum hatte sie nichts bemerkt?!

„Feuer!“

Im gleichen Moment stieß sie mit dem Kopf nach vorn, das Maul weit aufgerissen und schnappte nach einem der anderen Männer. Er schrie laut, als sie ihn erwischte und zwischen ihren Zähnen zermalmte. Er schmeckte verdorben. Angewidert spie sie ihn aus. Doch gerade als sie ihren nächsten Schritt auf ihre Feinde machen wollte, hörte sie ein Surren, dass die Luft durchschnitt. Mit den Augen erfasste sie einen Pfeil, der so groß, wie ein Mensch selbst war und schnell auf sie zuflog. Ihre Reflexe waren gut und sie beugte blitzartig den Kopf nach unten.

Sofort danach stieß sie mit mehr Kraft nach vorn, entblößte ihre scharfen und spitzen Zähne und stieß einen drohenden Laut aus. Hektisch flohen die Männer zum Ausgang, als wollten sie fliehen doch für sie würde es kein Entkommen mehr geben. Unter ihren Klauen zerdrückte sie das erste von zwei Geschossen, die vergrößerten Armbrüsten gleich kamen.

„Na komm schon, du Mistvieh. Ich krieg dich schon!“, rief der Mann in der Rüstung abermals und schwang ein Schwert in seiner Hand. Annie hatte ihn verstanden. Das Wesen, in dessen Körper sie war, aber nicht.

„Jonathan, die Nächste!“, brüllte der dicke Mann den nächsten Befehl und in der Dunkelheit sah sie eine Schwertklinge aufblitzen und im nächsten Augenblick hörte sie abermals ein Surren. Gleichzeitig griff sie an, sicher, dass der Pfeil ihr nichts würde anhaben können. Doch die Höhle war an dieser Stelle so eng, dass sie sich nicht richtig bewegen konnte. Der Pfeil streifte ihren Hals und zu ihrer eigenen Verwunderung hinterließ er eine Wunde. Dann prallte er gegen die Höhlendecke und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

Sie spürte ihr eigenes Blut ihre Schuppen hinunter laufen und sie nahm den süßlichen Geruch war.

Sie wagten es in ihr Territorium einzudringen und sie anzugreifen? Sie zu verletzen? Nun würden sie alle sterben. Wollte sie sie zu Beginn nur vertreiben, um schnell wieder in ihren Schlaf zurückfinden zu können, würde sie keinen von ihnen lebend davon kommen lassen.

Erneut machte sie einen Satz nach vorn und die zweite Armbrust zerbarst in tausend Stücke, als sie sie unter ihrem Gewicht begrub. Die Männer rannten nun zum Ausgang und sie folgte ihnen ohne Mühe. Immer wieder gelang es ihr einen von ihnen zu packen und zu vernichten. Sie schleuderte sie gegen die Wand oder zertrat sie. Es war ihr zu wider auch nur einen von ihnen wieder zu schmecken. Als sie dem Höhlenausgang näher kamen konnte sie das Tageslicht sehen und sie hielt einen Moment inne, unsicher ob sie wirklich weiter gehen sollte. Noch nie zuvor hatte einer von ihnen am Tag den Schutz der Dunkelheit verlassen. Keiner hatte je das Sonnenlicht gespürt. Es war zu hell, zu warm und zu bedrohlich. Doch als sie wieder Barringtongs Stimme vernehmen konnte, war es ihr egal. Für ihre Unverfrorenheit gab es nur eine Strafe. Außerdem war sie nicht bereit diesen Unterschlupf nur wegen ein paar schwächlicher Menschen aufzugeben. Es war schwer Höhlen zu finden, die groß genug für sie waren und tief, aber nicht tausende von Metern unter der Erde lagen. Denn je tiefer die Höhle in der Erde verborgen war, desto weiter weg war sie des Nachts vom Mondlicht.

Noch einen Schritt und sie würde den Ausgang durchqueren und mehr Platz haben sich zu bewegen. Sie tat ihn und das gleißenden Sonnenlicht blendete sie so sehr, dass sie vor Schmerzen aufbegehrte und einen Laut ausstieß, der lauter war, als die zuvor.

Im gleichen Augenblick hörte sie eine Stimme rufen: „Schießt!“ Abermals folgte ein Surren, doch dieses Mal nicht von einem Geschoss, sondern von dreien gleichzeitig. Noch immer waren ihre Augen geblendet. Sie sah nicht, von wo die Pfeile kamen und hörte es auch nicht. Ihr Sinne waren vollkommen verwirrt, eingenommen von den vielen anderen Geräuschen, die sie umgaben und die sie in der Nacht noch nie gehört hatte: Vögel, Knacken des Waldes, verschiedene Tierlaute und die Geräusche der Menschen. Dennoch gelang es ihr das Surren irgendwie unter den anderen Geräuschen auszumachen und zwei Pfeilen auszuweichen. Der dritte aber flog an ihr vorbei und streifte hart ihre linke Schwinge, so dass er einen Riss hinterließ. Sie wusste, dass es nur ein feiner Riss war, nicht weiter gefährlich und doch spürte sie ihn durch ihren ganzen Körper hindurch.

Sie ließ sich nicht beirren. Sie wusste, dass, wenn sie nur erst einmal in der Luft sein würde, diese Menschen keine Gelegenheit, mehr zur Flucht haben würden. Dann wäre ihr Schicksal innerhalb weniger Atemzüge besiegelt. Mit nur zwei riesigen Sätzen ließ sie die Höhle endgültig hinter sich und stand im vollen Sonnenlicht. Instinktiv bäumen sie sich auf, entfaltet ihre Schwingen zu voller Größe, um ihnen zu zeigen, was für einen Fehler sie gemacht hatte, gerade sie anzugreifen. Noch nie zuvor hat es ein Wesen gegeben, was bei diesem Anblick nicht gezittert hatte.

Gleichzeitig realisierte sie aber noch mehr von den Geschossen. Ein Teil von ihnen war nicht nur mit Pfeilen bespannt, sondern auch mit Steinen, manche davon brennend.

Wie hatten sie es geschafft dies alles herzubringen? Innerhalb so kurzer Zeit? Sie war sich sicher, so etwas des Nachts bei ihrem letzten Streifzug nicht gesehen zu haben. Noch dazu lag ihre Höhle auf einer Anhöhe, die für andere schwer zugänglich war. Das hatte sie zumindest geglaubt.

Doch als sie sich aufgebäumt, ihre Schwingen entfaltet hatte, hatte Barrington das Zeichen zum Angriff gegeben.

„Feuer! Tötet ihn!“

Die Luft begann zu vibrieren, Pfeile, Steinen und Feuerkugeln schossen auf sie herab – noch bevor sie in der Lage gewesen war, noch bevor sie wusste, was eigentlich geschah. Dennoch spürte sie weder Angst noch Unsicherheit. Nichts davon konnte ihr etwas anhaben. Die Menschen waren so kleine und schwache Kreaturen. Sie brauchte sie nicht zu fürchten und ihre Waffen ebenso nicht. Dieses Mal warf sie ihren gesamten Oberkörper nach vorn und die Männer stieben unter Schreien auseinander.

Aber dann war sie es die Schrie. Zumindest glaubte sie, dass es das war, was der Laut, der aus ihrer Kehle kam, bedeutete. Die Geschosse hatten sie im gleichen Moment getroffen, wie sie nach vorn geschossen war. Ihre ausgebreiteten Schwingen hatten eine viel zu große Angriffsfläche geboten. Sie war direkt getroffen worden.

Pfeile bohrten sich in eine der wenigen Stellen, an der ihre Haut dünn war: Die schmalen Linien, links und rechts neben ihren Stacheln. Wieder andere trafen sie seitlich und obwohl die Spitzen abprallten hinterließen sie Spuren und verletzten sie. Schmerzvoller waren die Steine gewesen, die nicht nur auf ihren Körper geprallt waren, sondern auch ihre Schwingen direkt getroffen hatten. Sie hatten die zarten Knochen darunter gebrochen. Unter all dem anderen Lärm hatte sie es heraus hören können. Und sie spürte es mehr als deutlich. Zudem waren die Risse in der feinen Membran mehr und größer geworden.

Annies Geist kannte sich mit dem Wesen, was sie war nicht aus. Sie wusste ja nicht einmal was genau geschah, aber sie konnte seine Qualen deutlich spüren und diese waren schlimmer, als alles andere, was sie bisher erfahren hatte.

Das Wesen wusste, dass es nur in der Luft gegen die Menschen würde kämpfen können. Unter größten Schmerzen spannte sie die Schwingen abermals auf und erhob sich in den Himmel. Aber es fiel ihr schwer das Gleichgewicht zu halten oder sich auch nur auf einen Angriff konzentrieren zu können und gleichzeitig weiteren Geschossen auszuweichen. Noch dazu hatten die Eindringlinge nun kleinere Waffen in der Hand, keine Schwerter, die ihr nichts anhaben konnten, sondern Armbrüste mit brennenden Pfeilen gespannt. Sie sah, dass sie direkt auf sie zielten und sie wollte ihnen ausweichen, um dann gleich selbst anzugreifen. Sie stieß nach unten, war aber zu langsam und wurde getroffen.

Dem ungeachtet wischte sie mit ihrem langen Schwanz hinter sich einige der Männer einfach weg, so dass sie den Hang hinunter rollten. Was dann mit ihnen geschah, sah sie nicht mehr. Andere ihrer Gegner zertrat sie schlicht mit ihren Pranken und schnappte nun doch nach denen in ihrer Reichweite. Aber egal was sie tat, sie hatte das Gefühl, dass es einfach nicht weniger wurden.

Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie die großen Waffen wieder Feuerbereit gemacht wurden. Sie machte einen Satz nach vorn und zerstörte zwei weitere unter ihren Klauen, eine dritte zermalmte sie mit ihren Zähnen. Dennoch waren die anderen schon wieder fast geladen. Sie sah die Männer, die die Schwerter hoben um sie abzufeuern.

„Lasst ihn nicht entkommen! Noch ein oder zwei Mal und wir haben ihn!“, rief der Mann abermals.

Ein weiteres Mal schaffte sie es zwei auszuschalten. Es blieben nur noch fünf, doch diese wurden gerade abgefeuert. Wie schafften sie es so schnell sie wieder schussbereit zu machen? Es gelang ihr kaum sich wieder in die Luft zu erheben. Die Schwingen waren gebrochen und jede Bewegung jagte eine neue, bisher unbekannte Pein durch ihren Körper. Sie konnte es nicht mehr richtig kontrollieren. Sie schwankte stark und nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie sich weitere, schwerwiegende oder gar gleich tödliche Wunden zuzog. Dennoch wurde sie erneut auf dem Rücken verletzt. Was machte diese Pfeile so besonders, dass sie es schafften ihre Schuppen zu durchdringen?, fragte sie sich, während ein erneuter, großer Stein, sich auf sie niedersenkte. Wäre sie unverletzt gewesen, wäre es so einfach gewesen, diesem auszuweichen, so aber war sie bereits jetzt müde. Ihre Bewegungen waren langsam und verzögert. Abermals wurde sie getroffen, dieses Mal direkt in die Brust, an der Stelle, an der ihr Herz saß.

Noch in der Luft bäumte sie sich vor Schmerz auf und ließ sich fallen. Es gelang ihr sich rechtzeitig mit den Beinen abzufangen und die Erde unter ihr bebte. Der Schmerz, der durch ihren Körper schoss, machte sie orientierungslos.

„Gleich haben wir ihn!“, hörte sie den dicken Mann aufgeregt rufen.

Sie hob den Kopf, suchte nach ihm und fand ihn abseits stehend unter einer mächtigen Linde. Neben ihm stand ein anderer Mann, der sich im Hintergrund hielt. Auch sein Gesicht konnte sie durch den Helm nicht erkennen. Annies Bewusstsein ahnte, wer sich dahinter verbergen mochte. Sie sah durch die Augen des Drachen, welcher direkt in Barringtons schaute und sein kalter, mordlustiger, wahnsinniger und siegesgewisser Blick schien sich für immer in ihrem Gedächtnis einzubrennen.

Er würde sie töten.

Und ihr wurde klar, dass es ihm auch gelingen würde. Sie war bereits zu schwer verletzt, um sich noch wehren zu können. Wenn sie ihn töten würde, wäre es möglich. Aber in diesem Moment war sie unachtsam gewesen und bemerkte nicht, die brennenden Pfeile, die erneut aus Armbrüsten auf sie abgeschossen wurden. Und diese trafen sie genau an den bereits verwundeten Stellen.

Sie glaubte das Feuer würde sich durch ihren Körper fressen.

Ein letztes Mal wirbelte ihr Schwanz durch die Luft, riss mit sich, was immer er erwischte, während ihr Kopf ebenfalls nach vorn schnellte. Damit zerstörte sie drei weitere Geschosse. Im nächsten Augenblick verwandte sie ihre verbleibende Kraft darauf, ihre zerfetzten Schwingen auszubreiten und stieß sich schließlich vom Boden ab. Sie versuchte so schnell wie möglich an Höhe zu gewinnen. Denn im Himmel, das wusste sie, würden sie sie nicht erreichen können.

Doch der Schmerz war überwältigend, aber noch viel mehr die Tatsache, dass es Menschen – einfachen, niederen Menschen – gelungen war sie zu finden und auch noch anzugreifen, noch dazu zu verletzten. Noch nie zuvor hatte es so etwas gegeben.

Sie hatten bewusst den Tag gewählt, wissend dass sie in der Nacht stärker war, aufmerksamer. Nur so konnte sie es sich erklären. Vielleicht trug auch ihre eigene Unvorsichtigkeit schuld. Vielleicht hätten sie sich doch einen Unterschlupf tiefer in der Erde suchen sollen. So wie es von Anfang an bestimmt war. Doch das Mondlicht war zu verlockend gewesen und nur zu gern hatte sie dem nachgeben wollen.

Sie flog hoch über den Wolken, spürte aber wie ihre Kräfte schwanden. Es lag nicht allein an ihren Verletzungen, das war ihr klar. Es war alles um sie herum. Noch nie war sie bei so hellem Licht geflogen. Es schien ihre Augen zu verletzen. Es war viel zu warm für sie. Die Bäume hatten eine merkwürdig leuchtende Farbe. Es waren massenweise unbekannte Geräusche um sie herum. So vieles auf einmal drang auf sie ein, reizte ihre Sinne, die wegen dem zuvor erlebten ohnehin höchst angespannt waren.

Das alles verwirrte sie und schwächte sie zusätzlich.

Zudem hatte sie das Gefühl auseinander zu brechen. An der Stelle, an der die großen Pfeile und Steine sie direkte getroffen hatten. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Das wurde ihr nur zu bewusst. War sie schon weit genug entfernt? Sie wusste es nicht genau. Im Moment wusste sie nicht einmal genau, wo sie sich befand. Aber selbst wenn sie in einer Gegend war, die sie des Nachts schon einmal aufgesucht hatte, war sie nicht sicher, sie jetzt, unter diesen Bedingungen wiederzuerkennen.

Beständig verlor sie an Höhe. Immer schneller sackte sie ab. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft richtig mit ihren Schwingen zu schlagen, um sich weiter in der Luft halten zu können, dem einzigen sichern Ort, den sie kannte. Ihr kam dieses Gefühl bekannt vor. Es war eine alte Erinnerung, aus einer anderen Zeit, die den Anfang ihres Seins beschrieb.

Alles um sie herum verschwamm langsam, die Konturen der Wolken lösten sich auf und unter ihr sah sie einen Wald. Er schien groß zu sein. Flog sie noch? Der Wind hatte zugenommen, kühlte ihn angenehm. Oder war es der Fall, der diesen Wind erzeugte.

Dann spürte sie nichts mehr.
 

Normalerweise war diese das Ende des Traumes und Annie wäre erwacht, hätte sich gefragt, was es alles zu bedeuten hätte und die Wahrheit weiter verleugnet. Doch in dieser Nacht war es anders.
 

In ihrem Traum sah sie die Schwärze, die das Wesen gefangen hielt, bis sie einen bisher unbekannten, dumpfen Schmerz fühlen konnte.

Ihr Bewusstsein spürte, dass das Wesen in dessen Körper sie sich wohl befand, gerade erwachte und noch immer war sie ein Teil davon.

Wo war sie?

War sie ihnen entkommen? Je klarer sie in ihrem Denken wurde, desto mehr spürte sie die Pein, doch es war noch erträglich mit dem, was sie vorher empfunden hatte. Doch woher kamen diese Schmerzen, die sie nicht richtig zuordnen konnte?

Sie wollte die Augen öffnen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Augenlider fühlten sich an, als lägen zentnerschwere Steine darauf. Nur mit Mühe gelang es ihr, es doch zu tun.

Alles was in ihrem Blickfeld lag, war verschwommen. Sie blinzelte und versuchte den Kopf anzuheben. Augenblicklich fuhr ein stechender Schmerz ihren Hals abwärts, durch ihren gesamten Körper. Sie hatte solche Qual noch nicht gekannt. Ein Keuchen entrann ihrer Kehle und sie ließ sich sofort wieder auf den Boden fallen. Ein paar Augenblicke lang wagte sie es nicht sich zu bewegen, wartete bis der Schmerz zumindest kein Stechen mehr war. Dann öffnete sie abermals, sehr langsam die Augen und versuchte sich umzusehen. Ihr Blick war dieses Mal schon etwas besser.

Sie befand sich in einem Raum, der merkwürdig orange leuchtete. Ihr erster Gedanke war, dass dieser Raum viel zu klein für ihre tatsächliche Größe war. Das war der Gedanke des Wesen, das sie im Moment war. Ihr eigener Gedanke war ein ganz anderer: Der Raum in dem sie sich befand, kam ihr vertraut vor.

Nun konnte sie den Schmerz nicht mehr ignorieren und er war auch nicht mehr dumpf, wie zu Beginn. Vielmehr schien er in ihrem ganzen Körper zu sitzen. Dennoch drehte sie bedächtig den Kopf. Sie wollte wissen, wo sie ihre Verletzung trug. Doch sie sah nichts. Alles was sie sah, waren zwei Menschenbeine.

Sofort war der Gedanke an Flucht in ihr. Es war nur ein Mensch. Selbst in diesem Zustand würde es kein Problem für sie sein, ihn zu vernichten. Aber als sie sich bewegte, bewegten sich auch die Menschenbeine. Auch beim zweiten Mal geschah es so. Ebenso beim dritten Mal. Immer wenn sie sich bewegte, so bewegte sich auch der Mensch. Dann streckte sie eine Klaue nach dem Mensch aus. Sie wollte ihn vernichten, ganz egal wie. Sie wollte einen von ihnen tot sehen, als Rache für ihren Schmerz.

Doch als sie das tat, hörte sie auf zu atmen.

Das was sie sah, war nicht ihre Klaue. Es war die Hand eines Menschen, die sich bewegte, die sie ausgestreckt hatte. Ihre Augen weiten sich, als sie begriff.

Das konnte nicht sein! Was hatte sie mit ihr gemacht?

Hatten sie sie wirklich in den Körper eines Menschen gebannt? Wie war ihnen das gelungen? War sie nicht schon viel zu weit entfernt von ihnen gewesen? War sie ihnen nicht entkommen?

Sie konnte keine Antwort finden.

Stattdessen wusste sie nun ganz genau, dass die Verletzungen, die sie nun umso deutlicher spüren konnte, an den gleichen Stellen saßen, wie die, die ihr auch die Jäger zugefügt hatten.

Welches Monster hatte sie in einen Menschen verwandelt?

Warum?

Warum hatten sie ihn nicht gleich getötet?

Ein plötzliches Rascheln ließ sie zusammenfahren. Sie war nicht allein! Dann vernahm sie Schritte, die auf sie zu kamen. Sie waren leicht und klangen nicht bedrohlich, doch sie wusste nur zu gut, dass die Menschen anders waren. Ihr Atem beschleunigte sich immer mehr. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz bei einem weiteren Atemzug zerspringen könnte. Sie war ihnen nicht entkommen, realisierte sie entsetzt. Vielmehr war sie nun ihre Gefangene.

Wieder wollte sie sich aufrichten, wollte sich verteidigen und wenn ihr das nicht gelingen sollte, wollte sie wenigstens fliehen. Doch wie auch schon zuvor, durchfuhr ein stechender, brennender Schmerz ihren Körper und lähmte sie augenblicklich. Er zwang sie auf den Boden zurück. Sie würde gezwungen sein zuzusehen, wie dieser Mensch sie vernichten würde.

„Du bist wieder wach.“, sagte jetzt eine Stimme, die höher war, als alle anderen, die das Wesen bisher gehört hatte. Sie war sanfter und klarer, nicht so rau und laut, wie die der anderen Menschen - wie die derer, die sie gejagt hatten. Doch davon würde sie sich nicht täuschen lassen. Sie zwang sich die Augen geöffnet zu lassen, auch wenn ihr Bewusstsein bereits wieder in die wohlwollende Dunkelheit zurückkehren wollte. Ihr war als würde der Schmerz überall in ihrem Körper sein, selbst in ihren Augen. Jetzt trat der Mensch in ihr Blickfeld und sie konnte ihn erkennen.

Es war eine Frau.

Hinter ihr brannte das orange Licht und verlieh ihr einen seltsamen Schein. Alles was sie ausmachen konnte, waren dunkle Augen und Haare, die ihr Gesicht einrahmten.

Eine vertraute Gestalt, dachte Annie...und dann schrie sie selbst.
 

Mit einem entsetzten Laut auf den Lippen erwachte Annie endlich aus diesem Traum. Ihr Körper war schweißgebadet. Ihr war heiß und kalt zugleich. Sie zitterte heftig, so sehr, dass selbst ihre Zähne aufeinander schlugen. Annie war so erschöpft, dass sie sich nicht einmal aufrichten konnte. Dabei brauchte sie nichts dringender als frische Luft. Sie würde sonst ersticken oder von den Gedanken, Gefühlen und Bildern in ihrem Kopf wahnsinnig werden. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Also schloss sie die Augen.

Es schien die Bilder nur schneller fließen zu lassen.

Es war das erste Mal, dass ein Traum es vermochte sie so zu verstören. Sie wusste nicht mehr was Realität war und was nicht, was wahr und was gelogen, was richtig und falsch.

Wie war das möglich? Bisher war es ihr gelungen sich selbst davon zu überzeugen, dass alles bisherigen Szenen, die sie auf diese Art erlebt hatte nur eingebildet waren, eben erträumt, weit entfernt von der Wirklichkeit. Aber dieser... Sie wusste, dass es wirklich so geschehen war. Ganz genauso, wie sie es gesehen hatte. Sie hatte John Barrington erkannt. Seine Stimme und sein Verhalten. Es konnte nur er sein!

Sie öffnete kurz die Augen, atmete so tief durch, wie sie konnte. Dann schloss sie sie wieder. Dieses Mal nicht um sich zu beruhigen, sondern um die Wahrheit zuzulassen. Sie hatte von dem Tag geträumt, als er – Draco! – von diesen Männern angriffen und gejagt worden war.

Aber wie?!

Wie konnte sie von etwas träumen, von dem er ihr nie erzählt hatte? Wie konnte sie wissen, dass es so gewesen war? Wie konnte sie so überzeugt sein, dass es wahr war?

Sie zog die Decke nach oben, schlag sie fest um ihren Körper, wickelte sich förmlich darin ein. Das Zittern wurde nicht weniger.

Ihr Traum war so real gewesen, so wirklich, als wäre es eine ihrer eigenen Erinnerungen gewesen, die sie im Schlaf noch einmal erlebt und gesehen hatte.

Ruckartig richtete sie sich auf und starrte gerade aus. Ihr Mund stand offen und sie schnappte verzweifelt nach Luft.

Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gedacht hatte.

Was es bedeuten würde und dennoch... Gefühle überwältigten sie, stürzten auf sie ein, wie Wassermassen und rissen sie mit sich.

Erinnerungen...

Annie schlug ungläubig die Hand vor den Mund, schüttelte heftig den Kopf. Gleichzeitig fing sie haltlos zu lachen an, während Tränen der Verzweiflung ihre Wangen hinab rannen.

Stumme Worte

Sie konnte einfach nicht aufhören zu lachen. Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Ihr Bauch schmerze bereits, ihre Lungen taten ihr weh und schienen zum Zerreisen gespannt. Ihre Augen brannten.

Annie versuchte sich zu beruhigen, rational nachzudenken, doch es gelang einfach nicht. Immer wieder drängten sich die gleichen, unmöglichen Gedanken in ihren Geist und wühlten sie noch mehr auf.

Das Wort „Erinnerungen“ hatte sie darauf gebracht.

Es waren Erinnerungen! Die Träume, die sie Nacht für Nacht heimsuchten, sie ängstigten und doch faszinierten, ihr gleichzeitig ein Gefühl von Vertrautheit und Fremde gaben, sie waren Erinnerungen.

Annie ließ sich in die Kissen zurücksinken und das Atmen fiel ihr sofort leichter. Mit den Händen wischte sie weitere Tränen hinfort. Dann zog sie ein Kissen auf ihr Gesicht. Zum einen um die Geräusche zu dämpfen, zum anderen, weil sie hoffte, dass der Luftmangel sie endlich beruhigen würde.

Und tatsächlich: Nach wenigen Augenblicken beruhigte sie sich so weit, dass sie zumindest wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Trotzdem liefen die Tränen stumm ihre Wange hinab und ihre Lippen formten zur gleichen Zeit ein Lächeln.

Es waren Erinnerungen, begann sie zu akzeptieren.

Es waren Dracos Erinnerungen.

Nein, dass war nicht ganz richtig, dachte sie matt und zog die Stirn kraus.

Es waren die Erinnerungen des Kindes, das sie in sich trug.

Als sie das wagte zu denken, begann sie abermals zu lachen. Sie drehte sich auf die Seite und hielt sich den schmerzenden Bauch, das Gesicht in die Decken und Kissen vergraben, um sich wieder zu beruhigen.

Es war sein Kind!, dachte sie euphorisch.

Nicht Barringtons, sondern seines! Diese Erinnerungen von Drachen, von einem Leben so unvorstellbar und alt, waren allein seine!!!

Es war Dracos Kind in ihrem Leib.

Sie wollte in hysterisches Gelächter ausbrechen. Draco war der Vater und nicht Barrington!!! Barrington würde niemals einen Erben von ihr bekommen! Er hatte sich getäuscht! Er konnte nicht über ihr Leben bestimmen! Draco war immer bei ihr und würde es immer sein!

Und doch würden sie niemals eine Familie sein.

Dieser Gedanke war es, der sie so sehr weinen ließ. Es war ausgeschlossen, dass Draco von seinem Kind erfahren würde. Niemals würde er es kennenlernen. Und eben jenes Kind, welches sie bereits jetzt so sehr liebte, wie Draco selbst, bedeutete eine unermessliche Gefahr für sie alle.

Sollte Barrington jemals davon erfahren, würde er sie alle auf der Stelle töten. Sie, das Kind, Draco ebenso wie Alexander und dessen Familie. Er würde sie alle vernichten.

Noch nie zuvor war sie zur selben Zeit so übermäßig glücklich gewesen und doch so verzweifelt.

In jenem Moment beschloss sie sich zu erinnern. Sie wollte sich für das Kind erinnern, an ihr Leben vor Draco, aber vor allem an das Leben mit ihm. Was sie gedacht hatte, was sie empfunden hatte, was sie getan hatte, all dies wollte sie dem Kind geben. Sie würde sich daran erinnern und vielleicht, nur vielleicht gelang es ihr ihm so einen Teil ihrer eigenen Erinnerungen mitzugeben. Schließlich war das Kind ein Teil von ihr, es erlebte, was sie erlebte, warum sollte es nicht auch ihre Erinnerungen bekommen?

Annie konnte nicht sagen, was die Zukunft bringen würde. Sie lag dunkel und ungewiss vor ihr. Aber sie wollte ihm so viel wie möglich mit auf den Weg geben, von Draco und sich selbst. Dies war möglicherweise der einzig ungefährliche Weg, um den Kind zu zeigen, wer es wirklich war. Denn ihre Gedanken konnte John Barrington nicht kontrollieren.
 

Sie lag wach und starrte an die Decke über ihr. Ja, sie wollte sich erinnern, doch noch hatte sie nicht die Kraft dazu. Zu vieles ging ihr durch den Kopf und drehte sich unaufhörlich. Das Glück und die Angst hatten sich für immer auf ihre Brust gesetzt. Es dauerte lange, bis sich ihr ein anderer Gedanken aufdrängte: Warum hatte sie so lange gebraucht, um es zu verstehen?

Dabei war es doch so offensichtlich! Die Träume hatte sie doch schon seit... seit Neujahr. Sie hätte es längt verstehen sollen. Vielleicht hatte sie es auch nicht wahrhaben wollen. Denn das, was sie momentan empfand war übermächtig und sie wusste nicht, ob sie es überhaupt verarbeiten konnte.

Doch erst einmal musste sie aufhören zu weinen und zu lachen, sagte sie sich. Es war ein Wunder, dass die Wachen noch nicht hereingekommen waren. Doch vielleicht schliefen auch sie. Aber vielleicht sollte sie sich dennoch eine Entschuldigung einfallen lassen. Sollten die Wachen etwas gehört haben, würden sie es mit Sicherheit an Barrington oder Semerloy herantragen.

Das konnte sie später noch tun, sagte sie sich träge. Im Moment war in ihrem Kopf einfach kein Platz dafür und wenn sie es versuchen würde, würde sie wohl verrückt werden, glaubte sie.

Annie legte eine Hand auf ihren Bauch und spürte ein kleines Flattern darin. War es zuvor schon da gewesen? Hatte sie es nur nicht wahrgenommen, weil sie dachte das Kind wäre von Barrington? Oder spürte sie es gerade zum ersten Mal?

Sie konnte es nicht genau sagen und das erschreckte sie. Hatte sie das Kind nicht schon lange akzeptiert, ganz gleich wer der Vater war? Sie hatte sich doch vorgenommen, es zu beschützen so gut sie konnte. Warum fühlte sie sich nun, da sie wusste, dass es eben nicht Barringtons Kind war so erleichtert und frei? Warum empfand sie plötzlich so viel mehr für das Kind als zuvor? Annie konnte förmlich spüren, wie ihr Herz mit Liebe für dieses ungeborene Wesen förmlich überlief.

Ein schlechtes Gewissen befiel sie, doch gleich darauf schüttelte sie energisch den Kopf. Es brachte nichts mehr darüber nachzudenken.

Es war nicht Barringtons Erbe in ihrem Leib und das war es auch vorher nicht, auch wenn sie das vielleicht gedacht hatte. Es hatte nie ein Kind von Barrington gegeben. Dennoch konnte sie das dumpfe Gefühl nicht verdrängen.

Annie atmete tief durch und schüttelte noch einmal heftig den Kopf.

Sie musste diese Gedanken aufgeben. Sie konnte nichts mehr ändern. Was geschehen war, war geschehen. Sie besaß nicht die Macht die Vergangenheit zu verändern, denn wenn, dann hätte sie es schon längt getan. Dann hätte Barrington Draco niemals so schwer verletzten können.

Unwillkürlich dachte Annie an ihrem letzten Traum. Jenen, der dazu geführt hatte, dass sie die Wahrheit erkannt hatte.

Barrington hatte Draco gefunden und ihn angegriffen. Dabei hatte er ihn so schwer verletzt, dass Draco nichts anderes übrig geblieben war, als zu fliehen und das hatte ihn schließlich zu ihr geführt.

Aber wie war es Barrington gelungen Draco überhaupt zu finden?, fragte Annie sich. Wie war es möglich, dass er einen so mächtiges Wesen, wie es Draco nun einmal gewesen war, zu verletzten?

Annie drehte sich wieder auf den Rücken und starrte abermals an die Stoffdecke, die über ihrem Bett gespannt war. Viel lieber hätte sie sich den Himmel angesehen, aber sie wusste, dass sie nicht würde aufstehen können. Ihr Körper war vom Lachen und Weinen noch so geschwächt, dass ihre Beine sie wohl kaum lang tragen würden.

Also überlegte sie, was sie – was Draco – gedacht hatte, als er Barrington plötzlich vor sich sah. Er war sich so sicher gewesen, dass diese Menschen ihm nichts würden anhaben können. Deswegen hatte er nicht von Anfang an gekämpft, hatte sie nur einschüchtern und verjagen wollen.

Er hat sie nicht als ernstzugenehmende Gegner betrachtet, es zu leicht genommen und er war nicht auf ihre Waffen vorbereitet gewesen. Deswegen war es für Barrington und seine Leute so leicht gewesen. Sie waren davon ausgegangen. Draco hingegen hatte sie unterschätzt und war zu überzeugt von sich gewesen.

Annie zog ungläubig die Augenbrauen zusammen. Das erschien ihr zu einfach, aber etwas anderes wollte ihr nicht in den Sinn kommen. Sie erinnerte sich nur zu klar an den Traum und die Gedanken. Selbst als er bereits verletzt gewesen war, wollte er immer noch nicht glauben, dass es Menschen möglich sein konnte ihn zu überrumpeln.

Sie kannte Dracos Stolz, sie kannte seine Einstellung gegenüber den schwächlichen Menschen. Das hatte er ihr erzählt, so hatte sie es gesehen. Dabei hatte er die Menschen schon ganz anders kennengelernt, wurde ihr klar. Natürlich hatte sie Draco nach seinen Verletzungen gefragt, aber selbstverständlich hatte er ihr nicht geantwortet. Lange Zeit hatte sie deshalb geglaubt, sie würde von anderen Drachen stammen. Erst als Barrington bei ihr aufgetaucht war, hatte sie die Wahrheit erfahren. Dort hatte sie gesehen, dass er auch Angst vor den Menschen haben konnte. Aber warum hatte sie vorher nichts dergleichen bemerkt?

Weil sich seine Einstellung nicht geändert hatte, kam sie zu dem Schluss.

Draco glaubte noch immer, dass er den Menschen überlegen war. Nur John Barrington hatte ihm bisher gezeigt, dass dem nicht immer so war. Doch die Angst, die er da gezeigt hatte, hatte sicher nur an seinem menschlichen Körper gelegen.

Jetzt war es schon anders. Sie wusste, dass Draco jeden Tag mehr lernte, seinen Körper immer besser beherrschte und wenn Alexander ihm den Umgang mit dem Schwert beibrachte, würde er nicht mehr warten. Irgendwann würde er Vergeltung wollen. Er wollte Rache für die Schmach, die er durch diesen Mann, diesen schwächlichen Menschen, erlitten hatte.

Irgendwas in ihr sagte ihr, dass er die auch bekommen würd.
 

Die Sonne stieg mit jedem Tag der verging höher und die wärmenden Strahlen waren wohltuend, nicht nur für das Gemüt, sondern auch für den Körper selbst.

Draco verbrachte die meiste Zeit draußen. Seit der Schnee begonnen hatte zu tauen, war er wieder täglich mit Hera unterwegs und ritt aus. Er genoss diese Freiheiten sehr, besonders da er ahnte, dass sie wohl weniger werden würden, je weiter Susans Schwangerschaft voran schritt. Ihr Leib hatte sich merklich verändert und eine Wölbung trat deutlich an ihrem Bauch hervor. Doch das war nicht das einzige, was so offensichtlich war. Vielmehr hatte Draco beobachtet, dass ihr die Bewegungen immer schwerer fielen und sie geschahen langsamer. Immer öfter bat sie ihn um Hilfe und wenn er sah, wie mühselig ihr die Arbeit von der Hand ging, störte es ihm nicht einmal. Er wusste, dass er Susan viel verdankte und mit ihrer fürsorglichen Art erinnerte sie ihn nicht selten an Annie. Allerdings versuchte er darüber so wenig wie möglich nachzudenken.

Zudem konnte Susan nicht mehr so lange stehen und musste selbst bei den kleinsten Tätigkeiten immer wieder kurz hinsetzen. An manchen Tagen war ihr oft so schwindlig, dass sie sich mehrmals übergab oder das Bett nicht einmal verlassen konnte. Ohne, dass er es wissen wollte, hatte Alexander ihm mitteilt, dass es wohl noch bis in den Sommer so bleiben würde. Still fragte Draco sich, ob Susan das wirklich so lange aushalten würde. Sie tat ihm in gewisser Weise sogar leid. Eine Empfindung von der er bisher nicht gewusst hatte, dass er sie für einen anderen Menschen aufbringen konnte.

Erst hatte er angenommen, dass dieses Verhalten vielleicht normal bei Menschen war, die ein Kind erwartete, doch Alexander schaute von Tag zu Tag besorgter und das wiederlegte seine Vermutung. Annies Bruder ging sogar so weit, dass er seine Geschäfte tagelang liegen ließ, um sich ganz um Susan kümmern zu können. Abends war es dann immer Draco den er darum bat, die Papiere zu bearbeiten. Das Rechnen beherrschte er inzwischen besser als das Schreiben, erschien es ihm doch sehr viel logischer. Doch der Ernst der Situation wurde Draco wohl erst richtig bewusst, als er Alexander eines Tages sogar am Herd stehen sah. Aber anstatt ihn zu fragen, was genau eigentlich los sei schwieg er und beobachtete. Sie wie er es immer tat.

Es war ganz und gar nicht so, dass die Neugier ihm nicht schon wieder im Nacken saß und nach Befriedigung drängte. Ganz gewiss nicht, aber er fühlte einfach, dass er nicht fragen durfte. Es war nur etwas was Susan und Alexander anging und er nur ein Außenstehender war, der nicht in dieses Heim gehörte.

Selbst nach fast einem halben Jahr bei Annies Bruder hatte er noch immer diese Gedanken und er war nicht sicher, ob sie sich nur auf sein Leben in Gesellschaft von Susan und Alexander bezogen oder auf sein Leben als Mensch im Allgemeinen. Beständig spürte er diese Ruhelosigkeit in sich und nichts schien ihn beruhigen zu können, ganz egal wie viel er arbeitete oder mit Hera ausritt.

Bei seinen Ausritten vermied er die Wege, die er mit ihr gegangen war. Er wollte nicht unnötig an sie erinnert werden. Er vergaß sie ohnehin niemals. Doch es gab andere, kleinere Dinge, die ihn wissen ließen, was ihm genommen wurde und doch sein war.

Das erste Mal geschah es wohl, als er die ersten Schneeglöckchen fand. Mit diesen Schneeglöckchen sah er auch ihre leuchtenden Augen, die geröteten Wangen und das schwarze Haar, das sich so sehr von dem Weiß abgehoben hatte, dass es fast wehtat. Wunderschön war sie gewesen, hatte er damals zum ersten Mal gedacht und danach noch viele weitere Male. Als er die Schneeglöckchen erblickt hatte, war er sofort zurückgeritten. Er konnte nicht leugnen, dass er Erleichterung empfand, als sie wieder verblühten.
 

Mit dem Frühjahr wuchs aber auch die Erwartung, dass Alexander ihn in die Schwertkunst einführen würde. Doch bisher hat er noch nichts dergleichen unternommen. Dabei war der Schnee vollkommen geschmolzen und der Boden wurde trockener. Bislang hatte Draco es vermieden ihn darauf anzusprechen. Sein Stolz hat es ihm einfach verboten. Aber langsam wurde er immer ungeduldiger. Jeder Tag, an dem nichts geschah, erschien ihm wie ein verlorener Tag. Es war nicht so, dass er das Ausreiten mit Hera nicht genoss, dennoch verlangt es ihm nach mehr. Seine Verletzungen waren vollkommen verheilt, er fühlte sich so kräftig, wie schon lange nicht mehr. Er wollte etwas tun. Er musste etwas tun.

Natürlich konnte Draco bis zu einem gewissen Grade verstehen, dass sich Alexander nun mehr um Susan kümmerte. Aber es gab durchaus Tage, an denen es ihr gut ging. Diese Tage konnten sie doch für den Unterricht nutzen. Das Schreiben, Lesen und Rechnen hatte er ihm doch auch innerhalb weniger Wochen beigebracht, dachte er oft.

Deswegen rang er sich eines Tages dazu durch, Alexander darauf anzusprechen. An diesen Tag ging es Susan gut. Sie saß in der Küche und legte die Wäsche zusammen, die Alexander zuvor gewaschen hatte. Inzwischen war es unmöglich für sie geworden, diese Arbeit zu verrichten. Doch heute war ein guter Tag nichts deutete darauf hin, dass sich das ändern würde. Also ging Draco in den Garten, wo Alexander gerade, die Erde lockerte, das Schwert in seiner Hand.

Alexander bemerkte seine Ankunft und drehte sich zu ihm um. Draco sah, wie sein Blick auf das Schwert fiel und auch ohne, dass er etwas sagte, wusste Draco, dass er ihn verstanden hatte.

„Ich habe es nicht vergessen.“, beantwortete er Dracos unausgesprochene Frage und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Draco wurde leicht wütend, offenbar dachte Alexander gar nicht daran, sein Versprechen jetzt einzulösen.

„Es ist warm, der Schnee ist schon lange geschmolzen.“, sagte er kurz und mit kalter Stimme. Er hatte es ihm versprochen und daran würde er sich halten müssen.

„Ich weiß.“, sprach Alexander und vermied es ihn anzusehen. Draco wurde misstrauisch. Irgendetwas stimmte nicht.

„Wann beginnen wir?“, fragte er und trat noch einen Schritt auf ihn zu.

Alexander arbeitet immer noch, aber Draco sah, wie sich seine Schultern anspannten und er zögerlicher seiner Tätigkeit nachging.

„Was ist?“, fragte Draco weiter und im nächsten Augenblick rammte Alexander den Spaten in die Erde. Dann sah er Draco direkt an und er meinte Unentschlossenheit darin zu sehen. Gleich darauf sagte Alexander aber: „Jetzt. Wir fangen jetzt an. Geh zur Wiese, die an den Wald grenzt. Dort haben wir genügend Platz. Ich hole mein Schwert und komme nach.“

Draco nickte kurz und wandte sich ab. Alexander hatte zwar zugestimmt, aber Draco spürte, dass er es nur widerwillig getan hatte. Warum?, fragte er sich kurz, verdrängte den Gedanken aber gleich wieder. Es war ihm egal, solange er nur endlich gelehrt bekam, wie er mit dem Schwert umgehen musste.
 

Alexander kam kurz nach ihm an, das Schwert in seiner Hand und baute sich in voller Größe vor ihm auf. Draco konnte nicht umhin zu denken, dass dies der Alexander war, den er damals bei Annie kennengelernt hatte.

„Ich zeige dir zuerst wie du dich verteidigen kannst.“, begann er. Draco wollte sofort wiedersprechen. Er wollte nicht wissen, wie er sich verteidigen konnte, sondern wie er mit dem Schwert angriff und kämpfte. So wie es seinem Wesen entsprach. Doch Alexander ließ ihn gar nicht dazu kommen und spracht weiter: „Angriff ist wichtig und unerlässlich in einem richtigen Kampf. Aber noch wichtiger ist es sich vor der Klinge des Feindes schützen zu können. Wenn er dich auch nur einmal trifft, kann sofort alles vorbei sein. Verstanden?“, belehrte er ihn.

Draco nickte widerwillig. Das konnte er nicht abstreiten, aber Alexanders Ton gefiel ihm nicht. Es war der gleiche, den er beim Schreiben lernen gebraucht hatte. Für das erste hatte Alexander vielleicht recht und es war noch Zeit. Aber, wenn er Barrington gegenüber treten wollte, würde er mehr können müssen, als sich nur zu verteidigen.

„Ich werde heute erst einmal deine Instinkte testen. Ich werde dich angreifen und du parierst, so gut du kannst. Du bist Linkshänder, als nimm es in die linke Hand.“

Draco nickte kurz und wechselte die Hand. Im nächsten Moment, sah er Alexander sein Schwert durch die Luft schwingen und auf ihn niedersausen. Ohne zu wissen, was er tat, riss Draco den Arm nach oben und hielt sein eigenes Schwert von unten kommend dagegen. Die Klingen trafen sich mit einem ungewöhnlichem Klirren und Draco spürte eine heftige Vibration durch seinen Körper fahren. Gleichzeitig öffnete sich seine Hand, wie von selbst. Das Schwert fiel heraus und landete ihm Gras.

Ungläubig starrte Draco es an. Was war gerade geschehen? Er hatte das Schwert nicht halten können. Es war ihm unnatürlich schwer vorgekommen, ungewohnt, ja beinah falsch.

Aber das war es doch auch oder? Er war es nicht gewöhnt. Sicher, das Gewicht kannte er und konnte es einschätzen, aber bisher hatte er noch nie probiert es richtig zu führen. Daran lag es sicherlich.

„Das ist normal.“, sprach Alexander die gleichen Gedanken aus. „So geht es jedem beim ersten Mal. Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt und wirst darauf vorbereitet sein.“

Wieder nickte Draco und Alexander reichte ihm sein Schwert. „Noch mal.“

Dieses Mal kam Alexanders Schwert von unten rechts. Draco nahm es schneller wahr und versuchte entsprechend von unten links zu parieren. Wieder trafen sich die Klingen und wieder spürte er die Vibration in seinem Arm. Auch, wenn er dieses Mal darauf vorbereitet war, so rutschte das Schwert fast aus seiner Hand, doch er hielt es gerade noch. Alexander machte keine Pause, sondern griff erneut an, dieses Mal seitlich links.

Draco versuchte sich darauf einzustellen. Seine Reaktion war ruckartig, doch rechtzeitig. Er kannte das Vibrieren und dennoch fiel es ihm ungewöhnlich schwer. Er hatte geglaubt, das Kämpfen würde leichter sein, als das Schreiben. Sollte er sich so sehr geirrt haben? Nach nur wenigen Schlägen fühlte sich sein linker Arm so bleiern an, als hätte er den ganzen Morgen Steine und Bretter getragen. Er hatte Mühe das Schwert in der Hand zu halten. Seine Finger fühlten sich schwach an und immer wieder war das Schwert kurz davor aus seiner Hand zu gleiten. Lange würde er es nicht mehr halten können. Gerade schaffte er es noch den nächsten Schlag zu parieren, als ihm die Waffen endgültig aus der Hand fiel.

„Was ist los? Ich hätte gedacht, dass dir das leichter fallen würde, als Anfangs das Lesen und Schreiben. Deine Hand zittert ja!“, rief Alexander erstaunt aus, als er es sah. Draco umfasste das linke Handgelenk mit der rechten Hand und versuchte sie zu beruhigen. Was war nur los mit ihm? Es war ihm fast, als würde er den Schwertkampf niemals erlernen. Genauso, wie er es beim Lesen und Schreiben gedacht hatte. Aber er benutzte doch nun die richtige Hand, das war sein Fehler beim Schreiben gewesen. Es sollte ihm leichter fallen!

Abermals wuchs die Frustration in ihm. Er war ein Jäger! Er war dazu geschaffen zu kämpfen.

Doch was wenn... das Schreiben war ihm erst gelungen, als er die linke statt der rechten Hand genommen hatte. Was, wenn es nun ebenso andersherum war?

Bei dem Gedanken erhob er sich plötzlich und starrte auf seine rechte Hand. Natürlich... Alle Arbeiten, die er bisher für Alexander erledigt hatte, hatte er mit rechts getan. Das war der Arm, den er für so etwas nutzte, nicht links. Deswegen hatte es sich von Beginn an falsch angefühlt.

„Was ist nun? Bist du schon müde und hast genug?“, fragte Alexander ihn herausfordernd und grinste ihn an.

Draco schüttelte kurz den Kopf. Er hob das Schwert, das mit Mondsteinen besetzt war, mit Rechts auf. Gleich fühlte es sich anders an. Es lag besser in dieser Hand, als würde es dorthin gehören.

„Mit rechts? Was soll das denn?“, fragte Alexander misstrauisch.

„Ich will es probieren.“, antwortete ihm Draco.

„Wie du meinst.“

Ohne Draco zu fragen oder darauf zu warten bis er ihm ein Zeichen gab, ließ Alexander sein Schwert auf ihn niedersausen. Dieses Mal von oben rechts und Draco parierte indem er sein eigenes Schwert nach oben riss und dagegen hielt. Wieder spürte er den heftigen Nachklang in seinem Körper, doch dieses Mal fiel es ihm nicht so schwer den Arm oben zu halten. Zwar spürte er, dass sein Körper noch nicht daran gewöhnt war, aber er war plötzlich sehr viel zuversichtlicher als noch vor wenigen Augenblicken. Wenn er weiter übte, würde es sicher schnell gelingen.

Wieder griff Alexander an und dieses Mal gelang es Draco sogar das Schwer nach seinen Willen zu führen. Er riss es nicht mehr einfach nach oben, sondern versuchte bewusst Alexanders Angriff zu kontern und zu schwächen. Offenbar war dies auch Alexander aufgefallen, denn verwundert sah er Draco an und ließ sein Schwert sinken.

„Geht es mit rechts wirklich besser?“

„Ja.“, antwortete Draco ehrlich.

„In wie fern?“

Draco überlegte, wie er es beschreiben könnte. Entgegen seiner Natur wollte Draco ihm sogar antworteten, denn er erhoffte sich dadurch, es selbst besser verstehen zu können.

„Es fühlt sich... leichter an, richtiger.“, sagte er schließlich.

„Das ist wirklich mehr als merkwürdig. Schreiben kannst du nicht mit rechts, aber das Schwert führen? So etwas habe ich noch nie gehört.“

Draco zuckte kurz mit den Schultern. Er wusste nicht, was bei den Menschen üblich war und es interessierte ihn auch nicht. Letztendendlich war für ihn nur wichtig, dass es gelang. Vielleicht war doch noch etwas von seinem alten Wesen in ihm und unterschied ihn so von den gewöhnlichen Menschen, dachte er.

Alexander seufzte hörbar. „Ich sollte mich eigentlich schon damit abgefunden haben, aber trotzdem: Ich versteh dich einfach nicht. Aber ich nehme an, das ist dir auch egal.“ Mit diesen Worten griff er erneut an. Doch statt das eigene Schwert zu erheben, duckte sich Draco unter der Klinge weg und sah den nächsten Angriff schneller. Alexander schien sich dadurch nicht beeindrucken zu lassen und setzte den nächsten Schlag auf Brusthöhe an. Draco drehte sein Handgelenkt, so dass das Schwert mit der Spitze senkrecht nach unten zeigte und wehrte so den Angriff ab.

Nun zeigte sich ein breites Grinsen auf Alexanders Gesicht und auch bei Draco hob sich ein Mundwinkel. Jetzt hatte er das Gefühl endlich in seinem Element zu sein.
 

Sie saß im Garten und betrachtet die wunderschönen Apfel- und Kirschblüten, die die Bäume mit weiß und rosa schmückten. Als sie den Garten im Herbst gesehen hatte, hätte sie es nie für möglich gehalten, dass sich auf diesem trostlosen Gelände etwas so schönes verbergen könnte. Annie konnte sich an dem Anblick gar nicht sattsehen. Wieder sah sie nach unten auf das Stück Erde, welches sie gerade vom wenigen Unkraut befreite, das schon wieder nachgewachsen war. Nach der Schneeschmelze hatte sie den Garten sofort säubern lassen. Die Pflanzen, die unter Gestrüpp und Unkraut verborgen gewesen waren, waren befreit worden und hatten Luft zum Atmen bekommen. Selbst Frühblüher hatten sich darunter gefunden: Schneeglöckchen und Krokusse, die sie sehr glücklich gemacht hatten, aber auch schmerzlich an das vergangen Jahr erinnerten. Doch das sanfte Flattern in ihrem Bauch ließ sie den Schmerz vergessen.

Doch seine wahre Pracht zeigte der Garten erst jetzt, da die Frühblüher wieder in der Erde verschwunden waren. Natürlich hatten nicht alle Pflanzen die Verwahrlosung überlebt, aber sie erkannte wilde Rosen, Margeriten, Goldrute und Nelken. Sie trugen die ersten zarten Knospen und Annie hatte Hoffnung, dass sie stark genug waren, um auch zu blühen.

Abermals sah Annie auf und blickte auf das kleine Beet von Erdbeeren, eingerahmt von Himbeersträuchern, dass sie hatte anpflanzen lassen. Die Pflanzen waren extra geliefert worden. Der erste Luxus, den sie sich mit ihrem neuem Status wirklich geleistet hatte. Vielleicht würde sie in diesem Sommer schon wenige Früchte ernten können, dachte sie hoffnungsvoll.

Der Garten und ihr Geheimnis ließen sie lebendiger fühlen. Anders konnte sie es gar nicht benennen. Es hatte sie verändert und auch Barrington oder Semerloy war das nicht entgangen. Keinen der beiden sah sie besonders oft, aber die Kammerfrauen meldete nun mal jede Veränderung an ihr und sie konnte nicht leugnen, dass sie glücklich war.

Bisher hatte sie sich noch nicht rechtfertigen müssen. Wenn es so weit war, würde sie die Wahrheit sagen. Na ja... vielleicht nicht ganz, nur einen kleinen Teil davon, dachte sie lächelnd.

„Du siehst wunderschön aus.“, hörte sie seine Stimme sagen und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie drehte sich um und blickte in das liebevolle Gesicht ihres Bruders.

„Vielen Dank. Das Kompliment gebe ich gern zurück.“, sagte sie zur Begrüßung.

„Na, ich weiß nicht.“, antwortete Alexander bevor er zu ihr kam. Er reichte ihr eine Hand, die sie annahm. Spielend leicht zog er sie auf ihre Füße und schloss sie in ihre Arme.

„Ich habe dich schon lange nicht mehr so gesehen. Du wirkst so befreit.“, sprach er.

Annie lächelte und wusste, dass er es hören konnte. „Ich muss dir etwas erzählen.“, wisperte sie in sein Ohr. Lange hatte sie darüber nachgedacht, doch sie wusste, dass sie es nicht für sich behalten konnte. Sie musste sich jemanden anvertrauen! Alexander löste die Umarmung und sah sie fragend an. „Später“, formte sie mit ihrem Lippen. Er seufzte schwer und wieder musste sie kichern. Sie setzte sich beide in das junge Gras.

„Wie du wünscht.“, sagte er, dann sah er sich um.

„Ich hätte nicht gedacht, dass man hier noch so viel machen kann. Der Garten war doch vollkommen verwildert.“

„Ja, nicht wahr? Aber es hat gar nicht so lange gedauert und ich finde ihn so noch schöner. Es muss nicht immer alles in ordentlichen Reihen angebaut werden, mit Wegen die exakt dorthin führen und kleinen Schildern, die alles haargenau beschreiben.“, neckte sie ihn, spielte sie doch auf seinen eigenen wohlgepflegten Garten an.

„Ich denke, dass kommt darauf an, wie es einem wohl am besten gefällt.“, antwortete er neutral.

„Da hast du wohl recht.“

Annie sah wie Alexanders Blick auf den kleinen Spaten fiel, den sie zuvor noch in der Hand gehabt hatte. „Barrington erlaubt dir selbst im Garten zu arbeiten?“, fragte er sie verwundert.

„Mehr oder weniger.“, antwortete sie ehrlich. Kaum hatte sie seinen Namen gehört, legte sich ihre gute Stimmung auch schon wieder. „Er war dagegen, allerdings hat Doktor Storm ihn davon überzeugen können, dass ein wenig Bewegung keinesfalls schadet. Und ich darf auch nur so lange hier sein und etwas tun, wie ich mich nicht überanstrenge. Jeden Abend schickt Barrington jemanden zu mir, der sich nach dem Wohl des Kindes erkundigt.“

„Diesen Semerloy?“, unterbrauch Alexander sie sofort. Annie sah ihn einem Moment schweigend an. Offenbar hatte sie seine Bedenken nicht zerstreuen können.

„Nein, ich hab ihn schon lange nicht mehr gesehen. Meistens Kammerfrauen oder einen der Wachleute.“

„Offenbar tut dir die Arbeit doch gut.“, merkte Alexander an.

„Ja, ich genieße jede Stunde, die ich hier verbringen kann. Besonders jetzt da es von Tag zu Tag wärmer wird.“

„Hast du keine Angst, dass es dem Kind nicht doch schaden könnte?“

„Nein.“ Wieder legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Ich weiß, dass ihm nichts geschehen wird.“, sagte sie geheimnisvoll.

Wieder seufzt Alexander und dieses Mal sah Annie Sorgenfalten auf seiner Stirn.

„Was ist los?“

„Ich wünschte wir könnten auch so zuversichtlich sein.“

„Geht es Susan denn noch nicht besser?“ Alexander hatte ihr von dem schwankenden Zustand seiner Frau erzählt und ihre Sorge war mit jedem Mal gewachsen.

„Nein. Die Tage an denen sie das Bett nicht verlassen kann treten häufiger auf. Es ist nicht leicht für sie, für uns. Ich denke nicht, dass wir... weitere Kinder haben werden, solltest dieses...“ Er sprach den Gedanken nicht zu Ende, aber Annie verstand ihn auch so.

„Oh, Alexander. Das tut mir leid.“, sagte sie ehrlich und berührte ihren Bruder sanft am Arm. Eine unterstützende und mitfühlende Geste, wie sie hoffte.

„Ich weiß, aber wenn dieses gesund geboren wird, dann ist es auch nicht so wichtig, was hätte noch sein können. Ich will nur, dass es Susan und dem Kind gut geht.“

„Natürlich und das wird es auch. Darauf hast du mein Wort.“, sagte sie zuversichtlich. Ein wenig lächelte er nun doch und für einen kurzen Moment konnte sie das alte Glitzern in seinen Augen sehen.

Alexander sah sich noch einmal in ihrem Reich um. „Es ist wirklich schön hier.“

„Ja, das ist es.“, konnte sie ihm nur zustimmen.

„Ich muss gestehen, ich bin richtig froh, dass er jetzt bei uns ist.“, begann Alexander plötzlich von Draco zu sprechen, wie es sonst nie seine Art war. Er hatte seinen Namen nicht gesagt, aber sie wusste, dass es um ihn ging. „Gerade jetzt ist er uns eine große Hilfe und nimmt mir viel von meinen Arbeiten ab. So kann ich mich um Susan kümmern und ihr wiederum den Haushalt erleichtern. Ich wüsste nicht, was ich sonst gemacht hätte.“

„Das freut mich zu hören.“

„Aber ich war ihm dafür etwas schuldig.“, setzte Alexander weiter fort. Fragend hob Annie eine Augenbraue. Was könnte es gewesen sein, was Alexander Draco dafür gegeben hatte, was auch Draco gewollt oder angenommen hätte. Es gab eigentlich nur eines von dem Alexander ihr erzählt hatte. Oh, schoss es ihr durch den Kopf. Er hatte doch nicht wirklich... Doch da sprach es Alexander bereits aus.

„Ich habe begonnen ihn im Schwertkampf zu unterrichten.“

„Alexander!“, stieß sie entsetzt aus.

„Lass mich ausreden. Ich bringe ihm im Moment nur die Verteidigung bei. Ich denke, dass kann nicht schaden und... Annie, ich sehe wirklich keinen Grund, warum er es nicht lernen sollte. Ich respektiere deinen Wunsch und berücksichtige ihn, ich verspreche sogar, dass ich ihm nicht zeigen werden, wie er selbst angreifen kann, aber... er braucht das.“, endete er schließlich.

Jetzt war sie verwirrt. „Was meinst du, er braucht das?“

„Er war nicht... ausgelastet. Im Winter mochte es noch erträglich für ihn gewesen sein, da gab es ohnehin nicht viele Möglichkeiten zur Beschäftigung und er hatte mit dem Lesen und Schreiben genug zu tun. Aber jetzt im Frühjahr ist es anders. Er erledigt seine Aufgaben schnell und gründlich, so dass er viel freie Zeit zur Verfügung hat. Er reitet zwar mit Hera aus, aber dennoch ist er so... unruhig, als würde es ihm nicht genug Kraft abverlangen. Er ist vollkommen genesen, er braucht eine Beschäftigung die ihn fordert.

„Wenn du ihn sehen könntest... Er ist dafür geboren zu kämpfen. Seine Bewegungen sind geschmeidig, geradlinig und er ist verdammt schnell. Es wäre ehrlich gesagt eine Verschwendung von Talent, wenn er es nicht täte.“

Annie biss sich auf die Lippen. „Aber du verstehst nicht...“, wollte sie beginnen, ließ es dann aber sein. Sie verstand ja selbst nicht. Nein, sie wollte nicht, dass er es lernte. Auf keine Fall, aber das was Alexander gesagt hatte, erschien ihr nur zu verständlich.

Sie hatte nur an ihre eigenen Wünsche und Ängste gedacht. Sie war es gewesen, die es auf keinen Fall gewollt hatte, das Draco das Kämpfen erlernte. Draco hingegen... sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sehr es ihn langweilen musste, tagein tagaus, immer das Gleiche zu erleben. Sicher, als sie noch mit ihm zusammengelebt hatte, war es auch nicht viel anders gewesen. Aber er war noch angeschlagen und ihm dieses Leben unbekannt gewesen. Es war kein Vergleich zu jetzt. Er brauchte etwas, was seinem Charakter und Naturell entsprach, gestand sie sich ein. Annie erinnerte sich an ihre Träume. Viele handelten von kämpfenden Drachen, die ihr Revier verteidigten, von Flügen hoch in den Himmel hinein, lange und ausdauernd. Er brauchte die Bewegung, wie die Luft zum atmen.

„Gut.“, rang sie sich schließlich zu einer Antwort durch. „Aber, bitte... pass auf, dass er nichts dummes tut.“

Alexander nickte kurz und drückte ihre Hand.

„Wir sollten reingehen, ich möchte es dir erzählen, bevor Barrington mit seinen Männern zurück ist.“

„Warum erzählst du es mir nicht hier?“

„Ich habe Angst, der Wind könnte meine Worte zu weit tragen.“

Ohne zu antworten stand ihr Bruder auf und half ihr wieder auf die Beine.
 

Als sie den Raum betraten, vor dem wie immer zwei Wachen platziert waren, ging Annie direkt zu der Kommode und nahm eine Kerze, zwei Feuersteine sowie Feder, ein Tintenfass und Pergament hervor. Die Kerze und die Feuersteine gab sie Alexander. „Mach sie an.“, flüsterte sie leise.

„Aber wir brauchen keine Kerze.“, widersprach er, stellte sie aber auf den Tisch.

„Doch.“, sagte sie bloß. Dann legte sie das Pergament und die Feder auf den Tisch und das Tintenfass daneben. Alexander hatte die Kerze schnell angezündet und ohne auf Annies Aufforderung zu warten, setzte er sich an den Tisch.

„Du machst es ja sehr spannend.“, sagte er lächelnd. Sie erwiderte es, wenn auch nur kurz. Viel zu nervös war sie, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können. Sie wollte es Alexander sagen. Schon seit sie es herausgefunden hatte, brannte sie regelrecht darauf es ihm zu erzählen. Doch bisher hatte sie es vermieden über seine Reaktion nachzudenken. Nun ging das nicht mehr.

Wie würde Alexander reagieren? Seine Einstellung gegenüber Draco hatte sich geändert. Er hatte es vor wenigen Augenblicken erst zu ihr gesagt. Würde er nicht genauso glücklich sein, wie sie, dass es nicht Barringtons Kind war? Bei dem Gedanken spürte sie einen kurzen Stich im Herzen. Es erinnerte sie daran, dass sie Barringtongs Kind nicht so behandelt hätte, wie das in ihrem Leib.

Sie setzte sich ebenfalls hin und schloss für einen Moment die Augen. Einmal atmete sie noch tief durch, dann nahm sie die Feder, ließ sie kurz ins Tintenfass gleiten und strich sie dann am Rand ab. Ihre Hand schwebte kurz über dem Pergament, dann setzte sie auf und begann zu schreiben.
 

Es geht um das Kind., schrieb sie in einer feinen Handschrift.
 

Wieder hob Alexander eine Augenbraue. „Ich dachte es wäre alles in Ordnung?“, fragte er laut.

„Scht.“, sagte sie mahnen und legte einen Finger auf die Lippen. Dann zeigte sie zur Tür, um ihn an die Wachen zu erinnern. Alexander machte eine Handbewegung Richtung Papier und sie deutet es so, dass sie fortfahren sollte.

Wieder zögerte sie, sogar ihre Hand begann zu zittern. Neben sich hörte sie Alexander ausatmen. Dann nahm er ihr die Feder aus der Hand und zog das Pergament zu sich.
 

Was soll das Ganze?, schrieb er schnell und fahrig, mit großen Buchstaben.
 

Ich habe Angst, dass du wütend wirst., antwortete sie ehrlich.
 

Nein, werde ich nicht. Jetzt sag es mir endlich! Wir sind doch keine zehn mehr! Er klang ungeduldig, was Annies Nervosität nicht gerade milderte. Dann faste sie sich endlich ein Herz. Eigentlich wollte sie es nur noch hinter sich bringen. Sie wusste, dass es ihr gleich danach besser gehen würde. Das hoffte sie zumindest sehr.
 

Das Kind ist nicht von Barrington., schrieb sie mit zittrigen Fingern. Ruckartig sah Alexander sie an, seine Augen groß und ungläubig. Annie wusste, dass sie den nächsten Satz gar nicht schreiben bräuchte. Sie konnte sehen, wie es bereits in ihm arbeitet.
 

Es ist von Draco.
 

„Nein!“, rief Alexander laut und sprang auf. „Das kann nicht wahr sein!“ Annie stand ebenfalls hastig auf und ging zu Alexander. „Beruhige dich!“, flüsterte sie heißer. Genau das hatte sie befürchtet, dachte sie verzweifelt. „Ich soll mich beruhigen?! Wie stellst du dir das vor?!“

„Du hast gesagt, du wirst nicht wütend!“, erinnerte sie ihn an sein Versprechen, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war.

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich das so einfach hinnehme.“, erwiderte er. Wenigstens hatte er seine Stimme gesenkt, registrierte sie.

Annie öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Dann deutete sie energisch auf den Stuhl, auf den Alexander vor wenigen Augenblicken noch gesessen hatte. Wortlos ging sie zu ihrem und nahm die Feder wieder in die Hand.
 

Lass mich wenigstens erklären!, schrieb sie schnell.
 

Alexander stand noch im Raum, wohl unschlüssig was er tun sollte.Dann gab er sich einen Ruck und setzte sich wieder neben seine Schwester. Den Widerwillen konnte sie nur zu deutlich auf seinem Gesicht erkennen, dennoch betrachtete sie es als Zustimmung, dass er sie erst einmal anhören würde.
 

Dieses Kind ist nicht von Barrington., begann sie noch einmal. Aber allein der Gedanke, dass es Dracos ist, macht mich so glücklich, dass ich es nicht einmal in Worte zu fassen vermag.
 

Alexander sah sie prüfend an, schüttelte dann den Kopf und nahm ihr die Feder aus der Hand.
 

Bist du dir sicher?
 

Ja! Du weißt nicht, was mir das bedeutet. Aber du weißt, wie sehr ich Draco liebe. Kannst du nicht wenigstens ein bisschen verstehen, was in mir vorgeht?, fragte sie ihn zweifelnd. Gleichzeitig fragte sie sich selbst, was sie in Wirklichkeit erwartet hatte. Sie hätte wissen sollen, dass ihr Bruder niemals so empfinden würde. Alexanders Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst und er atmete mehrmals tief ein und aus, bevor er überhaupt wieder die Feder in die Hand nahm.
 

Hast du eine Ahnung, was Barrington tun wird, wenn er herausfindet, dass es nicht sein Kind ist?!
 

Annie schluckte. Diese Frage hatte sie sich selbst schon oft genug gestellt.
 

Ich weiß. Er wird es nicht erfahren.
 

Das kannst du nicht wissen! Wir werden alle sterben!
 

Annie blickte ihn flehentlich an. Sie wusste es doch! Begriff er das denn nicht? Offenbar hatte er dann doch einsehen und nahm das Papier wieder zur Hand.
 

Du weißt, dass Barrington das Kind will., fuhr er erbarmungslos fort.
 

Annie blinzelte eine Träne hinweg. Auch das wusste sie nur zu gut.

Alexander nahm sie in den Arm und strich ihr über das Haar. Doch Annie löste sich schnell wieder und nahm abermals die Feder in die Hand.
 

Ich werde es beschützen, so wie ich es zuvor gesagt habe.
 

Alexander schüttel den Kopf und strich sich über die Stirn, die in tiefen Falten lag.
 

Ich glaube nicht, dass du schaffen wirst.
 

Doch, das werde ich! Ich musste es dir sagen! Ich weiß, dass viele schreckliche Dinge geschehen können, aber dass es Dracos Kind ist, ist einfach- Ich habe nicht daran geglaubt. Ich habe es nicht einmal für möglich gehalten! Ich trage jetzt ein Stück von ihm in mir. Ich kann nicht glücklicher sein.

Und trauriger zugleich.
 

Ich versuche es zu verstehen! Du liebst ihn, auch wenn ich nicht verstehen kann warum. Trotzdem, woher weißt du, dass es von ihm ist? Was macht dich sicher?
 

Ich kann es dir nicht erklären. Sie hörte wie Alexander schnaubte. Es gab so vieles, was sie ihm verheimlichte und ausgerechnet das hatte sie ihm erzählt. Vielleicht hätte sie lieber schweigen sollen.
 

Und nun?, schrieb er weiter.
 

Annie überlegte. Was würde nun sein? Sie fühlte sich erleichtert, froh es endlich jemanden gesagt zu haben. Dennoch... eine Antwort hatte es ihr nicht gebracht.
 

Nichts., schrieb sie deswegen. Ich werde dafür sorgen, dass er mir das Kind nicht wegnimmt, dass er es nicht einmal merkt. Sie musste zuversichtlich sein, sonst würde sie wohl untergehen.

Annie blickte auf das Pergament, wartete darauf, dass Alexander ihr antworten würde. Doch als er es nicht tat, sah sie auf und blickte in sein Gesicht. Wieder schüttelt er den Kopf, als könnte es immer noch nicht glauben.

Schließlich nahm er doch die Feder wieder in die Hand.
 

Ich muss darüber nachdenken. Aber ich denke nicht, dass es, er brach ab, ohne den Satz zu beenden.
 

Sage es niemanden!, schrieb sie als nächstes. Nicht einmal Susan und schon gar nicht
 

Sie schaffte es nicht einmal, den Satz zu Ende zu schreiben.

„Nein, mache ich nicht. Das darf man gar keinem sagen.“, sagte Alexander und Annie konnte in seiner Stimme Müdigkeit, Ungläubigkeit und Schock zu hören.

Annie nickte kurz. Dann nahm sie das Pergament und zerriss es in acht beinah gleich große Teile. Es gab im Moment nichts mehr dazu zu sagen. Trotzdem fühlte sie sich freier. Als nächstes nahm sie das erste der acht Teile und hielt es gegen die Flamme. Dafür brauchte sie die Kerze.

„Ich sollte gehen.“, sagte Alexander unvermittelt. Erschrocken sah sie auf. Sie hatte nicht erwartet, dass er jetzt schon gehen würde, auch wenn ihre Nachricht für ihn vielleicht schockierend war. Damit hatte sie nicht gerechnet. Schon stand er auf und ging geradewegs zur Tür. „Ich komme in ein paar Tagen wieder.“, sagte er und hatte das Zimmer schon verlassen. Nicht einmal umarmt hatte er sie zum Abschied. Annie blickte in die Flamme, nahm einen weiteren Pergamentfetzen in die Hand und begann ihn zu verbrennen.

Jetzt, wo sie allein war, überkamen sie Schuldgefühle, gejagt von Zweifel und Reue. Vielleicht hätte sie sich nicht einmal Alexander anvertrauen sollen. Er würde sie nicht verraten, gewiss nicht. Aber hatte sie ihn damit nicht noch tiefer mit hineingezogen? Es war so dumm von ihr gewesen! Dabei wollte sie Alexander doch von all dem fern halten! Nur deswegen, hatte sie ihm nichts über Draco erzählt. Was hatte sie nur getan?
 

Draco stand im Stall und striegelte Hera. Eigentlich hatte er seine Aufgaben bereits erledigt und wartete nur noch darauf, dass Alexander zurückkommen würde. Er hatte gesagt, dass er nur in die Stadt reiten wollte. Doch Draco wusste, wo er wohl eigentlich hin wollte. Er konnte jedes Mal diesen lieblichen Geruch von ihr an Alexander wahrnehmen.

Er würde sich noch um Wüstensand kümmern und vielleicht würde Alexander ihm dann noch ein paar neue Abwehrtechniken zeigen, überlegte er i n Gedanken.

Er hörte draußen Pferdehufen und er kannte das Geräusch gut genug, um zu wissen, dass es Alexander war. Er hörte wie er absetzte und erwartete, dass er Wüstensand gleich zu ihm bringen würde. Dann würde er sich nach Susan erkundigen und außergewöhnlichen Vorfällen.

Doch dazu kam es gar nicht.

Statt Wüstensand hereinzuführen, betrat nur Alexander den Stall und kam schnell auf Draco zu. Sein Gesicht war so wutverzehrt, wie es Draco in den letzten Monaten nicht mehr gesehen hatte und er fragte sich, was passiert war. Unwillkürlich rasten seine Gedanken sofort zu Annie. Irgendwas Schreckliches musste geschehen sein. Sein ganzer Körper spannte sich an und tief in seinem Inneren spürte er bereits den Hass auf Barrington, den er in den vergangen Monaten zu kontrollieren gelernt hatte, aufbrodeln.

Mit wenigen Schritten war Alexander bei ihm. Draco realisierte die Angespanntheit in seinem Körper ebenso. Seine Schultern waren steif, seine Hände zu Fäusten geballt und seine Augen sprühten vor Zorn, wie es Draco nur ein einziges Mal bei Annie gesehen hatte. Diese Ähnlichkeit ließ ihn regelrecht versteinern.

Doch diesen Gedanken hatte er nur kurz. Dann nahm er nur noch die Bewegung von Alexanders Arm wahr, wie seine Faust nach oben schnellte, direkt auf ihn zu.

Er traf ihn hart im Gesicht.

Dracos Beine gaben nach und er landete auf dem weichen Stroh in Heras Stall. Perplex starrte er Alexander an. Erst dann bemerkte er langsam den Schmerz, der sich nun in seinem Gesicht auszubreiten begann. Es pochte unter seiner Haut, an der Stelle an der der Wangenknochen saß. Verblüffte berührte Draco seine Wange, zuckte aber so gleich wieder zurück. Die Berührung hatte noch mehr geschmerzt und seine Haut glühte.

Lange blieb ihm nicht sich darüber zu wundern, denn Alexander griff ihn mit beiden Händen am Hemdkragen und zerrte ihn nach oben. Draco suchte mit den Füßen halt, doch auf dem Stroh rutschten sie immer wieder weg.

„Du miese kleine Ratte!“, schrie Alexander ihn an. „Ich habe dich gefragt! Ich habe dich direkt danach gefragt und du besitzt die Unverschämtheit mir ins Gesicht zu lügen!!! Nach allem was ich für dich getan habe, lügst du mich einfach an!“ Abermals holte Alexander aus und zielte mit der Faust auf Dracos Gesicht. Draco konnte nicht anders reagieren, als instinktiv den Kopf zur Seite zu drehen, so dass Alexanders Faust sein Gesicht nicht mit voller Härte traf, sondern abrutschte und sein Ohr streifte. Dennoch schoss ein neuerlicher Schmerz durch seinen Kopf und er stöhnte kurz auf.

„Wie kannst du es wagen, die ganze Zeit so zu tun, als sei alles in Ordnung?! Als hättest du keinen Anteil daran! Hast du überhaupt eine Ahnung, was du angerichtet hast?! Du hättest es besser wissen sollen!!!“, fuhr Alexander ihn weiter an. Er hatte Draco noch immer fest gepackt und wieder holte er zu einem erneuten Schlag aus. Doch dieses Mal sah Draco es kommen und fing Alexanders Faust mit der linken Hand ab. Sie schnellte zwar nach hinten und er spürte wie sich die Muskeln in seiner Hand unnatürlich dehnten und schmerzten, aber es verhinderte, dass Alexander ihn noch einmal traf. Dieser schien darüber so überrascht zu sein, dass er Draco erst einem Moment musterte. Diesen Augenblick nutzte Draco um seine Füße gegen Alexanders Brustkorb zu stemmen und Annies Bruder somit wegzustoßen. Alexander taumelte ein paar Schritte nach hinten, während Draco gerade so viel Zeit blieb, um endlich aufzustehen. Gleich darauf stürmte Alexander wieder auf ihn zu.

„Was soll das?!“, fragte Draco endlich und versuchte ihm auszuweichen. Er klang nicht weniger wütend.

„Tu nicht so, als ob du das nicht wüsstest!“, schrie Alexander ihn weiter an und begann abermals nach ihm zuschnappen. Draco bückte sich und Alexander griff ins Leere.

„Ich weiß es nicht!“

„So etwas Ähnliches hast du damals auch gesagt!“

Draco ging seine gesamten Erinnerungen durch, die er in der Gegenwart von Alexander gesammelt hatte. Und natürlich hatte er so etwas Ähnliches gesagt, mehrmals. Wovon genau sprach er also?! Draco sprang nach rechts, um einen weiteren Schlag von Alexander auszuweichen, als plötzlich eine andere Stimme zu hören war.

„Alexander!“, rief Susan. „Was machst du da!?“

Augenblicklich erstarrte Alexander und drehte sich halb um. Auch Draco blickte zu ihr. Sein Atem ging schnell und sein Herz raste in seiner Brust. Was geschah hier?

Susan stand am Tor, ein entsetzter Ausdruck auf ihrem Gesicht.

„Das verstehst du nicht.“, knurrte Alexander und wandte sich wieder Draco zu.

Susan kam entschlossen auf sie zu und auch sie schien nun wütend zu sein. „Ich brauche es nicht zu verstehen, weil du das sofort beendest!“, sagte sie bestimmt.

„Das geht dich überhaupt nichts an!“, fuhr er sie an. Es war das erste Mal das Draco hörte, wie Alexander so mit ihr sprach.

„Doch das tut es. Ich habe keinen Schläger geheiratet.“, sagte sie ohne zu zögern. Im nächsten Moment huschte ein schmerzhafter Ausdruck über ihr Gesicht und sie legte die Hand auf ihren Bauch. Sofort ließ Alexander von Draco ab und war bei seiner Frau.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und die Stimme, die vor wenigen Augenblicken noch so wütend geklungen hat, war nun voller Sorge.

„Du weißt, dass ich mich nicht so aufregen soll.“, sagte sie leise. „Also lasst es beide und kommt zum Essen.“ Mit diesem Worten drehte sie sich wieder um und verließ langsam den Stall. Offenbar war sie davon überzeugt, dass Alexander auf sie hören würde.

Draco beobachtet, wie Alexander die Augen schloss und Daumen und Zeigefinge gegen seinen Nasenrücken presste. Er kannte diese Geste, Alexander versuchte sich krampfhaft zu beherrschen.

Er sollte gehen, dachte Draco. Jetzt sofort oder er wollte Alexander den gleichen Schmerz empfinden lassen, den er im Moment in seinem Gesicht verspürte. Noch immer spürte er das Klopfen und Brennen unter seiner Wange, ebenso wie es an seinem Ohr und seinem Kopf schmerzte.

Aber vor allem wollte er Antworten. Er wollte wissen, warum Alexander ihn so behandelt hatte.

„Warum hast du das getan?!“, fragte Draco scharf.

Alexander presste die Lippen zusammen und Draco sah, dass es ihn eine enorme Anstrengung kostete ihm zu antworten.

„Ich habe dich damals gefragt, ob du meine Schwester entehrt hast.“, presste Alexander hervor.

„Ja.“, antwortete Draco ehrlich. Und er wusste auch genau, was er damals gedacht hat. Er hatte nämlich nicht verstanden, wovon Alexander eigentlich gesprochen hatte.

„Du sagtest, du wüsstest nicht, was ich meinte. Du hast es verneint. Du hast gelogen.“, sagte er aufbrausend und seine Hände ballten sich wieder zu Fäusten.

Jetzt legte Draco den Kopf ein wenige schief und musterte Alexander. Hatte er denn immer noch nicht begriffen, dass er immer sagte, was er meinte? Er kannte es gar nicht anders.

„Nein, habe ich nicht.“, antwortete Draco. Er wusste ja immer noch nicht, was es bedeutete!

„Du streitest es immer noch ab? Sie hat es mir gesagt!“, fuhr Alexander ihn an und wurde wieder lauter.

„Was hat sie dir gesagt?!“, fauchte Draco. Das Ganze wurde ihm langsam zu viel.

Alexander atmete tief durch und Draco glaubte, dass er ihm endlich sagen würde, was das ganze sollte, doch stattdessen sagte er: „Du willst mir also weis machen, dass du wirklich nicht weißt, was entehrt bedeutet?“

„Ich weiß nicht was es bedeutet. Das habe ich dir mehrmals gesagt!“ Alexander blickte ihn direkt an und Draco scheute sich nicht, seinem Blick ebenso direkt zu begegnen.

Dann schloss Alexander abermals die Augen. Draco wartete auf seine Reaktion, machte sie schon darauf gefasst, dass Alexander ihn wieder angreifen würde. Doch stattdessen schlug er die Hände vor das Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Das kann nicht wahr sein.“, murmelte Alexander und sah ihn wieder an. „Du weißt es wirklich nicht.“, stellte er dann fest.

„Das sagte ich doch!“, erwiderte Draco genervt.

„Wie kommt es, dass du so viele Dinge nicht weiß?“, sprach nun Alexander. „Nicht nur das Lesen oder Schreiben, sondern auch, wie Kinder entstehen oder wie man reitet oder selbst einige Wörter? Warum sind dir so viele Dinge unbekannt, die man doch ab Kindesalter lernt, selbst wenn man keine gute Bildung hat? Wie kommt es, dass du anfangs ohne sie nicht lebensfähig warst?

„Wer oder was bist du eigentlich?“, fragte Alexander leise.

Unwillkürlich zuckte Draco zusammen. Schon einmal hatte Alexander diese Frage gestellt. Nein, die Frage damals war so ähnlich gewesen.

Draco ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei. Er wollte von ihm Antworten!? Jetzt nachdem er ihn grundlos angegriffen hatte, glaubte er tatsächlich noch, dass er ihm auch nur irgendetwas sagen würde? Was ist mit seinen Antworten? Er wusste immer noch nicht, was dieses „entehrt“ eigentlich war! Und jetzt sollte er ihm antworten? Er hatte keinen Grund dazu.

Auf einmal zog sich einer von Dracos Mundwinkel langsam nach oben.

Seine Antwort würde Alexanders Selbstgefälligkeit zum Einsturz bringen.

Und dieser Gedanken ließ ihn lächeln.

Als Draco am Tor war, bliebe er stehen und drehte sich noch einmal halb um. Gerade so viel, dass er Alexander aus den Augenwinkeln sehen konnte. Dieser stand noch immer bei Heras Stall und starrte ihm hinterher.

„Der Drache, den Barrington suchte... Annie hat ihn gefunden... und bei sich aufgenommen.“, wisperte er kaum hörbar.

Dann verließ er den Stall und schloss die Tür hinter sich.

Unerwartete Begegnung

Er saß am Rande des Waldes und sah auf die weite Ebene, die ihm inzwischen so vertraut war, wie es zuvor Annies Hütte gewesen war. Die Nacht war klar und warm. Eine der ersten seit dem langen Winter und er genoss es sogar. Auch, wenn seine Gedanken woanders waren. Hinter den erleuchteten Fenstern des Hauses konnte er Susan und Alexanders Schatten hin und wieder sehen. Der Rest der Gebäude lag still da, obwohl er wusste, dass sich darin lebende Tiere verbargen. Draco sah zu dem zweiten, kleinerem Stall. Er war erst wenige Tage alt. Alexander und er hatten ihn innerhalb weniger Wochen aufgebaut. Für Dinge, die sie nicht selbst erledigen konnten, hatte Alexander Fachmänner kommen lassen. Keinen davon hatte Draco je gesehen. Immer hatte Alexander ihn in den Wald geschickt und er war nur zu bereitwillig gegangen. Der neue Pferdestall war nicht nur in seiner Breite und Länger kleiner, als der alte, sondern auch in seiner Höhe. Den Tieren schien das nichts auszumachen und er war sogar froh, nun weniger säubern zu müssen.

Und in diesem Gebäude hatte Alexander ihn irgendeiner Sache beschuldigt, die er noch immer nicht verstand.

Wie lange saß er schon hier?

Kurz hatte er daran gezweifelt, ob es wirklich richtig gewesen war, diese Worte an Alexander zu richten. Aber es war geschehen und er konnte es nicht rückgängig machen. Er hatte Alexander schließlich nur geantwortet. Und die Erinnerung an Alexanders Gesicht in jenem Moment, war all das wert, was nun vielleicht geschehen würde, sagte er sich.

Draco atmete kurz aus. Dennoch hatte er immer noch keine Antworten. Warum hatte Alexander so gehandelt? Annie hatte ihn ebenfalls schon einmal geschlagen, doch der Schmerz damals war nichts im Vergleich zu dem gewesen, wie er ihn jetzt empfand. Dieser würde nicht so schnell vergehen.

Alexanders Worte ergaben für ihn noch immer genauso wenig Sinn, wie das erste Mal als er ihn danach gefragt hatte. Er würde eine Erklärung von ihm verlangen, wenn er kam.

Aber er konnte nicht leugnen, dass es ihn nicht auch verwunderte, dass Alexander noch nicht da war. Nicht, dass er beabsichtigte ihm alles zu erzählen, aber er wollte Alexanders Gesichtsausdruck noch etwas genießen.

Warum ging er nicht einfach?, fragte er sich selbst. Er verstand es nicht. Es wäre doch klüger zu gehen oder nicht? Was sollte er noch an diesem Ort? Alexander würde ihn nicht mehr aufnehmen, keinesfalls. Vielleicht wartete Draco deswegen. Er wollte die Sache mit Alexander abschließen, denn auch wenn er es nicht mochte, aber er verdankte ihm etwas. Und irgendwie... fühlte es sich richtiger an, ihm nicht im Unklaren zu lassen.

Aber wohin sollte er gehen? Darauf gab es keine Antwort, denn es gab keinen Ort zu dem er gehörte.

Sollte er also gleich zu Barrington gehen? Nein, dazu war er noch nicht bereit. Draco wusste das und er war nicht so dumm und würde sich ihm jetzt stellen und seinen sicheren Tod in Kauf nehmen. Nicht, wenn er nicht in der Lage wäre Barrington vorher zu Fall zu bringen.

Plötzlich vernahm Draco eine Bewegung am Haus, ein Schatten nur, der durch die Tür getreten war. Er war sich sicher, dass es Alexander war. Schon bald würde er ihn hier oben gefunden haben.
 

So geschah es auch. Draco sah, wie Alexanders Gestalt die Wiese überquerte und den sanften Hügel nach oben kam. Er selbst stand nicht auf. Annies Bruder würde schon zu ihm kommen. Doch Draco folgte jeder seine Bewegungen, nicht bereit von sich aus etwas zu sagen.

Als Alexander nur noch wenige Meter von ihm entfernt war zog dieser sein Schwert. Draco bemerkte es, bewegte sich aber noch immer noch. Mit einer fließenden Bewegung, wie sie Draco schon oft bei ihm gesehen hatte, lag die Spitze der Klinge unter seinem Kinn, so dass Draco das Metall fühlen konnte. Draco sah ihm direkt in die Augen, ohne Angst, dass er ihn vielleicht töten würde. Alexanders zitternde Hände verrieten ihn.

„Was … Was sollte das? Was hast du damit gemeint?“, fragte Alexander und Draco realisierte mit einer gewissen Genugtuung, dass auch seine Stimme bebte.

„Womit?“, fragte Draco spitz zurück. Er bereitete ihm Freude zu sehen, wie Alexander sich sichtlich in seiner Antwort wandte.

„Das … was du vorhin gesagt hast... Annie hätte den Drachen gefunden und mit zu sich genommen.“, Alexander schluckte, bevor er weiter sprach. „ Woher weißt du es?“

Dracos Mundwinkel zog sich langsam nach oben und er lächelte gefährlich. Dabei ließ er Alexander nicht aus den Augen. Er konnte in dessen Blick sehen, dass er der Antwort nah war, dass er es ahnte. Aber er war noch nicht bereit es zu akzeptieren.

„Ich war dabei.“, sagte er schließlich mit leiser Stimme.

„Wie ...“

Draco sah Annies Bruder noch immer in die Augen, lang und durchdringend. Der Mond schien direkt über ihnen. Er war zwar nur halbvoll, doch Draco wusste, dass es genügen würde. Annie hatte oft genug gesagt, dass sein Gesicht im Mondlicht, anders wirkte, weniger wie das eines gewöhnlichen Menschen. Draco sah, wie Alexander nach wenigen Augenblicken regelrecht zusammenzuckte und einen Schritt zurückwich. Auch das Schwert senkte er, wenn auch nur unbewusst. Jetzt sollte er es endlich begriffen haben.

„Du willst mir weis machen, dass du ... dass Annie ... dass...“, rang Alexander nach Worten und ließ schließlich das Schwert ganz sinken.

„Wie ich sehe, scheinst du zu begreifen.“, merkte Draco spitz an.

„Aber... warum? Ich meine... Warum hast du mir geantwortet. Das tust du doch sonst nie.“, sagte Alexander und klang nun schon etwas gefasster. Seine ganze Körperhaltung verriet aber, dass dem nicht so war.

Draco zuckte gleichgültig mit dem Schultern. Es gab keinen Grund Alexander über seine eigentlichen Beweggründe aufzuklären.

Alexander begann nervös auf und ab zu laufen, immer wieder fuhr er sich dabei durch die Haare. Draco beobachtete ihn einen Moment.

„Wie hat sie das gemacht?!“, fragte er schließlich. Draco schnaubte kurz durch die Nase. Das war alles, was ihm dazu einfiel?, fragte er sich ungläubig. Offenbar fand Alexander die Tatsache, dass er ein Drache gewesen war, nicht so aufrüttelnd, wie die Frage nach dem ‚wie‘.

Wieder zuckte er nur mit den Schultern. Das hatte er sich selbst oft genug gefragt und nie eine Antwort erhalten, auch von Annie nicht. Immer nur hatte sie geheimnisvoll gelächelt.

„Ist es wirklich wahr? Bist du... warst du... ein... Dr-Dra“, Alexander brach ab und sah ihn mit großen Augen an. Nein, Angst konnte Draco nicht darin entdecken. Fassungslosigkeit ja, vielleicht auch Staunen. Aber keine Angst. Fast war er sogar ein wenig enttäuscht. Aber Alexander ließ ihn nicht einmal zu einer Antwort kommen. „Deswegen Draco oder? Sie hat dir den Namen gegeben.“, murmelte er, doch Draco verstand ihn sehr gut.

„Es ist wahr.“, antwortete er ihm kurz. Warum brauchten die Menschen so lange, bis sie die Wahrheit glaubten?

„Warum hat sie das getan? Was war passiert?“, wollte Alexander weiter wissen. Dennoch hörte er nicht auf hin und her zu laufen, was Draco langsam auf die Nerven ging.

Er seufzte leicht. Das waren genau die Fragen, die er erwartet hatte. Manchmal sind die Menschen wirklich leicht zu durchschauen.

„Es wäre mein Tod gewesen.“, erklärte er etwas gelangweilt. Warum machte er sich überhaupt die Mühe?

„Barrington... Dann war es also wahr, was er gesagt hat. Er hatte den ... Dra-Drachen schon fast gehabt und dann ist er ihm doch entkommen.“ Nach diesen Worten sah er Draco an und fuhr fort: „Weil Annie ihn in einen... Ich glaub ich muss mich setzen.“

Draco konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hätte er gewusst, dass Alexander dadurch so sehr aus der Fassung zu bringen war, hätte er sich ihm schon viel früher offenbart. Alexander ließ sich regelrecht neben ihm ins Gras fallen und verbarg das Gesicht hinter den großen Händen.

„Ich glaube es einfach nicht... Deswegen wollte sie nicht, dass ich es erfahre.“

„Was wollte sie nicht?“, fragte Draco nun aufmerksam.

Jetzt war es Alexander der seufzte. „Sie wollte mir nie erzählen, woher sie dich kennt oder woher du kommst oder was sie so sicher macht, dass-“, plötzlich brach er ab und sah Draco entgeistert an.

„Wenn du ein Drache bist... dann... dann...“ Selbst im Licht des Mondes konnte Draco sehen, wie Alexander erbleichte. „Du hast... Hast... du...“

„Ich war.“, fiel Draco ihm ins Wort und bereute es auch schon im nächsten Augenblick. Alexander hatte sicher gehört, wie schwer es ihm fiel diese Wahrheit zu akzeptieren. Selbst jetzt noch.

„Was?“

„Ich war ein Drache. Nun bin ich es nicht mehr...“

„Aber du...“

„Nein!“, sagte Draco scharf. Er wollte nicht weiter darüber reden oder gar nachdenken. Es war zu spät. Für ihn gab es kein Zurück mehr, nie wieder. „Ich bin ein Mensch.“, wisperte er und konnte nicht anders, als den Kopf zu senken. Als würde die Wahrheit dadurch leichter zu ertragen sein.

Dann senkte sich Schweigen über sie, aber Draco sah aus den Augenwinkeln, dass Alexander immer noch nervös war. Er kaute auf seiner Unterlippe und bewege den Daumen hin und her. Lag es an dem, was er gerade erfahren hatte?, fragte Draco sich. Anzunehmen wäre es. Dennoch erschien ihm diese Reaktion etwas zu spät. Er hatte es doch vor wenigen Augenblicken noch recht schnell akzeptiert.

„Annie wollte nicht, dass ich weiß, wer du bist oder warst.“, sagte Alexander schließlich. „Sie glaubte, es würde mich und Susan nur noch mehr in Gefahr bringen. Jetzt weiß ich auch warum. Barrington sucht noch immer nach seinem Drachen.“

Draco blickte ihn finster an, sagte aber nichts. Er war kein Eigentum dieses Mannes!!!

„Deswegen konntest du weder lesen noch Schreiben oder Mathematik. Sicher ist das nichts allzu ungewöhnliches, allerdings erschienst du mir nicht wie jemand aus der untersten Schicht.“, murmelte Alexander. „Was noch? Was musstest du noch lernen.“

Er wandte den Blick von Annies Bruder ab, der ihn nun neugierig musterte.

Draco presste den Kiefer zusammen. Die Erinnerungen an seine erste Zeit in diesem Körper waren so schmerzhaft wie zuvor. Die Schwäche, Unsicherheit und Angst kehrten für einen kurzen Moment zurück und führten ihm einmal mehr vor Augen, wie verwundbar er gewesen war.

„Alles.“, presste er schließlich zwischen den Zähnen hervor.

„Aha.“, machte Alexander bloß und Draco bemühte sich erst gar nicht, diesen Laut zu deuten. Wieder begann Alexander ihn zu mustern. Ausdruckslos blickte Draco ihn an. Vielleicht würde er jetzt endlich erfahren, was genau Alexander ihm vorgeworfen hat.

„Ich begreife es noch immer nicht.“, sagte Alexander dann.

„Was bedeutet es?“, wollte Draco schließlich wissen. „Entehrt? Was bedeutet es?“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verfinsterte sich Alexanders Blick wieder und seine Miene versteinerte sich. Als hätte ihn die Frage an etwas Unliebsames erinnert.

„Nichts.“, antwortet er gedehnt.

Draco erhob sich und stellte sich direkt vor ihn, so dass Alexander ihn von unten anblicken musste. Offenbar war ihm dies selbst unangenehm, denn er stand ebenso auf, bis sie sich gegenüber standen. „Ich glaube dir nicht. Wenn es nichts bedeuten würde, hättest du mich nicht geschlagen.“, flüsterte Draco bedrohlich und fixierte Alexander weiterhin.

„Es bedeutet, dass meine Schwerster sich dir versprochen hat.“, erwiderte Alexander, offenbar nicht bereit sich von ihm einschüchtern zu lassen.

Stumm sah Draco sein Gegenüber an. Nicht weil dessen Worte ihn so sehr erschreckten, sondern weil die Erinnerungen an diese bittersüßen, unglaublichen Momente, umso heftiger geworden waren. Kurz konnte er ihren schlanken Körper noch immer in seinem Armen spüren, konnte er immer noch ihre Haut schmecken und diesen lieblichen Laut von ihren Lippen hören.

Im nächsten Augenblick schüttelte er den Kopf und bemühte sich diese Bilder, Geräusche und Gerüche wieder in dem dunkelsten Teil seines Gedächtnisses zu verbannen.

„Ja, das hat sie.“, antwortete er schließlich. Er sah, wie Alexander heftig schlucken musste, um seine Wut im Zaun zu halten und es verschaffte Draco abermals eine gewisse Genugtuung.

„Weißt du überhaupt, was das bedeutet?!“, fuhr er ihn schließlich an. „Sollte das Barrington jemals erfahren, sind wir alle so gut wie tot!“

„Warum?“

„Weil es eine außereheliche Vereinigung war! Ihr hattet nicht das Recht dazu! Nur, wenn man...“, er brach ab, als er Dracos Gesichtsausdruck sah. „Du hast keine Ahnung wovon ich rede oder? Und Annie hat es dir auch nicht erklärt.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Nein.“, erwiderte er ehrlich. „Was heißt es?“

„Unwichtig. Das spielt keine Rolle mehr, jetzt ist es eh zu spät.“

„Wird Barrington es herausfinden?“, fragte Draco weiter. Er verstand nicht ganz was an den Dingen, die er und Annie getan haben so schlimm gewesen war, dennoch wollte er nicht, dass sie deshalb in Schwierigkeiten geriet. Genauso wenig, wie er das für Susan und Alexander wollte. Dafür hatten sie ihm zu oft geholfen.

„Ich denke nicht.“, antwortete Alexander und atmete schwer aus. „Sie hat es geschafft ihn zu täuschen, aber das...“ Alexander tat noch ein paar tiefe Atemzüge und Draco beobachtete ihn dabei. Er wartet darauf, dass er zu Ende sprach, aber das tat er nicht. Stattdessen sagte er: „Es bringt nichts, wenn ich mich hier aufrege. Es ändert nichts, gar nichts.“ Die Frustration in seiner Stimme war deutlich zu hören.

„Was soll ich jetzt mit dir machen?“, richtete sich Alexander wieder an ihn und sah ihn abwartend an.

Draco zuckte abermals mit den Schultern.

„Hast du Angst vor mir?“, fragte er Annies Bruder geradeheraus.

„Ich weiß es nicht. Angst würde ich es vielleicht nicht nennen, aber es ist... beklemmend. Ich mache mir mehr Sorgen um Susan und das Kind, als um mich.“

„Du wirst es ihr sagen?“

„Nein!“, erwiderte Alexander sofort. „Auf keinen Fall werde ich das.“ Er atmete schwer aus. „Ich nehme an, du hast keinen anderen Ort an den du gehen kannst und was passiert, wenn man sich dir selbst überlässt haben wir ja auch gesehen.“

Draco brummte kurz. Das Alexander das sagen würde, war ebenso vorhersehbar gewesen.

„Ich habe Annie das Versprechen gegeben, mich um dich zu kümmern. Ich werde es halten. Ich kann so schon wenig für sie tun. Allerdings muss ich wissen, was du eigentlich willst.“

Verwirrt sah Draco ihn an. Er verstand nicht so recht, was er damit meinte. Alexander handelte nur so, weil er es seiner Schwester versprochen hatte. Er hätte ihn sofort hinaus gejagt, wenn es anders gewesen wäre. Doch nur bei Alexander zu bleiben, weil er sonst keinen anderen Ort hatte, an den er gehen konnte, nur weil dieser vielleicht Mitleid mit ihm hatte, war ihm beinah noch mehr zu wider. Und doch... Alexander war nun einmal der einzige der ihm helfen konnte, sein wahres Ziel zu erreichen.

„Rache.“, sagte er knapp und beantwortete somit Alexanders Frage.

„An Barrington?“

Er nickte kurz.

„Und dafür brauchst du mich. Du brauchst jemanden, der dir die Schwerkunst beibringt.“

„Ja.“, antwortete er wieder ehrlich.

Alexander nickte verstehend.

„Wirst du Susan etwas antun?“

„Warum sollte ich das?“, fragte Draco und klang ehrlich überrascht.

„Du bist schwer einzuschätzen. Ich kann nie sagen, was du wirklich denkst. Woher soll ich wissen, dass etwas von deinem... alten Ich nicht doch wieder zum Vorschein kommt?“

Draco warf Alexander einen kurzen Blick zu, dann wandte er sich ab. Er hielt es nicht für nötig darauf zu antworten, doch er war zu sehr gereizt. Es war ein langer Abend gewesen du seine Wange fühlte sich noch immer heiß an. „Wenn ich deiner Frau oder dir wirklich etwas antun wollte, dann hätte ich es schon längst getan.“, zischte er.

„Du bist auf uns angewiesen. Das ist es, was dich so ärgert.“, stellte Alexander fest.

Draco erwiderte nichts, sondern starrte die Eben hinab. Er hatte genug von diesem Gespräch.

„Wofür wirst du dich entscheiden?“, fragte er dann und sah Alexander noch immer nicht an.

„Ich würde dich wegschicken wollen. Es ist zu gefährlich. Irgendetwas von dem Wesen, das du einst warst, ist noch da. Man braucht dich nur anzusehen und weiß, dass du anders bist. Mir war bisher nur nicht klar, woran das liegt.

„Doch wie ich schon sagte: Ich habe meiner Schwester etwas versprochen und daran werde ich mich halten. Du kannst bleiben. Unter der Bedingung, dass du deine Arbeiten genauso erledigst wie bisher. Was ich dir auftrage, wirst du ausführen, ohne Widerworte. Ich werde dich weiter unterrichten. Nicht nur in der Schwertkunst, sondern auch in anderen Fächern. Und noch etwas verlange ich von dir und ich erwarte, dass du dich daran hältst, sonst werde ich dich persönlich zu John Barrington schleifen.“

Nun sah Draco ihn doch an. Er hatte Alexander schon oft Drohungen aussprechen gehört, doch bisher hatte keine so dunkel geklungen wie diese. „ Ich will, dass du bei allem was du tust stets Annies Wohl im Sinne hast. Mir ist egal, was Barrington dir angetan hat und wie sehr du deine Rache willst. Aber du solltest immer daran denken, dass alles was du tust sich immer auf Annie auswirken kann und wird.“

Draco spannte den Kiefer an, nickte dann aber. Annie zu schaden lag ihm fern, aber bisher hatte er auch noch nie so darüber gedacht. Doch würde er Barrington töten, würde auch Annie wieder sein werden.

„Ich hab ein ungutes Gefühl bei all dem.“, sagte Alexander und machte sich dann auf den Rückweg.

„Ja.“, erwiderte Draco und Annies Bruder sah ihn überrascht an.
 

„Alexander? Alexander?! Was ist los?“, Annie sah ihren Bruder besorgt an und nahm die Hand herunter, mit der sie gerade noch vor seinen Augen gewunken hat.

„Was?“, fragte er sie erstaunt.

„Ich rede mit dir und du ignorierst mich einfach!“, beschwerte sie sich. „Endlich sehe ich dich wieder und du bist nur körperlich da. Wo warst du mit deinen Gedanken?“

„Oh ich... Entschuldige ich habe einfach so viel zu tun in letzter Zeit.“, antwortete er ausweichend, wie Annie vermutete. Misstrauisch sah sie ihren Bruder an. So kannte sie ihn gar nicht. Normalerweise widmete er der Sache, mit der er gerade beschäftigt war, seine volle Aufmerksamkeit. Besonders wenn es um sie ging! Sie fühlte sich fast ein wenige beleidigt. Noch nie, war er ihr so ausgewichen.

„Ist irgendetwas vorgefallen, seit deinem letzten Besuch? Hast du irgendwas... gemacht?“, fragte sie vorsichtig. Sie wusste, dass Alexander sich sehr aufgeregt hatte. Deswegen hatte sie seit jenem Tag die Befürchtung, dass er seine Wut anderweitig ausgelassen hatte. Nur wusste sie nicht, ob sie das so genau wissen wollte.

„Na ja... ich... habe ihn geschlagen.“, gestand er ihr schließlich, schien es aber keinesfalls zu bedauern.

„Was?!“

„Ich war wütend, weil ich ihn genau danach schon gefragt hatte und er hatte es... Ach vergiss es!“

„Was hat er gesagt.“

„Er hat gesagt, dass er nicht wüsste wovon ich spreche. Ich habe es als ein nein gedeutet. Ich musste mich einfach abreagieren und er war nun mal ausgerechnet der Erste der mit begegnete.“

„Alexander!“, sagte Annie scharf.

„Reg dich nicht auf.“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Ihm geht es gut und er hat nicht mal ein paar Spuren davon getragen. Leider.“

Annie stand abrupt auf und lief ihm Zimmer auf und ab. Sie musste sich erst wieder beruhigen, ehe sie überhaupt weiter sprechen konnte. Sie hatte gewusst, dass es Alexander nicht leicht aufnehmen würde, aber dass er gleich so reagierte!

„Wie konntest du das tun?“, fuhr sie ihn dennoch an. „Du weißt sehr wohl, dass ich es nicht im Geringsten bereue. Ihm kannst du keine Vorwürfe machen!“

„Oh doch, dass kann ich sehr wohl! Immerhin gehören zu so etwas immer zwei!“

„Das-“, sie bracht ab und schnappte nach Luft. Dem konnte sie nicht einmal wiedersprechen. Außer das Draco nicht wusste, welche Konsequenzen es haben könnte. Aber das konnte sie Alexander nicht sagen.

„Das bringt doch nichts.“, lenkte Alexander schließlich ein. „Man kann es ja leider auch nicht mehr rückgängig machen.“

Annie atmete tief durch. „Du hast recht.“, sagte sie dann, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen. Es konntet sie Mühe nicht noch weiter mit ihrem Bruder zu diskutieren. Sie setzt sich wieder und die Geschwister sahen sich kurz an.

„Annie, ich mache mir wirklich nur sorgen um dich. Du scheinst das alles so leicht zu nehmen.“

„Das tue ich nicht.“, wiedersprach sie. Wie konnte er das nur glauben? Doch Alexander sprach ruhig weiter. „Mal abgesehen von deinem Gemahl machst du dir keine Gedanken wegen dem Kind selbst?“

„Wie meinst du das?“ Seine Frage überraschte sie und sie verstand sie auch nicht. Hatte sie ihm nicht mehrmals versichert, dass sie glücklich ist. Genauso glücklich, wie sie es nur in der Zeit mit Draco war?

„Ich mein... Was weißt du eigentlich über ihn? Du weißt doch nicht, was er für einen... Hintergrund hat und wie sich dieser... auf das Kind auswirken könnte. Du musst doch selbst zugeben, dass er … irgendwie anders ist, als andere...“

„Wie anders?“, fragte sie, sah ihren Bruder mit großen Augen an. Ihren immer schneller werdenden Herzschlag versuchte sie dabei zu überhören.

Alexander räusperte sich. „Ich finde nur, dass er manchmal... anders wirkt. Ich kann es dir nicht beschreiben... es ist eben nicht... wie...“

„Das ist mir noch nie aufgefallen.“, fiel sie ihm ins Wort. Sie hatte fast den Eindruck, dass Alexander plötzlich sehr viel mehr wusste, als noch vor wenigen Tagen. Warum sonst sollte er plötzlich auf die Idee kommen und so etwas zu fragen? Aber das war vollkommen unmöglich. Draco hätte es ihm niemals erzählt und von ihr hatte er es auch nicht erfahren. Sie bildete es sich sicher nur ein und vielleicht war sie auch ungerecht ihm gegenüber. Er machte sich schließlich wirklich nur sorgen um sie. Sie sollte dankbar dafür sein und nicht gleich so abweisend reagieren.

„Es tut mir Leid.“, sagte sie schließlich. „Aber... es ist mir vollkommen egal, wo er herkommt oder was er früher einmal getan hat. Mir ist nur wichtig, wie ich ihn kennengelernt haben und das ist es auch, was ich so liebe.“

Alexander sah sie einen Moment lang schweigend an und Annie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Dann schüttelte er den Kopf. „Vielleicht hast du recht. Es geht mich auch nichts an. Es ist zu spät um etwas zu ändern.“, wiederholte er seine Worte. „Möglicherweise mache ich mir ja auch zu viele Gedanken.“

„Ich bin dir dankbar dafür, wirklich. Doch es ist geschehen und ich will es auch nicht anders.“ Sie lächelte matt, als sie sah wie Alexander die Augen verdrehte. „Er ist ein wundervoller Mensch, ein wenige eigen ja, aber sehr liebenswert. Immerhin hältst du es ja auch schon eine ganze Weile mit ihm aus.“, neckte sie ihn.

„Du weiß warum.“, brummte Alexander, dabei fiel Annie auf, wie er die Hände rang, als wäre er nervös oder angespannt.

„Du hast es ihm nicht erzählt oder?“

„Nein. Er wollte zwar wissen, warum ich ihn geschlagen habe, aber ich habe mich rausgeredet. Es würde ohnehin nichts bringen, wenn er es wüsste, höchstens noch mehr Ärger.“

„Da könntest du recht haben.“

„Lass uns nicht mehr darü-“

Die Tür wurde ohne Vorankündigung aufgestoßen und Barrington trat ein. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. Sofort sackte Annie das Herz nach unten. Hatte er ihr Gespräch belauscht?!

„Alexander! Wie schön euch endlich wieder zu sehen. Die letzten Male haben wir uns leider ständig verpasst!“, begrüßte Barrington ihn freundlich und Annie musste sich bemühen, um nicht zu erleichter zu wirke. Noch dazu hatte sie ihn in letzter Zeit so wenig gesehen, dass sie es manchmal sogar vorzog ganz und gar zu vergessen, dass er existierte. Offenbar fiel es ihrem Bruder nicht so schwer angemessen zu reagieren. Er hatte sich schon erhoben und verbeugte sich galant vor John Barrington.

„Es ist mir eine Freude euch zu treffen, Sir.“, begrüßte er ihn ausgesucht höflich. Was mochte gerade in Alexander vorgehen?, fragte sich Annie. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte Alexander so viel anvertraut und nicht daran gedacht, wie er sich damit fühlen würde, würde er jemals Barrington gegenüberstehen müssen. Wie hatte sie nur so selbstsüchtig sein können? Doch jetzt war es zu spät... die Worte waren gesprochen. Aber sie wollte ihn in Zukunft nicht noch mehr belasten. Alles andere würde sie für sich behalten, versprach sie sich selbst.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Wie ich hörte erwartet eure Frau ebenfalls ein Kind. Wie kommt es, dass ich es erst jetzt erfahre?“

Annie glaubte so etwas wie einen Vorwurf darin zu hören und sofort war alles in ihr noch mehr anspannt. Wenn seine Stimme so war, war es nie ein gutes Zeichen.

„Oh, das bedaure ich zutiefst. Ich wollte euch nicht damit behelligen, wo ich doch weiß, wie sehr ihr beschäftigt seid.“, sagte Alexander höflich und Annie wunderte sich einmal mehr, wie leicht es ihrem Bruder offenbar gelang, John Barrington das zu erzählen, was er hören wollte. Lieber wäre sie erstickt, als ihm so zu schmeicheln.

„In der Tat, ich bin wirklich sehr beschäftigt.“, nahm Barrington die Entschuldigung an. „Wann wird es denn bei eurer Frau so weit sein?“ Annie wurde misstrauisch. Seit wann interessierte er sich so sehr dafür?

„Wir vermuten, dass es im Juni oder Juli soweit sein wird.“

„Welch ein Zufall. Dann wird eure Schwester ebenfalls meinen Erben zur Welt bringen. Ist das nicht ein äußerst glücklicher Zufall.“

„In der Tat.“, bestätigte Alexander, doch auch seine Stimme klang vorsichtiger. Der Blick, den John Barrington ihr dabei aber zugeworfen hatte, war unmissverständlich. Wieder ging es um diese ungeheuerliche Drohung und Beschuldigung, sie und Alexander... Wut stieg in ihr auf und sie musste mehrmals schlucken, um überhaupt wieder klar denken zu können. Wie konnte man nur auf so einen absurden und widerwärtigen Gedanken kommen?! Wusste dieser Mann überhaupt, was er da sagte?!

Gut, dass sie Alexander davon nicht berichtet hatte. Sie wusste, dass selbst er bei solch einer Aussage nicht hätte ruhig bleiben können.

„Nun, ich nehme an, sie werden nicht mehr allzu viel Freizeit haben.“, fuhr John unbekümmert fort.

„Ich verstehe nicht ganz.“, erwiderte Alexander und auch Annie konnte ihm nicht ganz folgen.

„Ihre Frau wird doch ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Haben sie noch Zeit für ihre Pferde und ihr Geschäft? Was die Pferde anbelangt, kann ich ihnen gern Abhilfe schaffen. Und dieser Kräuterladen...nun... sie wissen, dass es ohnehin besser wäre, gänzlich damit aufzuhören, bevor noch jemand auf falsche Gedanken kommt.“

Alexander schwieg einen Moment und Annies Herz hämmerte in ihrer Brust. Er hatte ihrem Bruder gerade ganz offensichtlich gedroht und das in einer so unverschämten und hinterhältigen Weise, wie sie es noch nie erlebt hatte. Dieser Mann war skrupellos und sah in allem einen Vorteil für sich, den er bereit war schamlos auszunutzen.

„Ich muss sie leider enttäuschen.“, antwortete Alexander und seine Stimme war steif und kalt. „Meinen Geschäften geht es hervorragend. Ich habe gerade noch ein paar neue Kunden hinzugewonnen. Offenbar ist besonders die Küche des Adels daran interessiert neue Geschmackserlebnisse zu kreieren. Natürlich versuche ich meiner Frau zur Hand zugehen, aber mir bleibt noch immer genügend Zeit, mich um die Pferde und die anderen Tiere zu kümmern. Aber ich fühle mich geehrt, dass ihr euch solche Gedanken um mich macht.“, endete ihr Bruder mit einer anschließenden Verbeugung. Annie war tief beeindruckt, wie es ihm gelungen war sich so geschickt herauszureden.

„Das freut mich für euch.“, antwortete Barrington, aber Annie sah, dass dem gar nicht so war. Gerade deswegen empfand sie Genugtuung. Sie bewunderte ihren Bruder dafür und wünschte sie selbst hätte auch nur ein wenig von dieser Courage und Selbstbeherrschtheit. Stattdessen handelte sie oft impulsiv und unüberlegt. Etwas, was sie schon oft in Schwierigkeiten oder Verlegenheit gebracht hatte.

„Wenn dem so ist“, fuhr Barrington fort, „habt ihr doch sicher einen Zuchthengst oder Stute, die ihr mir für meinen Stall überlassen könntet. Eurer Pferd, mit dem ihr immer her reitet ist ein echtes Prachtexemplar.“

„Ich danke euch sehr für dieses Kompliment. Aber seid ihr denn nicht zufrieden mit den Tieren, die ich euch zu eurer Hochzeit zukommen ließ.“

„Doch sehr! Aber ich finden einfach keine Tiere die edel genug wären, um sie damit zu paaren. Nur eure scheinen dafür in Frage zu kommen. Wie macht ihr das bloß? Ihr müsst meinem Stallmeister eurer Geheimnis verraten, sonst muss ich noch annehmen, das Ganze geht nicht mit rechten Dingen zu.“

Wieder spürte Annie einen Stich im Herzen und sie musste sich wahrlich zusammenreisen um diesem Mann nicht zu sagen, was sie dachte. Aber sie durfte sich nicht unnötig aufregen und es würde ihnen allen nur noch mehr Ärger einbringen. Das war eigentlich der hauptsächliche Grund warum sie schwieg.

„Ihr könnt euch gern überzeugen, wenn es euch beliebt. Besucht mich und meine Frau in unserem bescheidenen Heim und ihr werdet sehen, dass meine Zuchterfolge nur auf Glück basieren. Vielleicht findet sich auch ein Hengst, den ihr verwenden könnt. Aber ich kann euch versichern, dass ich euch meine besten Pferde bereits gegeben habe.“

„Das ist eine hervorragende Idee!“, sagte Barrington sofort begeistert und Annie wurde das Gefühl nicht los, dass er nur darauf gewartet hatte. Sie warf Alexander einen entsetzten Blick zu, doch er beachtete sie nicht.

„Was meint ihr, wollen wir eurem Bruder und seiner Frau nicht einen Besuch abstatten?“, wandte sich Barrington nun an Annie. Es war das erste Mal seit Wochen, dass er überhaupt mit ihr sprach.

Was sollte das?!, fragte sie sich verzweifelt. Wieso tat er auf einmal so, als sei alles in bester Ordnung? Was bezweckte er?

„Ich weiß nicht.“, antwortete sie mit trockener Kehle, dann schluckte sie und fuhr etwas gefasster fort: „Ich bin nicht sicher, ob eine so weite Reise gut für mich und das Kind ist. Außerdem wissen wir nicht, wie der Weg mit einer Kutsche zu passieren ist. Es ist anzunehmen, dass der Winter Spuren hinterlassen hat.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass euch das abhält. Ich nahm viel eher an, dass ihr euch darüber freuen würdet euren Bruder und Schwägerin endlich einmal zu besuchen. Oder habt ihr einen anderen Grund?“

Annie erwiderte seinen Blick, wie sie es schon so oft getan hatte. Natürlich hatte sie einen anderen Grund! Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn Draco da wäre! Nie wieder würde sie sich von ihm trennen können.

Barrington sollte nicht zu Alexander! Er würde Draco sehen und er würde... würde er ihn erkennen? Beim Festumzug hatte er sie so seltsam gefragt, aber seitdem auch nie wieder. Er konnte ihn unmöglich erkannt haben. Man hatte Dracos Gesicht gar nicht gesehen und dann wusste er ja auch nicht, dass Draco überhaupt bei Alexander war. Nein, also welche Absicht verfolgte er dann?

„Ich werde mit Doktor Storm sprechen und ihn fragen, was er davon hält. Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich meine Schwägerin sehen könnte. Ich bin sicher, wir würde uns sehr angenehm unterhalten, während ihr nach den Pferden seht.“

„Dann ist es beschlossene Sache!“, rief Barrington offenbar sehr erfreut. „ Ich kann ihnen noch nicht mitteilen, wann es denn wäre. Wie sie gehört haben, warten wir erst die Zustimmung von Doktor Storm ab, aber allzu lange will ich es nicht hinauszögern.“

„Wann immer es ihnen recht ist, ihr seid jederzeit bei uns willkommen.“, sagte Alexander und verbeugte sich noch einmal. „Auch, wenn ich selbst gerade geschäftlich unterwegs sein sollte, so wird meine Frau sie doch mit Freuden bewirten, bis ich zurück bin.“

„Das höre ich doch gern!“, sagte Barrington und schlug sich auf den Bauch.

„Ich verabschiede mich dann. Die Pflicht ruft, aber ich freue mich schon sehr!“

„Ich ebenso.“ Noch einmal verbeugte sich Alexander und Barrington verließ daraufhin den Raum. Bis sich die Tür geschlossen hatte und selbst einige Augenblicke danach, wagte es weder Annie noch Alexander zu sprechen. Erst als sie vollkommen sicher war, dass er außer Hörweite war, atmete Annie erleichter auf.

„Verdammt!“, stieß Alexander im gleichen Moment aus.

„Bist du wahnsinnig?!“, zischte sie leise. „Was hast du dir dabei gedacht?! Wenn er ihn sieht, dann ist alles vorbei! Dann war alles umsonst!“ Schnell hatte sich in ihre Stimme Verzweiflung gemischt und sie kämpfte bereits mit den Tränen.

„Ich weiß! Aber was hätte ich den tun sollen?! Was er sagte und eigentlich meinte, war doch wohl offensichtlich! Ich hatte gar keine andere Wahl!“

„Aber... Er... darf ihn nicht sehen!!!“

„Wird er auch nicht!“, sagte Alexander etwas zu heftig.

„Wie soll das gehen!?“, fragte sie ebenso heftig zurück. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schwer und ihr wurde leicht schwindlig. Das konnte alles nicht wahr sein! Es war ein Traum und gleich würde sie aufwachen, ganz bestimmt.

„Ich werde ihn wegschicken...“

„Was?!“

„Ich werde ihm jeden Tag eine andere Aufgabe geben, irgendwo im Wald. Etwas, was ihn den ganzen Tag über beschäftigt halten wird. Mach dir keine Sorgen, mir wird schon was einfallen.“

„Ich soll mir keine Sorgen machen? Wie stellst du dir das vor?!“

„Vertrau mir einfach. Immerhin hab ich ihn ohne zu fragen einfach bei mir aufgenommen.“, erwiderte Alexander und Annie schwieg betroffen. Natürlich hatte er das, sie konnte nichts dagegen sagen. Sie war ihm so dankbar dafür. Ihm würde sicher etwas einfallen, versuchte sie sich selbst zu überzeugen. Aber wie sollte ihm das möglich sein?!

„Wirst du mitkommen?“, fragte er sie dann.

„Nein.“, antwortete sie sofort. „Das würde ich einfach nicht verkraften. Ich werde Doktor Storm bitten mir das zu bestätigen, wenn auch aus anderen Gründen.“

„Eigentlich schade.“, sagte ihr Bruder und klang etwas wehmütig. „Ich hätte mich sehr gefreut, dich wieder in meinem Haus zu haben und Susan ganz gewiss ebenso.“

Annie war nun versöhnlicher. Sie wusste ja, dass Alexander mit allem, was er getan hatte, recht hatte und das es besser so war. Dennoch...

„Ich mich auch.“, antwortete sie schlicht. Dann schwiegen sie eine Weile, bis Annie das Wort wieder an ihn richtete. „Alexander sei mir nicht böse, aber ich glaube ich muss mich etwas hinlegen.“

„Geht es dir nicht gut?“, fragte er voller Sorge.

„Das Ganze hat mich gerade doch sehr mitgenommen und mir ist leicht schwindlig. Ich glaube ich brauche einfach ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken.“

„Natürlich. Tut mir leid, dass es plötzlich so gekommen ist.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß ja, dass du gar keine andere Wahl hattest. Das ist schon in Ordnung. Nur frage ich mich, was er damit beabsichtigt.“

„Ich mich auch, aber wir werden es sicher noch herausfinden.“

„Ja. Ich hoffe nur, dass es dann nicht zu spät ist.“

Alexander umarmte seine Schwester zum Abschied und ging dann ebenfalls. Annie legte sich auf das Bett und schaffte es nur eine dünne Decke über sich zu ziehen, dann war sie bereits eingeschlafen und erwachte abermals in den Erinnerungen eines anderen Wesens.
 

Draco stand im Stall und sattelte Hera. Er überprüfte gerade, ob der Sattel richtig saß, nicht zu eng und auch nicht zu locker. Er hatte es inzwischen zwar schon so oft getan, aber er wollte es lieber noch einmal überprüfen. Sie war ihm zwar sehr angetan, trotzdem auch sehr anspruchsvoll. Ein wenig musste er darüber schmunzeln. Obwohl sie wohl ganz genau wusste, dass er kein gewöhnlicher Mensch war, scheute sie sich nicht, ihn genau wie solch einen zu behandeln. Sie besaß den gleichen Stolz, wie er, musste er sich eingestehen. Und auf keinen Fall wollte er es sich mit ihr verscherzen.

Danach machte er sich an das Zaumzeug und legt es ihr an. Eigentlich gehört es sich wohl anders herum, aber irgendwie hatte er es sich so angewöhnt, ohne das er sagen konnte warum. Nachdem auch das erledigt war, befestigte er die Satteltaschen, um anschließend den Proviant hineinzulegen, den Susan ihm bereitet hatte. Seit drei Tagen tat er nichts anderes, als bereits nach dem Frühstück in den Wald zu reiten. Alexander hatte ihm den Auftrag gegeben, die Bäumen, die von dem langem Winter beschädigt worden waren, zu fällen, ebenso wie bei den jungen Bäumen Äste auszudünnen, damit sie besser wuchsen. Sein Geist wurde dabei nicht sehr beansprucht, aber immerhin beschäftigte es ihn körperlich wieder etwas mehr. Wenn er sich mal einen Tag nicht körperlich sehr anstrengte, fühlte er sich unzufrieden mit sich selbst. Es gab ihm ein besseres Gefühl erschöpft nach der langen Arbeit zu sein und zu wissen, dass er nicht untätig gewesen war. Zudem hatte ihm das Bäume fällen und Holz hacken gezeigt, dass er stärker geworden war. Es zeigt ihm, dass der Zeitpunkt langsam näher rückte.

Wenn er bei Sonnenuntergang zurückkehrte lehrte Alexander ihm noch ein wenig die Schwertkunst, bis die Sonnen vollkommen am Horizont verschwunden war. Über Dracos wahre Natur sprachen sie nicht mehr. An jenem Abend war alles gesagt worden.

Dennoch konnte Draco nicht umhin sich zu fragen, wie Alexander damit umging. Vielleicht lag es daran, dass ihm seine Reaktion einfach noch immer unverständlich war. Er konnte sie einfach nicht verstehen. Annie hätte sicher ganz anders reagiert, dachte er. Sie war in ihrem Wesen sehr viel aufbrausender als ihr Bruder, das hatte er schnell gemerkt. Alexander konnte das zwar auch sein, aber er überdachte die Dinge mehrmals. Entschied er sich dann aber für eines, blieb er auch dabei.

So zumindest schätzte Draco ihn bisher ein.

Und noch etwas wunderte Draco: Warum hatte Alexander ihm gerade jetzt eine Aufgabe gegeben, die ihn jeden Tag in den Wald führte? Immerhin wäre dazu auch noch den ganzen Sommer über Zeit gewesen und Susans Zustand war weiterhin schwankend. Draco erschien es vernünftiger, wenn jemand bei ihr blieb und ihr zur Hand gehen konnte, denn Alexander war häufig geschäftlich unterwegs. Draco mochte Susan irgendwie, wenn er darüber nachdachte. Von Anfang an hatte sie ihn gleichberechtig behandelt und ihn so akzeptiert wie er war: verschwiegen und in sich gekehrt – wie sie es einmal genannt hatte.

Doch natürlich hätte er ihr das nicht gesagt.

Plötzlich drehte Hera den Kopf und ihre Ohren zuckten. Draco drehte ebenfalls den Kopf. Er hatte es auch gehört. Jemand hatte den Hof erreicht. Es wunderte ihn. Es war noch viel zu früh am Morgen und auch sonst hatte er hier keine Besucher gesehen, bis auf den Arzt, der Susan regelmäßig untersuchte. Einen Moment überlegte er, ob er warten sollte bis derjenige wieder gegangen war, doch andererseits hatte er keinen Grund dazu. Er vermied fremde Menschen zwar, doch wusste er auch nicht, wann diese wieder gehen würde. Wenn es einer von Alexanders Kunden war, könnte es länger dauern. Aber wenn dem so war, warum hatte Alexander ihm dann nichts gesagt? Er hielt es für unwahrscheinlich, dass dieser selbst nichts davon wusste.

An den Zügeln führte Draco Hera zum Tor. Inzwischen war Alexander aus dem Haus gekommen und begrüßte seine Gäste. Draco blieb einen Moment stehen und versuchte etwas von ihrem Gespräch zu verstehen. Ein sanfter Wind trug die Stimmen der Männer zu ihm hin. Alexander begrüßte seinen Besuch höflich und zuvorkommend. Noch nie hatte Draco ihn so reden gehört.

„Ich freue mich sie endlich in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen. Ungeduldig haben wir ihren Besuch bereits erwartet.“, sagte Alexander gerade.

„Haha.“, lachte der Mann schallend und Draco gefror das Blut in den Adern. Doch schon im nächsten Moment wurde ihm unsäglich heiß. Der Zorn brachte sein Blut regelrecht zum kochen.

Barrington!!!

Überall würde er diese Stimme erkennen.

„Sie schmeicheln mir zu sehr. Ich hoffe, ich störe sie zu dieser frühen Stunde nicht.“

„Nein ganz und gar nicht. Ich war schon lange auf und wollte mich gerade an die Arbeit machen.“

„Sie werden doch Zeit für mich haben, damit ich mir ihre Prachtexemplare ansehen kann.“

„Selbstverständlich. Ganz wie sie es wünschen, aber wie ich bereits sagte, werden sie keinen allzu großen Unterschied zu ihren eigenen feststellen können.“

„Das werden wir sehen.“

Wie angewurzelt stand Draco an der Tür, die halb geöffnet war. Er war nicht darauf vorbereitet Barrington jetzt schon gegenüber zu treten. Er hatte es sein wollen, der den Ort und die Zeit ihres Aufeinandertreffens festlegte!

Doch er musste ihm nicht begegnen. Er konnte hier bleiben und wirklich warten bis sie wieder verschwunden waren. Obwohl... was meinte er mit Prachtexemplaren?, überlegte er.

Nein!, dachte er entschlossen.

Er würde keine Angst mehr vor diesem Mann empfinden. Angst machte ihn nur schwächer und Barrington stärker. Außerdem würde er ihn nicht erkennen. Draco schloss kurz die Augen und hörte in sich selbst hinein. Noch war er nicht bereit sich diesem Menschen im Kampf zu stellen. Er konnte es mit jeder Faser seines Körpers spüren. Dennoch wollte er nicht mehr zögern.

Eine Bewegung Heras riss ihn aus seinen Gedanken, doch sein Entschluss stand bereits fest.

Draco öffnete die Tür ganz und trat hinaus. Jetzt sah er Barrington, der bereits abgesessen war, zusammen mit zwei weiteren Männern. Sie unterhielte sich weiterhin mit Alexander. Er hörte nicht mehr was die Männer sprachen. Es interessierte ihn ganz und gar nicht und doch... die Befürchtung und gleichzeitige Hoffnung, die in seinem Herzen wuchs konnte er nicht ignorieren. Vielleicht würde er etwas über Annie erfahren.

Gleich darauf ärgerte er sich selbst über diesen Gedanken.

Hera wieherte leicht neben ihm und scharrte ungeduldig mit dem Hufen. Sie mochte es nicht, wenn man sie warten ließ.

Ohne weiter zu zögern saß Draco auf. Dann trabte er auf die kleine Gruppe von Männern zu und nur einen Augenblick später hatte man ihn bemerkt.

Sein Blick ruhte hasserfüllt auf dem dicken Mann in der Mitte.

Einladung zur Jagd

Barrington sah ihn erstaunt an und Draco empfand eine gewisse Genugtuung dabei.

„Alexander?“, wandte er sich dann fragend an Annies Bruder und dieser löste den Blick von Draco. Draco hatte seinen Gesichtsausdruck nicht recht deuten können. Doch er war sich beinah sicher, dass sein Erscheinen ihm alles andere als recht gewesen war. Aber wie so oft ließ er sich davon nicht beeindrucken.

Stattdessen richtete er den Blick wieder auf John Barrington. Der kleine Mann hatte sich nicht verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war höchstens noch beleibter, noch hässlicher und widerlicher. Und mit diesem Mann, tat Annie... würde Annie... Allein der Gedanke ließ ihn erneut zornig werden und das letzte bisschen Unsicherheit, welches er vielleicht noch in sich verspürt hatte, verschwand nun gänzlich. Dieser Mann musste sterben. Nur so würde er selbst endlich Ruhe und Rache finden. Egal, was es ihn kosten würde.

Alexander räusperte sich. „Das ist... uhm... Er arbeitet für mich und kümmert sich momentan um die Waldpflege.“, antwortete Alexander zögerlich auf Barringtons unausgesprochene Frage.

„Ihr sagtet gar nichts davon, dass ihr fremde Hilfe in Anspruch nehmt. Ich hatte den Eindruck, dass ihr euch allein um eurer Gut kümmert.“, erwiderte Barrington misstrauisch, doch sein Blick blieb auf Draco haften, der ihn kalt erwiderte. Draco hatte den Kiefer so fest zusammengepresst, so dass seine Zähne bereits schmerzten. Es kostete ihn unglaubliche Mühe und Kraft seinen Instinkten nicht nachzugeben und sich auf Barrington zu stürzen. Nur das sichere Wissen, dass er nicht gegen ihn würde bestehen können, hielt ihn davon ab. Sein Schwert lag in seinem Zimmer, zudem würde Barringtons Begleiter nicht nur zusehen. Das letzte Mal hatten sie ihn ebenso kräftig unterstützt, dachte er bitter.

„Das habe ich nicht, Sir, weil es für mich keine Bedeutung hatte. Er ist nur ein einfacher Arbeiter. Aber ich wollte euch gewiss nicht täuschen. Ich hielt es nur nicht für wichtig genug, ihn zu erwähnen.“

„Der Gedanken der Täuschung drängt sich mir unweigerlich auf. Woher kommt er?“, fragt Barrington weiter.

„Er ist ein Reisender, der von Ort zu Ort zieht und nach Arbeit sucht. Ich habe ihn im letzten Herbst eingestellt, als Susan erfuhr, dass sie ein Kind erwartet. Ich dachte eine zusätzliche Hilfe kann nicht schaden. Wie ich bereits sagte, hielt ich ihn nicht für erwähnenswert.“

John Barrington schwieg einen Moment und schien darüber nachzudenken. Wenn er überhaupt denken konnte, dachte Draco bissig. Ohne den Blick abzuwenden, sprach Barrington weiter: „Wie heißt du?“ Jetzt war es Draco, der einen Moment verblüfft war. Offenbar sprach er ihn direkt an. Etwas, was er überhaupt nicht erwartet hatte.

„Er spricht nicht.“, sagte Alexander sofort und ohne eine Antwort von Draco abzuwarten. Draco blickte ihn kurz an. Als würde er auch nur ein Wort an diesen Mann richten! Niemals!

Doch ob Alexander sich bewusst war, dass er die gleichen Worte gebraucht hatte, wie Annie damals?

„Ach nein? Warum nicht?“, fragte Barrington und sah wieder zu Alexander.

„Er ist... geistig... zurückgeblieben, kann kaum einen ordentliches Wort über die Lippen bringen. Glaubt mir, ihr wollt ihn gar nicht sprechen hören. Er ist... schwachsinnig.“, sagte Alexander schließlich.

Barrington betrachtete ihn abfällig. „Er sieht gar nicht danach aus.“

„Das täuscht. Er ist dümmer, als ein Esel.“, sagte Alexander abwertend und lachte verhohlen. Draco warf ihm einen stechenden Blick zu, den dieser eindringlich erwiderte und mit seinen Lippen ein stummes Wort formte. Darüber würden sie später sprechen.

„Aha. Wie nennt ihr ihn dann?“

„Uhm... Drake. Meine Frau gab ihm den Namen Drake.“

„Ihre Frau?“

„Ja.“ Alexander unterbrach sich kurz und suchte offenbar nach weiteren Worten, oder einer Antwort, wie Draco dachte. Er war selbst sehr interessiert daran, eine Erklärung zu hören. Warum hatte er nicht seinen richtigen Namen genannt? Barrington hätte doch ganz sicher nicht gewusst, was er bedeutete. „Seit sie ein Kind erwartet denk sie täglich über mögliche Namen nach. Sie hat jeden Tag einen neuen Favoriten und andere fallen weg. Ich nehme an Drake war einer von denen, die nicht mehr für unser Kind in Frage kamen. Und da er scheinbar keinen hat, gab sie ihm diesen. Die Frauen eben.“, fügte Alexander hinzu, als erklärte das alles.

„Ja, ja... die Frauen.“, bestätigte Barrington und lachte verhalten. „ Wie lange wird er bei euch bleiben?“

„Das kann ich noch nicht genau sagen. So lange wie er sich nützlich macht und das Kind noch nicht geboren ist, gedenke ich nicht ihn so schnell fortzuschicken. Arbeiten kann er ja.“

„Für einen einfachen Arbeiter, reitet er ein zu prachtvolles Pferd, findet ihr nicht? Wie kommt es das dieses nicht mein Geschenk zur Hochzeit war?“, fragte Barrington mit scharfer Stimme und musterte Alexander mit einem stechenden Blick.

„Das lässt sich leicht erklären. Diese Stute ist sehr eigen und störrisch. Ehrlich gesagt wunderte es mich selbst, dass sie sich von ihm reiten lässt. Normalerweise wirft sie ihre Reiter ab und schnappt nach ihnen. Es muss an seinem geistigen Zustand liegen, dass sie ihn gewähren lässt. Anders kann ich es mir nicht erklären.“ „Tatsächlich? Ich will mich selbst davon überzeugen.“, erwiderte er bestimmt und gab seinen Begleitern bereits das Zeichen ihm beim Absitzen zu helfen.

„Sir, ich kann ihnen wirklich nur raten dies zu unterlassen.“ , versuchte Alexander ihn umzustimmen.

„Ich will es jetzt probieren!“, fuhr er Alexander an und seine Worte ließen keine Widerrede zu.

Alexander warf einen Blick zu Draco und für einen kurzen Moment erwiderte dieser seinen Blick.

Hera bewegte sich unruhig hin und her und zuckte nervös mit dem Kopf. Sie konnte Barringtons Boshaftigkeit genauso spüren, wie er.

Auf keinen Fall würde er für diesen Mann absatteln! Nicht auch noch Hera würde er bekommen!, dachte Draco. Kurz blickte er Barrington noch einmal kalt an. Dieser hatte sich Hera schon genähert und streckte erwartungsvoll den Arm aus. Da zog Draco an den Zügeln, wie er es bei dem Tier immer tat und sie preschte im schnellen Galopp davon.
 

Es war bereits dunkel als er auf den Hof zurückkehrte. Er wurde langsamer, als er die Gebäude sah und Hera trabte gemächlich vor sich hin. Er ging nicht davon aus, dass Barrington noch da sein würde, doch es war besser vorsichtiger zu sein. Er wusste, dass seine Selbstbeherrschung bei diesem Mann sehr gering war.

Draco hatte den halben Tag gebraucht, um sich wieder zu beruhigen, bis er seine Wut soweit unter Kontrolle hatte, dass er wieder an etwas anderes denken konnte. Davor hatte er sie an den Bäumen ausgelassen – auch jenen, die vom Winter keinen Schaden davon getragen hatten. Es war niemand auf dem Hof und in der Küche sah er das Licht brennen. Ob Alexander wohl wütend war, dass er Barrington nicht gewähren lassen hat? Selbst wenn, das war ihm egal.

Er stieg aus dem Sattel und lief Richtung Stall. Ohne dass er Hera bei den Zügeln nahm, trabte sie hinter ihm her. Als er die Stalltür öffnete war er nicht überrascht Alexander dort vorzufinden. Offenbar hatte er auf ihn gewartet, auch wenn er gerade dabei war frisches Stroh in den Boxen zu verteilen.

Wortlos ging Draco an ihm vorbei und sattelte Hera ab. Dann nahm er ein Tuch um sie abzureiben.

„Er war von deinem Verschwinden nicht sehr begeistert.“, begann Alexander schließlich zu erzählen. Draco reagierte nicht. Er wollte nichts von diesem Mann hören und schon gar nicht über ihn reden. Er wollte ihn in die hinterste Ecke seiner Gedanken verbannen. Das machte ihm das Warten

erträglicher. Heute war ihm wieder einmal bewusst geworden, wie wenig er doch bisher gelernt hatte. Alexander gab ihm zwar Unterricht, aber Draco hatte das Gefühl, dass er nicht genug war. Doch wann war es genug?

Er wusste es nicht. Wahrscheinlich würde er es erst erfahren, wenn sie sich wirklich gegenüber standen und einer sterben würde, dachte er grimmig.

„Er kommt morgen noch einmal.“, sagte Alexander dann. Nun richtete sich Draco auf und sah ihn unvermittelt an. Der Unterton in Alexanders Stimme war deutlich zu hören gewesen.

„Er will Hera unbedingt reiten. Die Tatsache, dass du einfach mit ihr verschwunden bist, ohne dass ich etwas dagegen getan habe, hat ihn sehr wütend werden lassen, aber vor allem misstrauisch. Er erwartet von mir, dass ich dich hart bestrafe.“

Draco bedachte Annies Bruder mit einem Blick, der alles sagte: Er sollte es nicht wagen. „Du hast seiner Meinung nach gegen meinen Willen gehandelt. Das gehört sich nicht für einen niederen Arbeiter, der zudem noch bei mir Wohnen und Leben darf. Ich müsste dich dafür auspeitschen.“

Alexander schwieg, als erwartete er eine Reaktion von Draco. Doch dieser blieb stumm. Alexander stieß einen Seufzer aus und rieb sich den Nacken. „Natürlich mache ich das nicht.“, sprach der weiter. „Eigentlich bin ich froh, dass du verschwunden bist und dich nicht auf ihn gestürzt hast, wie du es wahrscheinlich gern getan hättest. Der Hass in deinen Augen war nicht zu übersehen.“, fuhr er fort, während er Wüstensand kurz durch die Mähne fuhr. Danach ging er zu Hera und diese streckte den Kopf nach seine Hand aus, als hoffte sie darin etwas besonderes Leckeres zu finden. Als dem nicht so war, drehte sie sich sofort weg. Alexander schnaubte kurz.

„Ich wollte gar nicht, dass er sie reitet. Das will ich immer noch nicht, aber mir bleibt wohl keine Wahl.“, murmelte er schließlich. Draco hatte Mühe den Zorn zu bändigen, der in ihm aufstieg. Warum nur fiel es ihm bei diesem Gefühl so schwer. Warum ließ er sich immer wieder davon beherrschen? Die Sehnsucht nach Annie konnte er doch auch verdrängen.

„Wann?“, war dann schließlich alles was Draco laut fragte.

„Nach Sonnenaufgang, noch vor dem Mittag. Eine sehr genaue Angabe, findest du nicht?“, fragte Alexander bissig. „Ich möchte, dass du eines der anderen Pferde nimmst, meinetwegen auch Wüstensand. Ich brauche ihn morgen nicht.“

Draco sah ihn noch eine Weile an und wandte sich dann wieder Hera zu. Er begann sie zu striegeln. „Sie wird ihn abwerfen.“, sagte er nach einer Weile. Das Lachen von Alexander, welches daraufhin folgte, irritierte ihn etwas und er sah ihn verwundert an.

„Das hoffe ich doch. Ich habe ihn heute eindringlich gewarnt und wenn ich ehrlich bin... Ich will mich gar nicht von ihr trennen. Er befand die anderen Pferde auch als schön, aber er hat sich Hera in den Kopf gesetzt. Wenn er merkt, dass er sie nicht haben kann, wird er sich danach hoffentlich nicht mehr hier blicken lassen.“, sagte Alexander und Draco war über so viel Ehrlichkeit verblüfft.

„Du wusstest, dass er kommen würde, deswegen hast du mich in den Wald geschickt.“, sprach Draco und arbeitete weiter. Hera mochte es überhaupt nicht, wenn man ihr nicht seine ganze Aufmerksamkeit schenkte.

„Ja, das wusste ich.“ Alexander setzte sich auf eine der Kisten, die vor den Boxen standen und diverse Materialien zur Pflege der Pferde enthielten.

„Du kannst morgen Wüstensand nehmen. Er wird dir gehorchen. Er ist ein sehr zuverlässiges Tier.“

„Ich weiß.“, antwortete Draco kurz. Er hatte nichts gegen Wüstensand, aber der Gedanke, dass er sich schon wieder Barringtons Willen beugen musste, gefiel ihm nicht. Wann würde es endlich aufhören?

„Er wird sie nicht mehr haben wollen, wenn sie ihn erst einmal abwirft. Deine Zeit wird kommen.“, sagte Alexander, als wüsste er genau, was in Draco vorging. „Es mangelt dir nicht so sehr an Können, sondern an Erfahrung. Ich habe dir mehrmals gesagt, dass Können nicht alles ist. Barrington hat dir Jahre an Erfahrung voraus. Du könntest nicht anders als scheitern.“

Draco nickte wiederwillig. Er wusste, dass er recht hatte.

Und er hasste es.

Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, sattelte Draco Wüstensand. Das Pferd war ihn zwar gewöhnt und er hatte ihn auch schon oft gesattelt, doch dieses Mal schien es zu spüren, dass er es auch reiten würde. Etwas was Wüstensand nervös werden ließ. Gleichzeitig tänzelte Hera unzufrieden in ihrer Box herum und schnaubte durch die Nüstern. Offenbar war ihr klar, dass sie heute nicht seine Begleiterin sein würde. Bevor er Wüstensand hinausführte, ging er noch einmal zu der schwarzen Stute und streichelte sie sanft.

„Wirf ihn ab, hörst du? Wirf den dicken Mann ab und zeige ihm, dass er nicht alles haben kann.“, flüsterte er in ihr Ohr. Sie wieherte kurz und nickte mit dem Kopf, als wollte sie ihm zustimmen.
 

Den ganzen Tag verbrachte Draco im Wald und blieb dieses Mal sogar weit länger als nötig. Der Himmel verfärbte sich bereits ein wenig, als er sich auf den Weg zurück machte. Er hatte seine Rückkehr so lange wie möglich heraus gezögert, weil er befürchtet, dass Barringtons doch seinen Willen bekommen hatte. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn Hera auch noch weg wäre. Seltsamerweise mochte er das störrische Pferd recht gern.

Als er in die Nähe des Grundstücks kam, atmete er erleichter aus. Abermals war der Hof leer und niemand Fremdes mehr zu sehen. Vielleicht konnte er diesen Tag bald beenden.

Draco öffnete die Stalltür und führte Wüstensand hinein. Die Pferde in den ersten drei Boxen standen noch darin und sahen ihn ein wenig interessiert aber doch zurückhaltend an. Noch bevor er hinsah hörte er ein sehr vertrautes Schnauben, aus der letzten Box, das eindeutig Unzufriedenheit ausdrückte. Ganz so als wollte sie ihn schelten, warum er erst jetzt zurück kam. Als sein Blick zu dem Tier glitt, atmete er erleichtert aus. Er konnte selbst nicht begreifen, dass er sein Herz inzwischen so an sie gehängt hatte. Warum? Sie war doch nichts weiter als ein gewöhnliches Pferd?, fragte er sich selbst.

Hastig führte er Wüstensand in seine Box zurück und ging dann zu Hera. Herausfordernd streckte sie ihm den Kopf entgegen und er kraulte sie hinter den Ohren. Gleichzeitig fragte er sich, was geschehen war. War Barrington nicht gekommen? Hatte sie ihn abgeworfen? Oder würde er Hera erst später holen, so wie er es auch mit Annie getan hatte?

„Du bist endlich zurück.“, hörte er Alexander plötzlich vom Eingang des Stalles sagen.

Draco atmete noch einmal tief durch bevor er sich zu Annies Bruder umdrehte. Dann nickte er kurz als Antwort. Draco wandte sich von Hera ab, was diese wieder mit einem unzufriedenen Schnauben quittierte. Er machte sich daran Wüstensand abzusatteln und wartete darauf, dass Alexander erzählen würde, was geschehen war.

Alexander stellte sich vor Heras Box und betrachtete sie eingehend. Auch von ihm ließ sie sich streicheln. „Sie hat heute ganze Arbeit geleistet.“, begann er schließlich. „Sie hat sich genauso verhalten, wie wir es erwartet haben. Barrington saß nicht sehr lange im Satteln. Er hat es zwar immer wieder versucht, ich glaube 15 oder 20 Mal sogar. Er saß aber nicht einmal so lange in ihrem Sattel, wie er gebracht hatte, aufzusitzen. Dann versuchte er es mit der Peitsche, aber da hat sie sogar angefangen nach ihm zu treten und zu schnappen. Um die Mittagszeit hat er dann sehr frustriert aufgegeben. “ Dann fing Alexander plötzlich an zu lachen. „Du hättest sehen sollen, wie er versuchte aufzusitzen! Er ist so klein und schwer, und Hera so ein großes Tier! Er brauchte eine Fußbank und selbst damit hat er sich noch abgemüht. Ich musste mich so bemühen ihn nicht auszulachen! Das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

Draco sah kurz zu Hera und konnte es sich vorstellen. Unweigerlich zuckte einer seiner Mundwinkel nach oben. Das hätte er wohl doch gern gesehen.

„Wie hat er reagiert?“, fragte er stattdessen.

Bei seiner Frage wurde Alexander augenblicklich wieder ernst und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er antwortete: „Er sagte, dass er solch ein widerspenstiges Tier sofort zum Schlachter führen würde.“ Draco sah ruckartig auf und starrte ihn entgeistert an. Hatte er gerade richtig gehört?

„Aber Hera gehört...“

„Mir?“, beendete Alexander seinen Satz. „Natürlich tut sie das, aber das hat für ihn keinerlei Bedeutung. Wer sich ihm wiedersetzt wird beseitig, ganz egal wer oder was es ist oder wem es gehört.“

Draco hielt angespannt den Atem an. Warum war sie dann noch hier, wenn sie doch... „Allerdings befindet er, dass sie solch ein prächtiges und außergewöhnliches Tier ist, dass es gerade zu sträflich wäre sie zu töten.“, Alexander lachte spöttisch auf. „Und das aus seinem Mund! Ich soll sie zur Zucht nehmen und ihm die Nachkommen überlassen. Er sucht nach einem angemessenen Hengst. … Als ob das so viel einfacher wäre!“

Draco entspannte sich wieder etwas, dennoch traute er dem Ganzen nicht.

„Aber sie kann bleiben?“

„Ja.“, antwortete Alexander kurz und Draco fuhr nun endgültig herum. Da war noch mehr.

Alexanders Blick war unsicher, so als würde er seine folgenden Worte mit Bedacht wählen müssen. „Barrington sagte, er hätte Hera bereits früher schon einmal gesehen, also vor gestern Morgen. Auf dem Festumzug, der für seine Hochzeit gehalten wurde. Sie sei von einem verhüllten Reiter geritten worden. Ich wollte ihm gleich wiedersprechen, doch er unterbrach mich. Er war sich sehr sicher und konnte sich deswegen so gut erinnern, weil Annie der Reiter aufgefallen war. Und zwar eben deswegen, weil er so verhüllt gewesen war, das Wetter aber nicht einmal so kalt. Barrington sagte das Pferd wäre schwarz und sehr groß gewesen und regelrecht aus der Menge herausgestochen. Er hatte es als Hera wieder erkannt. Und er konnte sich genau erinnern, dass ein Windstoß das blonde Haar des Reiters enthüllt hatte.“

Alexander machte eine kurze Pause, in der er mit dem Kopf schüttelte. „Ich konnte ihm unmöglich etwas anderes einreden. Er hat Hera genau erkannt. Sie ist ja auch nicht schwer zu übersehen und das blonde Haar ließ ihn vermuten, dass du es gewesen warst, den er sah. Warum hast du mir nicht gesagt, dass er dich gesehen hat?“ „Ich wusste es nicht. Ich habe sie... gesehen und dann bin ich davon geritten. Ja, es kam ein Wind auf, aber...“ Er zog die Augenbrauen zusammen. Woher hätte er ahnen sollen, dass dabei die Kapuze verrutscht war?

„Das ist ja eigentlich auch unwichtig. Ich musste ihm jedenfalls sagen, dass du es warst. Natürlich, wollte er gleich von mir wissen, warum du dein Gesicht nicht gezeigt hast. Ich sagte ihm, dass du Menschenscheu bist. Dann stellte er weitere Fragen: Seit wann genau du bei mir bis, woher du kommst, was du sagen kannst und... ob du irgendwelche Gewohnheiten hättest, die merkwürdig wären.“

Das konnte nur eines bedeuten. „Er weiß es.“, sagte Draco knapp.

„Nein, das tut er nicht.“, wiedersprach Alexander. „Wie kannst du dir sicher sein?“

„Weil du ein Mensch bist. Du hast es selbst gesagt. Vielleicht ist ihm aufgefallen, dass irgendetwas an dir anders ist. Aber das ist es mir auch. Dennoch wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass du... nun ja... so etwas bist...warst... wie auch immer. Ich denke nicht, dass er darauf kommen könnte. Nur weil du beim Festumzug dabei warst und nicht sprichst, ist das noch lange kein Beweis für irgendetwas. Außerdem würde es bedeuten, dass er Magie akzeptieren müsste und das wird nicht passieren. Wo er doch alles versucht sie zu vernichten. Ich habe sie schon ewig nicht mehr angewandt, aus Angst, dass es doch jemand merken würde. Dabei ist es eigentlich eine regelrecht Schande.“ Die letzten Worte hatte Alexander nur noch gemurmelt und Draco wusste, dass sie auch gar nicht an ihn gerichtet waren.

Er dachte über Alexanders Worte nach. War John Barrington wirklich so leicht zu täuschen?

„Was, wenn er aber doch bemerkt hat, dass ich anders bin?“

Alexander schien einen Moment zu überlegen, bevor er ihm antwortete, dann sagte er: „Nein, das denke ich nicht. Barrington ist kein Mensch, der sehr viel über andere nachdenkt. Dafür ist er zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er ist misstrauisch, kann man sagen. Allerdings halte ich es für übereilt uns unnötig Sorgen zu machen und selbst, wenn... Was für eine Alternative als hier zu bleiben und abzuwarten gibt es? Nein, ich denke wirklich nicht, dass er etwas gemerkt hat. Woran sollte er auch?“, sagte er zum Schluss noch einmal.

Draco sah ihn zweifelnd an. Er wusste nicht, ob er diese Worte einfach glauben sollte. Natürlich konnte Alexander Barrington besser einschätzen, als er, Trotzdem wollte er nicht glauben, dass er sich mit so einfachen Antworten, wie Alexander sie ihm wohl gegeben haben muss, zufrieden gab. Er hatte ihn in seinem Versteck gefunden. Es war sogar gelungen ihn zu verwunden und davon zu

treiben. Sollte er wirklich nur Glück gehabt haben? Das konnte er einfach nicht glauben. Es würde seine eigene Schwäche bedeuten. Dieser Mann musste mehr können, als es den Anschein hatte. Und fast wünschte er sich sogar, dass John Barrington ihn erkannt hatte.

„Ich gehe schon mal rein. Sieh zu, dass du fertig wirst, sonst ist das Essen wieder kalt.“, sagte Alexander und ging davon. Draco nickte kurz, dann arbeitet er zügig weiter.
 

In der kommenden Nacht schlief er unruhig, denn immer noch nagt das Gefühl an ihm, das etwas passieren würde. Er hatte dieses Gefühl schon so oft gehabt und immer war etwas geschehen. Doch nie hatte er sagen können, was geschehen würde oder gar wann. Er konnte immer nur warten.

Wie sehr er es doch leid war. Er fühlte sich machtlos und seinem Schicksal ausgeliefert. Gefühle die ihm vor nicht allzu langer Zeit unbekannt waren. Bis vor etwas mehr als einem Jahr, war er es allein gewesen, der sein Schicksal bestimmt hatte.

Am nächsten Tag beendete er die Arbeiten im Wald. Er hatte am Vortag so viel gearbeitet, dass er bereits gegen Mittag fertig war und da kein Besuch von unliebsamen Leuten angekündigt war, kehrte er zurück. Die Pferdeställe müssten wieder gesäubert werden und vielleicht hatte Alexander noch Zeit mit ihm zu üben, überlegte er auf dem Rückweg. Wenn nicht, könnte er mit Hera noch ein wenig ausreiten.

Doch als er auf das Gut kam, sah er einen besorgten Zug um Alexanders Mundwinkel, der gerade Wasser holte. Draco stieg ab und führte Hera zum Stall. Er passierte Alexander und sah ihn einen Moment an, darauf wartend, dass er ihm erzählt, was geschehen sei. So wie er es sonst immer tat. Er erwartete, dass Barrington sich noch einmal gezeigt hatte.

„Susan geht es heute wieder schlechter.“, sagte er sattdessen. Draco konnte verstehen, dass er sich sorgte, doch war es auch nichts Ungewöhnliches. In den letzten Wochen hatte es immer Schwankungen gegeben. „Sie hat sich hingelegt und schläft. Sei also leiser, wenn du ins Haus gehst.“ Er nickte kurz, wartete aber noch. „Und Barrington war wieder da!“, stieß Alexander aus und dieses Mal war die Wut nicht zu überhören. Also wusste er es doch, dachte er still.

„Er will, dass ich mit ihm in drei Tagen zu Jagd gehe und ich kann nicht mal ablehnen!“, sagte Alexander weiter laut.

„Warum nicht?“

„Weil...“, Alexander atmete einmal tief durch, als wolle er sich erst beruhigen, bevor er ihm antwortete. „Ich habe es versucht. Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Frau gerade jetzt nicht mehr gern allein lasse. Er hat zwar zustimmend genickt, dann aber gefragt, was ich mache, wenn ich meine Schwester besuche oder in der Stadt bin.“

„Ich bin dann da.“, kam Draco ihm zuvor und ihm war klar, wie der Rest des Gespräches verlaufen war.

„Ja! Also sagte er, dass dem nichts mehr im Wege steht, da du ja auf sie achten wirst. Als ich sagte, dass das nicht so einfach ist, fragte er mit einem seltsamen Ton in der Stimme, ob es irgendein Problem mit dir gäbe. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu sagen, dass ich liebend gern mit ihm mitkomme?“ Die letzten Worte hatte er so betont, als hätte er sie ausgespuckt. „Mir fällt nichts ein, wie ich das ganze doch noch umgehen könnte!“

„Es macht mir nichts aus, nach ihr zu sehen.“, antwortete Draco schlicht und meinte es auch so. Es war nicht so, dass er ständig an ihrem Bett sitzen musste.

„Ich weiß, aber ich will einfach nicht nach seiner Pfeife tanzen, verstehst du das denn nicht?!“ Draco sparte sich eine Antwort darauf. Natürlich verstand er das. „Ach...“, stöhnte Alexander dann. „Es bringt ja doch nichts sich darüber aufzuregen. Er will bereits in drei Tagen nach Tagesanbruch da sein, sieh also zu, dass du an dem Tag länger in deinem Zimmer bist oder eher bei den Pferden, ist mir egal. Er soll dich bloß nicht zu Gesicht bekommen.“

Mit diesen Worten nahm Alexander den Wassereimer und trug ihn ins Haus. Draco blickte ihm noch einen Moment hinterher. Er beneidete Alexander nicht im Geringsten, dachte er, als er seinen Arbeiten nachging. Er musste sich diesen Menschen beugen, ob er wollte oder nicht und wenn er es wagte sich ihm zu wiedersetzen, musste er mit einer hohen Strafe rechnen. Draco wusste, dass

Alexander sich davon nicht abschrecken lassen würde, aber Susan hindert ihn. Für sie steckte er zurück. Draco wusste nicht, ob er genauso handeln könnte.
 

Die Tage vergingen schnell und es gab genug zu tun. Das Holz, welches er geschlagen hatte, musste auf den Hof gebracht werden, um die Wintervorräte wieder aufzufüllen. Der nächste Winter... Draco konnte sich ihn nicht so recht vorstellen. Selbst der Herbst schien noch unendlich weit weg. Er konnte nicht sagen, ob der im nächsten Winter noch immer bei Alexander sein würde. Er wollte auch gar nicht weiter darüber nachdenken. Es führte ihn nirgendwohin. Das hatte er schon zu oft feststellen müssen.

Der Morgen des dritten Tages brach ruhig an. Da Draco in der Nacht zu vor noch lange auf gewesen war, um in diesem merkwürdigen Buch zu lesen, welches Alexander ihm vor langer Zeit schon gegeben hatte – es ging dabei um einen sogenannten Gott, der die ganze Welt erschaffen haben soll, die Menschen wurden lächerlich alt und dann wollte Gott die Menschen durch eine Sintflut wieder vernichten – schlief er länger als gewöhnlich und erwachte erst dann, als er von draußen Pferdehufen hören konnte. Angespannt blieb er im Bett liegen. Vielleicht war es doch nicht so schlecht gewesen, dass er noch so lange in dem Buch gelesen hatte. Alexander hatte ihm ja gesagt, er sollte länger in seinem Zimmer bleiben. Es klopfte an der Tür und gleich darauf hörte er Schritte auf den Dielen des Holzfußbodens. Er erkannte sie als Alexanders, der nun die Tür öffnete. Leise setzte Draco sich auf und ging zur Tür. Er brauchte nur davor zu stehen und verstand jedes gesprochene Wort. Zuerst erkundigte sich John Barrington nach Susan und tat sein Mitgefühl kund, wie schlecht es ihr doch ginge, glücklicherweise konnte er das von seiner Frau nicht sagen. Diese Worte ließen Draco aufhorchen und er konnte nicht anders als Erleichterung zu verspüren. Er hatte es vermieden Alexander nach Annie zu fragen, doch es beruhigte ihn nun, es zu hören. Auch, wenn es von demjenigen kam, der sie ihm genommen hatte. Doch dann fragte er nach Drake, mit der Begründung, dass der Wald ja tadellos aussehe. Sofort versteifte sich sein Körper und er hörte noch konzentrierter zu. Alexander zögerte nicht mit einer Antwort. „Er ist bereits im Stall und hat mein Pferd gesattelt. Des Weiteren habe ich ihnen ja schon gesagt, dass er äußerst Menschenscheu ist und sich deswegen eher im Hintergrund hält.“, hörte ihn Draco deutlich sagen. Darauf musste Barrington wohl nichts erwidern, dann Draco hörte ihn nicht antworten. Aber obwohl er nicht dabei stand, hatte er dennoch das Gefühl, dass etwas Unausgesprochenes in der Luft lag. Dann hörte er die Tür schließen und es kehrte Stille im Haus ein. Er konnte die Stimmen von Barrington und Alexander nur noch gedämpfte hören. Es ging mal wieder um Hera. Es wurde noch kein Hengst für sie gefunden.

Wenig später hörte er die Hufen über die Erde donnern, dann trat Still ein. Sie waren davon geritten. Draco verließ sein Zimmer und stellte sich an das Fenster in der Küche, um nur noch in der Ferne die Reiter sehen zu können. Im Anschluss ging er leise nach oben in das Schlafzimmer. Alexander hatte ihm die Erlaubnis gegeben es zu betreten, um nach Susan zu sehen. Draco stieß die Tür leise auf und blickte in einen Raum, der genauso schlicht, wie die des restlichen Hauses waren. Das Bett, welches in der Mitte stand, war größer als sein eigenes und Susan schlief ruhig darin. Neben dem Bett standen auf beiden Seiten kleine Nachtschränkchen und auf Alexanders Seite eine Kerze darauf. Das Fenster ließ ihn auf den Wald blicken in den Alexander geritten war. Zwei große Truhen standen noch in der Ecke und Draco glaubte zu ahnen, dass sie das gleiche enthielten wie Annies einst. Susan schien noch fest zu schlafen.

Rasch verließ er das Zimmer wieder. Er erledigte seine Pflichten und schaute ab und an nach Susan, die den ganzen Morgen im Bett verbrachte und schlief. Bevor Alexander Wüstensand gesattelt hatte, hatte er das Mittagessen aufgesetzt, welches Draco dann nur noch auf Teller verteilen musste. Erst zu dieser Zeit, wagte er es Susan zu wecken. Sie aßen schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken und Draco sah Susan an, dass es ihr schwer fiel überhaupt etwas zu sich zu nehmen.

„Wann er wohl zurück kommt?“, fragte sie auf einmal in die Stille und Draco zuckte nur mit den Schultern. Es war erst Mittag und er wusste nicht, wie lange so eine Jagd dauern konnte, aber offenbar waren sie noch nicht erfolgreich gewesen. Kein Wunder, dachte er. Nur mit einem Pferd und ein paar Pfeilen würde er auch nichts jagen können.

„Du hast dich sicher gelangweilt, das tut mir Leid.“, entschuldige sich Susan auf einmal.

Draco schüttelte kurz den Kopf. Langweilig war ihm nicht, auch wenn er sich wünschte, Hera einfach nehmen zu können und mit ihr auszureiten.

„Wie findest du Cornelia, als Namen für das Kind?“, fragte sie ihn plötzlich und Draco verschluckte sich dabei an seinem Essen und musste laut husten. Erst als er sich einigermaßen wieder beruhig hatte, sah er sie fragend an.

„Entschuldige, wenn ich dich damit überrascht habe.“, lächelte Susan. „Es ist nur so, dass ich mich irgendwie ablenken muss, um nicht ständig darüber nachzudenken, was geschehen könnte oder nicht und da beschäftige ich mich sehr gern mit dem Namen, den mein Kind einmal haben soll, kannst du das verstehen?“

Draco nickte kurz, obwohl es gelogen war. Er konnte sie überhaupt nicht verstehen und schon gar nicht wollte er sich darüber Gedanken machen. Deswegen sagte er: „Solltest du das nicht mit Alexander besprechen?“

Bei Susan antwortete er irgendwie bereitwilliger, fiel ihm auf. Mit ihr redete er hin und wieder sogar recht gern. Sie war ehrlich und einfach. Sie sagte, was sie dachte und vermochte es auf ihren Mann einzuwirken, ohne dass dieser es allerdings merkte, hatte Draco beobachtet. Das faszinierte ihn und er fragte sich ein ums andere Mal, wie sie es wohl bewerkstelligte. Außerdem drängte sie ihn nie zu Antworten.

„Ja, schon. Aber er hält es für ein schlechtes Zeichen jetzt schon darüber nachzudenken, wenn das Kind noch nicht einmal geboren ist. Allerdings, wenn ich erst darüber nachdenke, wenn es da ist, ist es doch zu spät oder nicht?“, fragte sie ihn immer noch lächelnd. Wieder konnte er nur mit den Schultern zucken. Noch nie hatte er darüber nachgedacht, welche Namen die Menschen ihren Kindern gaben oder wann. Er selbst hatte seinen von Annie erhalten und die Bedeutung seines Namens war klar. Aber bei einem menschlichen Kind?

„Also wie findest du Cornelia?“, fragte sie noch einmal. Draco atmete hörbar aus. Offenbar würde er um dieses Gespräch nicht herum kommen. „Bedeutet es etwas?“, fragte er deswegen.

„Ich glaube es war ‚Die gerecht Zornige‘.“

Draco sah sie skeptisch an und sein Blick muss wohl sehr deutlich gewesen sein, dann Susan machte gleich darauf eine wegwerfende Handbewegung und sagte: „Du hast recht, kein passender Name für ein kleines Mädchen.“

„Wird es denn ein Mädchen?“ Bei ihnen, den Monddrachen, wusste man nie, was geboren werden würde, aber vielleicht war das bei den Menschen anders?

„Ich weiß es nicht.“, wiedersprach Susan seinen Überlegungen. „Aber ich hätte gerne eines.“

„Warum?“

„Ich möchte es hübsch anziehen und sie könnte mir dann bei der Arbeit im Haus helfen. Wenn sie älter wäre, hätte ich jemanden mit dem ich abends vor dem Kamin sitzen und plaudern könnte. Nebenbei Sticken wir etwas oder Stricken im Herbst Pullover und machen es uns mit einer Tasse Tee gemütlich. Mit einem Jungen ginge das nicht.“, sagte sie mit Bedauern in der Stimme. „Obwohl dann natürlich Alexander eine fleißige Hilfe hätte. Ach, Hauptsache es wird gesund oder?

Wieder sah er sie fragend an. Er konnte ihren Gedanken nicht richtig folgen.

„Noch andere Vorschläge?“, fragte er beinah hilflos.

„Oh, Helena finde ich sehr schön. Es heißt ‚Die Leuchtende‘ oder ‚Die Strahlende.“

Draco nicke kurz und hoffte, dass sie sich damit zufrieden gab. Er konnte zu dem Thema nichts sagen. Susan schenkte ihm ein Lächeln. „Dann ist es beschlossen. Wird es ein Mädchen, wird es Helena heißen.“

„Solltest du nicht erst Alexander fragen, statt mich?“, sagte Draco dann doch noch mit Unbehagen. Die Vorstellung, dass er Einfluss auf den Namen von Alexanders Kind gehabt hatte, gefiel ihm nicht sehr.

„Ja, natürlich mache ich das.“, antwortete sie leichthin und Draco hegte Zweifel, ob sie wirklich immer ehrlich war.

„Wie war das bei dir? Wie kamen deine Eltern auf deinen Namen? Draco ist doch wirklich sehr außergewöhnlich.“, wollte sie weiter wissen und in ihren Augen sah er, dass sie es ernst meinte.

Draco stellte seinen Tonbecher, aus dem er gerade noch einen Schluck nehmen wollte, beiseite. War sie denn immer noch nicht fertig? Sie stellte zu viele Fragen. Fragen, die er ihr nicht beantworten konnte.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete er schlicht. Diese Antwort schien ihm an unverfänglichsten zu sein. Falsche Antwort, dachte er sofort im nächsten Augenblick, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Denn er wechselte von verwirrt zu mitleidig.

„Kanntest du deine Eltern nicht?“

Draco biss sich auf die Innenseite seiner Wange und dachte an seine Eltern, wenn man ihnen diesen Namen geben wollte. Natürlich kannte er sie, die Wesen, die ihn versorgt haben, als er geboren wurde. Doch nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, sie als Eltern zu bezeichnen oder sie als solche zu sehen. Bei ihnen gab es solch einen Begriff nicht.

„Nein.“ Das sollte es beenden und wie um es zu unterstreichen, schob er seinen halbleeren Teller von sich und stand auf. Ohne sie noch einmal anzusehen, ging er zur Tür und öffnete diese.

„Warte.“ Ihre Stimme ließ ihn inne halten. „Es tut mir Leid, wenn ich dich etwas gefragt habe, das mir nicht zusteht.“, entschuldigte sie sich höflich bei ihm. Verwirrte sah er sie an. So etwas hatte Alexander so noch nie getan. Knapp nickte er, dann ging er nach draußen.

Dort atmete er tief durch. Er wurde immer unvorsichtiger. Zu sehr hatte er sich seinem menschlichen Leben hingegeben. Wenn Barrington ihn wirklich erkennen sollte und das noch bevor er selbst bereit dazu war, würde es seine eigene Schuld sein.
 

Alexander kam erst am Nachmittag zurück und seine Laune war nicht gut. Offensichtlich fand John Barrington in Alexander eine interessante Gesellschaft. So nannte er es zumindest und hatte ihn auch noch für die nächsten zwei Male zur Jagd gebeten. Wieder hatte Alexander nicht nein sagen können. Ein Blick in sein Gesicht genügte Draco aber, um zu ahnen, warum Alexander wirklich so schlechte Laune hatte. Barrington handelte nicht aus reiner Freundlichkeit. Er bezweckte etwas damit, nur was, war Draco nicht ganz klar.

Das sollte sich allerdings ändern, als Annies Bruder nach der dritten Jagd nach Hause kam und wirklich wütend war. Er betrat die Küche und knallte die Tür so sehr hinter sich zu, dass Susan erschrocken zusammen zuckte. Draco trat verwundert aus seinem Zimmer, in dem er sich gerade umgezogen hatte.

„Was ist denn los?“, fragte Susan ihren Mann und blickte ihn ein wenig ängstlich an.

„Dieser verdammte...“, stieß Alexander aus und schritt ihm Zimmer auf und ab, als wäre er nicht ganz sicher, was er als nächstes tun wollte.

„Alexander, beruhigt dich bitte.“, versuchte es Susan mit sanften Ton. „Setzt dich hin und erzähle uns was geschehen ist. Ich werde dir einen Tee kochen.“

„Ich will mich aber nicht setzen und ich will auch keinen Tee!“, fuhr er seine Frau an. Augenblicklich wurde seine Gesichtsausdruck sanfter. „Tut mir leid.“, murmelte er.

„Schon gut.“, antwortete Susan schlicht. Draco stand an der Tür zu seinem Raum und beobachtet, das Ganze. Immer wieder hatte Alexander ihm kurze Blicke zugeworfen. Etwas war geschehen, was mit ihm zusammenhing. Hatte Barrington sein wahres Wese erraten?

Alexander setzt sich schließlich doch und Susan brachte ihm einen starken Beruhigungstee.

„Barrington will, dass ich noch einmal mit ihm gehe. Er sagt seine Späher haben einen riesigen Eber in den Wäldern entdeckt und er will eine Treibjagd daraus machen.“

Er musste wohl den kurzen Moment der Verwirrung in seinem Gesicht gesehen habe, denn Alexander erklärte anschließend kurz: „Eine Treibjagd wird von einer auserlesenen Gesellschaft des Adels veranstaltet. Dabei geht es einzig darum ein Tier aufzuspüren und es zu töten. Der Spaß besteht darin, es so lange wie möglich hinauszuzögern. Vielleicht sogar, bis das Tier von selbst tot umfällt.“

Draco bewegte sich unruhig und trat von einem Bein auf das andere. Er konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken fuhr und sich die Härchen an seinem Arm aufstellten. Ja, so eine Jagd war ihm bekannt. Er hatte sie schon einmal erlebt. Die Bilder waren ihm lebendig vor Augen, die Schreie der Menschen, ihre Waffen und die Schmerzen die sie ihm verursacht hatten. Er war das Tier gewesen, was sie in die Enge hatten treiben wollen, bis es tot umgefallen wäre.

„Aber das ist doch eine große Ehre für dich.“, sagte Susan und man konnte hören, dass sie das Verhalten ihres Mannes nicht nachvollziehen konnte.

„Ja...“, stimmte Alexander zu, aber es schien nicht ehrlich gemeint zu sein. „Es werden viele Adlige dabei sein. Alles Leute, die ich nicht kenne oder nicht besonders leiden kann. Und es wird lange dauern. Wer weiß, wann wir das Vieh finden und wann es uns gelingt es zu erledigen. Außerdem will Barrington auch erst gegen Mittag beginnen! Es wird längst dunkel sein, wenn wir den Eber finden und wer weiß, wie lange es dauern wird, ehe wir ihn erlegen können. Es gefällt mir nicht, dich so lange allein zu lassen.“

Susan lachte leicht. „Aber du weißt doch, dass ich nicht allein bin. Draco wird bei mir sein und gestern und heute ging es mir so gut wie lange nicht mehr. Vielleicht pendelt sich die Schwangerschaft jetzt ein und beruhigt sich.“ Alexander schüttelte den Kopf. „Nein, eben nicht. Draco wird nicht da sein. John Barrington will dass er mitkommt.“

Die Treibjagd

Susan sah ihren Mann stumm an und auch Draco war zu keiner Erwiderung fähig. Warum sollte Barrington wollen, dass er mitkommt? Warum? Es sei denn er wusste wer er wirklich war. Anders konnte er es sich gar nicht erklären.

„Warum?“, fragte Susan noch vor ihm. Offenbar konnte sie es genauso wenig glauben. Doch ihre Gründe waren wohl andere als seine.

„Ich weiß es nicht.“, sagte Alexander und klang nun müde. „Er wollte, dass ich dich heute schon mitnehme. Ich habe ihm irgendwas erzählt, dass die Ställe dringend ausgemistet werden müssten. Also hat er die Treibjagd verschoben. Sie wird erst in zwei Wochen stattfinden. Er will unbedingt, dass du mich begleitest. Er will dich dabei haben.“

„Aber warum? Draco ist nur ein einfacher Arbeiter.“, sagte Susan.

„Ja, das habe ich ihm auch gesagt. Aber er besteht darauf, dass jeder der ihn begleitet seinen Pagen mitbringt und da ich keinen habe, soll es Draco sein. Was genau der Zweck davon ist habe ich nicht verstanden. Als ich sagte, dass ich dich nicht allein lassen möchte, erwiderte er nur, er würde sich darum kümmern.“

Draco war nur zu bewusst, was Barrington damit bezweckte. Sie hatten ihn unterschätzt und ein Blick in Alexanders Gesicht verriet ihm, dass er das gleiche dachte.

„Du kannst es dir überlegen und nein sagen.“, bot Alexander an. „Dagegen könnte er nicht viel machen, außer natürlich darauf beharren, dass ich dich ja bezahle, wie er glaubt.“ Mit diesen Worten setzte sich Alexander endlich und strich sich mit seiner großen Hand über den Nacken.

„Geht das denn so einfach?“, fragte Susan und Sorge schwang in ihrer Stimme mit. Offenbar hatte sie John Barrington ebenso durchschaut.

„Draco ist ein freier Mensch, wenn er sich entscheiden würde unseren Hof morgen zu verlassen, könnten wir auch nichts dagegen tun.“

Draco sah Alexander aufmerksam an. Er hatte ihm gerade klar und deutlich einen Vorschlag gemacht. Wenn er ging, würde er Barrington entgehen und könnte eine weitere Begegnung noch ein paar Wochen hinauszögern. Er hätte mehr Zeit zum üben. Er hätte mehr Zeit um davon zu laufen.

Und das würde er auf keinen Fall.

Außerdem würde sein Fehlen diesen Mann nur noch misstrauischer machen.

„Nein, ich komme mit.“, sagte er entschieden.

Alexander sah ihn einen Moment zweifelnd an, nickte dann aber. „Das habe ich mir schon gedacht. Dann werde ich ihm Bescheid geben.“

„Es wird schon alles gut gehen.“, antwortete Susan. „Was soll denn auch geschehen? Barrington wird es dir ja nicht anlasten, dass er Hera nicht haben konnte.“

„Ja, vielleicht. Hoffentlich.“, antwortete Alexander bloß und strich sich müde über das Gesicht.
 

Die nächsten beiden Wochen verschonte Barrington sie mit seiner Anwesenheit, aber ein Bote brachte Nachricht wann und wo die Jagd beginnen sollte. Außerdem würden an dem Tag zwei Kammerfrauen kommen und sich um Susan kümmern.

In diesen zwei Wochen hatte Alexander so schlechte Laune, wie es Draco noch nicht bei ihm gesehen hatte. Er konnte ihn irgendwie verstehen, aber er wollte seine Entscheidung auch nicht ändern.

In dieser Zeit hatte Alexander ihm eingeschärft, dass sie sich am Ende des Jagdzuges halten werden, dass Draco auf keinen Fall sprechen sollte und auch sonst immer in seiner Nähe zu bleiben hatte. Kurzum er sollte so tun als wäre er geistig wirklich so beschränkt, wie Alexander es Barrington weismachen wollte. Und das löste in Draco ein Gefühl aus, das er nicht richtig zuordnen oder benennen konnte. Er wusste nur, dass es ihm ganz und gar nicht gefiel, dass Barrington ihn für schwachsinnig halten sollte, wie es Alexander formuliert hatte. Es würde Barrington nur dazu bringen, seine Überlegenheit auszuspielen. Allein dieser Gedanken ließ Draco gleichzeitig heiß und kalt werden, denn es war eine unumstrittene Tatsache, dass Barrington ihm momentan sehr wohl überlegen war.

Dennoch nahm sich Draco vor, Alexanders Willen zu folgen. Hauptsächlich, um ihn nicht noch weiter in Bedrängnis zu bringen. Ihm war klar, welch Risiko Annies Bruder einging, indem er sich um ihn kümmerte und ihn sogar mitnahm.

Irgendwann würde seine Zeit gewiss kommen, sagte er sich selbst.
 

Der Tag, an dem die Jagd stattfinden sollte, war wolkenlos und sonnenklar. Der Himmel strahlte in einem satten Blau, an dem sich Draco den ganzen Morgen nicht hatte satt sehen können. Als Drache hatte es für ihn nur die Nacht gegeben und das Mondlicht und beides liebte er noch immer sehr. Aber dieses Farbspiel faszinierte ihn und ängstigte ihn zugleicht. Es war schön, das konnte er nicht leugnen und doch noch lange nicht so schön, wie die sternenbehangene, glitzernde Nacht. Dieser helle, blaue Himmel zeigte ihm nur umso mehr, dass er den Himmel nie wieder würde erreichen können. Ganz gleich ob bei Tageslicht oder in der Nacht. Er war unerreichbar für ihn geworden.

Darüber dachte er nach als er sowohl Hera als auch Wüstensand sattelte.

Er war rechtzeitig fertig und so warteten Alexander und er am Nachmittag auf der Koppel auf die Ankunft der Männer, die sie abholen und anschließend zum Jagdtrupp bringen sollten. Die beiden Männer wurden von einer Kutsche begleitet und Alexander weigerte sich seine Frau eher zu verlassen, ehe er sich nicht von den beiden jungen Frauen überzeugt hatte, die Barrington zu ihm geschickt hatte. Schließlich würde er ihnen seine Frau anvertrauen und er gedacht nicht, sie in unerfahrene oder stümperhafte Hände zu geben, wie er sagte.

Alexander ging auf die Kutsche zu, die vor dem Haus gehalten hatte und Draco sah zwei Frauen aussteigen. Nur aus der Entfernung sah er sie kurz an, schenkte ihnen aber keinerlei weitere Beachtung. Als er dieses eine Mal in der Stadt gewesen war, hatte er genug Frau gesehen. Sie alle sahen für ihn irgendwie gleich aus, die Haare vielleicht anders, die Gesichtszüge ebenso, doch keine von ihnen hatte etwas ähnlich Anziehendes an sich, wie es Annie gehabt hatte.

Draco beobachtete, wie Alexander kurz mit ihnen sprach und sie dann ins Haus führte. Offenbar war er zufrieden. Als er den Kopf wandte, nahm Draco war, dass auch er die ganze Zeit von den beiden Männer beobachtet worden war. Unerschrocken begegnete er ihren abschätzenden Blicken, der jedoch gleich darauf auf Hera fiel. Ein abfälliges Lächeln huschte über ihr Gesicht und Draco ahnte, was in ihren Köpfen vorging. Die Menschen waren so einfältig.

Nachdem Alexander wieder bei ihnen war ritten sie schließlich los und wie abgesprochen blieb Draco in Alexanders Nähe, jedoch neben ihm und nicht hinter ihm, wie es vielleicht üblich gewesen wäre. Auf dem Gesicht des anderen erkannte Draco Anspannung und Sorge. Kurz fragte er sich um was sich Alexander wohl merkt sorgte: Um seine Frau oder darum, dass an diesem Tag alles Gut ging. Draco atmete durch und dachte noch einmal daran, dass er sich von Barrington nicht provozieren lassen durfte. Allerdings würde das schwer werden, auch das wusste er. Er brauchte diesen Mann nur zu sehen und seine Wut würde von neuem entflammen.
 

An einer Lichtung, die Draco unbekannt war, stießen sie mit den anderen Männern zusammen. Mit Barrington und Semerloy waren weitere 15 Leute da, zählte Draco schnell. Er machte sich nicht die Mühe zuzuhören, als Barrington Alexander die Herren vorstellte. Vielmehr ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Alexander vor jedem kurz höflich verbeugte.

Draco selbst wurde keinerlei Beachtung geschenkt. Selbst dann nicht, als sie Hera bewunderten. Auch John Barrington schwärmte in höchsten Tönen von ihr, aber Draco fiel auf, dass er verschwieg, was wirklich bei dem Proberitt geschehen war. Vielmehr ließ er es so klingen, als hätte er sie ohne Mühe geritten. Draco grinste innerlich und warf Alexander einen Blick zu, der es aber vermied ihn anzusehen. Als die anderen fragten, wo er dieses prächtige Pferd her hat, antwortete Alexander, dass er sie von seinem Vater als kränkliches Fohlen bekommen hatte, da dieser nichts mit einem so schwachen Tier anfangen wollte. Es konnte ja keiner ahnen, dass sie sich so entwickeln würde.

An diesem Punkt der Unterhaltung hörte Draco wieder sehr genau zu und strich unbewusst Heras Hals entlang. Sie waren sich wirklich auf gewisse Weise erschreckend ähnlich.

Dann ließ er den Blick doch noch über die anderen Männer gleiten und ihm fiel auf, dass die Männer nicht nur Sperre oder Pfeil und Bogen dabei hatten, sondern auch ihre Schwerter. Sie saßen fest an ihren Hüften, immer griffbereit. Er biss die Zähne zusammen. Alexander hatte ihm ausdrücklich verboten, sein eigenes Schwert mitzunehmen. Barrington war ohnehin schon misstrauisch genug, dass er Hera reiten konnte, wenn er dann noch ein so kostbares Schwert mitbrächte, würde ihnen niemand mehr glauben, dass er nur ein einfacher, zum Teil schwachsinniger, Arbeiter war.

Er hob den Kopf, als die Stimmen der Männer verstummte und Barrington ihn aufmerksam musterte. Ebenso wie Jonathan Semerloy. Die anderen Männer sahen sich ein wenig ratlos an und fragten sich wohl, warum John Barrington plötzlich so schweigsam war.

Draco erwiderte seinen Blick kühl, auch wenn es ihm schwer fiel Gleichgültigkeit zu zeigen. Hera begann leicht zu tänzeln und warf den Kopf in den Nacken. Das schien für Barrington das Zeichen zu sein.

„Es scheint, als würde ihr Prachtexemplar unruhig werden, Alexander. Wir sollten also aufbrechen. Doch vorher will ich ihnen natürlich noch erklären, wie wir vorgehen werden.“, rief Barrington und ein Raunen ging durch die Menge, das wohl Zustimmung bedeuten sollte.

Auch hierbei hörte Draco nicht hin. Die Worte rauschten an ihm vorbei und er konnte nicht anders, als genervt auszuatmen und die Augen zu verdrehen. Dabei fiel sein Blick erneut auf Alexander, der ihn streng ansah. Sofort dreht er den Kopf wieder zu Barrington und tat so, als würde er ihm interessiert zuhören. Der ganze Aufwand, so viele Menschen und das nur wegen einem einzigen Eber. Lachhaft!
 

Barrington ritt voran, die anderen folgten ihm hintereinander. Nicht alle hatten einen Begleiter. Sie ritten immer zu weit oder dritt. Draco und Alexander bildeten die Nachhut und als Alexander Draco einen kurzen Seitenblick zuwarf, nickte dieser. Er würde versuchen sich zurückzuhalten und seine Rolle zu spielen. Es war nur ein Tag, sagte er sich immer wieder. Nur ein Tag und beim nächsten Mal würde er e sein, der die Regeln ihres Zusammentreffens festlegte.

Sie ritten eine ganze Weile und Draco zweifelte langsam daran, ob sie wirklich den Eber finden und jagen könnten. Welches Tier mit Verstand bemerkte nicht so viele Menschen, die sich so geräuschvoll auf ihren Pferden durch den Wald bewegten? Sie unterhielten sich ständig in recht lautem Ton.

Waren die Menschen wirklich so dumm? Bei Barrington konnte er sich das nicht so richtig vorstellen, auch wenn er es gern glauben wollte. Aber er hatte schließlich auch ihn gefunden. Doch gerade als er dies gedacht hatte, löste sich John Barrington aus der Spitze des Trupps und ließ sich zu ihnen nach hinten zurückfallen.

„Ist etwas nicht in Ordnung? Ihr seid so schweigsam.“, fragte er an Alexander gewandt.

„Ich bin in Gedanken bei meiner Frau.“, antwortete Alexander höflich. Draco starrte Barrington ohne zu blinzeln an und versuchte dessen Reaktion einzuschätzen. Aber sein Gesicht zeigte keine Regung, nicht einmal Verständnis oder Mitgefühl.

„Natürlich.“, sagte er dennoch und Draco wusste, dass er es nicht so meinte. Es stand in sein Gesicht geschrieben. Draco sah auf und bemerkte, dass auch Semerloy nach hinten fiel. Er beobachtete den Mann. Er war gradlinig und wesentlich attraktiver als Barrington. Sein Aussehen war gepflegt, die blonden Haare in einem Zopf zusammengebunden und grüne, wache Augen. Aber Draco wusste, dass es nur eine Fassade war. Auch Jonathan Semerloy war genauso unberechenbar und tödlich wie John Barrington.

„Es ist wirklich ein sehr schönes Tier.“, lobte Barrington Hera nach einmal. „Habt ihr schon einen passenden Hengst gefunden?“

„Nein, tut mir Leid, noch nicht. Keiner meiner Bekannten hat ein Tier, was auch nur annähernd an sie heranreichen würde. Konnten sie vielleicht schon eines ausfindig machen?“, fragte Alexander höflich zurück.

„Nein, leider auch nicht. Ein Rappe wäre wohl das Beste, aber ich habe noch keinen gesehen, der ihr von der Statur gerecht werden könnte. Aber ich werde mich weiterhin darum kümmern, schließlich möchte ich auch so ein Exemplar in meinem Stall stehen haben.“

„Ich wäre ihnen sehr verbunden.“, erwiderte Alexander und Draco fragte sich einmal mehr, wie er es schaffte, sich so zu verhalten. Lieber würde er sich die Zunge abbeißen, als so etwas zu sagen. Hera bewegte sich unruhig, als hörte sie ganz genau, dass über sie gesprochen wurde und vor allem auch was. Beruhigend streichelte Draco sie noch einmal und sie wieherte kurz als Antwort. Als Draco wieder aufsah, blickte er genau in Barringtons interessiertes Gesicht, der ihn beobachtete hatte.

„Es ist ein wenig seltsam.“, begann er plötzlich und Alexander sah ihn irritiert an.

„Entschuldigen sie, ich kann ihnen nicht ganz folgen.“, sagte er. Barrington hatte den Blick noch immer nicht von Draco genommen und auch Semerloys schien unablässig auf ihn geheftet zu sein.

„Oh, ich meinte das Haar von ihm.“, sagte John Barrington fast beiläufig und zeigte auf Draco. Alexander sah zu Draco und dieser erwiderte seinen Blick kurz, dann richtete er ihn wieder auf Barrington. Er konnte es nicht ertragen, diesen Mann aus den Augen zu lassen, während er sich in seiner Nähe befand.

„Was ist damit?“, fragte Alexander weiter.

„Es schimmert im Sonnenlicht leicht golden, nicht wahr Jonathan?“ Semerloy nickte zustimmend. „Es ist mir bei unserem ersten Treffen bereits aufgefallen und ich wollte mich heute gern überzeugen.“, sprach Barrington weiter.

„Aber das ist doch sicher nichts ungewöhnliches. Immerhin ist er blond und auch das Haar meiner Frau glänzt leicht golden, wenn sie im Sonnenleicht steht.“,

Barrington warf Alexander einen kurzen, abschätzigen Blick zu, als wäre es der größte Unsinn, den er je gehört hatte. „Natürlich.“, sagte er trocken.

„Seit wann ist er bei ihnen?“, fragte nun Jonathan Semerloy.

„Seit dem letzten Herbst.“

„Wo war er davor?“, wollte nun Barrington weiter wissen.

„Das weiß ich nicht. Wie ich ihnen sagte, spricht er nicht.“

Wieder nickte Barrington nur und ritt dann, ohne ein weiteres Wort, wieder voran. Semerloy folgte ihm, ebenso schweigend.

„Wir hätten uns irgendwas einfallen lassen müssen.“, wisperte Alexander unter seinem Bart, doch Draco verstand ihn perfekt. „Er fragt zu viel.“

Draco vermied eine Antwort. Er hatte den gleichen Gedanken.
 

Die Jagd zog sich weiter hin ohne dass sie einen nennenswerten Erfolg vorweisen konnten. Besagten Eber hatten sie noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Die Männer schossen zwar Hasen und Fasane und hielten sich damit bei Laune, aber Alexander wurde merklich unruhiger, wie Draco spürte.

Der Nachmittag zog vorüber, ebenso der frühe Abend. Als die Sonne bereits im Westen stand und begann tiefer zu sinken, machten sie ihre erste Pause. Es wurde Wein, Brot, fetter Schinken und Käse gereicht, doch Draco aß nichts. Er verspürte keinen Hunger. Auch deswegen, weil Barrington ihn nicht aus den Augen ließ. Kurz vor Sonnenuntergang gab Barrington endlich den Befehl, dass sie sich wohl trennen sollten und Draco atmete erleichtert auf. Ebenso Alexander neben ihm. Es war doch absehbar gewesen mit so vielen Menschen keinen Erfolg zu haben, überlegte Draco. Warum also hatte sich Barrington nicht schon früher dazu entschlossen? Sie hätten schon längst wieder zurück sein können, fluchte er still. Als er kurz zu Alexander sah, wusste er, dass er ähnlich Gedanken hatte.

Bevor sie sich trennten, sah Draco noch einmal kurz in den Himmel. Der Mond war bereits schwach zu sehen und würde in dieser Nacht wieder fast voll sein. So wie er ihn am liebsten sah. Dann folgte er Alexander und den anderen beiden Männern, die in ihrer Gruppe waren.

Es begleitete sie ein Mann namens Yarrow mit seinem sehr schmächtig aussehenden Pagen, der noch ein paar Jahre brauchte, ehe er ein Mann werden würde, dachte Draco. Der Junge hatte halblanges braunes Haar bis zum Kinn, ein paar Sommersprossen und braun, grüne Augen. Der Mann Yarrow, war das Gegenteil von ihm. Offenbar suchte Barrington nur Begleitung, die es in Körperumfang mit ihm aufnehmen konnte, dachte Draco bissig. Obwohl Alexander in dieses Schema ganz gewiss nicht fiel und auch dieser Jonathan Semerloy nicht. Aber was machte er sich darum eigentlich Gedanken?, fragte er sich verärgert. Yarrow hatte helles graues Haar, das mit einer Schleife im Nacken zusammengehalten wurde und seinen breiten Kopf nur noch mehr betonte. Seine Ohren standen seltsam ab und seine Augen waren braun. Der Page ritt neben Draco und dieser bemerkte, wie er immer wieder von dem Jungen mit verstohlenen Blicken gemustert wurde. War sein Aussehen wirklich so viel anders, als das von anderen Menschen? Er war doch rein optisch ein vollkommener Mensch. Was also ließ andere so misstrauisch werden?

„Ich bin sehr gespannt, wann wir das Tier endlich finden. Nach Sir Barringtons Beschreibung muss es ja ein sehr großes und außergewöhnliches Vieh sein. Ein Wunder, dass wir es bisher noch nicht gesehen haben.“

„Ich denke, wir waren bisher einfach zu viele gewesen.“, antwortete Alexander und Draco hörte den Unterton in seiner Stimme. Er hielt sich zurück seine Wut nicht an dem armen Mann auszulassen.

„Ja, das kann wohl sein. Aber jetzt werden wir ihn sicher bald finden. Ich möchte gern derjenige sein, der ihm den Todesstoß versetzt, aber das wollen wir doch gewiss alle, nicht wahr? Ich werde mich also anstrengen müssen.“

„Dann wünsche ich ihnen viel Glück dabei.“, sagte Alexander. „Allerdings sollten wir jetzt wohl lieber schweigen, sonst werden wir die letzten sein, die ihn hören.“

Damit schwieg Yarrow erst einmal und Draco stieß dankbar die Luft aus. Wie konnten die Menschen überhaupt jemals erfolgreich bei solch einer Jagd sein, wenn sie ständig nur redeten? Man hörte sie sicher schon meilenweit. Warum nur hatte er sie damals nicht gehört?, fragte er sich ärgerlich.

Inzwischen hatte der Himmel sich in ein dunkles Blau verfärbt und in wenigen Augenblicken würde das Sonnenlicht ganz verschwunden sein. Der Mond strahlte bereits heller und die ersten Sterne wurden sichtbar. Es war genau in diesem Moment, in dem sie ein Rascheln vernahmen, welches links von ihnen kam. Zuerst glaubte sie, es seien die anderen Reiter, die wieder zu ihnen gefunden hatte, so dass sie ihre Pferde anhalten ließen und wartete, wer wohl aus dem Gestrüpp erscheinen würde. Doch schon mit dem nächsten Geräusch, wurde ihnen klar, dass es keiner von ihnen war, der da auf sie zu kam. Das Rascheln wurde von einem Grunzen begleitet, das tief und grollend war. Vor Schreck machte Yarrows Pferd einen Satz nach hinten und warf seinen Reiter fast ab. Im nächsten Augenblick schoss etwas Großes, Schlammbraunes aus dem Gebüsch rechts neben ihnen hervor, das von einem Quieken begleitet wurde. Kurz darauf hörten sie das Geschrei von ungefähr sechs Männern.

Sie hatten ihn endlich gefunden.

„Offenbar ist das ihr Eber. Wollten sie nicht der Erste sein?“, fragte Alexander Yarrow, der mit verschrecktem Gesicht dem Tier hinterher sah.

Gleich darauf stürmten die anderen Männer aus dem Gebüsch, dem Tier hinterher und Alexander riss Wüstensand herum, um dem Tier ebenfalls zu folgen. „Zeit es zu beenden.“, murmelte er dabei und Draco war sicher, dass die anderen es nicht verstanden hatten. Er dachte ganz ähnlich.

Auch er riss Hera herum und folgte Alexander. Inzwischen waren also 10 Leute dem Tier auf der Spur und dieses raste in wilder Panik durch den Wald. Es erstaunte Draco nicht, dass es trotz seiner Körpergröße und Fülle so schnell war. Er hatte schon viele solcher Tiere gesehen, die zuerst wie leichte Beute aussahen. Doch die Angst verlieh ihnen zusätzlich Stärke. Aber das würde das Tier auch nicht retten können. Und dies wusste er aus eigener, bitterer Erfahrung.

Bald hörte er weitere Hufschläge hinter sich. Die anderen mussten den Aufruhr gehört haben und ihnen gefolgt sein.

„Hier ist er!“, rief einer der Männer und Draco sah aus dem Augenwinkeln Barringtons Trupp, der als letztes zu ihnen stieß.

„Einkreisen!“, befahl Barrington mit schriller Stimme und sein Gesicht war puterrot. Draco stieß einen abfälligen Laut aus. Wie stellte der Mann sich das vor? 17 Männer jagten ein Tier und alle ihm hinterher. Das würde niemals gelingen. Nicht so. Der Eber brauchte bloß im nächsten Unterholz zu verschwinden und es war für umsonst. Sie würden die ganze Nacht damit zubringen, weiter nach ihm zu suchen. Einer der Männer warf seinen Speer, doch er verfehlte den Eber knapp. Vor Schreck, schien das Tier noch schneller zu werden, wenn dies überhaupt möglich war.

Draco ließ Hera langsamer werden und sich zurückfallen. Es musste ihm irgendwie gelingen diese Jagd jetzt zu beenden. Das was diese Männer taten war vollkommen sinnlos und ohne Verstand. Er konnte darauf verzichten die ganze Nacht damit zuzubringen erneut nach dem Tier zu suchen. Und er konnte nicht verstehen, wie Alexander den anderen so bereitwillig folgte. Sah er die Sinnlosigkeit in dem Unterfangen nicht selbst? Offenbar war es Alexander egal. Draco wusste, dass er in Gedanken nur bei Susan war.

Draco hob den Blick und sah sich um. Er erkannte bestimmte Merkmal an Bäumen, Formen von Ästen und Blättern, auch wenn sie damals noch jung und zart gewesen waren, wieder. Es sagte ihm, dass er hier schon einmal bei einem seiner unzähligen Ausritte mit Hera gewesen war. Diesen Teil des Waldes kannte er also. Vielleicht würde ihm das helfen, die Sache voranzutreiben. Er ließ Hera ein wenig nach rechts schnellen und ritt dann wieder nach vorn. Wenn es ihm gelingen könnte, den Eber zu umrunden und dann von vorn zu stellen, könnte er den anderen eine Gelegenheit geben ihn zu erledigen. Doch dafür musste Hera schneller sein, als der Eber und er würde wissen müssen wohin das Tier rannte. Floh es einfach nur blind oder wusste es wohin es wollte?

Draco rief sich diesen Teil des Waldes ins Gedächtnis und versuchte sich in den Eber hineinzuversetzen. Schon oft hatte er diese Tierart gejagt und auch erlegt, er kannte also ihre Reaktionen und Instinkte. Wohin würde ein Eber fliehen, um dem sicheren Tod durch seine Verfolger zu entgehen? Welchen Weg würde er wählen? Er musste sie irgendwie abhängen können, sich einen Vorteil verschaffen. Dann fiel ihm etwas Entscheidendes ein.

Es gab hier einen weiteren Teich, doppelt so groß, wie der, der sich in der Nähe von Annies Hütte befand. Er wusste nicht, wie tief der Teich war, aber der Eber würde sicher hindurch schwimmen können. Würde er das tun und seine Verfolger erst herumreiten müssen, hätte das Tier einen klaren Vorsprung. Wildschweine waren gute Schwimmer, das wusste er, auch wenn man es ihnen nicht ansah. Hinter dem Teich war der Wald noch ein wenig dichter bewachsen, es gab genügend Höhlen und dichtes Unterholz, welche der Eber gut als Versteck nutzen könnte. Wenn er es soweit geschafft hatte, wäre es zu spät.

Er würde es einfach versuchen müssen.

Bald schön hörte er links neben sich die anderen Männer, die sich noch immer wilde Befehle zuriefen und sich gegenseitig antrieben. Sie waren noch vor ihm, als spornte er Hera an schneller zu werden. Es dauerte nicht lange, da konnte einen kurzen Blick durch die Bäume auf sie erhaschen. Das Geschrei der Männer klang in Dracos Ohren eher so, als wären sie die gejagten. Doch als er die Männer überholte, wurden ihre Stimmen etwas leiser und er konnte die Geräusche des Ebers, wie er Grunze und sich seinen Weg bahnte, heraushören.

„Schneller.“, flüsterte er leise und versuchte Hera damit noch ein wenig mehr anzutreiben. Als hätte sie ihn verstanden, wurde sie wirklich noch ein wenig schneller. Draco sah ein wenig nach links und konnte etwas Braunes zwischen dem Grün vorwärts rasen sehen. Sie waren auf gleicher Höhe, wie das Tier. Dann überholten sie es, wie ihm ein Seitenblick nach hinten verriet. Er ließ Hera in gleicher Geschwindigkeit weiter galoppieren, bis er sicher war, dass der Abstand groß genug war. Dann lenkte er Hera in einem größeren Bogen nach links. Zu seiner rechten sah Draco den Teich. Sie schienen es gerade noch rechtzeitig geschafft zu haben. Als sie dem Tier direkt gegenüber waren, brachte er Hera zum stehen. Es geschah so abrupt, dass sich Hera einen Moment aufbäumte und laut wieherte. Draco wollte den Eber erschrecken, um den anderen so genügend Zeit zu verschaffen, es einzuholen und zu erlegen.

Das Grunzen wurde lauter und jeden Augenblick würde das Tier durch die letzten Büsche brechen. Auch das Donnern der vielen Pferdehufe konnte er ebenso hören. Es war laut und dröhnend. Seine Instinkte als Jäger waren also noch nicht ganz verschwunden.

Der Eber brach durch die Büsche. Draco hatte eine Hand auf Heras Hals gelegt, um sie zu beruhigen und tatsächlich blieb sie recht ruhig stehen. Dabei war es ein wirklich beeindruckendes Tier, dachte Draco. Der Eber hätte Hera fast bis an die Flacken gereicht, wenn sie nebeneinander gestanden hätten. Die Stoßzähne waren so groß wie Dracos eigener, halber Unterarm und ragten spitz und gefährlich aus seinem speicheltriefenden Maul heraus. Die Augen waren kleine schwarze Punkte in seinem Kopf und funkelten gefährlich.

Das Tier rannte direkt auf ihn zu, ohne langsamer zu werden, aber Hera schien das keineswegs nervös zu machen. Sie blieb ruhig stehen und schien darauf zu vertrauen, dass er das richtige tat.

Die Männer folgten dem Tier dicht hinten auf und einige hatten ihre verbliebenen Speere hoch erhoben. Andere hatten Pfeil und Bogen gespannt. Draco sah zu dem Eber, der ihm nun so nah war, dass er ihm in die Augen sehen konnte. Und in jenem Moment, als sich ihre Blicke trafen, stieß der Eber einen so hohen Schrei aus, als hätte ein Speer in bereits durchbohrt. Das Tier versuchte jäh sein Tempo zu verlangsamen. Es war jedoch so schnell, dass seine Beine unter der Last des Körpers wegknickten und es mit einem lauten Schlag zu Boden ging. Hera wich erschrocken zurück, beruhigte sich aber offenbar gleich wieder. Dennoch konnte sie nicht still stehen und Draco verlangte das auch nicht von ihr.

Kaum war der Eber gefallen, warfen die Männer ihre Speere und schossen ihre Pfeile ab und das Surren, welches davon begleitet wurde, ließ Draco augenblicklich erstarren. Er sah wie die Pfeile auf den Eber niedergingen, wie sie sich durch die Haut in sein Fleisch bohrten und doch war es, als würde er es selbst sein dessen Haut davon zerrissen wird.

Noch einmal spürte er, wie sich viel größere Pfeile ein Loch in seine Schwingen rissen, seine Schuppen durchbrachen und ihn verletzten. Er wusste, wie sich das Tier fühlte, welche Schmerzen es erlitt. Hastig schüttelte Draco den Kopf und die Bilder damit ab. Es war nicht er, der blutend auf der Erde lag. Nicht jetzt. Doch im gleichen Moment stieß der Eber einen so lauten und hohen Schrei aus, dass es Draco das Blut in den Adern gefror. Noch einmal sah er zu dem Tier und erkannte, dass es immer noch lebte. Es wand sich in seinem Tod, kämpfte vergebens dagegen an. So wie er...

Die Männer stiegen von ihren Pferden und näherten sich dem Eber zu Fuß, mit erhobenen Schwertern und Speeren. In ihren Augen lag ein Glanz, der Draco schwindlig werden ließ. Erst jetzt realisierte er, worum es bei dieser Jagd wirklich ging. Es ging um die reine Freude darum das Tier zu quälen, schoss es ihm durch den Kopf. Er selbst hatte unzählig Wesen getötet, er war nicht frei von Tod und Blut. Doch er hatte es immer nur aus Notwendigkeit getan, weil er es zum Leben und Überleben gebraucht hatte, niemals weil er sich an dem Tod labte. Diese Männer hingegen waren das ganze Gegenteil. Sie genossen die Qualen und Schmerzen des Tieres und ergötzten sich regelrecht daran.

So wie sie es auch bei ihm getan hatten.

Wie viele von diesen Männern waren auch dabei gewesen, als er der Gejagte war? Er sah sich ihre Gesichter genauer an und versuchte sie wiederzuerkennen. Noch immer schrien sie und versenkten ihre Schwerter und Speere im Leib des Tieres, das kaum noch atmete. Keiner von ihnen kam ihm bekannte vor und er wusste, dass er sie sofort erkennen würde. Unter den Helmen hatte er nur Barrington und Semerloy erkannt.

Nur unbewusst nahm Draco war, wie Hera vor der Szenerie zurück wich und langsam zur Seite ging, vorbei an dem sterbenden Tier. Plötzlich spürte Draco eine Hand auf seiner Schulter und fuhr erschrocken herum. Es war Alexander gewesen und Draco sah ihn fragend an. Doch dieser erwiderte seinen Blick nicht, sondern drückte seine Schulter ein zweites Mal, bevor er ihn dann losließ. Bisher war Draco noch nicht einmal aufgefallen, das Alexander nicht unter den Schlächtern war. Er saß neben ihm auf Wüstensand und betrachtete, wie er zuvor, das grausame Schauspiel. Auf seinem Gesicht zeigte sich die gleiche Abscheu, wie sie auch Draco empfand.

Der Eber stieß einen letzten hohen Schrei aus, dann sackte sein Körper in sich zusammen und er lag reglos am Boden. Er hatte um sein Leben gekämpft und es war ihm gelungen einen der Männer zu verletzen, der nun auf dem Boden saß und sich das blutende Bein hielt. Ein wenig empfand Draco Genugtuung und vielleicht auch etwas Schuld. Genugtuung, weil auch dieses Tier nicht kampflos erlegen war, Schuld weil ihm vielleicht die Flucht geglückt wäre, wenn er es nicht verhindert hätte. Ein Jubeln und Grölen ging durch die Menge und die Männer klopften sich gegenseitig auf die Schultern, um sich gegenseitig zu beglückwünschen. Draco wurde von diesem Anblick noch übler. Er drehte den Kopf weg und schloss die Augen. Auch, wenn es bereits dunkel war, sah er alles deutlich und klar. Der Mond schien in dieser Nacht sehr hell. Die Luft war erfüllt von Blutgeruch und drehte ihm den Magen um. Er wusste nicht warum, doch er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Aber er schluckte die bittere Galle herunter und bereute es noch mehr, dass er so gehandelt hatte.

„Alexander!“, rief Barrington auf einmal und Draco fuhr herum. „Warum steht ihr da so unbeteiligt! Ihr habt uns die ganze Arbeit überlassen!“ Draco wusste nicht, ob es scherzhaft sein sollte oder bedrohlich. Er verstand überhaupt nichts mehr. Er wollte nur noch weg von diesem Ort.

„Ich wollte mich nicht einmischen. Euch sollte die Ehre gebühren, das Tier zu erlegen. Ihr habt es schließlich entdeckt.“

Barrington sah ihn einen Moment schweigend an, lachte aber schließlich laut. „Das Lobe ich mir doch einmal!“, rief er aus. „Allerdings habe ich eher den Eindruck, dass ihr kein Blut sehen könnt. Ihr seid ganz bleich!“ Die anderen Männer stimmten in das Lachen ein.

Draco hörte wie Alexander ein Geräusch machte, das fast wie ein Knurren klang, doch mit weitaus freundlicher Stimme sagte er: „Ihr habt mich durchschaut, Sir! In der Tat bereitet es meinem Magen keine Freude, gleich so viel davon zu sehen.“

Die Männer lachten abermals schallend und Alexanders Miene verfinsterte sich augenblicklich. Draco fragte sich, wie weit Alexander wohl gehen würde, um es Barrington recht zu machen und vor allem wunderte es ihm einmal mehr, dass er dabei so ruhig bleiben konnte.

„Was ist mit eurem Begleiter?“, fragte Barrington weiter und Draco sah, dass Alexander ebenso überrascht von dieser Frage war, wie er selbst.

„Was meint ihr?“

„Auch er sitzt noch immer auf seinem Pferd, ohne sich zu beteiligen.“

Draco sah sich kurz um. Auch die verbliebenen Pagen saßen noch auf ihren Rössern und sahen ihren Herren zu. Bis auf einen, der das Bein seines Herren verband. Niemand von ihnen hatte sich beteiligt. Warum wurde also gerade er gefragt?

„Er weiß sehr genau, dass es ihm nicht zusteht, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angehen. Er kennt seinen Platz.“, antwortete Alexander dennoch ohne Umschweife und ohne auf die anderen zu verweisen.

„Wie ihr meint. Ich frage mich aber, woher er wusste, wohin das Tier fliehen würde. Er hat ja offenbar am Teich auf es gewartet.“, sprach Barrington weiter und die anderen stimmten murmelnd zu.

Alexander sah nun zu Draco, offenbar nicht wissend, was er darauf antwortete sollte. Es war eine Frage, die nur Draco beantworten konnte. Dieser wusste das und er wusste ebenso, dass Alexander das auch von ihm erwartete. Er sah zu Barrington und zuckte schließlich mit den Schultern. Er war nur ein einfacher Arbeitet, ohne viel Verstand, hatte Alexander ihm eingeschärft. Diese Geste, war die einzige, die ihm also angemessen war.

„Er hatte mehr Glück, als Verstand.“, sagte einer der Männer. „So etwas geschieht nur den Schwachsinnigen.“

„Ja, in der Tat.“, stimmte ein anderer zu und die anderen murmelten ebenfalls ein ja. Damit wandte sich Barrington ab und Draco hörte, wie Alexander neben ihm, erleichter die Luft ausstieß.
 

Da es bereits dunkel war, machten sich die Männer daran Seile an den Beinen des Ebers zu befestigen und eines am Hals. Barrington hatte beschlossen, dass er das Tier mit auf die Burg nehmen würde. Am nächsten Tag wollten sie es gemeinsam zerlegen und es sollte ein großes Festmahl geben. Da es niemand wagte ihm zu wiedersprechen, banden sie die anderen Enden der Seile an Barrington und Semerloy Satteln fest, damit ihre Pferde das tote Tier hinter sich her ziehen konnten. Die beiden Männer ritten wie zu Beginn voraus, die anderen hinter ihnen und Alexander und Draco bildeten wie zuvor den Schluss.

Bis zum Waldrand ritten die Männer gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege. Auch Alexander verabschiedete sich von Barrington.

„Ich sehen schon ihr könnt es nicht erwarten zu eurer Frau zurückzukehren.“, sagte Barrington spitz.

„Ich mache mir ehrlich Gedanken um sie.“, bestätigte Alexander ernst. „Es geht ihr wirklich nicht gut.“

„Glauben sie etwa die Mädchen, die ich ihnen geschickt habe, könnten nicht auf sie aufpassen?“, fragte Barrington scharf und Alexander erwiderte sofort: „Natürlich nicht, aber mir ist es lieber, wenn ich bei ihr bin. Ich möchte mir keiner Vorwürfe machen müssen, wenn doch etwas Unvorhergesehenes eintritt.“

„Ja,ja.“, winkte John Barringon ab. „Gehen sie nur. Ich hoffe doch aber, es war keine Qual mich heute begleiten zu müssen.“

„Auf keinen Fall, Sir. Es war mir ein Vergnügen, Zeuge eures großen Erfolges zu werden.“, schmeichelte Alexander ihm.

„Das will ich hoffen.“, antwortete der dicke Mann kühl und wandte dann sein Pferd, doch plötzlich blieb er stehen und sah noch einmal zu Draco. Dieser hatte das erwartet und begegnete seinem Blick fest.

„Sehr interessant.“, stieß Barrington aus und Alexander sah ihn verwundert an. Draco sah es aus den Augenwinkeln, denn sein Blick hatte sich nicht von Barrington gelöst.

„Was meint ihr?“, fragte Alexander schließlich, da John Barrington Draco noch immer fasziniert betrachtete.

„Findet ihr nicht auch Jonathan, dass es wirklich höchst interessant ist, wie sich die Haare des jungen Mannes im unterschiedlichen Licht verändern.“, wandte sich Barrington an seinen Nachbarn.

Draco erstarrte augenblicklich. Er ahnte, wovon Barrington sprach. Annie hatte es mehrmals erwähnt und war ebenso fasziniert gewesen.

„Ja, wirklich in der Tat. Seine Haare glänzen im Licht des Mondes silbern, wo sie doch im Schein der Sonne golden schienen. Bei jedem anderem Menschen mit diesem hellen Ton würden sie wohl weiß erscheinen. Wirklich sehr beeindruckend.“, stimmte Jonathan Semerloy zu und Draco sah einen erschrockenen Ausdruck auf Alexanders Gesicht treten. Allerdings nur kurz, denn Annies Bruder hatte sich schnell gefangen und schaute nun ebenso scheinbar interessiert.

„Das ist mir noch nie aufgefallen.“, sagte er dann, als sähe er es wirklich zum ersten Mal.

„Ach wirklich?“

„Ja.“, antwortete Alexander fest.

„Wusste sie, Alexander, dass es eine ganze bestimmte Drachenart gibt, deren Schuppen ähnlich wie die Haare ihres Begleiters auf das Sonnen- und Mondlicht reagieren?“

„Tatsächlich?“, fragte Alexander verblüfft. „Nein, das war mir nicht bekannt.“

„Doch, doch.“, bestätigte Barrington. „Bei den Monddrachen ist es so. Nun, eigentlich hat noch niemand einen Monddrachen bei Sonnenlicht gesehen, aber ich haben ihnen ja bereits erzählt, dass ich schon einmal einen fast erwischt hätte.“

„Ja, Sir, daran kann ich mich erinnern.“

„Und sehen sie, an diesem Tag schien die Sonne und der Drache kam aus seiner Höhle und seine Schuppen glänzten wie Gold, wobei sie doch die vorherigen Male, in denen ich ihn im Mondeslicht beobachtet hatte, immer wie Silber erschienen.“

Alexander antwortete nicht, wobei Draco das auch nicht erwartet hatte. Was wollte oder konnte er dazu auch noch sagen? Draco wusste, dass Barrington indirekt seine Vermutung laut ausgesprochen hatte. Nur mit Mühe unterdrückte Draco den Wunsch sich auf den Mann zu stürzen und ihn zu töten. Das Wissen, dass er ihm und den verbliebenen Männern unterlegen war, hielt ihn zurück. Draco konnte die Augen von Barrington nicht abwenden und wusste, dass er ihm damit fast die Antwort gab.

„Ich frage mich, warum das wohl bei diesem Drake hier so ist.“, flüsterte Barrington leise.

„Zufall.“, antwortete Alexander und zuckte mit den Schultern. „Oder wissen sie vielleicht etwas mehr, was sie nicht mit uns teilen wollen?“, fragte er direkt weiter und aus seiner Stimme war alle Freundlichkeit gewichen.

„Ich weiß gar nichts. Ich vermute nur.“, erwiderte Barrington flüsternd.

„Wollen sie diese Vermutungen mit uns teilen?“

„Nein, ich denke dafür reicht es noch nicht. Aber ich irre mich bestimmt auch. Viel Verstand scheint ihre Begleitung wirklich nicht zu besitzen.“ Nun klang sein Ton schon wieder schärfer und herablassender.

„Dann wünsche ich ihnen eine geruhsame Nacht.“, verabschiedete sich Alexander und Draco folgte ihm. Er konnte den Blick Barringtons noch immer in seinem Rücken spüren. Unter seinem Bart wisperte Alexander scharf: „Drehe dich bloß nicht um.“

So wiederstand Draco dem Drang, den er schon fast nachgegeben hätte.
 

Es kam Draco vor als würde der Rückweg schneller gehen. Sie hatten den Hof noch vor Mitternacht erreicht. Während Alexander augenblicklich nach Susan sah, brachte Draco die Pferde in den Stall. Er sattelte und rieb sie ab und gab ihnen anschließend noch Futter und Wasser. Im Anschluss verriegelte er die Boxen von Wüstensand und Hera und als er den Stall verließ, waren auch die Mädchen, die Barrington geschickt hatte, verschwunden.

Er ging in das Haus und fand Alexander noch in der Küche, der sich gerade einen Tee gekocht hatte und ihm auch eine Tasse auf den Tisch stellte.

„Wie geht es ihr?“, erkundigte sich Draco nach Susan. Es war zwar ungewöhnlich für ihn, aber er merkte, dass sich Alexander Anspannung auch in dieser Beziehung auch auf ihn übertragen hatte. Er mochte Susan wohl wirklich, wurde ihm klar.

„Es geht ihr gut, sie schläft jetzt. Sie haben sich wirklich gut um sie gekümmert, das kann man nicht abstreiten. Was hast du gemacht?“, fragte er schließlich und schloss die Finger um die heiße Tasse.

Fragend sah Draco ihn an und nahm seine eigene Tasse in die Hand. Der Tee roch nach unterschiedlichen Kräutern auf einmal, Kamille und Hagebutte konnte er erkennen, die anderen schienen neue zu sein. Vielleicht solle er sich irgendwann einmal damit beschäftigten. Als hätte er keine anderen Sorgen, dachte er bissig.

„Was meinst du?“, fragte Draco. Er war doch den ganzen Tag mit ihm zusammen.

„Der Eber hat dich gesehen und plötzlich schien es so, als wären wir das kleinere Übel, dem er sich ergeben wollte. Ich hatte den Eindruck, er hätte Angst vor dir. Dabei machen die Tiere, wenn sie erst einmal in Rage sind, vor nichts mehr halt. Vielleicht hat er gespürt, dass du anders bist.“

Draco antwortete nicht. Er wusste, dass die Tiere anders auf ihn reagierten und der Gedanke, dass sie vielleicht spürte, was er wirklich war, war ihm auch schon gekommen. Alexander schien ihn zu keiner Antwort zu drängen oder gar zu erwarten.

„Allerdings glaube ich, dass Semerloy es auch gesehen hat. Er war neben mir und hat einen Moment gezögert bevor auch er sich auf das Tier stürzte.“, sprach Alexander weiter. „Ich glaube er hat das gleiche gedacht, wie ich.“ Alexander rieb sich die Augen. „Es war so ein großer Fehler dich mitzunehmen. Sie hatten genügend Zeit dich anzusehen. Das mit deinen Haaren ist mir zum Beispiel noch nie aufgefallen.“

„Annie hatte es einmal erwähnt.“, sagte Draco nachdenklich. „Ich selbst kann es nicht beurteilen.“

„Hatten sie zuvor nur eine Vermutung, dann hat sich diese jetzt bestärkt. Die Sache mit dem Eber war wirklich merkwürdig und dass er so von deinen Haaren geredet hat, kann nichts Gutes heißen.“

„Vielleicht sollte ich ihm gleich gegenübertreten.“, überlegte Draco laut.

„Nein!“, widersprach Alexander sofort heftig und Draco hatte auch nichts anderes erwartet. „Du weißt, dass das unsinnig ist. Du könntest nicht gegen ihn bestehen, selbst wenn er Fair kämpfen würde und ich bezweifle, dass er das tut. Ich weiß, es fällt dir schwer zu warten und dich in Geduld zu üben, aber dir wird nichts anderes übrigbleiben, wenn du dieses Zusammentreffen mit ihm überleben willst.“

Daraufhin antwortete Draco nichts, sondern sah Alexander nur an. Dieser Schnaubte kurz durch die Nase und schüttelte dann den Kopf. Er hatte wohl verstanden. „Oder wenn du ihn wirklich töten willst.“, fügte er deswegen an.

„Wir müssen dafür sorgen, dass er nicht noch einmal Gelegenheit bekommt, dich so gründlich anzuschauen.“

Draco seufzte leise. Er wusste nicht, ob er sich wirklich nach Alexander richten sollte. Doch Alexander hatte mehr Erfahrung. Er kannte Barrington besser. Aber auch er konnte sich irren.
 

Nach jener Jagd ließ sich John Barrington drei Wochen nicht mehr auf dem Hof blicken. Langsam wollte Draco glauben, dass er sich eventuell doch in ihm getäuscht hatte. Vielleicht hatte er ihn überschätzt. Möglichweise war es wirklich nur Zufall gewesen, dass er ihn damals in seiner Höhle gefunden hatte und vielleicht auch wirklich nur ehrliches Interesse, das ihn nach seinen Haaren hatte fragen lassen.

Auf dem Hof ging alles seinen gewohnten Gang, ohne besondere Vorkommnisse. Alexander ritt zwar öfters in die Stadt, kehrte aber jedes Mal ohne ernst Miene zurück. Barrington hatte nicht noch einmal nach Draco gefragt und schien auch nicht mehr darauf erpicht ihn noch einmal persönlich zu treffen.

Dennoch wurde Draco das Gefühl nicht los, dass es zu still geworden war. Barrington hatte zuvor so viel Interesse an ihm gezeigt und nun kam plötzlich nichts mehr. Gerne wollte er glauben, was Alexander sich einzureden versuchte. Was Draco misstrauisch bleiben ließ, war etwas was Alexander einmal nach seinen Besuchen bei Annie erwähnt hatte. Barrington wollte immer wissen, wann Alexander das nächste Mal kommen würde. Er sollte ihm unbedingt Bescheid geben, damit er ihn persönlich empfangen könnte und sie über einen Rappen für Hera reden konnten. Draco konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Barrington so viel Hingabe für irgendetwas aufweisen konnte.
 

Es geschah an jenem Tag, an dem Alexander bereits das dritte Mal in dieser Woche in die Stadt ritt. Er wollt Besorgungen machen, anschließend Annie besuchen und ein weiteres Treffen mit John Barrington hinter sich bringen, wie er es selbst bezeichnete. Draco besserte kaputte Stellen im Koppelzaun aus, während er hin und wieder einen Blick auf Susan hatte. Diese saß im Garten und hatte einen Korb Flickwäsche mitgenommen. Die letzten Tage war ihr Zustand gleich geblieben, aber nicht unbedingt besser geworden. Sie war oft müde und angespannt und schlief in kleinen Pausen, die sie von ihren Haushaltspflichten machte, auch sofort ein.

Mit Hammer und Nagel befestigte Draco gerade eine Holzlatte, während Hera hinter ihm stand und an seinem Rücken näselte. Er stieß sie ungeduldig mit dem Ellenbogen weg, denn er wusste genau was sie wollte. Doch der Ausritt musste warten, bis er seine Arbeit erledigt hatte. Natürlich würde Alexander es auch akzeptieren, wenn er es später beendete, aber es gab noch genug andere Arbeiten für die nächsten Tage. Es war unglaublich, denn kaum hatte er eine Sache erledigt, wartete schon die nächste. Die Arbeit auf solch einen großen Hof schien nie aufzuhören, dachte er mühselig. Als er Hera abermals wegstieß, hob er kurz den Blick und sah eine Bewegung aus der Richtung in die Alexander sonst immer in die Stadt ritt. Er beachtete es nicht weiter, da er glaubte Alexander wäre bereits zurück. Erst im nächsten Moment realisierte er, dass es zwei Pferde gewesen waren, die er gesehen hatte. Hera trat plötzlich zurück und verlor ihre Ruhe. Er sah, wie sie neugierig den Kopf hob, die Nüstern in die Luft gereckt.

Als Draco die Männer erkannte ließ er Hammer und Nägel augenblicklich fallen. Es waren John Barrington und Jonathan Semerloy.

Sie hatten wie immer ihre Schwerter dabei, dass war es auch nicht, was Dracos Herz schneller schlagen ließ, sondern der Bogen und Pfeilköcher auf Semerloys Rücken. Als würden sie abermals zur Jagd gehen. Kurz schweifte Dracos Blick zu Susan in den Garten, doch er konnte sie von seinem Standpunkt aus nicht sehen. Wahrscheinlich war sie bereits wieder eingeschlafen. Ruhig stand er da und überlegte, was Barrington auf dem Hof wollte. Alexander wollte sich doch heute ohnehin mit ihm treffen und das Treffen war arrangiert gewesen. Barrington hatte also gar keinen Grund hier zu sein, dachte er.

Während die beiden Männer langsam auf ihn zukamen, sahen sie sich nicht einmal um. Als wüssten sie genau, dass Alexander nicht da war. Sie waren wegen etwas anderem hier, wurde ihm bewusst. Im gleichen Moment nahm Semerloy seinen Bogen von der Schulter und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Vor Überraschung stolperte Draco ein paar Schritte rückwärts. Er hatte gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde, trotzdem kam es vollkommen plötzlich für ihn.

Er wusste nun genau, warum sie da waren.

Sie hatten nur darauf gewartet, dass Alexander nicht auf dem Hof sein würd! Semerloy spannte den Bogen, den Pfeil auf sein Herz gerichtet. Ohne nachzudenken drehte sich Draco um und rannte die wenigen Schritte zu Hera. Mit geübtem Griff faste er in ihre Mähne und schwang sich auf den Rücken des großen Tieres. Ohne, dass er ihr einen direkten Befehl geben musste, galoppierte sie los und sprang in einem hohen Bogen über den Zaun. Dann schnellte sie in die andere Richtung davon.

„Jonathan!“, schrie Barrington laut und als Draco kurz nach hinten blickte, sah er das Semerloy den Bogen kurz sinken ließ und ihn in eine neue Position brachte, aus der er besser auf ihn Zielen konnte.

Barrington brüllte: „Jetzt!“ und kurz darauf schlug Hera einen Haken nach links. Der Pfeil verfehlte ihn, doch aus den Augenwinkeln sah Draco, dass Semerloy bereits einen weiteren anspannte. Er wusste, dass Hera schneller war, als die beiden Männer, doch er wusste aus eigener Erfahrung auch, dass Semerloy ein guter Schütze war. Seine Hände verkrampften sich in Hera Mähe, um nicht den Halt zu verlieren. Vor sich sah er den Wald. Wenn er diesen erreichen konnte, konnte er sie abhängen. Trotz dieser Situation konnte Draco nicht anders und dachte an den Eber. Sie waren gleich.

Draco hörte hinter sich ein Surren, das ihn abermals schlecht werden ließ, doch dieses Mal hatte er keine Zeit sich in seinen Erinnerungen zu verlieren. Gerade noch rechtzeitig riss er seinen Oberkörper nach rechts und glaubte den Pfeil noch einmal ausgewichen zu sein, als er einen kurzen, aber doch intensiven Schmerz in der linken Schulter spürte. Der Pfeil hatte ihn getroffen. Mit der rechten Hand griff er nach seiner linken Schulter und als er sie nach vorn zog, sah er Blut an seinen Fingern haften. Es war nur ein Streifschuss gewesen, dachte er schnell und ein wenig erleichtert. Dann Blickte er wieder nach hinten und sah, dass Barrington und Semerloy immer noch dicht hinter ihm waren. Wie war es Semerloy möglich, dass er noch während des Reitens so genaue Pfeile abschießen konnte? Fast hatte er den Waldrand erreicht.

„Semerloy, mach endlich!“, brüllte Barrington noch einmal hinter ihm, doch dieses Mal warf Draco keinen Blick zurück. Gleich würden ihm die Bäume genug Schutz spenden. Doch kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, spürte er ein seltsames Prickeln in seiner Schulter. Genau an der Stelle, an der der Pfeil ihn zuvor gestreift hatte. Abermals berührte Draco die Stelle, konnte aber keine Veränderung feststellen. Es war nur eine kleine Wunde, nichts worüber er sich Sorgen machen müsste und er hatte schon weitaus schlimmere Verletzungen gehabt. Dennoch wurde das Prickeln stärker und es blieb nicht nur an dieser Stelle, sondern breitet sich von seiner Schulter seinen linken Arm hinab aus. Er glaubte es auch in seinem Rücken spüren zu können. Irgendetwas war an diesem Pfeil anders gewesen. So eine kleine Wunde, würde niemals so etwas auslösen können.

Langsam verlor er das Gefühl in der linken Schulter, sie wurde regelrecht taub und das schlimmste war, dass es seinen linken Arm, einen Teil seines Rückens und die rechte Schulter immer mehr betraf.

Ein unruhiges Gefühl machte sich in seiner Brust breit und zog seinen Magen zusammen, als ihm klar wurde, was eigentlich geschah. Das Taubheitsgefühl hatte nun auch seine linke Hand erreicht und sein Griff löste sich von Heras Mähne. Langsam verlor er das Gleichgewicht. Im gleichen Moment hörte er ein neuerliches Surren und dieses Mal konnte er nicht schnell genug reagieren. Der Pfeil traf ihn unterhalb des rechten Schulterblattes, doch diese Stelle war fast taub, so dass er den Schmerz kaum spürte.

Aber er spürte die Auswirkungen des zweiten Pfeils sehr viel schneller. Nicht nur wurde sein Rücken und nun auch rechter Arm taub, sondern sein Blick verschwamm und es fiel ihm schwer seine Umgebung noch zu erkennen. Sie waren inzwischen im Wald. Er vermutete es wegen dem ganzen Grün um ihn herum. Draco merkte, wie sich auch sein Griff der rechten Hand lockerte. Er wollte es nicht, wollte seinen Körper zwingen weiter festzuhalten. Es gelang ihm sogar noch sein Gewicht nach vorn zu verlagern, um nicht von Hera herunterzurutschen. Doch in seinem Kopf begann es sich zu drehen. Plötzlich hörte und roch er nicht mehr richtig. Er konnte sich überhaupt nicht mehr orientieren, war vollkommen hilflos. Sein Herz schlug inzwischen so schnell, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Hastig zog er die Luft ein und stieß sie wieder aus. Er glaubte zu ersticken, doch egal wie schnell er atmete, es kam ihn so vor, als würde es ihm nur noch mehr die Luft abschnüren.

Nur unbewusst nahm er wahr, wie das Prickeln nun auch seine Beine erreichte. Es war das letzte was er wahrnahm, bevor sich seine Hände völlig von Heras Mähen lösten. Ebenso wie all die menschlichen Gefühle, die ihn an diesen Körper banden. Draco fühlte sich leicht und losgelöst. Er hatte auf einmal das Gefühl, als könnte er seit langer Zeit wieder fliegen. Sein Körper fühlte sich so unendlich befreit an.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf dem Boden aufprallte und eine vertraute Schwärze ihn umfing.

Gefangen

Es war früher Nachmittag und Alexander war bei ihr. Annie konnte nicht anders, als die Veränderungen an ihrem Bruder zu bemerken. Obwohl sein Gesicht von einem dichten, schwarzen Bart eingerahmt war, nahm sie dennoch die dunklen Ringe unter seinen Augen wahr und die Sorgenfalten, die wohl nie wieder aus seinem Gesicht verschwinden würden. Er sah älter aus als er eigentlich war, dachte sie ein wenig traurig

Sie hatten sich bereits eine ganze Weile unterhalten und Alexander hatte ihr von der Treibjagd und Dracos Beteiligung an dieser erzählt. Es sei wohl niemanden etwas seltsames an ihm aufgefallen. Doch Annie konnte dies nicht so recht glauben, besonders da Alexander nichts Genaueres erzählen wollte.

„Wo ist eigentlich Barrington?“, fragte Alexander und es schien ihr fast, als wollte er sie von ihren ständigen Nachfragen ablenken. „Er wollte unbedingt mit mir auf den Erfolgt anstoßen, wie er es nannte.“

„Ich weiß es nicht.“, antwortete sie etwas verblüfft. „Seit wann bist du so erpicht darauf ihn zu sehen?“ So einfach würde sie es ihm dennoch nicht machen.

„Ich halte es für besser, ihn nicht noch misstrauischer zu machen. Du weißt, dass es nicht gut sein kann ihn zum Feind zu haben.“

Annie musterte ihren Bruder einen Moment irritiert. Etwas an seinem Satz hatte sie aufhorchen lassen.

„Noch misstrauischer?!“, hakte sie nach.

Er wich ihrem Blick aus und sie fühlte sich in ihrer Vermutung nur bestätigt, dass doch etwas vorgefallen sein musste.

„Alexander.“, sagte sie deswegen mit nachdrücklicher Stimme, als er ihr nicht gleich antwortete.

„Es ist nichts.“, erwiderte er endlich und machte eine abwehrende Handbewegung um seine Worte zu unterstreichen. „Barrington fand es nur so seltsam, dass Draco Hera ritt, wo sie doch so ein prächtiges Tier ist, wie er immer wieder betonte. Außerdem war da noch die Sache mit seinen Haaren.“ Nun klang seine Stimme schon weitaus bissiger und abermals breitet sich Sorge in Annies Körper aus. Sie hatte es ja gewusst. Trotzdem verstand sie nicht alles.

„Wieso seine Haare?“, wollte sie genauer wissen.

„ Barrington ist aufgefallen, dass Dracos Haare im Mondlicht silbern sind und bei Sonnenlicht golden. Eben wie bei den Monddrachen.“

„Oh.“, erwiderte Annie kurz. „Er hätte nicht mitgehen dürfen.“

„Ja, ich weiß, aber er wollte es, wie ich dir schon gesagt habe.“

„Ja, natürlich wollte er es, aber... Warum versteht er nicht, dass er sich so weit wie möglich von Barrington fernhalten sollte?“ Die Frage war nicht an ihren Bruder gerichtet und auch nicht an sich selbst. Sie kannte die Antwort ja bereits.

Alexander stand auf und lief ein wenig im Zimmer auf und ab. Etwas, was sonst ganz und gar nicht seine Art war. „Ich verstehe das nicht.“, sagte ihr Bruder dann.

„Was?“

„Das Barrington nicht da ist. Er wollte doch extra, dass ich zu ihm komme. Er hat mich mehrmals gefragt, wann ich wieder in der Stadt und bei dir bin.“

Annie zuckte mit den Schultern. Sie wollte diesen Menschen so schnell nicht wieder in ihrer Nähe wissen.

„Er ist wahrscheinlich ausgeritten. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ich wusste ja auch nicht, dass du auch mit auf der Treibjagd bist, geschweige denn Draco. Wahrscheinlich ist er wieder jagen und erlegt irgend so ein armes Tier. Er machte es ja nicht einmal weil er müsste, sondern nur weil es ihm Spaß macht andere leiden zu sehen.“, antwortete sie und wusste genau wovon sie sprach. Seit sie diese Träume hatte, war es ihr als könnte sie Dracos alte Verletzungen spüren.

„Mmh.“, brummte Alexander und trat ans Fenster und gleich darauf sagte er: „Er kommt zurück und war offenbar erfolgreich. Was hat er da?“ Seine Stimme war von Unzufriedenheit in Neugier umgeschlagen.

Annie machte sich nicht einmal die Mühe aufzusehen oder zu ihm zu gehen. Was interessierte es sie, was Barrington schon wieder getötet hatte. Das tote Tier würde beim Metzger landen und ihnen heute als Abendessen serviert werden und wenn sich herausstellen sollte, dass es zu mager war, würde es gleich den Hunden vorgeworfen.

Plötzlich hörte sie Alexander nach Luft schnappen und ihr Kopf fuhr sofort herum. Ihr Bruder war plötzlich so blass wie der Tod selbst und seine Finger klammerten sich an den Fenstersims, so als müsste er sich daran festhalten, um nicht zu stürzen. Noch nie hatte sie ihn so gesehen. Augenblicklich sprang sie auf.

„Alexander?! Was ist los?! Was ist passiert?!“, fragte sie nervös und trat ebenfalls an das Fenster. Er antwortete ihr nicht, sondern blickte weiter starr nach unten. Sie tat es ihm gleich und im nächsten Augenblick hörte ihr Herz auf zu schlagen. Annie konnte ganz genau spürten, wie sich alles in ihr verkrampfte, ihr Blut aufhören durch ihren Körper zu fließen, wie ihre Lungen keine Luft aufnahmen, wie sie steif und kalt wurde. Kleine, schwarze und weiße Punkte tanzen wild vor ihren Augen. Sie verlor jegliches Gefühl in ihren Armen und Beinen. Gleich würde sie ohnmächtig werden, dachte sie mit vernebeltem Verstand und wenn sie wieder aufwachte, würde das alles vorbei sein. Sie würde erkennen, dass es nur ein schlechter Traum war. Denn nichts anderes konnte es sein!

Plötzlich schlangen sich Alexanders Arme um ihren Körper und mit seiner Berührung erwachte sie aus ihrer Starre. Sie schnappte nach Luft und schlug die Hände vor den Mund, um den Schrei zu dämpfen, der ihr entkam. Aus seinen Armen entwand sie sich und stellte sich direkt vor das Fenster und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, was sich da unten im Hof abspielte. Sie wollte nach unten stürzen, sich davon überzeugen, dass es ein Irrtum war, dass es nicht sein konnte. Abermals hielt sie Alexander fest und dumpf realisierte sie, dass er Worte in ihr Ohr flüsterte, deren Bedeutung sie nicht verstand. Sie empfand nur noch eines: blankes Entsetzen.

Und dann fühlte sie den Schmerz.

Scharf sog sie die Luft ein und die Angst verwandelte sich in Panik. „A-Alexander...“, wisperte sie fast tonlos. „I-Ich... Ich...Ich...“, stammelte sie, brachte aber keinen Satz heraus.

„Ich werde gleich nach unten gehen.“, sagte er, ohne abzuwarten. „Er... Er muss darauf gewartet haben, dass ich nicht da bin. Deswegen hat er so oft gefragt. Er hat es von Anfang an geplant.“

Er wollte sie bereits loslassen, doch Annie ließ ihn nicht gehen. Krampfhaft klammerte sie sich an seiner Hand fest. Sie hielt ihn so fest, dass es ihr selbst wehtat.

„Das Kind...“, brachte sie schließlich atemlos hervor.

„Was?“

„Es tut weh...“, sagte sie und ihre Stimme war nicht mehr als ein Wimmern.

Augenblicklich legte Alexander wieder beide Arme um sie und führte sie wortlos zum Bett. Er half ihr sich darauf zu legen und strich ihr behutsam über das Gesicht.

Annie nahm tiefe, ruhige Atemzüge. Sie musste einfach auch wenn vor ihren Augen immer wieder ein anderes Bild schwebte und ihr Herz fest umklammert hielt. Es konnte nicht wahr sein, was sie gesehen hatte.

Eine Weile blieben sie still und der Schmerz in ihrem Unterleib ebbte zumindest ein bisschen ab.

„Geht es wieder?“, fragte Alexander leise und seine Stimme zitterte. Schwach schüttelte sie den Kopf.

„Warum? Wieso?“, fragte sie und krümmte sich dann vor Schmerz erneut.

„Annie, sieh mich an.“, sagte er langsam und hielt ihren Kopf zwischen seinen Händen. Auch in seinen Augen konnte sie die Angst sehen. „Er ist nicht tot.“, sagte er und trotz der Angst klang seine Stimme überzeugt.

„Woher willst du das wissen?“, fragte sie und ihre Stimme war merkwürdig hoch.

„Wenn Barrington auch nur den leisesten Verdacht hat, dass Draco wirklich der Drache ist, nachdem er suchte, wird er ihn nicht töten. Ich denke eher, dass er will, dass er wieder zu einem Drachen wird oder zumindest herausfinden will, wie er ein Mensch geworden ist. So oder so, nützt er ihm tot noch weniger.“

Bei diesen Worten wurden ihre Augen nur noch größer und eine neue Welle der Panik erfasste sie. Im gleichen Augenblick wurde auch der Schmerz in ihrem Unterleib stärker. Wieder schrie sie kurz auf.

„Er wird es nicht herausfinden.“, redete Alexander weiter und sprach dabei leise und eindringlich. „Woher sollte er auch? Draco wird es ihm nicht sagen und er weiß nicht, dass du es warst. Er glaubt, dass du nur eine schwache, hilflose Frau bist. Annie, du musst dich beruhigen, hör auf dir Sorgen zu machen. Ich werde nachschauen und dir erzählen, was ich erfahren habe. Aber du musst an das Kind denken. Ich weiß es fällt dir schwer, aber wenn du dich nicht beruhigst, kannst du ihm ernsthaft schaden.“

Diese Worte drangen zu ihr durch und sie schloss die Augen. Sie versuchte das Bild zu verdrängen, welches sie vor wenigen Augenblicken auf dem Hof gesehen hatte. Dracos Körper, der auf dem Rücken eines Pferdes lag, die Arme und Beine gefesselt. Genauso, wie die Tiere die Barrington sonst nach der Jagd zurückbrachte. Nein, sie musste an das Kind denken, an Dracos Kind. Sie musste es beschützen.

„Ich gehe nach unten. Bleib hier, hörst du!“, sagte Alexander und wie betäubt nickte sie. Sie versuchte sich ganz auf das Kind zu konzentrieren, versuchte seine Bewegungen zu erspüren, auch wenn sie noch so schwach waren. Sie versuchte alles wahrzunehmen, alles, wenn es sie nur ablenkte.
 

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor Annie wieder etwas von ihrem Bruder hörte.

Bis dahin hörte sie keine Geräusche aus dem Hof zu ihr dringen, nichts bewegte oder rührte sich. Alles was sie wahrnahm war ihr eigener stetiger Atem, den sie versuchte flach und gleichmäßig zu halten. Etwas was ihr sehr schwer fiel, waren ihren Gedanken doch immer nur bei ihm. Das Kind in ihr war still und es beunruhigte sie zusätzlich. Jede ihrer Erinnerungen wurde zu einer der seinen, dachte sie. Es wusste also war geschehen war, was sie gesehen hatte.

Annie malte sich die schrecklichsten Bilder aus, was Barrington Draco antun konnte. Warum hatte Barrington sich gerade jetzt dazu entschieden Draco zu holen? War es wirklich nur wegen der Treibjagd? Wegen den Haaren? Oder war noch etwas anderes vorgefallen, was Alexander ihr verschwiegen hatte?

Sie wollte selbst gehen, doch sie wusste genauso gut, dass ihre Beine sie nicht tragen würden. Außerdem wusste sie auch nicht, was sie tun sollte, sollte sie Draco wirklich finden. Wo Barrington ihn wohl hingebracht hatte?, fragte sie sich. Das Verließ war wohl wahrscheinlich.

„Annie?“, hörte sie Alexanders Stimme plötzlich neben sich und sie öffnete erschrocken die Augen. Wann war er eingetreten? Warum hatte sie ihn nicht gehört? Hatte sie geschlafen? Nein. Letzteres war ausgeschlossen. Niemals würde sie jetzt ein Auge zubekommen.

„Was ist mit ihm?!“, fragte sie sofort und setzte sich auf. Ein Fehler, denn ihr wurde sofort schlecht. Alexander fasste sie sanft an den Schultern und drückte sie sanft in die Kissen zurück.

„Es ist...“

„Nichts ist in Ordnung, wenn du das sagen wolltest.“, fuhr sie ihn scharf an und bedauerte es im nächsten Augenblick. Er konnte ja nichts dafür, aber sie brachte es auch nicht über sich, sich zu entschuldigen.

„Nein, wollte ich nicht.“, erwiderte er und setzte sich auf die Bettkannte.

„Was ist passiert?“, fragte sie nun und zwang sich zu einem ruhigen Tonfall.

„Barrington war sehr überrascht mich zu sehen. Offenbar hat er nicht damit gerechnet, dass ich so lange auf ihn warten würde. Ich hab ihn natürlich gleich gefragt, was vor sich geht. Warum er Drake wie ein Stück Vieh auf dem Rücken seines Pferdes trägt und was das Ganze bedeuten soll.

„Er... Er sagte, dass er zu wissen glaubt, dass Drake der Drache ist, den er im vergangen Jahr gefunden und fast getötet hätte.

„Natürlich habe ich gefragt, wie er darauf kommt. Wie ein Drache würde er schließlich nicht aussehen und er benimmt sich auch keinesfalls so. Barrington antwortete, dass ihm schon das erste Mal, als er ihn gesehen hatte, etwas an seinem Blick aufgefallen sei. Er hätte den Monddrachen ausgiebig beobachtet und er erinnerte sich noch zu gut an den Blick des Tieres, als er ihn angegriffen und aus seiner Höhle gelockt hatte. Die hasserfüllten Augen begleitete ihn seitdem jede Nacht im Schlaf und bescherten ihm wohlige Schauer.“

Annie legte die Hand auf die Augen, um das Bild zu verdrängen, dass sich an die Oberfläche ihres Geistes zwang. Sie wusste aus nächtelangen Träumen zu gut, wovon Barrington sprach.

„Ich wollte es als Unsinn abtun. Es seien nur Augen und gäben ihm noch lange nicht den Beweis. Doch dann sagte er, dass er ja nicht spricht und dass nur ein weiterer Hinweis für ihn gewesen wäre. Den letzte bekam er dann schließlich auf der Treibjagd. Nicht nur, dass ihm Dracos wechselnde Haarfarbe im Sonnen- und Mondlicht aufgefallen sei, sondern auch jener Moment als sie den Eber erlegten.“

Jetzt nahm Annie die Hand vom Gesicht. Dies war es, was ihr Bruder ihr bisher verschwiegen hatte. „Was ist da geschehen?“

Alexander schüttelte den Kopf, als wollte er nicht darüber reden oder wüsste nicht, wo er beginnen sollte.

„Die Jagd dauerte schon recht lange. Wir waren den ganzen Nachmittag unterwegs und als die Nacht hereinbrach hatten wir das Tier immer noch nicht aufgespürt. Wie auch, wenn wir in so einer großen Gruppe danach suchten? Sobald es dunkel war, trennten wir uns dann doch und schließlich stießen wir auf das Tier. Wir versuchten es in die Enge zu treiben, aber es war zu schnell und wir standen uns gegenseitig im Weg. Draco war die ganze Zeit neben mir, doch irgendwann sah ich aus den Augenwinkeln, wie er mit Hera in den Büschen verschwand. Das nächste Mal als ich ihn sah stand er plötzlich direkt vor uns und dem Eber. Verstehst du? Das Tier lief direkt auf ihn zu und eigentlich hätte es ihn umreisen müssen. In Todesangst ist es ihnen egal, was oder wer ihnen im Weg steht. Doch es war anders.

„Es war vielmehr so als hätte Draco den Eber nur gesehen und das Tier schien plötzlich alles zu versuchen, um nicht in seine Nähe zu kommen. Es blieb so plötzlich stehen, dass es stürzte. So war es ein leichtes für die anderen es zu töten. Ich dachte niemand außer mir hätte es bemerkt, aber ich habe mich geirrt.“

„Ich verstehe nicht ganz. Das Tier kann sich doch auch wirklich nur erschrocken haben.“

„Nein. Wie ich schon sagte, sie machen vor nichts halt und... es schien wirklich als hätte es Angst vor Draco und sein Blick war... irgendwie... eisig und bedrohlich vielleicht.“, sagte Alexander unsicher.

„Also weiß er es wirklich.“, sagte sie monoton.

„Nein, er bezeichnet es zwar als Beweis, aber eigentlich hat er gar nichts. Draco ist ein Mann, ganz gewöhnlich, zumindest äußerlich. Er wird nichts finden, was seinen Verdacht ganz bestätigen wird.“

„Aber... was macht er mit ihm? Wo ist er jetzt?“

Alexander sah erst weg und sie dann doch wieder an. Es sah so aus, als müsste er sich dazu zwingen sie bei den nächsten Worten anzusehen.

„Er sagte, er wird ihn schon dazu bringen, zuzugeben, wer er ist.“, flüsterte er leise.

„Was?“, fragte sie erstarrte.

„Ich sagte wieder, dass er nicht spricht, darauf erwiderte er nur, dass er es ihm schon anders zeigen wird. Er ist fest davon überzeugt, dass er recht hat und wird alles tun, um es zu beweisen. Ich kann nichts machen. Ich habe ihm gesagt, dass Drake ein freier Mann ist, der nur im Moment bei mir arbeitet. Kein Sklave oder so.“, fuhr Alexander fort, ohne weiter auf sie zu achten.

„Wo ist er?!“, fragte sie noch einmal und dieses Mal klang ihre Stimme schrill und voller Angst.

„Unten im Verließ. Er wird in eine Zelle gesperrt. Bis auf eine Wunde an der Schulter geht es ihm gut, aber ich denke nicht, dass das lange so... Sie sagen sie haben die Pfeile vergiftet, so dass er betäubt wurde. Er wollte fliehen als er sie sah. Ein weiterer Beweis in ihren Augen.“

Schweigen trat ein und Annie konnte nicht anders als auf dem Boden zu starren. Sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg, irgendeine Möglichkeit, wie sie Draco würde helfen können, doch nichts kam ihr in den Sinn. Alexander stand auf einmal auf und erwartungsvoll sah sie ihn an. Sicher war ihm schon etwas eingefallen. Er wusste immer eine Lösung.

„Annie, hör zu... Ich will dich nicht allein lassen, aber... ich weiß nicht, was mit Susan ist.“ Bei der Erwähnung seiner Frau zuckte Annie zusammen. An sie hatte sie gar nicht mehr gedacht. Es ging ihr nicht gut. Alexander musste in Sorge um sie sein. Vielleicht genauso sehr, wie sie um Draco.

Deswegen nickte sie schwach, um ihn zu zeigen, dass sie verstanden hatte.

„Ich komme morgen früh zurück. Versprich mir, dass du nichts unüberlegtes unternimmst.“, bat er sie eindringlich und wieder nickte sie nur. Was sollte sie auch tun? Sie wusste nicht, wie sie sich Barrington entgegen stellen konnte, ohne das Kind zu gefährden. Wäre es nur im ihr eigenes Leben gegangen, wäre sie augenblicklich nach unten gestürmt und hätte alles versucht um Draco zu befreien. Aber so... so konnte sie nur zusehen, wie er langsam unter Barringtons Hand vergehen würde.
 

Schmerz.

Wieder nur Schmerz.

Überall.

Jede Faser seines Körpers schien zu brennen und gleichzeitig zu zerreißen. Er könnte nicht einmal aufstöhnen oder einen anderen Laut von sich geben, so sehr Schnürte ihm die Pein die Luft ab. Schon einmal hatte er so empfunden. Damals hatte er sich bereits totgeglaubt und sich dann in einer vollkommen neuen Umgebung wiedergefunden, in einem vollkommen neuen Körper. Was würde er jetzt sehen, wenn er die Augen öffnete. Wieder einen anderen Körper?

Vielleicht war auch alles nur ein Traum gewesen. Die letzten Monate, Annie und Alexander nur geträumt. Er würde im Wald aufwachen, verletzt aber noch er selbst.

Doch dazu roch es zu falsch. Wenigstens das nahm er wahr.

Draco schluckte. Nein, er war nicht im Wald und mit Gewissheit wusste er auch, dass es kein Traum gewesen war. Aber wo war er? Was war geschehen?

Er musste husten. Ein Druck breitete sich auf seinen Schultern aus und drückte ihn noch mehr nach unten. Er versuchte gleichmäßig zu atmen, zu warten, bis der Schmerz abgeklungen war, dann würde er versuchen die Augen zu öffnen, herauszufinden wo er war. Doch je länger er bei Bewusstsein war, desto mehr lichtete sich der Nebel in seinem Kopf.

Er war von Heras Rücken gerutscht. Warum? Etwas hatte ihn an der Schulter troffen. Was? Ein Pfeil. Ein Pfeil von... Barrington und Semerloy waren auf einmal auf dem Hof gewesen. Sie waren nur zu zweit gewesen, unangekündigt. Susan war im Garten, Alexander war... in der Stadt, bei...

Barrington hatte darauf gewartet, bis er allein gewesen war, bis Alexander nicht da war, dachte Draco. Seine Gedanken wurden immer klarer. Er hat es gewusst. Wie lange schon? Unwichtig...

Sie hatten ihn... Wo war er?

Draco riss die Augen auf. Sein Atem ging hektisch und sein Herz schlug heftig in seiner Brust. Einen Moment lang war er verwirrt, doch dann gewöhnten sich seine Augen schnell an das Dämmerlicht.

Er lag auf einem Steinboden und vor sich erblickte er eine Wand aus Gitterstäben. Darin befand sich auch die einzige Tür. Auf dem Boden lag Stroh. Das war der Geruch, der im falsch vorgekommen war. Es war faulig und alt. Die anderen Wände bestanden aus großen, dicken, schweren Steinen. Es gab kein Fenster.

Langsam versuchte er sich aufzurichten. Er stützte sich mit einer Hand am Boden ab und etwas klirrte aneinander. Ketten waren um seine Handgelenke gelegt worden. Etwas Schweres zog ihn nach unten und als er danach griff, fühlte er das kalte Metall von weiteren Ketten. Ruckartig richtete er sich in eine sitzen Position auf. Er ignorierte den Schmerz und nun auch Schwindel, der immer noch durch seinen ganzen Körper schoss. Wie konnte es sein, dass sein ganzer Körper schmerzte, wenn die Pfeile ihn nur an der Schulter getroffen hatten?

Gleichzeitig flog sein Blick unruhig im Raum hin und her. Auf der anderen Seite der Gitterwand erkannte er nun einen kleinen Tisch, auf dem ein Kerzenleuchter stand. In diesem brannte eine einzelne Kerze. Davon ging das Licht aus.

Was wollte Barrington noch mit ihm? Er war kein Drache mehr, sein Leben nützte ihm nichts mehr. Er war nur ein Mensch. Noch immer zog sich alles in seinem Inneren bei dem Gedanken zusammen.

Barrington hatte ihn damals töten wollen, weil er sich Macht durch seinen Körper versprochen hatte. Würde er das immer noch wollen? Vielleicht. Und er würde sich nicht einmal wehren können oder doch?

Mit zitterenden Beinen stand Draco auf und stützte sich an der Wand ab, damit seine Knie nicht gleich nachgaben. Mühsam ging er einen Schritt vorwärts, noch einen und noch einen. Er wollte sehen, wie groß der Raum hinter der Gittertür war. Nach dem vierten Schritt hielten ihn die Ketten zurück. Langsam drehte Draco den Kopf und sah, dass die Ketten in der Wand verankert waren. So, dass er auf keinen Fall würde fliehen können. Dennoch zog Draco heftig an ihnen, doch nichts veränderte sich. Vielmehr hatte er das Gefühl, dass sich die Ketten um seinen Hals weiter zuzogen. Konnte er die Ketten wirklich nicht heraus reisen? Er drehte sich wieder um und riss ruckartig die Händen nach vorn. Das Metall schnitt ihm ins Fleisch und er wurde von ihrer Unnachgiebigkeit zurückgerissen, fiel zu Boden. Schwer atmend lag er da und starrte die Decke über sich an. Er würde sie nicht losbekommen. Doch der Schmerz an seinen Handgelenken, war nichts im Vergleich zu dem an seinem Hals. Die Ketten hatten nicht nur in das dünne Fleisch geschnitten, sondern ihm auch den Atem genommen.

Von den Ketten konnte er sich nicht befreien. Was sollte er tun? Blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu warten, was mit ihm geschehen würde? Sollte er sich Barrington einfach ausliefern und sich seiner Gefangenschaft und dem Schicksal das ihm damit erwartete fügen?

Niemals.

Aber kämpfen konnte er auch nicht. Er hatte keine Waffen und auch wenn ihm die Vorstellung mehr als Verlockend erschien, traute er es sich nicht zu John Barrington mit bloßen Händen zu überwältigen. Dieser Mann hatte weit mehr Körpermasse als er selbst.

Aber, wenn er... wenn er bereits tot wäre, würde er Barrington den Triumph über ihn nehmen. Das wäre das einzige, was er noch tun konnte.

Konnte er das tun? Konnte er so feige sein und davon laufen?

Was war ihm wichtiger?

Er würde sich in dieser Situation nicht an Barrington rächen können. Dazu braucht er zumindest ein Schwert und eine Gelegenheit. Aber angekettet und ohne Waffe, würde er nicht gegen ihn bestehen können. Barrington würde sicher nicht erfreut sein, ihn bereits tot vorzufinden, überlegte Draco weiter. Wo er sich doch die ganze Mühe gemacht hatte. Doch was war mit Annie und Alexander? Alexander brauchte ihn nicht. Vielmehr könnte er dann unbesorgt sein altes Leben wieder aufnehmen, ohne ständig in Gefahr leben zu müssen, in Barringtons Fänge zu geraten.

Und Annie? Schon lange hatte sie ein eigenes, ein anderes Leben. Nein, auch sie brauchte ihn nicht. Vielleicht hat sie das auch nie getan. Und hätte er sein Leben nicht schon längst enden lassen, wenn Alexander ihn nicht gefunden hätte?

Außerdem hätte er an jenem Tag vor mehr als einem Jahr bereits sterben sollen, an dem Tag an dem Annie ihn gefunden hatte.

Erneut stand Draco auf. Dieses Mal ging er mit festen Schritten nach vorn, merkte wie die Ketten ihn zurückzogen und in die dünne Haut schnitten. Doch er blieb nicht stehen. Er ging weiter, beugte den Kopf nach vorn, damit die Ketten um seinem Hals, sich fester zuzogen. Er spürte, wie ihm das Atmen schwerer fiel, doch er blieb so, versuchte noch weiter nach vorn zu gelangen. Langsam sah er kleine, weiße Punkte vor seinen Augen. Seine Beine gaben nach und er sank auf die Knie. Alles in ihm schrie danach zurückzuweichen, den Druck zu entkommen, der seine Kehle zuschnürte, doch er blieb, beugte sich noch weiter nach vorn, bis die weißen Punkte langsam zu schwarzen Flecken wurden.

Sein Körper wollte atmen, aber er hörte nicht auf ihn. Er zog noch fester, spürte wie die Metallketten Wunden gruben, doch er verschaffte sich keine Erlösung. Immer weiter entwich das Leben aus seinem Körper. Draco hoffte, dass wenn das Schwarz sich ganz vor seinen Augen ausgebreitet hatte, es vorbei sein würde.

Plötzlich spürte er einen heftigen Schlag gegen das Gesicht und wurde davon zurückgestoßen. Die Enge löste sich um seinen Hals und gierig schnappte er nach Luft. Im nächsten Augenblick wurde sie aber erneut aus seinem Körper gepresst, als jemand ihn in den Bauch trat.

„So einfach wirst du mir nicht entkommen!“, hörte er eine Stimme über sich, während er sich vor Schmerzen krümmte. Kaum hatte er diese Stimme jedoch gehört vergaß er seinen Schmerz und blickte den Mann über sich an.

John Barrington.

Dieser blickte auf ihn herab und in seinen Augen lag das gleiche bösartige Funkeln, welches er schon mehr als einmal sehen musste.

Barrington packte ihn am Kragen und zog ihn nach oben. Draco versuchte Halt zu finden, ließ sein Gegenüber aber nicht mehr aus den Augen. „Ich habe so lange nach dir gesucht, da werde ich dich doch nicht so leicht wieder gehen lassen.“, flüsterte er und stinkender Atem schlug Draco ins Gesicht.

„Du bist es doch oder?“, sprach Barrington weiter und Draco antwortete ihm nicht. Nie würde er ein Wort an diesen Mann richten.

„Antworte!“, verlangte Barrington und schüttelte ihn. „Ich werde dich schon zum Reden bringen.“, drohte Barrington. „Alexander, der Dummkopf, sagte zwar, dass du nicht sprichst, aber ich glaube das nicht. Dein Blick ist viel zu intelligent, um als Schwachkopf durchzugehen.“

Intelligenter als deiner allemal, dachte Draco. Jetzt ließ John Barrington von seinem Hemd ab und packte ihn am Hals. Sein Daumen legte er genau auf Dracos Kehlkopf und drückte zu. Draco zog scharf die Luft ein, gab aber sonst keinen Laut von sich, auch ließ er den Blick nicht von ihm. Stattdessen hob er die Hand und packte Barrington am Handgelenk. Seine Fingernägel gruben sich in Barringtons Fleisch und ein Kräftemessen begann. Wer würde wohl den Schmerz als erstes nicht mehr ertragen können?

„Na los!“, befahl Barrington und verstärkte seinen Druck noch mehr. Dieses Mal schaffte es Draco nicht, den Blick auf ihn zu lassen. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Seine Augen huschten wahllos umher ohne irgendwas zu sehen. Wieder wurde ihm schwarz vor Augen und er spürte, wie er langsam wegtrat. Seine Hand löste sich von Barrington und er verfluchte sich dafür.

„Verdammt!“, hörte er Barrington noch sagen, bevor der Schmerz ihn wieder einfing und davon trug.
 

Irgendwann später erwachte er. Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Es war Mittag gewesen, als sie aufgetaucht waren, aber wie lange er bewusstlos gewesen war, wusste er nicht. Dieses Mal versuchte er gar nicht, sich aufzurichten. Doch sein Hals fühlte sich leichter an und vorsichtig tastet danach. Die Kette war verschwunden, offenbar hatte Barrington Angst, er könnte noch einmal versuchen, sich selbst das Leben zu nehmen.

Erneut sah Draco sich um und erkannte an dem Tisch einen Mann auf einem Stuhl sitzen. Wahrscheinlich hatte er Barrington vorhin auch geholt, als er das erste Mal erwacht war. Vielleicht hatte er die Aufgabe dies jedes Mal zu tun, wenn er wach wurde. Also schloss Draco die Augen und atmete tief durch. Als er schluckte schmerze es immer noch und er konnte beinah noch fühlen, wo Barrington zugedrückt hatte. Außerdem hatte er Durst, aber das war wohl noch das kleinste seiner Sorgen, dachte er träge, bevor er wieder einschlief.
 

Das nächste Mal wurde er von einem Tritt in die Rippen geweckt. Barrington stand drohend über ihm und dieses Mal Semerloy daneben. „Du wirst mir sagen, wie du zu einem Menschen geworden bist und dann wirst du wieder zu einem Drachen werden.“ Seine Stimme war ruhig gewesen, dennoch hörte Draco die Drohung dahinter.

Zeit verging in Schweigen, bis Barrington wieder nach ihm trat. Erneut krümmte sich Draco, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er biss die Zähne zusammen und den Schmerz hinweg.

„Du willst wieder nicht antworten?“, fragte Barrington erst und Draco glaubte fast, so etwas wie Frustration aus seiner Stimme zu hören. Dann legte sich ein Grinsen auf Barringtons Gesicht.

„Semerloy, gibt mir doch bitte mein Spielzeug.“, sagte er mit beinah sanfter Stimme und Draco bekam eine Gänsehaut. Seine Augen sahen, wie Semerloy die Hand hob und Barrington etwas reicht. Es hatte einen ledrigen Griff und Lederbänder hingen aus einem Ende hinab. Jedes dieser Bänder hatte einen Knoten am Ende.

„Du wirst sprechen.“, sagte Barrington noch einmal, dann gab er Semerloy ein Zeichen. Dieser trat zu Draco und packte ihn an dem Schultern. Er riss ihn herum, so dass er auf dem Bauch lag, der Rücken zu Barrington gekehrt. Semerloy fasste ihn dann im Nacken und drückte ihn gewaltsam nach unten. Mit den Knien setzte sich Semerloy auf Dracos Arme. Was hatte Barrington vor?

„Henry!“, brüllte Barrington und die Wache, die auf dem Stuhl gesessen hatte, erhob sich. „Auf die Beine!“, befahl Barrington.

Henry kam herein und stellte sich auf Semerloys Seite. Er packte Dracos Beine und kniete sich darauf. Es war Draco unmöglich zu bewegen.

Kaum hatte er das Gedacht, hörte er ein Surren, anders als das der Pfeile, und spürte dann einen sengenden Schmerz auf seinem Rücken. Vor Schreck und Schmerz weiteten sich seine Augen und ein kleiner Schrei entfuhr ihm. „Ach, es geht also doch.“, sagte Barrington selbstzufrieden. Noch einmal das Surren und dann wieder der Schmerz. „Die Peitsche wird dich schon zum Reden bringen.“, fauchte John Barrington und ließ die Peitsche gleich noch einmal nach unten sausen. Dieses Mal sagte Draco nichts, er presste die Lippen zusammen, biss sich auf die Zunge. Alles würde er tun, um ihm keine weitere Schwäche zu zeigen.

Dann sprach Barrington nicht mehr und nur das Surren der Peitsche war zu hören, wie sie immer und immer wieder auf seinen Rücken niederfuhr und erst sein Hemd und dann sein Fleisch zerfetzte.

Nach 15 Schlägen jedoch, die Draco gezählt hatte, hörte es auf und er war einmal mehr am Rande der Bewusstlosigkeit. Aber er ließ es nicht Barrington fest in die Augen zu sehen, als er sofort die Gelegenheit dazu hatte. Der Mann, der ihn gerade ausgepeitscht hatte, stand schnaufend und mit hochrotem Gesicht über ihm. „Überleg es dir, sonst wird Semerloy das nächste Mal weiter machen und seine Schläge sind noch härter als meine. Entweder du sagst mir, wie du es gemacht hast oder du verwandelst dich gleich in einen Drachen zurück.“, sprach Barrington noch bevor er den Raum verließ. Die Gewichte von seinen Armen und Beinen entfernten sich, aber Draco rührte sich nicht. Er konnte einfach nicht. Hatte er vorher schon geglaubt, sein Körper würde schmerzen, so erfuhr er erst jetzt, was Schmerzen wirklich waren. Er spürte das Blut seinen Rücken herunterlaufen. Vorsichtig drehte der den Kopf zu Seiten, den Blick auf die steinerne Wand gerichtet. Der Stein unter seiner Wange war angenehm kühl und ein leises Seufzen entfuhr ihm.

Wie lange würde es anhalten?

Wan würde er ihn so sehr gequält haben, dass er nicht mehr aus der Dunkelheit zurückkehrte?
 

„Hast du etwas gehört?“, fragte Annie ihren Bruder sofort, als dieser den Raum betreten hatte. inzwischen waren zwei Tage vergangen, seit sie Draco hergebracht hatten.

„Nein, er sagt gar nichts.“, antwortete Alexander und umarmte Annie stark. „Ich habe ihn gestern gefragt und heute auch, aber er weicht mir aus, sagte immer nur, dass er mich getäuscht hat und ich es nicht einmal gemerkt habe, schließlich hätte ich noch nie einen Drachen gesehen.“

„Kannst du nicht wenigstens zu ihm? Nachsehen, wie es ihm geht.“

„Er lässt mich nicht. Ich habe ihn bereits danach gefragt und Annie... was glaubst du wie es ihm geht?“, fragte Alexander vorsichtig.

Annie schüttelte den Kopf. „Ich hoffe er lebt noch, mehr wünsche ich mir im Moment gar nicht.“, flüsterte sie leise.

„Er lebt noch und das wird er auch noch eine Weile.“

Fragend sah Annie ihn an. „Er will wissen, wie er es geschafft hat ein Mensch zu werden. Wie es ihm gelungen ist, so menschlich zu werden. Er hat ihn selbst erlebt, bis auf das Sprechen, ist Draco durch und durch Mensch.“

„Hat er schon mit ihm gesprochen?“, fragte Annie weiter.

„Nein, noch nicht und das macht ihn wohl wahnsinnig. Er will ihn dazu zwingen, er will Antworten und dazu...“

Annie sah wie er die Lippen zusammenpresste. „Was?“, hakte sie nach.

„Ihm wird jedes Mittel recht sein.“

Sie konnte nicht einmal mehr schockiert darüber sein. Sie hatte es ja bereits geahnt. Deswegen nickte sie nur steif und setzte sich dann auf das Bett.

„Ich habe nichts anderes erwartet. Er wird nichts sagen.“, erwiderte sie schließlich.

„Woher willst du das wissen?“, fragte Alexander und Annie hörte die Unsicherheit.

„Nicht, um mich zu schützen, wenn du das denkst, nicht nur jedenfalls. Er wird Barrington niemals die Genugtuung geben, sich seinem Willen zu beugen. Lieber würde er sterben.“

Alexander nickte kurz, dann sagte er: „Natürlich.“

„Hat Susan sich inzwischen erholt?“, fragte Annie schließlich.

„Es geht. Es hat sie sehr mitgenommen. Sie glaubt immer noch, dass sie es hätte verhindern können.“

„Natürlich hätte sie das nicht. Barrington hätte niemals Rücksicht auf sie genommen.“

„Ich weiß.“, brummte Alexander.

„Wir müssen ihn rausholen.“

„Ja.“, stimmte er ihr schlicht zu. „Aber ich habe noch keine Ahnung wie. Barrington wird ihn nicht aus dem Augen lassen.“

Wieder nickte sie und versank dann in Ratlosigkeit.
 

Er hörte das Quietschen der Tür und riss die Augen auf. Er hatte nicht geschlafen, höchstens ein wenig vor sich hingedämmert, aber nicht geschlafen. Er wagte es nicht. Er war diesem Menschen ohnehin schon ausgeliefert bis auf den Tod.

„Ach, wieder munter?“, fragte Barrington höhnisch. „Und wie ich sehe immer noch Mensch. Nun, willst du mir jetzt sagen, wie du es gemacht hast?“

Draco starrte stumme zurück, rührte sich nicht. Inzwischen war er auf alles gefasst und er war sicher, dass es lange dauern würde. Die Peitsche hatte Barrington abermals in der Hand. Er vermied es sie direkt anzusehen. Barringtons könnte es sonst als Angst interpretieren.

„Wie du willst.“, sagte dieser auf Dracos Schweigen hin. „Henry!“, rief Barrington und wieder trat der Wachmann herein. Auch ihn sah Draco nicht an. Sein Blick blieb unverändert auf Barrington haften. „Ich bin gespannt, ob du mich auch noch so ansehen wirst, wenn du dieses Mal ein paar mehr Peitschenhiebe zu spüren bekommst.“

Der Mann namens Henry packte ihn dieses Mal an den Handgelenken und zog ihn nach oben. Draco ließ es geschehen. Im Moment würde Gegenwehr nur in noch mehr Schmerzen resultieren, das war ihm bewusst. Bei jeder Bewegung kratze das zerrissene Hemd auf seinen noch frischen Wunden und die, an deren Stellen das Blut bereits getrocknet waren und ein Stück Stoff daran klebte, wurden wieder aufgerissen.

Draco saß nun vor Barrington auf den Knien. Die Hände wurden ihm von Henry nach hinten auf den Rücken gelegt. Dann verband dieser sie anschließend mit dem längeren Ende der Kette. Draco versuchte die Handgelenke ein wenig zu bewegen, doch es gelang nicht. Barrington trat hinter ihn und im nächsten Augenblick hörte er auch schon das Surren der Peitsche. Vor Schmerz und einem Impuls folgend drückte Draco den Rücken durch und Barringtons Lachen erklang. Dies genügte um ihn dazu zu bringen den Rücken so rund wie möglich zu machen und John Barrington eine noch größere Fläche zum Zuschlagen zu bieten. Seinen Blick richtete er auf den Kerzenhalter und fixierte die Flammen. John Barrington mochte seinen Körper schlagen, aber nicht seinen Stolz.
 

Dieses Mal zählte Draco bis 25 ehe die Peitsche verstummte. Sein gesamter Körper zitterte. seine Knie und seine Hände, die auf dem Rücken zusammengebunden waren, waren taub und ein Beben furch immer wieder durch seine Schultern. Kalter Schweiß rann ihm über die Stirn, ihm war schlecht und einer Ohnmacht nahe. Und doch nahm er das stoßweise Atmen von Barrington hinter sich wahr.

„Du willst also immer noch nichts sagen.“, brachte Barrington keuchend hervor. „Aber ich werde deinen Willen schon brechen.“ Dann hörte Draco Barringtons Stimme direkt neben seinem Ohr: „Vielleicht, in dem ich dir etwas breche.“, flüsterte er bedrohlich.

Abermals blickte Draco ihn starr an. Er konnte sehen, wie sein Blick und Schweigen Barrington die Wut in das hässliche Gesicht trieb. Ein Gefühl, das er wegen diesem Mann selbst schon allzu oft empfunden hatte. Blitzschnell hob Barrington die Hand und schlug ihm hart ins Gesicht. „Das werde ich dir auch austreiben. Henry, mach ihn los.“

Henry befand sich wieder hinter Draco und löste die Ketten um seine Handgelenke. Mit einer Handbewegung wies Barringtons ihn an, Dracos rechtes Handgelenk festzuhalten. Barrington nahm seine linke Hand und zog sie nach oben.

„So feine Finger“, sagte er beinah sanft, „als hätten sie noch nie schwere Arbeit verrichtet. Sie sehen zerbrechlich aus, nicht wahr? Ich frage mich, ob sie wirklich so schnell brechen. Möchtest du es herausfinden?“, sagte er und Draco wusste nicht, mit wem er eigentlich sprach. „Ich schon.“, beantwortete Barrington die Frage selbst. Dann nahm er Dracos kleinen Finger zwischen seine eigenen und bog ihn langsam nach hinten. Zuerst spürte Draco nichts, dann wurde es langsam zu einem unangenehmen Ziehen, das schnell schmerzhaft wurde, je weiter Barrington den Finger zurückbog. Draco biss sich auf die Zunge, um nicht zu schreien. Sein Finger war auf eine unnatürliche Weise nach hinten gespannt. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt und der Schweiß stand ihm in dicken Perlen auf der Stirn. Er konnte an Barringtons Grinsen sehen, dass er es ebenfalls bemerkte und sehr genoss. Inzwischen hatte Barrington den Finger soweit nach hinten gedehnt, dass nicht mehr viel fehlte, ehe der Nagel seinen Handrücken berührte. Der Schmerz war so unerträglich, dass Draco sich nach der Bewusstlosigkeit sehnte. Doch bei diesem Schmerz würde sie nicht kommen.

Der Fingernagel berührte den Handrücken und im gleichen Augenblick gab es ein knackendes Geräusch, als etwas in Dracos Hand zerbrach. Dracos Augen traten weit aus ihren Höhlen heraus und er schnappte nach Luft, als würde er in seiner eigenen Pein ertrinken.

Er sah das Lächeln auf Barringtons Lippen, hörte das Kichern in seiner Kehle und roch den Triumph, der ihm dick aus den Poren zu dringen schien.

Widerwärtig.

Doch damit war sein Peiniger noch nicht zufrieden. John Barrington bewegte den Finger vor und zurück, zog an ihm ganz so als wäre es ein beliebiges Spielzeug. Die schwarzen Punkte breiteten sich in Dracos Blickfeld aus und er wünschte sie schneller herbei. Dann würde er von all dem nichts mehr spüren. Die gebrochenen Knochen rieben aneinander und die Punkte wurden zu Flecken. Barrington ließ die Hand sinken und legte sie auf den Boden. Draco wagte es nicht sie zu bewegen. Jede Bewegung würde neuen Schmerz bringen, dachte er. Er dachte auch, dass es für dieses Mal vorbei sein. Dann sah er wie Barrington die Peitsche nahm, sie dieses Mal aber anders herum hielt. Der Griff zeige nach unten und bevor Draco sich wundern konnte, was geschehen sollte, ließ Barrington den Griff mit voller Kraft auf Dracos kleine, gebrochenen Finger fahren, so dass weitere Knochen splitterten. Ein schwarzer Mantel breitete sich in seinem Blickfeld aus und verschluckte ihn schließlich.

Der angenehme Zustand des Nichts, hielt nicht lange. Etwas Kaltes, Nasses wurde über ihn geschüttet und er riss sofort die Augen auf. Barrington stand über ihm, einen Eimer Wasser in der Hand und noch immer dieses Grinsen auf dem Gesicht, dass er ihn am liebsten mit den Händen zerkratzt hätte.

„Ich wusste doch, dass man dir beikommen kann und ich verspreche dir, das war er der Anfang. Hör auf mich so ANZUSEHEN!“, brüllte er am Schluss, nachdem Draco ihn erneut angestarrt hatte.

Er würde niemals aufhören ihn anzusehen. Es war die einzige Waffe, die er im Moment gegen diesen Mann besaß und wenn es ihm damit gelang Barrington wenigsten für ein paar Augenblicke das Grinsen vom Gesicht zu wischen, würde er ihn so lange ansehen, wie es ihm möglich war. Und er würde nicht Schreien. Niemals.

Barrington drehte sich um. Beim Rausgehen sagte er: „Henry, sorg dafür, dass er was isst und trinkt. Ich will ja schließlich noch länger meine Freude an ihm haben.“

Henry nickte kurz. Draco zog die linke Hand an den Körper und erst jetzt bemerkte er, wie sehr er wirklich zitterte. Es war nicht mehr nur der Schmerz, sondern auch das kalte Wasser, das durch seine Kleidung gedrungen war und nun in seinen Körper zu kriechen schien.

Es war erst der Anfang, dachte Draco träge. Wie lange würde Barrington dieses Spielchen mit ihm spielen bis er genug von ihm hatte. Wann würde er die Gelegenheit bekommen, die er brauchte?

Draco wusste nicht was mehr schmerzte, der Rücken oder sein Finger? Würde ihm Barrington auch die anderen Finger brechen? Langsam, einen nach dem anderen? Er würde es versuchen und er würde es schaffen.

Er hörte Schritte neben sich und sah wie etwas vor seinen Augen abgestellt wurde. Ein Becher und ein Kanten Brot daneben. Draco schluckte und schmeckte Blut. Er hatte seine Zunge blutig gebissen, um nicht zu schreien.

Unbewusst krümmte Draco seinen Körper soweit es ihm möglich war, die linken Hand fest an ihn gepresst, als glaubte er sie dadurch schützen zu können und den Schmerz zu lindern. Er schloss die Augen und fragte sich einmal mehr, wie viel ein menschlicher Körper an Schmerz und Qual ertragen könnte, bevor er daran zu Grunde ging.

Es schien, als würde er es bald herausfinden.
 

Jedes Erwachen brachte neue Schmerzen. Es waren nicht nur die Wunden, die Barrington ihm bereits zugefügt hatte, sondern auch jene, die neu hinzu kamen.

„Da du das letzte Mal nicht reden wolltest und auch deine alten Gestalt nicht genommen hast, wird nun wie versprochen Jonathan die Peitsche führen.“, sprach Barrington mit einem Lächeln auf dem Gesicht, als sie das nächste Mal zu zweit in seinem Gefängnis erschienen waren. Dieses Mal glaubte Draco zu wissen, was ihn erwartete und er war bereit dafür, doch er irrte. Henry erhielt den Befehl Draco an den Füßen festzuhalten, während Barrington seine Handgelenke packte. Dieses Mal sollte er nicht auf dem Rücken ausgepeitscht werden, wie er realisierte, sondern auf der Brust. Noch im gleichen Moment spürte er die Lederriemen auf seiner Haut. Er hörte den Knall, wenn das Leder auf seiner Haut aufschlug, sie zerriss und glaubte etwas vor seinen Augen explodieren zu sehen. Sein Körper zuckte und Barrington lachte neben ihm laut auf. Semerloy schien davon unbeeindruckt zu sein und führte das Werkzeug mit sicherer Hand weiter. Es war das erste Mal, das Draco wirklich wahrnahm, wie viel empfindlicher die Haut auf seiner Brust doch war, noch so viel mehr als die bereits zerschundene auf seinem Rücken.

Es sah Semerloy nicht an, sondern suchte den Blick zu Barrington, der über ihm kniete. Seinen Kiefer presste er so fest zusammen, wie es ihm möglich war und biss sich gleichzeitig auf die Zunge. Er wollte unter keinen Umständen schreien, das war alles. Irgendwann würde es vorbei sein, irgendwann...
 

Als die Schläge endeten, war ihm jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Er wusste nicht, ob Tag oder Nacht war, geschweige denn, wie viele Schläge er bekommen hatte. Er hatte es nicht geschafft sie zu zählen. Er hatte nur nicht schreien wollen.

Zum ersten Mal an diesem Tag erwiderte Barrington seinen Blick und er war fragend. Offenbar wollte er sehen, wie sehr er Draco geschadet hatte. Doch als Draco nicht einmal mit der Wimper zuckte, schlug er ihn abermals.

„Ich sagte, du sollst aufhören mich so anzusehen!“, fauchte er ihn an.

Wie war das möglich, dachte Draco kurz. Wie konnte sein Blick Barrington so sehr reizen? Was sah er darin? Sich selbst? Seine eigene Grausamkeit? Oder gar etwas anderes? Sah er in seinen Augen nicht den Drachen, den er sehen wollte, sondern nur einen Menschen? Nichts anderes war er... sein früheres Ich hatte er schon längst verloren.

„Jonathan gib mir das Messer.“

„Natürlich. Ich dachte schon, du willst es gar nicht mehr tun.“, sagte Semerloy beinah sanft. „Ich wäre dir sonst zu vorgekommen.“

„Das wagst du nicht.“, erwiderte Barrington und nahm das Messer, welches Semerloy ihm über Draco hinweg reichte. Draco fragte sich nicht einmal was sie damit vorhaben mochten.

„Es wird höchste Zeit, dass du ihn zeichnest und ihn als dein Eigentum kenntlich machst. Nicht, dass ihn jemals jemand zu sehen bekommt, aber wer weiß? Wenn er sich doch noch dazu entscheiden sollte, seine wahre Gestalt anzunehmen, wird jeder gleich wissen, wem er gehört.“

Draco schauderte bei den Gedanken und stellte sich doch gleichzeitig vor, was er mit diesen Männern tun würde, wenn er seine wahre Gestalt hätte. Warum hatte er damals gezögert? Warum war er so unvorsichtig gewesen? Warum war er geflohen? Selbst, wenn er gestorben wäre, hätte er sie noch immer mit sich genommen.

Barrington hielt seine Handgelenke immer noch und Draco spürte, wie er die Spitze des Messers auf seiner Haut des rechten Armes ansetzte. „Ich werde es ganz besonders gründlich machen.“, erklärte John Barrington beinah liebevoll.

Das Messer schnitt in seine Haut und Barrington führte es auf seinen Arm entlang. Draco wusste, dass es ein Muster sein musste, etwas mit einer Bedeutung, doch sein Verstand war zu vernebelt, als das er gleich verstehen konnte. Selbst der Schmerz war im Vergleich zu dem vorherigem leicht zu ertragen.

„Fertig.“, vollendete Barrington den letzen Zug und setzte das Messer ab. Jonathan Semerloy beugte sich kurz über ihn und nickte, offensichtlich anerkennend. „Es ist kein S“, sagte er dann fast enttäuscht. „Natürlich nicht. Du musst dir schon deinen eigenen Drachen jagen.“

„Schade.“, erwiderte er bloß und wandte sich ab.

„Lass uns nach oben gehen, unsere Gäste warten sicher schon.“, sagte Barrington und damit war das Gespräch eindeutig beendet. „Ach eines noch.“, fügte er an, als er sich gerade erheben wollte und Draco sah bereits in seinem Gesicht, was er tun würde. Dann holte Barrington zum Schlag aus.
 

Zu schnell erwachte Draco wieder, aber möglicherweise war es auch genau das, was Barrington damit bezweckte hatte. Er sollte sich nicht zu lange sicher fühlen. Draco konnte nicht einmal mehr auf dem Bauch liegen, also lag er auf der Seite. Wieder hatte das Wort Schmerz eine vollkommen neue Bedeutung für ihn erhalten.

Dann blickte er auf seinen rechten Arm, auf jene Stelle in der Barrington etwas in sein Fleisch geschnitten hatte. Zuerst war sein Blick noch verschwommen, doch als erkannte, was es war, schloss er die Augen und schluckte heftig.

Eine erneute Demütigung die Barrington ihm zugefügt hatte und diese wog noch schwerer, als die körperliche.

John Barrington hatte ihm die Buchstaben J und B in die Haut geritzt. Draco war für immer sein Eigentum.
 

Langsam suchte sie sich ihren Weg nach unten. Von Weitem konnte sie die Stimmen der Männer hören. Sie klangen weit entfernt und Annie wusste, dass sie wohl keinem von ihnen begegnen würde. Barrington hatte einige seiner engsten Freunde – pah, als wüsste er überhaupt, was das Wort bedeutete – eingeladen, um ein kleines Fest zu feiern. Soweit sie gehört hatte, hatte er niemanden verraten, warum dieses Fest gehalten wurde, doch Annie ahnte es nur zu genau.

Sie hatte 10 Männer durch das Portal reiten sehen, also würden diese, John und Jonathan gerade in der großen Halle sein und es sich schmecken lassen. Besonders den Wein, wie sie annahm. Sie hatte beobachtet, dass ein ganzen Fass in die Halle gebracht wurden war. Offenbar sollte lange und ausgiebig gefeiert werden und so lange, wie es Alkohol kostenfrei und in solchen Mengen gab, würde wohl auch niemand nach dem Grund dieses Festes fragen.

Beobachten... das war alles, was sie in den letzten drei Tagen getan hatte, seit man Draco hergebracht hatte. Immer hatte sie Ausschau gehalten nach einer Möglichkeit ihn fortzuschaffen oder wenigsten nach ihm zu sehen. Sie wusste ja nicht, wie es ihm ging, ob er überhaupt in der Verfassung sein würde zu fliehen und wie sollte sie sich mit Alexander einen Fluchtweg ausdenken, wenn sie nicht einmal wusste, wie die Bedingungen waren, geschweige denn, wo Draco war.

Den Weg zum Verließ hatte sie in den letzten drei Tagen auf ihrem Weg zum Garten herausgefunden. Sie hatte einfach neue Wege gewählt und dann behauptet, sie hätte sich verlaufen, wenn sie seltsam angeschaut worden war. Dabei war sie auf eine Tür aufmerksam geworden, die von schweren Balken verriegelt wurde. Das nächste Mal hatte diese Tür aber offen gestanden und als sie einige Atemzüge gelauscht hatte, hatte sie Barringtons Stimme von unten schreien gehört. Nur Barringtons und sonst keine.

Doch sie war sich sicher, dass dies der Weg zum Verließ sein würde. Etwas in ihr, vielleicht auch das Kind, sein Kind, wussten mit Sicherheit, dass sie ihn dort am Ende der Treppe, die nach unten führte, finden würde. Aber sie wusste nicht, was man ihm bereits angetan hatte. Das würde sie jetzt erst herausfinden.
 

Lautes Gebrüll weckte ihn abermals. Er erkannte die Stimme gleich als Barringtons, der sich ihm näherte. Sofort erhob sich der Mann, der am Tisch gesessen hatte und stand steif. „Du kannst gehen.“, sprach Barrington, doch es hörte sich nicht so flüssig an wie sonst. Draco wurde aufmerksam und richtete sich langsam auf.

„Aber Sir, glauben sie wirklich...“, wagte er Mann zu widersprechen und erst jetzt erkannte Draco, dass es nicht Henry war. Nun stand Barrington vor der Tür aus Eisengitter und Draco bemerkte, dass er nicht gerade stand. Vielmehr schwankte er merkwürdig, als wäre er nicht sicher auf den Beinen.

„GEH, habe ich... hicks... gesagt!“, befahl Barringtons noch einmal und dieses Mal erwiderte der Mann nichts, sondern ging. „HALT!“, rief Barringtons plötzlich und offenbar blieb er plötzlich stehen, denn seine Schritte verstummten. „Die.... Schl-Schlüssel.“, brachte Barringtons zischend hervor.

Draco hörte ein Klimpern und dann den Mann zurückkommen. Er übergab Barrington die Schüssel und ging anschließend. John Barrington drehte sich zu seinem Gefängnis um und Draco beobachtete – beinah ungläubig – wie er sich abmühten den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Der Schlüssel rutschte aus seiner Hand und fiel zu Boden. Unter lautem Fluchen bückte sich Barrington danach und schwankte abermals gefährlich. Für einen Moment sah es sogar danach aus, als würde er vornüberkippen. Doch er hielt sich an dem Eisengitter fest und fand wieder halt. Im nächsten Versuch schaffte er es endlich die Tür aufzusperren und wankte in die Zelle hinein.

„Du bischt immer noch ein Mensch.“, lallte er und zeigte mit seinen dicken Fingern auf Draco. Dieser wusste nicht, was er davon halten sollte. Wäre er wohl nicht in Ketten gelegen und sein Körper bereits quält, hätte er wohl darüber gelacht. Doch so starrte er Barrington auf die gleiche Weise an, wie zuvor.

„Na warte... hick... ich werde dich schon zum reden bringen.“ Dann holte Barrington seine Peitsche aus einer Tasche hervor und schwang sie in Dracos Richtig. Dieser wurde dieses Mal nicht festgehalten und obwohl er sich schwach und zittrig fühlte gelang es ihm beinah mühelos den Lederriemen auszuweichen.

„ARG!“, brüllte Barrington nachdem sich das Schauspiel noch drei Mal wiederholt hatte. „Halt still!“ Dann warf er schließlich die Peitsche weg und zückte das Messer, welches Draco vorher schon auf seiner Haut gespürt hatte. Jetzt fiel ihm auf, dass es einen goldenen Griff hatte. Er rührte sich nicht, obwohl es wohl das klügste gewesen wäre, davon zu laufen. Aber er lag noch immer in Ketten, die in das Mauerwerk eingelassen waren. Er konnte nur nach hinten und dann würde ihn Barrington in die Enge getrieben haben, noch mehr als bereits jetzt schon. Also blieb er sitzen, starrte ihn weiterhin an und wartete darauf, dass der Mann vor ihm das Messer nach unten in seinen Körper fahren ließ.

„Diese Augen! Daran habe ich dich erkannt! An diesem Blau, schon fast eisig!“, sagte er. „Daran und an deinen Haaren! Sie schimmern golden im Sonnenlicht und silbern bei Mondschein! Vielleicht hätte ich es sogar geglaubt, dass du ein Mensch bist, aber diese Haare... die Schuppen des Monddrachen leuchten im Mondlicht wie reines Silber. Aber deine Augen, in ihnen ist kaum etwas von deinem alten Wesen zu erkennen, nur noch der Stolz und die Farbe! Was für eine Verschwendung!“, sagte Barrington polternd und wirr zugleich. „Ich frage mich, wie du wohl ohne sie aussehen wirst. Vielleicht könnte ich dann glauben, du seist nur ein ganz normaler Mann, wie es Alexander mich glauben machen wollte!“, brüllte er. Dabei hob er das Messer und die Spitze zeigte nicht auf seinen Körper.

Draco gefror das Blut in den Adern. John Barrington wollte nicht sein Leben beenden.

Er wollte nur seine Augen.

Wiedersehen

John Barrington hielt das Messer hoch erhoben in der Hand. Die Spitze war auf Draco gerichtet, auf sein Gesicht. Die Klinge sollte nur seine Augen als Ziel kennen.

Wie versteinert starrte Draco den betrunkenen Mann vor sich an, fassungslos, dass ein menschliches Wesen zu so etwas fähig sein konnte. Sie waren schlimmer als Tiere, schlimmer als seinesgleichen. Die Tiere und Drachen töteten um zu überleben, niemals aus Spaß und ganz gewiss nicht auf diese bestialische Art und Weise.

Das Funkeln in Barringtons Augen sprach von Wahnsinn. In ihnen lag nur noch die Lust zu Verletzen, zu verstümmeln und zu töten, kein Mitleid oder gar Menschlichkeit.

John Barrington stieß einen lauten Schrei aus und Draco sah, wie die Klinge nieder fuhr. Er wollte ausweichen, wissend dass Barringtons somit seinen Oberkörper treffen konnte, aber das würde es wenigsten gleich beenden. Dann wäre es endgültig vorbei.

„Ihr seid ein Feigling.“, durchschnitt eine Stimme die drohende Stille und Barrington hielt augenblicklich inne. Draco erstarrte für einen Moment, als er den Klang ihrer Stimme erkannte, doch er ließ den Mann vor sich nicht aus den Augen. Bedrohlich schwankend stand Barrington vor ihm, das Messer immer noch auf halber Höhe.

Barringtons Augen rollten in seinen Augenhöhlen, dann drehte sich er zu ihr um. Doch Dracos Blick blieb in seinem Rücken haften. Die Versuchung, das Verlangen, war groß stattdessen sie anzuschauen. Doch er wusste, dass er ihn keinen Moment aus den Augen lassen durfte.

Obwohl es egal ist, dachte Draco. Er wird mich sowieso töten.
 

Annie musste sich zwingen zu atmen. Ihr Mund stand leicht offen, denn so gelang mehr Luft in ihre Lungen. Von dem Geruch im Verließ wurde ihr speiübel. Aber nicht nur davon, sondern auch von dem, dessen Zeuge sie fast geworden wäre.

Sie hatte seine letzten Worte gehört und als sie vor die Tür getreten war, hatte sie gesehen, wie er das Messer erhoben hatte. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt Draco anzusehen. Sie hatte gehandelt ohne zu überlegen. Für einen kurzen Moment war sie erstarrt, unfähig das Gesehene überhaupt in sich aufzunehmen. Ein kurzer Moment, der, hätte er länger gedauert, Dracos Au-

Sie hörte sofort auf daran zu denken. Denn wenn sie es dachte, sah sie es, sah seinen leblosen Körper auf dem Boden liegen, in einer Lache voll Blut mit schwarzen Höhlen, die einst seine Augen wären.

Das Kind hatte ihn am Ende gerettet. Es hatte sie so heftig getreten, dass sie zu sich gekommen war. Dann hatte sie das Erste gesagt, was ihr in den Sinn gekommen war. Er hatte das Messer sinken lassen und starrte nun sie aus kleinen, verquollenen Augen an. Sein Zorn lag nun auf ihr, aber das war ihr egal solange es ihn nur von Draco ablenkte.

Er war sehr betrunken, erkannte sie sofort. Schon oft hatte sie ihn so erlebt und sie wusste, dass er in diesem Zustand zu allem fähig war und keine Rücksicht nahm. Wahrscheinlich nicht einmal auf das Kind in ihrem Bauch, von dem er immer noch glaubte es wäre sein eigenes.

„WAS?“, fragte er scharf und schwankte einen Moment. Seine Augen funkelten sie wild an und sie rechnete jeden Augenblick damit, dass er sich auf sie stürzen würde. Dennoch reckte sie das Kinn entschlossen nach vorn.

„Ihr seid ein Feigling, wenn ihr Angst vor seinen Augen habt. Etwas anderes kann ich gar nicht denken.“

„Was fällt dir ein, du elendes Weibsstück!“, brüllte er sie an und Annie verbot sich, sich auch nur zu bewegen.

„Das kann ich euch sagen. Dieser Mann liegt in Ketten, er kann sich nicht wehren. Alles was er offenbar getan hat, ist euch anzusehen und ihr wolltet ihm dafür die Augen ausstechen. Ich kann es nur als Angst bezeichnen.“

„Ich habe KEINE ANGST!“

„Dann beweist es.“, sagte sie noch immer mit ruhiger Stimme. „Lasst ihn doch, seht ihm direkt in die Augen.“, forderte sie ihn auf. „Beweist mir, dass ihr keine Angst habt.“
 

Barrington drehte sich augenblicklich wieder zu Draco um. Seine Hand, in der er das Messer hielt, zitterte. Draco wusste nicht, ob es vom Alkohol kam, von seiner Wut oder gar Unsicherheit. War das möglich? Verspürte Barrington wirklich Angst vor seinem Blick? Er wusste, dass er ihm nicht gefiel, doch er hatte geglaubt es läge an dem Wiederstand, den er ihm damit zeigte. Doch Angst? Wovor?

Es war einfach lachhaft. Dieser Mann hatte ihn in Ketten gelegt, ihn verletzt und gefoltert und doch hatte er Angst vor seinem Blick. Wie war es ihm nur jemals gelungen ihn zu finden?

Aber allein der Gedanken gab ihm eine gewisse Genugtuung und ein Mundwinkel zuckte nach oben.

Doch diese Geste musste Barrington noch weniger gefallen. Er stieß einen gutturalen Schrei aus und noch bevor Draco richtig realisieren konnte was geschah, traf Barrington ihn mit der freien Hand so hart im Gesicht, dass er das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte.
 

Annie presste die Hand auf den Mund, als sie sah, wie Barrington ihren Geliebten zu Boden streckte. Sie wollte davon laufen, ihre Augen verschließen und glauben, dass dies alle nur ein schrecklicher, nicht enden wollender Albtraum war.

Doch es war kein Traum, die Bewegungen in ihrem Inneren machten ihr dies deutlich. Das Kind sah alles durch ihre Augen.

Es reichte Barrington nicht, dass Draco bereits am Boden lag, erkannte sie. Er war nicht bewusstlos. Sie sah es an seine Hand, die sich zu einer Faust geballt hatte, offenbar in der Anstrengung vor Schmerzen nicht zu schreien. Doch etwas war merkwürdig, realisierte sie dumpf. Der kleine Finger blieb außerhalb, wirkte geschwollen und blau. Annie hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn Barrington wankte auf ihn zu.

„Ich und Angst vor dir?“, fragte er mit schwerer Zunge. „Dir werde ich das Grinsen schon noch austreiben!“

Dann hob er das rechte Bein, wankt einen Moment gefährlich, als würde er das Gleichgewicht verlieren und trat dann mit aller Kraft und Wucht auf Dracos linke Hand.

Annie sah, wie er die Augen aufriss, die vor Schmerz aus seinen Augenhöhlen hervortraten und selbst seine Pupillen fast weiß wirkten im Dämmerlicht. Das letzte bisschen Farbe, was er vielleicht noch in seinem Gesicht besessen hatte, verschwand gänzlich. Es wirkte gespenstisch. Sein Mund war in einem stummen Schrei aufgerissen und doch gab er John Barrington nicht die Befriedigung ihn zu hören.

Annie begann zu zittern, denn Dracos Augen waren direkt auf sie gerichtet, als würde er sie ansehen. Trotzdem war sie nicht sicher, ob er überhaupt etwas erkennen konnte. Barrington bohrte den Absatz der schweren Stiefel in Dracos Hand, die darunter zermalmt wurde. Als könnte sie durch Dracos Haut, durch sein Fleisch sehen, sah sie wie weitere Knochen unter dem Druck brachen. Sie konnte es hören.

Das Kind ihr bewegte sich unaufhaltsam. Es trat sie, als wollte es aus ihr ausbrechen. Sie konnte Dracos Schmerzen fühlen. Als würde das Kind all den Schmerz spüren, den Draco im Moment empfand, dachte sie dumpf. Wie durch einen Schleier sah sie, dass Barrington zurücktrat und ihr Herz wollte glauben, dass es vorbei war, dass Barrington ihn genug geschändet hatte und doch wusste ihr Verstand es besser. Sie hatte ihn herausgefordert, hatte ihn beleidig und ihm Angst vorgeworfen. Draco bezahlte nun dafür.

John Barrington trat einen Schritt zurück und legte den Kopf schief, als wollte er sein Werk betrachten. Draco hatte die Augen geschlossen und Annie war sicher, dass er schon längst in die Tiefen der Bewusstlosigkeit hinab geglitten war.

Barrington ging in die Knie und auch dabei hatte er Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu halten, doch das hielt ihn nicht davon ab, noch einmal mit geballter Faust auszuholen und Draco mitten ins Gesicht zu schlagen. Ein leises Stöhnen entrann seiner Kehle, mehr nicht. Sie konnte nicht einmal mehr weinen, so sehr litt sie unter diesem Anblick.

Barrington richtete sich schließlich auf und spuckte noch einmal auf Draco bevor er sich zu ihr umdrehte. Annie starrte ihn an, als hätte sie nie ein schlimmeres Monster gesehen. Sie konnte nicht begreifen, von was sie gerade Zeuge geworden war. Barrington kam auf sie zu und sie konnte den Blick nicht von ihm lösen. Jetzt war sie es die Angst empfand. Um ihrer Angst Herr zu werden blickte sie zu Draco, doch sie erkannte ihn nicht wieder. Wo war der stolze, furchtlose Mann, den sie kennengelernt hatte, den sie liebte? Was war aus ihm geworden? Was hatte er ihm angetan?

Sie kam erst zu sich, als sie etwas Kaltes, Spitzes an ihrer Kehle spürte. Annie schluckte und fühlte, wie die Klinge in ihr Fleisch stach. Doch sie war taub für jede Art von körperlichem Schmerz und blickte John Barrington direkt an.

„Wage es nie wieder mich einen Feigling zu nennen.“, flüsterte er bedrohlich. „Das Kind rettet dich im Moment, aber das nächste Mal werde ich dich dafür bestrafen.“

Er zog die Klinge zurück und ging ohne ein weiteres Wort oder Blick an ihr vorbei. Sie konnte hören, wie er die Treppen nach oben stieg, beschwerlich und keuchend. Sie hingegen rührte sich nicht. Sie stand einfach nur da, sah auf den Mann den sie liebte, spürte den Schmerz seines Kindes in sich und wünschte sich, alles würde enden.
 

„Was ist passiert?“, hörte sie eine männliche Stimme vom anderen Ende des Raumes. Annie blinzelte, erst dann nahm sie Alexander wahr. Mit großen Schritten durchquerte er den Raum und war auch schon bei ihr, um sie sofort in seine starken Arme zu schließen. Annie atmete seinen vertrauten Duft ein. Erst in diesem Moment schien sie wieder zu erwachen. Krampfhaft versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sie in ihr eigenes Gemach zurückgefunden hatte. Sie wusste jedes Detail des Schreckens, dessen Zeuge sie geworden war, doch danach schien alles in dicken Nebel eingehüllt zu sein, den sie nur wage durchschauen konnte.

Der Wachmann war zurückrückkehrt und hatte sie bis zum Ende der Treppe nach oben geleitet. Von da aus hatten ihre Füße den Weg wie von selbst gefunden. Doch was sie die Nacht gemacht hatte konnte sie nicht sagen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, muss sie die ganze Nacht auf ihrem Bett gesessen und vor sich hingestarrt haben.

„Annie, was ist geschehen?“, fragte Alexander noch einmal und zum ersten Mal seit Stunden, wie es sich anfühlte, schloss sie die Augen. Sofort tauchten die grausamen Bilder auf. Gleichzeitig wusste sie, dass er wohl schon weitaus schlimmeres erfahren haben musste.

„Ich wünschte er wäre tot.“, flüsterte sie schließlich gebrochen und eine Träne rollte ihre Wange hinab. Als sie die Augen wieder öffnete sah Alexander sie schockiert an. „Ich wünschte Draco würde sterben.

„Ich habe ihn gesehen, gestern... Ich war unten. Ich... Barrington... er wollte ihm...“, sie musste mehrmals schlucken, um die nächsten Worte hervorzubringen und nicht daran zu ersticken. „Er wollte ihm die Augen ausstechen.“

Alexander schnappte hörbar nach Luft, doch er unterbrach sie auch nicht. Dennoch spürte sie, wie sich der Griff seiner Hände um ihre Arme verstärkte. Es hätte ihr wehtun sollen, aber sie spürte noch immer nichts.

„Er hat es nicht getan. Ich konnte ihn aufhalten, aber er hat...“ Sie schüttelte den Kopf und weitere Tränen rollten ihre Wange hinab. Alexander strich ihr über den Rücken, während ihre Tränen zu Schluchzern wurden.

„Wir können... können nicht warten. Wir müssen... mü-müssen...“

„Ich weiß.“, unterbrach Alexander sie. „Ich weiß und ich habe auch schon eine Ahnung.“

Augenblicklich richtete sie sich auf und sah ihn erwartungsvoll an.

Alexander schloss sie wieder in seine Arme und Annie ließ es geschehen. Seine Lippen waren nahe an ihrem Ohr und ein Schauer durchfuhr ihren Körper, als er zu sprechen begann und sein warmer Atem sie streifte. Es war der vollkommen Gegensatz zu dem, wie sie sich fühlte.

„Wir müssen ihr nur auf das Tor schaffen, mehr nicht. Er könnte Hera nehmen und auf ihr fliehen. Er müsste sie nicht einmal richtig führen können, sie würde es allein machen. Ich habe die beiden oft genug gesehen und weiß, dass es funktionieren kann.“

Mit weit aufgerissenen Augen hörte sie ihm zu. Sie hatte sogar aufgehört zu weinen, damit ihr kein Wort entging.

„Was wir brauchen ist etwas, was den ganzen Hof beschäftigt hält. Und zwar so sehr, dass selbst Barrington andere Dinge im Kopf hat. Etwas anderes brauchen wir gar nicht zu versuchen, es wäre unser sicherer Tod. Denk nach Annie, fällt dir so etwas ein?“ Alexanders Stimme war drängend und ihr Herz begann zu rasen.

Gab es so eine Möglichkeit? In den alten Mauern war ständig jemand unterwegs, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Auch bei Barrington konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass er eine fest Bettzeit hatte und Semerloy erst recht nicht. Er hatte sie inzwischen zwar in Ruhe gelassen doch sie wusste, dass er nur auf eine Gelegenheit wartete. Krampfhaft versuchte sie sich eine Situation vorzustellen, bei der das ganze Schloss beschäftigt sein würde, alle von der einfachsten Magd bis hin zu Barrington, aber es wollte ihr nichts einfallen.

Damit sah sie ihre einzigen Gelegenheit Draco zu retten durch ihre Finger gleiten und ihr traten wieder Tränen in die Augen. „Wenn er zur Jagd ist?“, fragte sie und wusste doch, dass es zu wenig war. Alexanders Kopfschütteln bestätigte dies nur.

„Ein Fest oder dergleichen, das würde schon gehen. Wir könnten auch anders dafür sorgen, dass einige länger als sonst schliefen.“, wisperte er.

Annie durchforstete ihr Gedächtnis, irgendetwas musste es geben. Irgendwas... ein Fest... eine Feier, ähnlich groß, wie die ihrer Hochzeit.

„Würde es das nicht noch viel gefährlicher machen?“, fragte sie dazwischen, während sie weiter fieberhaft nachdachte. „Es würden so viel mehr Leute hier sein.“

„Es würde ihn genügend von Draco ablenken. Er liebt es sich zu präsentieren und im Mittelpunkt zu stehen.“

Genau diese letzten Worte waren jene, die Annie den nötigen Anstoß gaben. „Sein Geburtstag.“, sagte sie fast atemlos, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „Barrington hat in zwei Monaten Geburtstag. Es soll ein großes Fest werden mit über 100 geladenen Gästen. Die Vorbereitungen haben bereits begonnen.“, flüsterte sie aufgebracht, als sie an die Gefahren dachte, die es mit sich bringen würde aber vor allem an die Tatsache, dass es noch zwei Monate bis dahin waren. Draco würde es bis dahin nicht überleben.

„Er wird vorher sterben und vielleicht ist es besser so.“, sprach sie ihre Gedanken aus und Kälte kroch ihren Körper entlang. Alexander drückte sie noch fester an sich.

„Nein, Barrington wird ihn nicht so einfach gehen lassen. Nicht ohne vorher sein Geheimnis zu kennen.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte sie kraftlos.

„Weil du dafür sorgen wirst.“, erwiderte Alexander und Annie sah ihn irritiert an.

„Du musst Barrington dazu bringen, ihn am Leben zu lassen. Du kannst ihn jetzt nicht einfach aufgeben.“, beschwor ihr Bruder sie.

„Aber...“

„Ich weiß nicht, wie es dir gelingen soll, nur dass es muss. Du bist die Einzige, die nah genug an ihn herankommt. Stelle dich auf seine Seite, nähere dich ihm an, egal wie schwer es dir fällt. Ich weiß, ich verlange viel von dir, aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wir müssen diese zwei Monate warten.“

„Er wird es mir niemals glauben.“

„Versuche es.“, sprach Alexander eindringlich. „Oder dir fällt noch etwas anderes ein?“

Starr schüttelte Annie den Kopf. Sie wusste nicht, wie sie das schaffen sollte. Dann nickte sie stumm. Was sollte sie auch anderes tun?
 

Den ganzen frühen Nachmittag verbrachte sie ihn ihrem Zimmer und dachte darüber nach, wie sie es nun nach so langer Zeit schaffen sollte Barringtons Vertrauen zu gewinnen. Wie sollte sie ihn dazu bringen, Draco versorgen zu lassen oder ihn wenigstens nicht weiter so zu quälen? Er würde das niemals zulassen. Für ihn war Draco sein Eigentum mit dem er machen konnte, was er wollte. Aber irgendetwas musste sie doch tun können. Die zwei Monate erschienen ihr wie eine Ewigkeit.

Vielleicht wäre es doch besser, wenn Draco sterben würde. Sie konnte diese Gedanken einfach nicht loswerden. Sie wünschte es sich fast für ihn, auch wenn ihr Herz dabei zerbrach. Dass, was sie gesehen hatte, konnte niemand auf Dauer ertragen.

Annie stand am Fenster, sah nach draußen und dachte an den kleinen Garten, den sie sich angelegt hatte. Seit Tagen war sie nicht mehr dort gewesen. Vielleicht sollte sie jetzt hingegen. Möglicherweise würde ihr dort etwas einfallen.

Langsam machte sie sich auf den Weg. Sie ging vorsichtig und langsam, denn jeder Schritt erschien ihr schwerer als der vorherige. Am Treppenabsatz blieb sie stehen. Würde sie nach links gehen, würde sie den Weg zum Verließ finden. War Barrington jetzt wieder dort? War Draco schon wieder erwacht?

Doch sie wählten den rechten Weg und verließ die Burg durch einen der Seiteneingänge, die eigentlich nur für die Dienstboten bestimmt waren. Sobald sie die Mauer verlassen hatte, glaubte sie freier atmen zu können, obwohl sie im nächsten Augenblick ein schlechtes Gewissen befiel. Er litt in diesem stickigen Raum, in dem es nach Blut, Schweiß und Urin roch.

Hastig ging sie in ihren Garten, aber nicht einmal die Schönheit der letzten Frühblüher konnte sie erfreuen. Die Farben leuchteten prächtig, sprachen von Wärme und Sonnenschein und doch erschien ihr alles so falsch und grau. Selbst die Knospen an ihren Apfelbäumen wollte sie am liebsten brechen, damit die Äste genauso leer waren, wie sie sich fühlte.

Was würden sie in zwei Monaten tun? Wie könnte sie dafür sorgen, dass niemand es bemerken würde, wenn sie Draco aus der Burg schafften? Das einfachste wäre es wohl Schlafkräuter in das Essen oder die Getränke zu mischen. Doch wie sollte sie das anstellen? Welches Kraut war stark genug, um wirklich zu gewährleisten, dass sie nicht vorher erwachten? Wie sollte sie die ganzen Leute zum Schlafen bringen? Natürlich war Barrington am wichtigsten, aber was war mit den anderen, den zahllosen Gästen, die er mit Sicherheit haben würde?

Aber vielleicht brauchte sie auch gar nicht darüber nachdenken. Wenn Draco wirklich starb, spielte nicht einmal mehr ihr eigenes Leben eine Rolle. Dann könnte sie sich ebenso selbst das Leben nehmen.

Ein kräftiger Tritt gegen ihren Bauch ließ sie schmerzhaft zusammenzucken. Sie durfte so etwas nicht denken. Sie hatte ja immer noch das Kind. Aber selbst das wollte man ihr ja nehmen.

Annie fuhr sich mit dem Handrücken, über die Augen und wischte sich die Tränen fort.

„So traurig?“, hörte sie eine Stimme hinter sich und erkannte sie sofort. Doch anders als sonst, konnte sie nicht einmal wütend sein oder besorgt über seine Anwesenheit. Nein, vielmehr war sie schlichtweg genervt.

„Was wollt ihr?“, fragte sie und sah Jonathan Semerloy nicht einmal an.

„John sagte mir, ihr seid gestern im Verließ aufgetaucht und hättet ihn als Feigling bezeichnet. Ganz schön mutig von euch.“

Jetzt blickte sie ihn doch an und da sie es nicht ertragen konnte, dass er von oben auf sie herunter sah, stand sie auf, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.

„Mag sein, dass ich das getan habe, aber was hätte ich anderes denken sollen? Er wollte diesem Mann die Augen ausstehen, nur weil er ihn angesehen hatte.“, sagte sie mit möglichst ruhiger Stimme, merkte aber selbst wie scharf sie klang.

Jonathan Semerloy legte den Kopf schief. „Ach wirklich?“

„Ja, so war es gewesen. Allerdings wundert es mich überhaupt, dass er sich noch daran erinnern kann.“, sagte sie weiter und wusste gleichzeitig, dass es besser wäre den Mund zu halten. Aber sie konnte nicht. Ihre Angst bahnte sich einen Weg und das schien ihr die einzige Möglichkeit sie freizulassen.

Semerloy grinste sie schief an und sie wusste, dass er sich an ihrem Tonfall nicht störte. Vielmehr fand er es wohl amüsant und sie wollte gar nicht daran denken, was es in ihm noch auslösen mochte.

„Ich wundere mich eigentlich viel mehr darüber, was ihr da unten noch zu suchen hattet.“, erwiderte er so gelassen, als sprächen sie nur über das Wetter und nicht über ein Leben, dass im Verließ unter ihnen dahin vegetierte.

Für einen Moment war sie zu schockiert um Antworten zu können, doch sie sammelte sich schnell wieder und suchte nach den passenden Worten.

„Alexander hat mir erzählt, dass man seinen Arbeiter gefangen genommen und hierher gebracht hat. Er sagte mir, dass John ihn nicht zu ihm lässt und er erzählte auch von haarsträubenden Anschuldigungen. Ich wollte mich selbst davon überzeugen und Alexander Nachricht geben, dass es ihm gut geht. Allerdings ist wohl alles andere der Fall.“, erwiderte sie.

„Ah Alexander, natürlich. Wie konnte ich ihn auch nur einen Moment vergessen?“, sagte Semerloy und seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Also warum?“, fragte Annie.

„Was?“, fragte Jonathan Semerloy zurück, als wüsste er nicht genau, was sie von ihm verlangte.

„Warum ist er im Verließ und wird schlimmer behandelt als ein Tier?“

„Diese haarsträubenden Anschuldigungen, wie ihr sie nennt, sind wahr. John glaubt, dass dieser Mann einmal ein Drache war. Jener Drache, den er schon einmal fast bekommen hätte. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, sich in einen Menschen zu verwandeln. Er hat sich bei Alexander eingeschlichen und ihr Bruder hat nicht einmal bemerkt, dass er etwas nicht Menschliches unter seinem Dach wohnen lässt. Einfältig, wenn ihr mich fragt.“

Der einzig Einfältige hier, seid ihr, dachte Annie. „Aber...“, Annie wusste, dass sie ihre nächsten Worte mit Bedacht wählen musste. Sie wusste, dass jedes einzelne darüber entscheiden würde, ob sie Draco würde helfen können oder nicht. „Aber wie könnt ihr euch sicher sein? Und was nützte er euch jetzt, da er ein Mensch ist, wenn es denn überhaupt stimmt.“

Jonathan Semerloy zuckte mit den Schultern. „Die Farbe seiner Haare, seiner Augen, dass alles ist genauso wie bei dem Drachen und der Blick mit dem er John und mich angesehen hat ist nicht menschliches. Er ist wild und tierisch, ganz der eines Monster.“

Ein Monster? Niemals!

„Aber ihr habt recht, was nützt er uns noch. Nicht sehr viel, um ehrlich zu sein. Deswegen wollen wir auch, dass er seine alte Gestalt wieder annimmt.“

„Und wenn er das nicht kann?“

Jonathan sah sie einen Moment prüfend an. „Wie kommt es, dass ihr euch so viele Gedanken darum macht?“, fragte er misstrauisch. Offenbar war ihm ihr neu entfachtes Interesse nicht entgangen und vielleicht auch deswegen, weil es die erste richtige Unterhaltung war, die sie beide je miteinander geführt hatten.

„Ich bin nur neugierig. Wenn ihr ihn erst einmal zu Tode gequält habt, wird es sowieso egal sein, ob er ein Mensch oder Drache ist.“ Ihre Stimme war eisig und sie bemühte sich auch nicht ihre Ablehnung zu verbergen.

„Tod?“

„Natürlich. Ihr wollt Antworten, wollt dass er wieder ein Drache wird, aber wenn ihr so weiter macht, wird er schon sehr bald sterben.“, sprach sie das offensichtliche aus. „Ich habe ihn nur kurz gesehen, aber das was ich sah, reichte. Länger wird dieser Mann es nicht mehr ertragen können. Ihr solltet euch vielleicht entscheiden: entweder eurer Vergnügen oder Antworten.“ Sie sahen sich einen Moment in die Auge und Annie wiederstand dem Drang wegzusehen.

Als Semerloy nichts erwiderte stahl sich ein ungläubiger Ausdruck auf ihr Gesicht. „Ihr habt noch nicht einmal ansatzweise daran gedacht, dass er unter euren Händen sterben könnte oder? Alles war ihr seht ist der Drache“, dieses Wort spukte sie beinah aus, um ihm zu zeigen, wie sehr sie glaubte, dass es stimmte, „dabei ist er nichts weiter als ein Mann.“

Sie hatte zu viel gesagt, dass wusste sie. Die Worte, die ihr auf der Seele lagen, hatte sie zwar nicht ausgesprochen, aber es hatte nicht viel gefehlt. Vielleicht hatte sie sich auch so verraten.

„Jonathan!“, hörte sie Barrington rufen und beide drehten sich in seine Richtung. Er saß auf einem prächtigen Pferd, dem das Gewicht dieses Mannes nicht zu stören schien. Neben ihm stand der Stallbursche mit einem Schimmel, an dessen Sattel Pfeil und Bogen befestigt waren.

„Ihr reitet aus?“, fragte Annie nicht ohne einen erstaunten Unterton in der Stimme. Sie hätte erwartet, dass Barrington gar nicht genug von seiner perversen Folter bekommen konnte und dass die Jagd nun, da er hatte, was er wollte, vorbei sei.

„Natürlich. Auch uns wird hin und wieder mit ihm langweilig, obwohl uns die Idee noch lange nicht ausgegangen sind.“, sagte er leichthin und lächelte sie an. „Aber vielleicht werden wir sogar berücksichtigen, was ihr sagtet.“, fügte er an und griff nach einer Haarsträhne von ihr, die er durch seine Finger gleiten ließ. Dann wandte er sich ab und saß auf. Offenbar fand Barrington nichts Anstößiges dabei, wie Jonathan seine Begehren zeigte, selbst vor ihm.

Annie beobachtete die Männer, wie sie das Anwesen verließen. Langsam trat sie aus ihrem Garten heraus. Sie war vorsichtig, damit sie sie nicht sahen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, denn sie wusste, dass dies ihre Gelegenheit war zu Draco zugelangen. Bis sie den Wald erreichten, würde es einige Zeit dauern, ganz gleich für welchen sie sich entscheiden sollten und selbst, wenn sie nur ganz kurz jagen würde, würde es ihr genügend Zeit verschaffen.

Ihr Körper stand unter Anspannung und jeder Nerv in ihr schrie danach sofort in das Verließ zu rennen, doch sie zügelte sich. Sie wartete geduldig, ging durch ihren Garten und hoffte, dass man sie beobachten würde. Es sollte niemand auf die Gedanken kommen sie hätte nur darauf gewartet, dass die beiden endlich verschwunden waren, bevor sie nach unten ging.

Außerdem würde Doktor Storm noch kommen. Er hatte sich zumindest angekündigt und wenn er einmal da war... Annie hielt den Atem an. Er war ein Arzt, zwar auf Frauenheilkunde spezialisiert, aber das hieß nicht, dass er nicht auch mit anderen Dingen umzugehen wusste. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen nach Draco zu sehen, ihm irgendwie zu helfen? Aber was würde er zu Dracos geschundener Gestalt sagen? Würde er es riskieren ihm zu helfen? Was würde sie Barrington dann erzählen? Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie wütend er sein würde, wenn er erfuhr, dass sie sich wieder eingemischt hatte. Aber sie konnte auch nicht Nichts tun und darauf vertrauen, dass Semerloy wirklich über ihre Worte nachdachte. Und selbst wenn, konnten sie Draco immer noch einfach töten.

Als Annie glaubte genug gewartet zu haben und es auch nicht länger aushalten konnte, kehrte sie in die Burg zurück. Abermals wählte sie den Hintereingang, denn jeder wusste, dass sie diesen Weg bevorzugte und es würde auch niemand etwas Seltsames daran finden. Als sie jedoch wieder an der Treppe stand, ging sie gerade aus und nicht nach oben. Ihr war vor Aufregung ganz schlecht. Waren sie heute schon einmal bei Draco gewesen?, überlegte sie. Was haben sie ihm dieses Mal angetan? Was würde sie tun? Sie konnte nicht einfach zu ihm gehen und sagen, es würde alles gut werden. Sie konnte ihn nicht einmal versorgen, da sie nicht einmal Kräuter bei sich hatte. Und ihre Magie zu gebrauchen, erschien ihr zu gefährlich. Was also wollte sie dort genau?

War es nur um bei ihm zu sein? Wollte sie ihn einfach nur spüren lassen, dass sie da war?

Sie zog die schwere Holztür zum Verließ auf. Der Gang war immer noch von Fackeln beleuchtet. Annie spürte ihre Beine kaum noch, als sie die letzte Stufe erreicht hatte. In Gedanken war sie schon hinter der Zellentür und überlegte fieberhaft, was sie sagen würde, was sie tun würde. Sie wusste, dass jedes Wort sinnlos war. Keines würde ihm helfen können.

Umso überraschter war sie, als sie den Wachmann bemerkte, der sich erhob und kurz vor ihr verneigte. „Mylady.“, sagte und sah sie abwartend an.

Perplex starrte sie den Mann an. Er war nur wenig größer als sie, aber von kräftiger Statur, doch keineswegs füllig. Sein Gesicht zeigte noch die einstige Jugend, doch hatte auch schon schlimmeres gesehen. Sein Haar war hellbraun und seine Augen schienen von einem dunklen Grün zu sein. Zumindest glaubte sie das zu erkennen.

„Gebt mir die Schlüssel und lasst mich mit ihm allein.“, sagte sie schließlich nach einer, wie ihr schien, Ewigkeit. Ungläubig sah er sie an. „Aber Mylady, ich habe strikte Anweisung niemanden einzulassen, ganz zu schweigen davon die Schlüssel auszuhändigen.“

Annie schwieg, unsicher über diesen unerwarteten Widerstand. Doch sie konnte und wollte nicht einfach wieder umkehren. Sie musste zu ihm. Jetzt!

„Dann habe ich jetzt eine neue Anweisung für euch, gebt mir Schlüssel und verlasst das Verließ.“, sagte mit Autorität in der Stimme, wie sie hoffte.

„Aber Mylady,...“, begann er von neuem.

„Die Schlüssel.“, sagte Annie abermals und streckte nun die Hand nach vorn. Ihre Geduld war am Ende. Der Mann vor ihr zögerte und in seinem Blickt glaubte sie so etwas wie Angst erkennen zu können. Erst dann verstand sie. Er hatte mitnichten Angst vor ihr, aber vor John Barrington und was passieren würde, würde er erfahren, dass er sie eingelassen, ja ihr sogar die Schlüssel gegeben hatte.

„Ihr könnt unbesorgt sein. Ich werde es auf meine Verantwortung nehmen und dafür sorgen, dass euch nichts geschieht. Ihr habt nach meinem Willen gehandelt. Mein Mann wird davon nie erfahren.“

Doch auch diese Worte schienen dem Wachmann nichts von seiner Unsicherheit zu nehmen.

„Geb mir die Schlüssel oder ich werde genauso wenige Gnade kennen, wie mein Mann.“, sagte sie schließlich scharf und drohend, jede Vorsicht hinter sich lassend. Erschrocken sah er sie an. Dann zog der Mann langsam die Schüssel von seinem Gürtel und hielt sie ihr hin. Ohne noch weiter Zeit zu vergeuden, nahm Annie sie und das kalte Metall fühlte sich überraschend gut und beruhigend auf ihrer Haut an.

„Geht.“, sagte sie ein letztes Mal und dieses Mal brauchte er keine weitere Aufforderung und verließ hastig das Verließ.

Sobald sie hörte, wie seine Schritte den oberen Absatz erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Annie die Hand sinken und schloss die Augen. Sie atmete tief ein und versuchte die Kraft heraufzubeschwören mit der sie gerade so viel Autorität gezeigt hatte. Doch sie spürte nichts mehr davon, nur noch Unsicherheit und Angst. Was würde sie Barrington erzählen? Wie würde sie ihn überzeugen können, dass sie nur für ihn handeltet?

Sie schüttelte den Kopf. Später...

Ein letztes Mal atmete sie durch, dann wandte sie sich um und trat auf die Zelle zu. Ihr Herz schlug ihr inzwischen im Hals. Sie blickte auf seine zusammengekrümmte Gestalt und tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie wollte nicht weinen. Es würde ihm nicht helfen.

Draco lag mit dem Rücken zu ihr. Annie wollte seinen Namen sagen, doch aus ihrem Mund drang nur ein erstickter Laut. Also führte sie den Schlüssel in das Schloss. Sie musste fest Drehen, doch als es aufsprang gab es ein klickendes Geräusch. Sie behielt Draco im Auge, hoffte eine Reaktion zu erkennen, aber er blieb regungslos.

Horror setzte bei ihrem nächsten Gedanken ein: Vielleicht war sie schon zu spät.

Sie zog die Tür mit Schwung auf und mit eiligen Schritten lief sie zu ihm. Dann verließen sie ihre Kräfte und sie fiel vor ihm auf die Knie. Ihre Augen waren weit aufgerissen, nahmen jede misshandelte Stelle auf seinem Körper wahr: die tiefen Wunden auf seinem Rücken, wahrscheinlich von einer Peitsche, dachte sie. Sie sah nur die rechte Hälfte seines Gesichts und an den Schläfen rote Blutergüsse. Seine rechte Hand lag über seinen Körper und als sie sich ein wenig darüber beugte, sah sie die frischen Wunden auf seinem Arm. Die Form kam ihr bekannt vor, so als würden sie ein Muster zeigen, doch sie kam nicht gleich darauf was sie bedeuten. Erst als sie ein zweites Mal hinsah, länger und genauer, erkannte sie es und verstand. Schockiert stieß sie die Luft aus und langsam rollte eine Träne ihre Wange hinab.

Was hatte er ihm angetan?

Als nächstes bemerkte sie die linke Hand und erst jetzt realisierte sie das Ausmaß dieser Verletzung. Sie war angeschwollen. Der kleine Finger war fast blau und seltsam verkrüppelt. Die anderen Finger zeigten Quetschungen und Blutergüssen, wahrscheinlich von dem Tritt am vorherigen Abend. Doch das merkwürdigste von allem war vielleicht, dass sie geöffnet war und er sie ausgestreckt hatte. Als würde er nach etwas greifen wollen, oder als ob sie schon gar nicht mehr zu ihm gehörte.

Vorsichtig beugte sie sich über Draco und erkannt weitere blutige Striemen auf seiner Brust und Bauch. Sie sah sie nicht ganz, aber sie vermutete, dass sie ähnlich schlimm aussahen wie jene auf seinem Rücken.

Bevor sie nach unten gegangen war, hatte sie mit ihm sprechen wollen. Sie hatte in seine Augen sehen wollen und ihm sagen wollen, wie sehr sie ihn noch immer liebte, dass Alexander und sie ihn schon irgendwie herausholen würden.

Doch jetzt, da sie ihn so sah, fragte sie sich, ob es nicht besser war, ihn im Schutz der Ohnmacht zu lassen. So sehr sie sich auch nach ihm verzehrte, so konnte sie es noch weniger über sich bringen, dass bisschen Ruhe, das ihm durch Barringtons Abwesenheit vergönnt war, zu zerstören.

Unsicher sah sie sich um und entdeckte den Becher Wasser neben ihm. Sie nahm in hoch und roch daran. Es war schon ein paar Tage alt. Das konnte er unmöglich trinken. Sie würde dafür sorgen, dass ihm frisches gebracht wurde, dachte Annie. Dann atmete sie einmal durch, als ihre Entscheidung wie von selbst fiel. Sie würde ihn nicht wecken. Er sollte schlafen, aber sie wollte wenigstens versuchen etwas zu tun.

Einen kurzen Blick warf sie aus der Zellentür, um sicher zu gehen, dass sich niemand ihr unbemerkt genähert hatte, aber bei den alten Steinstufen würde sie es wohl hören, wenn das jemand versuchte. Dann legte sie eine Hand auf seinen Rücken, gerade so, dass sie die verletzte Haut kaum berührte und begann leise, in einer anderen Sprache zu murmeln.
 

Am äußersten Rande seines Bewusstseins spürte er eine Anwesenheit. Irgendjemand war zu ihm gekommen, doch bisher fühlte er keinen neuen Schmerz, der ihn ruckartig zurückgebracht hätte. Was hatten sie sich nun einfallen lassen?, fragte er sich benommen und gleichzeitig tauchte er tiefer in die Schwärze hinab. Wenn er nur tief genug in ihr wäre, wenn sie ihn vollkommen und fest umschließen würde, würde er vielleicht gar nicht mehr zurückkönnen. Ganz gleich, was sie dem Köper antun würden.

Die Empfindung verschwand langsam und Ruhe breitete sich in ihm aus. Er fühlte sich schwerelos, als würde er in einem endlos schwarzen Raum dahingleiten, ohne Licht und ohne Mond. Doch er war auch ohne Schmerzen und das war alles, was er im Moment wollte.

Kaum hatte er dies zu Ende gedacht, öffnete sich etwas in ihm und die Schwärze verschwand. Sie verzerrte sich zu einem nebligen, hässlichen Grau. Dann setze auch die Pein wieder ein.

Er spürte es auf seinem Rücken. Brennender Schmerz, als würde das Fleisch, welches zuvor so gewaltsam auseinander gerissen worden war, wieder zusammenwachsen.
 

Annie hörte wie er aufstöhnte und hielt augenblicklich inne. Sein Atmen ging plötzlich schneller und sie merkte, wie er sich weiter zusammenkrümmte. Als hätte er mehr Schmerzen, als zuvor. Als wäre es ihre Schuld.

„Draco.“, flüsterte sie kaum hörbar, aber er reagierte nicht. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Annie besah sich die Wunden auf seinem Rücken. Ein wenig hatte sie sich geschlossen, doch es reichte bei weitem nicht. Sie konnte sie nicht ganz heilen. Dafür waren sie zu tief. Aber es war ein Anfang, dachte sie. So konnte sie den Heilungsprozess vielleicht etwas beschleunigen. Doktor Storm würde den Rest machen müssen. Inzwischen war sie fest entschlossen, den Arzt zu ihm zu bringen.

Sacht berührte sie den Mann, den sie liebte an der Schulter und versuchte ihn ein wenig zu ihr zu drehen, nur so viel, damit sie auch die Wunden auf seiner Brust ein wenig heilen konnte. Doch sein Körper war steif und je mehr sie es versuchte, desto mehr schien er sich zu wiedersetzen.

Annie beobachtete, wie er die linke Hand langsam zu seinem Körper zog, um sie anschließend an seinen Oberkörper zu pressen. Als wollte er sich somit vor weiteren Qualen schützen. Dracos Augen waren noch immer geschlossen. Und wieder dem, was sie zuvor noch gedacht hatte, hoffte sie dass er aufwachen würde.

Behutsam beugte sich Annie über ihn und legte ihre Lippen an sein Ohr. „Draco.“, wisperte sie und er zuckte unter ihr zusammen.
 

Welchen Streich spielte sein, von Schmerzen vernebelter Verstand ihm jetzt? Reichte es nicht, dass sein Körper gefoltert war und brannte, musste es jetzt sein Geist sein. Für einen kurzen Moment hatte er ihre Stimme gehört, schwach und leise, aus weiter Ferne, aber sie sie war echt gewesen. Aber es war auch keine Erinnerung. Zumindest wollte sein Geist ihm das glauben machen. Aber es konnte nicht sein. Er wusste inzwischen nicht einmal mehr, ob er sie wirklich gesehen hatte, ob sie wirklich dagewesen war, als Barrington ihm die Augen nehmen wollte. Er wurde langsam verrückt. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Abermals hörte er ihre weiche Stimme, dicht neben seinem Ohr, sogar noch klarer als zuvor.

Vielleicht sollte er gehen und von dem Grau loslassen. Nur ein Blick, um sicher zu sein, dass sein Verstand ihn nun endgültig verließ. Dann würde es sicher nicht mehr lange dauern, bis der Rest seines Körpers folgen würde. Und vielleicht würde dann alles andere leichter sein, vielleicht würde er es dann nicht mehr spüren.
 

Annie sah, wie seine Augenlider flatterten und gleichzeitig ein Stöhnen seine Lippen verließ. Nur sehr langsam öffnete er die Augen und es kostete ihm sichtlich Mühe sie geöffnet zu lassen.

„Draco.“, wisperte sie noch einmal und kämpfte wieder mit den Tränen. Sie durfte jetzt nicht weinen. „Ich bin hier.“

Kaum hatte sie die Worte gesprochen, schloss er die Augen erneut und atmete hörbar auf.

„Draco!“, sagte sie nun eindringlicher. Sie hatte das Gefühl, als würde das Leben aus seinen Körper weichen.
 

Vielleich träumte er immer noch, überlegte er. Wie sollte es ihr sonst möglich gewesen sein, zu ihm zu kommen, wenn nicht im Traum.
 

Mit zitternden Fingern hob sie eine Hand und fuhr ihm durch das einst blonde Haar. Jetzt war es schmutzig und strähnig.
 

Erneut öffnete er die Augen, als ihn die Erkenntnis traf. Kein Traum konnte so real sein. In keinem seiner Träume hatten sich ihre Finger so lebendig und warm angefühlt wie jetzt. Sollte es wahr sein? War sie wirklich bei ihm?

Draco wollte ihren Namen sagen, doch statt eines Wortes kam ein Husten heraus, welches ihm die Luft aus den Lungen drückte. Sein Körper zuckte unkontrolliert als es vorbei war, vor Schmerz und vor Bemühung wieder genügend Luft zum Atmen zu bekommen.

Barrington konnte nicht da sein. Er hätte ihn schon längst Schmerzen spüren lassen.

Die weiche Hand fuhr noch immer durch seine Haare und legte sich dann auf seine Stirn. Dort begannen sie sanft darüber zu streichen und für einen kurzen Augenblick fühlte sich Draco an die ersten Tage seines Menschseins zurückversetzt. Damals hatte sie das gleiche getan.

Sie war wirklich bei ihm.
 

Annie beugte den Kopf über ihn und lehnte ihre Stirn vorsichtig gegen seine. Stumme Tränen flossen ihre Wange hinab und bedeckten seine und sie konnte hören, wie er langsam einatmete, um den Mund für ein paar Worte zu öffnen.

Sie erhob sich und sah ihn an. Langsam drehte er den Kopf und verzog für einen Moment schmerzhaft das Gesicht. Doch sein Blick blieb immer auf ihrem Gesicht haften.
 

Er konnte nicht glauben, dass sie wirklich vor ihm stand. Es musste wohl auch auf seinem Gesicht zu lesen sein, dann sie sagte: „Ich bin es wirklich.“ Dann berührte sie ihn wieder an der Stirn, wie sie es schon so oft zuvor getan hatte. „Ich bin wirklich da.“, flüsterte sie.

Draco schloss die Augen und genoss diese sanfte Berührung auf seiner Haut. Sie verschaffte ihm mehr Linderung, als es jedes andere Heilmittel wohl jemals könnte.

Gern hätte er sich dieser Geste hingegeben und sich von ihr wieder in die Wiege des Schlafes bringen lassen, doch er wollte diesen Moment mit ihr nicht vergeuden. Also blickte er sie wieder an und sah in ihre tränennassen Augen. Sie war genauso, wie er sie immer in seinen Erinnerungen gesehen hatte: wunderschön, zerbrechlich und einzigartig. Ein schwaches Lächeln lag auf ihrem Gesicht und ihm wurde einmal mehr bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte, wie sehr er sich nach ihr sehnte, ihrem Blick, ihren Berührungen, ihren Küssen und ihrem Körper.

Vieles wollte er sie fragen doch der Schmerz hielt ihn zurück. Seine Zunge war geschwollen und allein das Schlucken war eine Qual für ihn.

Doch er drehte seinen Körper ein wenig mehr und streckte seine unverletzte Hand nach ihr aus. Er wollte sie berühren, wenn auch nur einmal und dann nie wieder.

Als seine Hand ihre Wange berührte, schloss Annie die Augen und ein Schluchzer entfuhr ihr. Empfand sie das gleich, wie er dabei?, fragte er sich. Weitere Tränen fanden ihren Weg ihre Wange hinab und verfingen sich zwischen seinen Finger. Er wusste wie ihre Tränen schmeckten.

Schmerzen durchdrangen seinen Körper, alles schrie danach sie loszulassen, den Arm zurückzunehmen und jene Position einzunehmen, die ihn am wenigstens empfinden ließ. Draco weigerte sich diesem Gefühl nachzugeben. Langsam ließ er seine Hand nach unten gleiten, seine Fingerspitzen berührten ihren Hals, ihren Schulter und fuhren schließlich ihren Arm entlang. Er spürte, wie sie unter seiner Berührung erzitterte und es erfreute ihn auf gewisse Weise, dass er noch immer so etwas bei ihr auszulösen vermochte. Seine Hand glitt ihren Arm hinab und er spürte, wie der Schmerz dabei etwas nachließ.

Sein Blick war seiner Hand gefolgt und eilte ihm nun voraus, über ihren Arm bis zu dem Punkt zu ihrer Hand, die auf ihrem Bauch lag.

Dies war der Moment in dem etwas in ihm erstarrte, um im gleichen Augenblick in tausende Scherben zu zerspringen. Seine Fingernägel gruben sich in das zarte Fleisch ihres Unterarmes und sein Körper begann unkontrolliert zu zittern.

Ihr Bauch war gewachsen, schoss es ihm blitzschnell durch den Kopf. Er sah aus wie bei Susan und Draco hatte inzwischen genug gelernt, um zu begreifen, was es bedeutete.

Annie erwartete ein Kind.

Und obwohl er nicht ganz sicher war, wie es bei den Menschen zu Stande kam, wusste er doch, dass es nur von Barrington sein konnte.

Das was sein war, erwartete das Kind eines anderen.
 

Jede Berührung war wie der Flügelschlag eines Schmetterlings auf ihrer Haut. Sie hinterließen ein Kribbeln, das sich durch ihren Körper ausbreitete und ihn von innen wärmte. Eine Wärme, die sie schon seit langem nicht mehr empfunden hatte.

Sie schloss die Augen und genoss sie, so wie er es zuvor getan hatte. Doch plötzlich hörten sie auf und seine Finger versanken schmerzhaft in ihren Arm. Erschrocken riss sie die Augen auf und ein kleiner Schrei entfuhr ihr. Annie sah in sein Gesicht und erschrak ein zweites Mal. Horror stand darauf geschrieben, Verzweiflung, Angst und vielleicht auch Resignation.

Sie war verwirrte, sie verstand nicht. Was sollte diese Gefühle auf einmal in ihm ausgelöst haben? Dann folgte sie seinen Blick und ihr wurde klar, was er sah: Ihren Leib, in dem ein Kind heranwuchs.

Auf einmal ließ er ihren Arm so plötzlich los, als hätte er sich daran verbrannt und zog sich gänzlich zurück. Er dreht den Körper wieder und wollte wohl in die gleiche Position zurückkehren, in der sie ihn gefunden hatte: allein und in eine Welt voller Schmerzen.

„Nein!“, stieß sie hastig aus und griff nach seiner rechten Hand. Er hatte keine Ahnung.
 

Draco wollte seinen Arm wegziehen. Sie sollte ihn nicht berühren. Ruckartig versuchte er sich zu befreien und suchte dabei unbewusst Halt mit seiner linken Hand. Die Luft wich aus seinen Körper, als ein so starker Schmerz durch seinen linken Arm schoss, dass er weiße Punkte vor den Augen sah. Er verharrte regungslos, schnappte nach Luft und hoffte, dass es bald vorbei sein würde. Dabei ließ er es geschehen, dass sie seine Hand abermals nahm.

Es dauerte einen Moment bevor er begriff, was sie gedachte zu tun. Als seine Hand ihren festen Bauch berührte, wollte er sie zurückziehen, doch sie hielt ihn so fest sie konnte und in seinem geschwächten Zustand, gelang es ihr.

„Kannst du es spüren.“, fragte sie mit brüchiger, kaum hörbarer Stimme.
 

Annie spürte das Leben in sich. Es war wach und sie glaubte selbst seinen winzigen Herzschlag fühlen zu können. Das Kind spürte Dracos Anwesenheit. Also musste er es doch auch können oder nicht? Wie konnte er es nicht bemerken?, fragte sie sich fast verzweifelt.

Im nächsten Augenblick spürte sie, wie das Zittern in seiner Hand nachließ und er inne hielt. Sein Atem wurde ruhiger und sein Gesichtsausdruck war zutiefst verwirrt.
 

Es war wie er, dachte Draco ungläubig. Er spürte jemanden seinesgleichen in ihrem Bauch. Es war stark und lebendig, wach und voller Erwartungen.

„Verstehst du es?“, drang ihre Frage an sein Ohr. Er konnte den Blick nicht abwenden. Ob er verstand? Was? Wie war es möglich, dass er so etwas fühlte?
 

Langsam hob er den Kopf und sah sie an. Annie erkannte so viele Fragen in seinen Augen und doch konnte sie keine davon beantworten. Es gab keine Worte dafür. Annie nahm seine Hand in ihre und drückte sie fest, dann beugte sie sich nach unten. Mit ihrer freien Hand stützte sie sich auf dem Boden ab und der kalte Stein hielt sie in der Gegenwart, sorgte dafür, dass sie sich nicht vollkommen in dem verlor, was sie gedachte zu tun.

Ihre Lippen berührten sich sanft und vor allem zaghaft. Sie spürte sein Zittern und doch ließ sie nicht los. Denn trotz seiner aufgesprungenen Lippen, war der Geschmack süß und verstärkte ihre Sehnsucht nach ihm.
 

Er konnte nicht sagen was in seinem Inneren geschah, als sie ihn küsste. Plötzlich verstand er. Er gehörte zu ihm. Das Leben, welches in ihrem Körper heranwuchs war ein Teil von ihm. Er hatte es geschaffen.

Neue, unbekannte Gefühle wirbelten ihn ihm auf und wurden zu einem Sturm. Das alles war ihm unbekannt und auch beängstigend. Doch darüber stand vor allem das Wissen, dass sie noch immer sein war. Egal, was Barrington mit ihr machen würde oder was er mit ihm tat, Annie würde immer sein bleiben und das Wesen, das Kind, mahnte er sich selbst und ein Stoß durchfuhr bei diesem Gedanken seinen Körper, war der Beweis.

Zögernd öffnete er die Lippen und erwiderte den Kuss. Es schmerzte, aber dieser Art von Schmerz hieß er willkommen.
 

Als er begann den Kuss zu erwidern, änderte sich dessen Geschmack. Er schmeckte nicht mehr süß, sondern nach Blut. Annie glaubte einen Moment, dass es von seinen Lippen kam, doch es wurde so intensiv, dass ihr schlecht wurde. Sie musste sich von ihm lösen und er ließ sie, anders als noch Monate zuvor, bereit willig gehen. Ein Stöhnen entfuhr Draco und er schien seinen Körper nicht mehr halten zu können. Vorsichtig ließ er sich wieder auf den Boden gleiten und schloss die Augen. Seine Hand lag noch immer in ihrer und Annie spürte, wie sein Griff schwächer wurde. Er würde bald wieder einschlafen.

Dennoch wollte sie wissen, woher der Blutgeschmack kam. Seine Lippen waren zwar aufgesprungen, doch sie blutete im Moment nicht. Woher also dann? Was hatten sie noch mit ihm gemacht?

Vorsichtig legte sie eine Hand unter sein Kinn und zog mit ein wenig Druck seinen Unterkiefer nach unten, so dass sie in seinen Mund schauen konnte.

Sie sah nur wenig, denn die Kerzen spendeten nicht so viel Licht, aber es genügte um sie einen entsetzten Laut ausstoßen zu lassen.

Dracos Zunge war vollkommen blutig gebissen. Bevor sich sein Kiefer wieder schloss, glaubte sie die Spuren seiner Zähne sehen zu können, die sich in das empfindliche Fleisch gegraben hatten. Er hatte um keinen Preis schreien wollen.

Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie musste ihm helfen, ganz gleich wie. Annie fuhr sich mit dem Handrücken über die nassen Augen, doch im selben Moment sah sie wie sich sein Mund bewegte, als wollte er etwas sagen. Sie hatte es nicht verstanden und sie beugte sich zu ihm herunter, soweit es ihr Bauch erlaubte und legte das Ohr an seine Lippen.

Und dann hörte sie ihn flüstern: „Töte mich.“
 

Es war das einzige, was er noch wollte: Sterben.

Draco wusste, dass es für ihn kein Entkommen von diesem Ort gab. Erst, wenn er tot war, würden sie ihn gehen lassen. Aber er würde nicht so schnell sterben, davon war er sogar überzeugt. Annie hatte ihm dieses Leben, dieses menschliche Leben gegeben, sie sollte es ihm auch nehmen. Mit ihr hatte es begonnen, mit ihr sollte es auch enden.

Für sie gab es keine Zukunft und Draco wusste tief in sich, dass es sie nie gegeben hatte. Das Kind in ihr, sah er als weitere Strafe an. Warum sonst sollte es entstanden sein? Er war kein Mensch, er hätte sich niemals mit einem Verbinden sollen, ganz gleich wie schön und begehrenswert sie auch war. Er hatte es von Anfang an gewusst.

Genauso wie er wusste, dass er den Rest seines kümmerlichen Lebens in Schmerzen verbringen würde.

„Ich kann nicht.“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich kann einfach nicht... Vergib mir.“, flehte sie ihn an.

Er ließ seine Hand gänzlich sinken und sich von dem Schlaf davon tragen. Es würde kein Ende finden.
 

Annie stand am Fenster. Das tat sie schon seitdem sie aus dem Verließ zurückgekehrt war. Dem Wachmann hatte sie mit klaren Worten gesagt, dass er sie niemals gesehen hatte. Und doch gedachte sie noch am gleichen Tag dorthin zurückzukehren. Sie wartete nur noch auf Doktor Storm. Ein klopfen an ihrer Tür, kündigte von dem lang erwarteten Besuch.

„Ja.“, sagte Annie und als sich die Tür öffnete und der wohlvertraute Mann eintrat, war ihr Inneres nun endlich zur Ruhe gekommen. Ihr Herz flatterte nicht mehr nervös in ihrer Brust, sie fühlte sich nicht mehr, als müsste sie sich vor Angst übergeben und selbst das Kind strahlte Ruhe aus. Sie hatte sich entschieden und durfte in den nächsten Monaten keine Unsicherheit zeigen.

„Wie geht es ihnen?“, begrüßte Doktor Storm sie höflich und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. In seiner Hand trug er seine schwere, braune Tasche und Annie bewunderte ihn, dass er trotz seiner schmächtigen Statur so schwer tragen konnte.

„Es geht mir gut.“, antwortete sie mit fester Stimme. „Doch würde ich sie heute bitten, nach... jemand anderem zu sehen.“

Überrascht sah Doktor Storm sie an, schien sich dann aber wieder schnell zu fangen.

„Natürlich, wenn es in meiner Macht steht, werde ich gern helfen. Um wen handelt es sich?“

Annie schwieg einen Moment und sah wieder nach draußen. Sie würden sich beeilen müssen. Die Tage wurden länger und noch waren Barrington und Semerloy nicht zurückgekehrt. Doch das konnte sich jederzeit ändern.

Wieder wandte sie sich an den Arzt und Annie entschied, dass er wissen sollte, worauf er sich einließe: „Mein Mann könnte sie dafür töten.“

Ein richtiger Mann

Annie wartete fast ungeduldig auf seine Ankunft.

Die Sonne war bereits untergegangen und Kerzen erhellten ihr Zimmer. Sie saß wartend auf einem Sessel, eine Stickarbeit, wie so oft, in der Hand, die sie doch nicht weiter interessierte. Ihre Sinne waren angespannt, um jedes Geräusch, jede Bewegung wahrzunehmen. Innerlich hatte sie sich auf das Kommende versucht vorzubereiten.

Ihre Pferde hatte sie schon lange im Hof gehört. Wo blieb er also? Sie hatte doch Anweisung gegeben, ihn sofort zu ihr zu schicken. Die leise Stimme in ihr, die ihr flüsterte, dass dies nicht bedeutete, dass er auch wirklich kam, versuchte Annie zu ignorieren.

Hatte sie gerade etwas gehört?, fragte sie sich und setzte sich aufrecht hin. Sie war eigentlich sicher, dass sie Barringtons Kommen sofort hören würde. Er würde nicht lautlos zu ihr kommen.

Wieder hörte sie etwas und es kam ihr wie Schreie vor. Schreie von jemand, der außer sich vor Wut war.

Langsam ließ sie ihre Stickarbeit sinken und warf noch einen kurzen Blick darauf. Es war kein Muster erkennbar. Sie hatte die Nadel einfach irgendwo eingestochen und wieder herausgezogen. Sie konnte es genauso gut auch wieder auflösen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Wie konnte sie in so einem Moment nur über so etwas Triviales nachdenken? Oder waren ihre Sorgen einfach zu groß, dass es ihre Gedanken schon von selbst wo anders hinlenkte?

Die Tür wurde mit einem Mal aufgerissen und John Barrington trat ein. Sein Gesicht war puterrot und Schweißperlen standen auf der Stirn. Seine Lippen bebten vor Zorn und seine Augen funkelten sie an, als wollte er nur eines – sie töten. Doch Annie sah kein Schwert. Aber vielleicht brauchte er dafür auch keines, schoss es ihr durch den Kopf.

Ihm folgte Jonathan Semerloy, der sie interessiert musterte und immer wieder einen kurzen Blick auf seinen Freund warf. Ganz so, als könnte er selbst nicht einschätzen, was dieser am Ende tun würde.

„Du elendes Weib!“, schrie Barrington sie an und kam in großen Schritten auf sie zu. „Ich habe dich gewarnt und du hast es trotzdem gewagt dich einzumischen!“ Noch ehe Annie reagieren konnte, noch ehe sie sagen konnte, was sie sagen wollte, hatte er ausgeholt und sie mitten ins Gesicht geschlagen. Der Schlag war so heftig, dass sie vom Stuhl fiel und zu Boden ging. Sie schrie vor Schmerz auf und hielt sich den Bauch. Sie hatte den Sturz mit dem Armen abfangen können, dennoch war es knapp gewesen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über den Mund und sah dann Blut darauf. Es war nicht viel, aber es ließ sie zittern.

Oh, wie viele Worte lagen ihr auf der Zunge! Wie viele Dinge wollte sie sagen und konnte doch nicht. Stattdessen sah sie demütig nach unten, atmete durch halb geöffnete Lippen tief ein, so dass es wie ein Schluchzen klang und sagte doch etwas, bevor er die Gelegenheit hatte, noch einmal zuzuschlagen.

„Ver-Vergebt mir.“, stammelte sie und ihr Körper bebte. Egal was sie sich vorher vorgenommen hatte, zu groß war die Sorge um ihr Kind. „Verzeiht mir.“, wisperte sie noch einmal und senkte das Haupt bis auf den Boden.

„Wie konntest du es wagen einen Arzt zu ihm zu schicken!? Wie konntest du dich meinem Befehl wiedersetzen! Das wird dich teuer zu stehen kommen!“ Aus den Augenwinkeln sah Annie, wie John nach ihr griff und sie an den Haare packte. Er zog sie grob nach oben und sie wusste, dass sie es jetzt tun musste, sonst wäre alles verloren. Sie richtete ihren Blick verzweifelt nach oben und im gleichen Moment traten ihr vor Schmerzen Tränen in die Augen.

„Bitte.“, flehte sie ihn an und legte den Arm schützend auf ihren Bauch. „Ich habe es für euch getan.“, fügte sie sofort an.

„Pah! Das ist nicht lache!“ Abermals wollte er ausholen und Annie kniff bereits die Augen zusammen, den neuen Schmerz abwartend.

„Vielleicht solltest du ihr erst mal zu hören.“, sagte plötzlich Jonathan Semerloy. Annie sah den blonden, schlanken Mann ungläubig an. Doch sofort wanderte ihr Blick zu Barrington, aber auch dieser sah seinen Freund leicht perplex an.

„Du stellst dich auf ihre Seite?!“, fuhr er Semerloy an.

„Nein, das tue ich nicht. Ich finde nur, du solltest ihr vielleicht erst einmal zuhören. Bedenke, worüber wir heute Nachmittag noch gesprochen haben. Vielleicht war ihre Handlung gar nicht so... ich möchte sagen, unbedacht.“

Mit einem Ruck ließ Barrington Annies Haare los und sie rieb sich über die schmerzende Kopfhaut. Sie kniff die Augen zusammen, um auch die letzten Tränen wegzublinzeln und dann stand die langsam auf. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie wäre auf dem Boden sitzen geblieben. Es würde ihre Demut und Gehorsamkeit, ihre Absichten, überzeugender machen. Aber dazu konnte sie sich nicht überwinden.

Dennoch senkte sie den Blick sofort wieder, nachdem sie sich erhoben hatte. Sie hoffte, dass es genug war.

„Jonathan...“, begann sie zögerlich und überlegte noch einmal, wie sie es am besten formulieren sollte. Jedes Wort war wichtig. „Jonathan, sagte mir, dass ihr glaubt, der Mann im Verließ sei der Drache nachdem ihr im letzten Jahr gesucht habt. Ihr wollt wissen, wie er es schaffte sich in einen Menschen zu verwandeln, aber vor allem wollt ihr, dass er wieder ein Drache wird.“

„Stimmt das?“, wandte sich Barrington an seinen Freund. „Warum habt ihr mit diesem Weib darüber gesprochen?“

Jonathan zuckte daraufhin mit der Schulter. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie dabei auf solche Gedanken kommt. Allerdings wundere ich mich schon wenig. Sie schien mir nicht zu glauben, dass es tatsächlich einmal ein Drache war.“

„Es?“, fragte Annie irritiert.

„Es. Als Mensch kann man dieses Wesen wohl kaum bezeichnen.“, erwiderte Jonathan darauf hin.

Annie schluckte ihre Wut herunter und es war gut, dass Jonathan ihr gleich die nächste Frage stellte. „Wie kommt es also, dass ihr nun doch daran glaubt.“

„Das tue ich nicht... Nicht richtig, aber ich bin... neugierig geworden. Vielleicht stimmt es ja doch, was ihr sagt. Dann möchte ich gern sehen, wie sich dieser Mann wieder zu seinem Drachen verwandelt. Ich habe noch nie einen gesehen, ich weiß nicht einmal, ob ich daran glauben soll. Und... da ich weiß, wie sehr ihr diesen Drachen wollte, dachte ich... Ich wollte euch einen Gefallen tun.“

„Und was für ein Gefallen soll das sein, wenn ihr ihn behandelt, wie einen gewöhnlichen Verbrecher?!“, unterbrache Barrington sie barsch.

„Er wäre gestorben.“, sagte sie rasch. „Noch in dieser Nacht, spätestens am nächsten Morgen, wenn man seine Wunden nicht versorgt hätte, sagte Doktor Storm. Ich habe so etwas vermutet und den Mediziner nur deswegen gebeten sich den Gefangen anzusehen. Es tut mir zutiefst leid, wenn ich damit etwas unrechtes getan habe.“, sagte Annie voller Reue in der Stimme und verbeugte sich, um ihre Worte zu unterstreichen.

Misstrauisch sah Barrington sie an. „Was soll das? Woher dieser Wandel?“

Annie blickte ihn fest an. „Mir ist klar geworden, wie viel ich euch verdanke. Ihr beschert mir ein unbeschwertes Leben, Reichtum und Bequemlichkeiten. Ich dachte bei meiner Handlung nur an euer Vergnügen.“ Wieder verbeugte sie sich, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte.

Sprachlos starrte Barrington sie einen Moment an und Annie wusste es nur, weil er den Blick auf sie geheftet hielt. Sie selbst schaute demütig nach unten.

„Ich kann euren Worten keinen richtigen Glauben schenken, andererseits... nach dem Leben was ihr zuvor geführt habt, wundert es mich nicht, wenn ihr die Vorzüge dieses Lebens zu schätzen lernt. Allerdings kommt dies reichlich spät, wenn ihr mich fragt.“

„Vergebt mir. Ich brauchte schon immer länger, um die Dinge zu begreifen.“

„Doktor Storm also?“, fragte Barrington nun nach dem Arzt und damit schienen die Gründe für ihr Verhalten erst einmal abgetan. Annie atmete schwach erleichtert auf. Sie würde ihn mit anderen Taten und Worten überzeugen müssen.

„Ja. Nachdem meine Untersuchung beendet war, fragte ich ihn, ob er bereit wäre sich einen weiteren Patienten anzuschauen. Ich sagte ihm nicht, warum dieser Mann im Verließ ist oder was ihm vorgeworfen wird. Außerdem musste mir Doktor Storm Verschwiegenheit schwören.“

„Tss...“, machte John Barrington verächtlich. „Und woher willst du wissen, dass du seinem Wort glauben kannst?“. Doch noch bevor Annie antworten konnte, kam Jonathan ihr zuvor.

„Das könnt ihr. Dieser Mann steht zu seinem Wort.“

Nun war es Annie, die Jonathan Semerloy neugierig musterte. Nie hätte sie erwartete, das er für Doktor Storm sprechen würde, denn für sie hatte er es ganz gewiss nicht getan. War Jonathan ihn wirklich durch die Rettung seines eigenen Lebens so sehr verbunden? Das konnte sich Annie nur schwerlich vorstellen. Ihre Neugier mochte es fast glauben.

John Barrington ballte die Hand zu Faust und es strengte ihn sichtlich an, nicht auch seinen Freund eine ebensolche Behandlung zuteilwerden zu lassen, wie sie sie bereits erfahren hatte.

„Ich werde ihn nicht wie einen Fürsten behandeln! Er ist mein Gefangener und ich will wissen, wie er zu einem Menschen wurde! Ich will, dass er wieder zu einen Drachen wird!“, brüllte Barrington und Annie musste sich zusammenreisen ihn nicht auszulachen. Dieser erwachsene, bedrohliche und furchteinflößende Mann, der da vor ihr stand, hatte sich gerade angehört wie ein kleines quängeliges Kind.

„Nicht, wie einen Fürsten, sondern wie einen Mensch.“, konnte sie dann doch nicht unterlassen zu sagen. „Und, wenn ihr wirklich all diese Antworten wünscht, dann solltet ihr ihm vielleicht etwas Ruhe erlauben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er zu einem Drachen werden soll, wenn sein Körper bereits halb tot ist und euch antworten soll, wenn...“

„Was?!“, fauchte er sie an.

„Und Doktor Storm sagte, ebenso, dass wenn ihr nicht aufhört ihn mit solchen Methoden zum Sprechen bringen zu wollen, er euch nie etwas erzählen wird. Er... hat sich... fast die Zunge abgebissen.“ Dabei schluckte Annie heftig, denn bei der Erinnerung an das Gesehene wurde ihr sofort wieder schlecht.

„WAS?!“

„Doktor Storm sagte, dass er sich wohl auf die Zunge gebissen haben muss, um den... Schmerz zu ertragen und... Vielleicht solltet ihr selbst mit ihm sprechen, er wollte morgen noch einmal nach ihm sehen, wenn ihr es erlaubt.“

„Am besten ich bringe ihn gleich um!“

Bei diesen Worten zuckte Annie zusammen und starrte dennoch weiterhin auf den Boden. Sie wollte ihn anflehen es nicht zu tun, aber sie wusste, dass dies es noch schlimmer machen würde. Es würde sie verraten und es würde ihn ohnehin nicht kümmern, was sie wollte. Nein, sie musste ihn anders überzeugen. Fieberhaft überlegte sie, welche Worte sie wählen musste, doch ihr wollte nichts einfallen.

„Dann war die ganze Mühe umsonst und wir hätten uns derweil mit etwas anderem beschäftigen können.“, sagte auf einmal Jonathan. „Ich denke es macht keinen Unterschied, ob wir ihn nun ein paar Tage in Ruhe lassen oder nicht.“ Zum zweiten Mal in dieser kurzen Zeit überraschte er Annie. Warum sagte er so etwas? Es klang fast so, als wollte er sie unterstützen. Noch viel wahrscheinlicher jedoch war wohl, dass sie zu viel hineininterpretierte. Ein Herz besaß auch dieser Mann nicht.

„Vielleicht...“, hob sie abermals an und schluckte erneut, bevor sie weiter sprach. Dies hatte sie vorher nicht genau überlegt. „Vielleicht ist er ja doch ein gewöhnlicher Mensch. Vielleicht könnt ihr ja erst einmal versuchen herauszufinden, ob es nicht wirklich an dem ist. Es... es muss doch etwas geben, was nur einen richtigen Menschen... einen richtigen Mann auszeichnet.“ Die letzten Worte hatte sie nur geflüstert. Möglicherweise hätte sie einfach schweigen sollen. Sie konnte nicht wissen, auf welche Gedanken sie die beiden Männer damit brachte.

Barrington sah sie weiterhin scharf an und machte dann auf dem Absatz kehrt. Ohne ein weiteres Wort verließ er ihr Zimmer und ließ sie mit einer Anspannung und Unruhe zurück, die sie kaum ertragen konnte. Aber nichts durfte sie sich davon anmerken lassen, denn Jonathan Semerloy stand noch immer vor ihr.

Er kam ein Schritt auf sie zu und lief im Kreis um sie herum. Seinem Blick jedoch wich sie nicht aus. „Das sich eure Haltung so schnell ändert, finde ich... recht bemerkenswert.“, stellte er trocken fest. Bei diesem Mann konnte sie nicht ruhig bleiben.

„Das habe ich keineswegs. Ich finde es immer noch bestialisch, was ihr ihm angetan habt. Niemand hat es verdient so behandelt zu werden.“, gab sie zurück.

„Und trotzdem seid ihr neugierig, ob es nicht stimmt. Frauen sind doch immer wieder faszinierend. Ihr sagt ihr wollte das eine, doch eigentlich meint ihr etwas ganz anderes.“, sagte er leise und Annie hatte irgendwie den Eindruck, dass er nicht einmal mit ihr sprach.

„Aber ich muss sagen, eine Methode um festzustellen, ob er wirklich ein Mann ist kling interessant. Habt ihr an etwas Bestimmtes gedacht?“

„Nein.“, antwortete sie fest. „Ich sah es lediglich, als eine Möglichkeit. Außerdem könnt ihr diese Frage sicher weitaus besser beantworten als ich.“

„Doktor Storm kommt morgen noch einmal?“, fragte er sie weiter, als hätte er letzteres gar nicht gehört.

„Ja. Er wollte gegen Mittag da sein und sich seine Wunden noch einmal ansehen.“

„Mmh...“, brummte er kurz und blieb plötzlich vor ihr stehen. Unerschrocken erwiderte sie seinen Blick. Was ging im Kopf dieses Mannes vor? Es fiel ihr leichter Barrington einzuschätzen, als ihn.

„Ich hoffe, ihr habt nichts anders im Sinn.“, sagte er dann unvermittelt und bei Annie setzte für einen Moment der Herzschlag aus. Doch gefasst, wie sie hoffte, antwortete sie: „Natürlich nicht. Wie ich bereits sagte, beginne ich zu verstehen, was man für mich alles getan hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Das Leben im Wald war nicht immer das angenehmste. Ich lerne den Komfort hier zu schätzen.“

„Ja, natürlich, früher oder später tut ihr das alle.“

Wieder so eine Bemerkung. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was er damit gemeint hatte. Wie viele Frauen mochte Jonathan Semerloy schon mit Versprechungen und Geschenken, die ihm nichts bedeuteten, in sein Bett gelockt haben? Sie wollte es gar nicht wissen.

Damit wandte er sich um und verließ sie. Annie ging zur Tür und schloss sie hinter ihm und dann erst erlaubte sie sich aufzuatmen. Langsam ging sie zum Bett und legte sich noch in ihrem Kleid darauf. Sie war müde und erschöpft. Die Bilder, die sie an diesem Tag gesehen hatte, wirbelten durcheinander und sie wusste, dass sie sie erbarmungslos bis in den Schlaf verfolgen würden.
 

Draco hörte Geräusche, Schritte die näher kamen. Es waren mehr als eine Person und sie sprachen etwas miteinander, aber er verstand sie nicht. Dann ein schabendes Geräusch über den Boden, als würde ein Stuhl zurückgeschoben und wieder Stimmen.

Er war irgendwo ein einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, nur konnte er nicht aufwachen, egal wie sehr es wollte und versuchte. Eine ganze Weile lag er nun schon so da, unfähig sich zu rühren und immer wieder in den Schlaf abdriftend. Nur wage erinnerte er sich an das was... Wann war es gewesen, dass Annie noch einmal zu ihm gekommen war, zusammen mit diesem anderen Mann, den er schon einmal kurz bei Alexander gesehen aber keine weitere Beachtung geschenkt hatte? Ein Arzt hatte Annie gesagt, war er, jemand der ihm helfen konnte. Dieser Mann hatte ihn erst dazu gebracht Wasser zu trinken und dann hatte er ihm etwas eingeflößt, was den Schmerz lindern sollte. Draco hatte es geschehen lassen, weil er einfach keine Kraft mehr besessen hatte, sich zu wehren, weil es ihm egal war und vielleicht weil Annie immer wieder gesagt hatte, dass es ihm dann besser gehen würde. Und dafür hätte er alles geschluckt.

Der Schmerz war daraufhin wirklich geringer geworden. Er erinnerte sich nur noch wage daran, dass sein Körper taub geworden war. Er musste wohl das Bewusstsein verloren haben – schon wieder. Nur das Bild, wie der Mann seine Wunde besehen und ungläubig mit dem Kopf geschüttelt hatte, war ihm im Gedächtnis geblieben.

Aber wie viel Zeit war seitdem vergangen? War es bereits ein neuer Tag? Oder schon wieder Abend? Und wie lange war er nun schon hier? Zeit schien zwischen diesen dunklen Wänden nicht mehr zu existieren.

Draco hatte schrecklichen Durst, doch er war weit davon entfernt sich bewegen zu können. Was war es gewesen, dass der Mann ihm gegeben hatte? Er konnte ein Kribbeln in seinem Körper spüren, irgendwo in seinen Armen, aber mehr auch nicht. Gleichzeitig war er froh, dass der Schmerz nicht mit voller Wucht zurückgekommen war. Nur war er so dem Kommenden noch hilfloser ausgeliefert, dachte er bitter.

Wieder versuchte Draco sich auf die Geräusche zu konzentrieren. Männerstimmen stellte er fest und eine davon ließ ihn seine Muskeln verkrampfen. Barrington war zurück. Und die anderen Stimme? Eine war leiser und sprach ruhig auf Barrington ein. Diese Stimme klang älter. Es musste dieser Arzt sein. War Annie auch dabei? Nein, es waren nur Männerstimmen, dessen war er sich sicher.

Draco versuchte die Augen zu öffnen, doch es wollte einfach nicht gelingen. Seine Lider fühlten sich schwer an und selbst das Atmen erschien ihm als anstrengend.

Dann erkannte er noch eine andere Stimme. Diese gehörte zu diesem Semerloy. Worüber sprachen sie? Draco versuchte angestrengt einzelne Teile der Unterhaltung zu verstehen, doch es schien seinem umnebelten Verstand schwer zu fallen, das Gehörte aufzunehmen und zu verarbeiten.

„-sichere ihnen, dass es das Beste ist, ihn eins, zwei Wochen ausruhen zu lassen. Danach können sie mit ihrer... Befragung fortfahren.“, hörte er den älteren Mann sagen.

„Nein!“, antwortete Barrington scharf. „Es soll ihm hier nicht gut gehen. Er ist ein Untier, das eigentlich getötet gehört.“

„Was immer sie glauben, was er war oder zu sein scheint, im Moment ist er ein schwerverletzter Mann, der nicht einmal in der Lage ist zu sprechen oder sich gar aufzusetzen.“

John Barrington schrie etwas Unverständliches und gleich darauf sagte Semerloy in ruhigerer Stimme: „Du könntest dich etwas in Geduld üben. Du weißt doch, dass man an einem Spielzeug wieder mehr Spaß hat, wenn man es eine Weile nicht gebraucht.“

Obwohl Draco nichts spürte, so glaubte er doch zu merken, wie sein Körper kälter wurde. Zumindest wurde es in seinem Inneren kälter. Er verstand nicht recht, was ein Spielzeug war, nie hatte Annie oder Alexander dieses Wort gebraucht, aber die Art und Weise, wie dieser Mensch es ausgesprochen hatte, genügte ihm.

Draco glaubte zu hören, wie sich Schritte entfernten und er glaubte auch, dass es Barringtons waren, aber er war sich nicht sicher. Es war, als wären nicht nur sein Körper taub, sondern auch seine Sinne.

„Sie können gehen.“, sprach der Arzt nun und Draco wusste nicht, wen er meinte. Die Wache oder den anderen.

„Oh... das... uhm...“, erwiderte eine Stimme, die bisher geschwiegen hatte und das musste wohl die Wache sein. Henry, war glaubte er, sein Name.

„Gehen sie.“, hörte Draco Semerloy sagen. „Ich werde bleiben und kontrollieren was er tut.“

Wieder entfernten sich Schritte und Draco wollte die Augen öffnen, wollte sehen, wer auch immer da gleich zu ihm kommen würde. Er wollte ihnen in die Augen sehen und ihnen zeigen, dass er keine Angst hatte, ganz gleich, was sie mit ihm machen würden. Ein kleines bisschen gelang es ihm. Zumindest sah er einen sehr schwachen, hellen Lichtstreifen. Doch er konnte es nicht lange halten und seine Augen schlossen sich wieder.

„Sie wäre entsetzt, wenn sie deine Worte gehört hätte.“, sagte plötzlich der älter Mann und Draco verstand nicht, was er damit meinte oder wen. Sie? Annie?

Doch Semerloy schien offenbar nichts darauf zu erwidern, denn dumpf nahm Draco das Öffnen des Schlosses war. Dann sagte Semerloy auf einmal: „Sie ist tot.“ Seine Stimme war frei von jeglicher Emotion.

Kaum merklich spürte Draco, wie sich eine Hand auf sein Gesicht legte, ein Finger auf sein Augenlid und es nach oben zog.

„Ist er wach?“, hörte Draco Jonathan Semerloy fragen und war gleichzeitig erstaunt, wie es sein konnte, dass er so wenig Kontrolle über seinen eigenen Körper besaß. Nur verschwommen, sah er Umrisse, keine festen Konturen.

„Nein, sieht nicht danach aus.“, antwortete der Mann und ließ sein Lid wieder los und es schloss sich von selbst.

„Was habt ihr ihm gegeben?“, fragte Semerloy weiter.

„Opium. Etwas mehr als gewöhnlich, aber offenbar war er bereits so geschwächt, dass die Wirkung auch stärker als gewöhnlich ist. Wenn er wieder vollkommen bei Bewusstsein ist, muss er etwas Trinken und Essen.“, ordnete Doktor Storm an. Im gleichen Augenblick nahm er Dracos Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und Draco spürte einen leichten Druck und sein Mund öffnete sich. „Bring mir die Kerze.“, wies er den anderen Mann kurz an und Schritte entfernten sich. Kurz darauf konnte Draco die Wärme einer Flamme neben seinen Gesicht spüren.

„Ah... Wie nicht anders erwartet. Es muss etwas weichen sein, Haferschleim oder eingeweichtes Brot. In sauberem Wasser natürlich.“, sagte der Mediziner.

„Er ist kein Gast.“, erwiderte Jonathan Semerloy kalt.

„Nein, natürlich nicht. Dann gibt ihm nichts Richtiges zu Essen und nur altes Wasser. In seinem Zustand wird er langsam daran sterben.“

„Hütet eure Zunge!“, zischte Semerloy auf einmal und seine Worte klangen drohend.

„Das war keine Anspielung, wenn du das denkst, sondern die Wahrheit. Aber es beruhigt mich, dass du offenbar doch noch nicht ganz so geworden bist, wie er. “, erwiderte Doktor Storm ruhig, aber bestimmt. Damit ließ er Dracos Kiefer wieder los.

„Machen wir weiter.“ Doktor Storm berührte Dracos Oberkörper und erst jetzt merkte dieser, dass er wohl einen Verband um hatte. Der Arzt musste ihm diesen angelegt haben, nachdem er bereits das Bewusstsein verloren hatte.

Nur wage nahm Draco wahr, wie Doktor Storm die Verbände wechselte und ihm etwas auf die Wunden rieb. Was immer es war, es schien seinen überhitzen Körper zu kühlen und Draco atmete hörbar erleichtert auf.

„Was war das?“, fragte Semerloy. „Sie sagten doch, er sei bewusstlos.“

„Mmh... Wahrscheinlich ist er gerade dabei aufzuwachen. Die Dosis war recht hoch, es kann also sein, dass sein Bewusstsein schon da ist, er seinen Körper aber nicht bewegen kann. Es gibt noch zu wenige Erkenntnisse über die Wirkung von Opium, angewandt mit anderen Dingen.“

Eine Weile schwieg Jonathan Semerloy, dann sagte er plötzlich: „Warum haben sie ihr nicht geholfen.“ Anders als zuvor, klang seine Stimme keineswegs herrschsüchtig oder befehlend. Es war eher eine einfach, schlichte Frage, deren Antwort ihm jedoch schon bekannt war.

„Du weißt, dass ich mein möglichstes getan habe.“

Noch einen kurzen Moment herrschte Stille im Raum, dann entfernten sich Schritte. Von weitem hörte Draco Jonathan sagen: „Beeilen sie sich.“ Und seine Stimme war wieder schneidend. Offenbar stand er nun vor der Tür und schien dort zu überwachen, was mit ihm geschah.

Draco merkte nur sehr schwach, wie ihm neue Verbände angelegt wurden.

„Die Schiene sitzt noch gut. Die Hand war stark gequetscht und ein paar Knochen gebrochen. Das Gelenk des kleinen Fingers besonders. Die Hand muss geschont werden, sonst wird er sie nie wieder richtig benutzen können.“

Draco hörte ein Schnauben von Semerloy, dass fast wie ein Lachen klang. „Er wird sie ohnehin nicht mehr brauchen.“

Daraufhin erwiderte Doktor Storm nichts mehr, während sich in Draco neuer Kampfgeist regte. Wenn ihm auch nur die geringste Gelegenheit geboten würde, er würde sich an ihnen rächen und er würde dem Drachen in ihm freien Raum lassen. Dieser wollte sie in Fetzen reisen.

„Ich gebe dir noch etwas von der Mixtur für deine Zunge. Sie schmeckt vielleicht bitter, aber ich hoffe, dass sie dafür sorgen wird, dass sie sich nicht entzündet und schneller verheilt.“ Im nächsten Moment öffnete er seinen Mund wieder und Draco spürte ein paar kalte Tropfen auf seiner Zunge, bevor sie im Anschluss sofort wieder taub wurde.

„Mehr kann ich im Moment nicht tun, aber ich werde heute Abend noch einmal kommen.“

„Nur keine Umstände.“, antwortete Semerloy und Draco glaubte zu wissen, dass es nicht ernst gemeint war.

„Ist es nicht. Ich hab einige Patientinnen hier in der Stadt.“, erwiderte Doktor Storm offenbar gelassen. Dann hörte Draco sich entfernende Schritte, dass Schließen der Tür und ein paar weitere Paar Stiefel die zurückkehrten. Doch niemand sprach mehr ein Wort.
 

Fast eine Woche verstrich in der Annie nur durch Doktor Storm von Dracos Zustand erfuhr. Dieser war unverändert schlecht geblieben. Zwar war Draco hin und wieder bei Bewusstsein und Doktor Storm war es auch gelungen ihn dazu zu bringen, etwas Nahrung zu sich zu nehmen, doch seine offene Zunge musste ihm dabei so starke Schmerzen bereiten, dass er kaum etwas aß.

Wie gern wäre sie bei ihm gewesen!!! Von ihr hätte er sicher etwas genommen, redete sie sich ein, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. Er wäre zu stolz dafür gewesen.

Das einzig Gute jedoch war, dass Barrington bisher wirklich darauf verzichtet hatte, Draco wieder aufzusuchen.

Annie sah gerade auf den Hof hinaus, als ein Mann durch das Tor ritt, dessen Gestalt und Figur ihr nur zu vertraut waren: Alexander. Siemusste unbedingt mit ihm sprechen und ihm sagen, was passiert war. Was sie getan hatte und vielleicht, so hoffe sie innbrünstig, wusste er auch schon, was sie nun konkret unternehmen konnten.

Doch Alexander blieb plötzlich in der Mitte des Hofes stehen und Annie sah verwundert nach unten. Dann kam John Barrington in ihr Blickfeld und auch Jonathan Semerloy. Alexander verbeugte sich kurz und sie unterhielten sich einen Moment. Für einen kurzen Augenblick sah Alexander zu ihrem Zimmer, doch dann wendete er auch schon sein Pferd Wüstensand und die drei Männer ritten durch das Tor wieder hinaus.

Was sollte das? Wo wollten sie hin?, fragte sie sich verwundert.

Gleich darauf klopfte es an ihrer Tür und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. „Ja?“, sagte sie etwas irritiert. Sie erwartete niemanden, umso überraschter war sie, als Doktor Storm eintrat.

Sofort zog sich ihr Herz ängstlich zusammen. „Stimmt etwas nicht mit ihm?“, fragte sie.

„Nein, nein.“, beruhigte dieser sie sogleich mit einem Lächeln. „Alles in Ordnung, ich wollte nur noch einmal nach ihnen schauen, bevor ich mich wieder auf den Weg mache. Das ist schließlich meine Arbeit.“

„Oh... ja natürlich.“ Annie schüttelte den Kopf. Natürlich, war er hauptsächlich wegen ihr hier. Sie hatte ihn in die Sache mit Draco unfreiwillig gezogen. „Entschuldigen sie bitte, ich war nur in Gedanken wo anders gewesen.“, fügte sie mit einem Lächeln an.

„Das habe ich gemerkt.“, erwiderte er freundlich. „Wie geht es ihnen sonst?“

„Gut.“

Einen Moment musterte Doktor Storm sie schweigend. „Sie sehen aber nicht danach aus. Um ganz ehrlich zu sein, sehen sie jedes Mal ein wenig schlechter aus, wenn ich sie sehe. Haben sie irgendwelche Beschwerden?“, fragte er sie und trat auf sie zu.

„Nein, es geht mir gut.“, wehrte sie ab. Sie hinderte ihn jedoch nicht daran, seine Finger an ihren Kopf zu legen und ihre Schläfen und anschließend den Hals abzutasten.

„Öffnen sie bitte den Mund.“ Gehorsam kam sie der Aufforderung nach.

„Nein, da ist alles in Ordnung. Darf ich?“, fragte er abermals und Annie nickte zustimmend. Doktor Storm legte eine Hand auf ihren Bauch und tastet diesen ab. „Heute so still.“, merkte er an. Kurz lächelte sie. Normalerweise trat das Baby immer dann, wenn er da war, doch heute schien auch das Kind in ihr zu erschöpft zu sein.

„Wenn es nichts Körperliches ist, dann kommt es von innen und ich ahne auch, was das sein könnte.“, sagte er und sah sie dabei doch nicht an.

Kurz zögerte Annie, ob sie ihn schon wieder nach Draco fragen sollte. Bisher war es ihr gelungen ihre Unterhaltung immer irgendwie darauf zu lenken, doch eigentlich schien er längst zu wissen, was sie beschäftigte. Und warum auch nicht? Immerhin hatte sie ihn ja zu ihm geführt.

„Geht es ihm besser?“, fragte sie leise und wandte sich wieder dem Fenster zu.

„Das tut es. Verglichen mit seinen Zustand, in dem er war, als sie mich das erste Mal zu ihm führten, ja. Er isst immerhin regelmäßig, auch wenn ihm das Schlucken schwer fällt. Die Wunden haben inzwischen mit Heilen angefangen. Nur seine Hand macht mir noch sorgen.“

Knapp nickte Annie. Es gab also keine großen Veränderungen. „War John inzwischen bei ihm?“

„Nein, Jonathan ist meistens dabei, wenn ich ihn versorge.“

„Warum?“

„So genau kann ich ihnen das auch nicht beantworten. In seinem Zustand könnte er selbst mit meiner Hilfe nirgendswohin. Inzwischen sitzt er zwar wieder, aber das ist alles. Ich glaube Jonathan will sicher gehen, dass es ihm nicht zu gut geht.“

Annies Blick verfinsterte sich bei dem Gedanken an diesen Mann und der Vorstellung, wie er sich vielleicht an Dracos gequälten Anblick erfreute.

„Er ist genauso widerlich wie John Barrington.“, stieß sie wütend aus. „Beide laben sich an den Schmerzen eines anderen und... und...“ Sie rang nach Worten. Es gab so vieles, was sie sagen wollte und doch konnte sie nicht, aus Angst alles könnte sie und ihre Gefühle verraten.

„Warum liegt euch so viel an diesem Mann dort unten im Verließ?“, fragte nun Doktor Storm und Annie blickte ihn entsetzt an. Hatte sie denn wirklich schon zu viel verraten, zu viel gesagt?!

„Er war bei Alexander angestellt und mein Bruder hatte nie den Eindruck, dass er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hätte oder dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre. Er soll wohl schwachsinnig sein.“, sagte sie dann mit, wie sie hoffte, fester Stimme und den Blick direkt an Doktor Storm gewandt.

Dieser trat zu ihr ans Fenster und sah nun ebenfalls hinaus. Sein Blick blieb an den Wäldern in der Ferne hängen.

„Ich glaube wir können beide zugeben, dass dieser Mann sehr viel intelligenter ist, als sie mir glauben machen wollen.“, sagte er schließlich leise. Annie erstarrte und hielt den Atem an. Wieso konnte er so etwas sagen?

Doktor Storm musterte sie einen Moment, als erwartete er eine Antwort, doch als sie schwieg sprach er weiter. „Es ist in seinen Augen, wissen sie.“

„Was?“, fragte sie aufgewühlt.

„Die Augen verraten sehr viel mehr über einen Menschen, als es Worte tun könnten. Ich glaube, dass wissen sie. Und in seinen Augen sehe ich eine bemerkenswerte Intelligenz, aber auch Unsicherheit und Verzweiflung. Nun angesichts der Lage in der er sich befindet, ist das nicht verwunderlich. Dennoch ist da immer noch etwas kämpferisches, beinah animalisches, das nur auf die Gelegenheit wartet zurückzuschlagen.“

Stumm nickte Annie. Was sollte sie darauf erwidern? Doktor Storm hatte Dracos Wesen gerade in so wenigen Worten beschrieben, dass es ihr kalt den Rücken runter lief. War es dass, was Barrington auch sah?

Dann wandte sich Doktor Storm ab und Annie blickte ihm hinterher. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann doch nicht unbedingt wegen ihr gekommen war.

„Was jedoch Jonathan angeht“, sprach er plötzlich weiter und nahm damit völlig unvermittelt einen anderen Faden auf, „so glaube ich, dass sie sich unter anderen Umständen gut verstanden hätten. Sie sind sich gar nicht einmal so unähnlich.“

„Ich verstehe nicht.“, fragte Annie verwirrt. Wie sollte sie Ähnlichkeit mit solch einem Menschen haben? „Wie können sie mich mit ihm vergleichen?“, fragte sie weiter und war nun fast ärgerlich.

„Nicht vergleichen, es war mehr eine Feststellung. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Nachmittag und werde erst übermorgen wieder kommen. Solange wie er in Ruhe gelassen wird, braucht er mich nicht. Allerdings würde ich ihnen nicht raten, nach ihm zu sehen. Es wäre für sie beide nicht gut.“

„Wie meinen sie das?“, fragte Annie überrascht. Warum sprach dieser Mann, den sie bisher beinah blind vertraut hatte, plötzlich in Rätseln zu ihr? Doch er antwortete ihr nicht mehr, sondern verließ das Zimmer.

Ratlos blickte Annie ihm hinterher. John und Jonathan waren mit Alexander weggeritten. Sie hätte also die Möglichkeit zu Draco zu gehen. Aber... sie wusste nicht, was sie bei ihm sollte. Bisher war sie in ihren Überlegungen noch keinen Schritt weiter gekommen, wusste immer noch nicht, wie sie ihm helfen oder befreien konnte. Die Behandlung von Doktor Storm schob das Ganze nur auf und Annie konnte schwören, dass John Barrington seine Grausamkeiten fortsetzen würde.

Es gab nichts was sie Draco sagen konnte, nichts was sie tun konnte. Selbst ein Kuss wäre zu gefährlich und sie wusste nicht, ob dieser Wachmann sie wieder allein mit ihm lassen würde. Sie glaubte nicht daran.

Und was war mit Alexander? Vielleicht ließ Barrington seine Wut über ihre Tat an ihm aus. Sie konnte es ja selbst noch nicht glauben, dass er sie einfach hatte gewähren lassen. Kein Wort hatte er mehr darüber verloren. Und natürlich würde er sich nicht an ihr vergreifen, darauf hatte sie gehofft, aber das hieß nicht, dass er es nicht bei Alexander tun würde.

Unruhig begann Annie im Zimmer auf und ab zu laufen. Diese Ungewissheit machte sie verrückt. Schon wieder zogen dicke, schwarze Wolken auf und es würde sicher bald regnen. Das Wetter drückte zusätzlich auf ihr Gemüt.

Annie hatte das Gefühl, als würde sie sich in einem Fluss befinden, der alles was nicht fest verankert war, mit sich riss. Sie war nichts weiter als ein schwaches Stück Holz, das am nächsten Hindernis zerbrechen würde.
 

Die Sonne ging bereits am Horizont unter als Alexander doch noch zu ihr kam. Sie umarmte ihn fest. Er war der Einzige, der ihr mit seinen Besuchen Halt gab.

„Was wollte er von dir?“, fragte sie ihn sofort, nachdem sie sich gelöst hatte.

„Es ging nicht um ihn, um dich zu beruhigen.“, antwortete er ihr. Fragend sah sie ihn an. „Er wollte doch einen Hengst für Hera ausfindig machen und offenbar hat einer seiner Bekannten einen Rappen in seinem Gestüt. Den haben wir uns heute angesehen. Es ist wirklich ein großartiges Tier, das kann man nicht leugnen: wunderschön, stark und groß. Er würde wahrscheinlich wirklich perfekt zu Hera passen.“

„Aber?“, hakte sie nach, weil es sich genau danach angehört hatte.

„Naja, du weißt doch, wie Hera ist. Ich weiß nicht, ob sie ihn überhaupt nah genug an sich heran lassen würde. Außerdem müsste ich sie her bringen. John will, dass es hier auf seinem Grund passiert, damit er sich wirklich selbst davon überzeugen kann, dass es geklappt hat. Er will unbedingt das Fohlen haben, wenn er Hera schon nicht bekommen kann.“

Annie blieb stumm, weil sie nicht richtig wusste, was sie darauf erwidern sollte. Sie mochte Pferde, aber die ganze Zucht hatte sie nie verstanden. Außerdem sorgte sie sich im Moment um ganz andere Dinge. Sie konnte nicht verstehen, wie Alexander so über ein Pferd reden konnte, als wäre es das einzige Problem, was ihn beschäftigte.

„Hast du inzwischen eine Idee?“, fragte sie deswegen leise.

„Deswegen habe ich dir das mit Hera erzählt.“, erwiderte er und verwirrte Annie zusätzlich. „Ich bin Barrington etwas dafür schuldig, dass er sich so sehr um eines meiner Pferde kümmert und sogar einen Partner dafür gesucht hat.“

„Es hat ihn davon abgehalten Draco weiter zu...“, sie konnte es nicht einmal zu Ende sprechen. Aber jetzt ergab es wenigstens einen Sinn.

„Ja, natürlich, das auch. Ich werde mich bei Barrington bedanken müssen und ich dachte an einen Kirschwein. Erinnerst du dich daran.“

„Ja, schon aber...“ Der Kirschwein von einem seiner Freunde war unglaublich gut, selbst sie musste das gestehen, obwohl sie sonst kein Wein trank. Aber dieser hatte einfach das gewisse Etwas, was einen nicht aufhören lassen wollte. Er war herrlich dick, dunkelrot und unglaublich süß, mit einer leicht sauren Note, wenn man ihn schluckte. Man konnte davon gläserweise trinken, ohne dass man überhaupt selbst merkte, wie einem der Alkohol zu Kopf stieg. Erst wenn man aufstand machte er sich bemerkbar und sorgte in der Nacht dann für einen festen und tiefen Schlaf, der sich bis in die Mittagsstunden ziehen konnte. Und selbst dann hätte man nur leichte Kopfschmerzen. Es war also schon ein außergewöhnlich guter Tropfen.

„Ich will ihm ein paar Fässer zum Geburtstag schenken.“, sprach ihr Bruder weiter und sah Annie erwartungsvoll an. Erst jetzt verstand sie.

„Oh...“, antwortete sie bloß. Alexander winkte ihr mit der Hand und sie setzte sich neben ihn. „Der Wein ist stark und ich denke, dass alle genug davon trinken werden, um nicht so schnell wieder aufzuwachen. Dennoch würde ich etwas Schlafpulver beimischen, nur um ganz sicher zu gehen.“, flüsterte er in ihr Ohr und so leise, dass sie Mühe hatte es zu verstehen.

Kurz nickte sie und ihr Herz raste. Je tiefer und vor allem schneller sie einschliefen, umso schneller konnten sie Draco befreien.

„Du musst dafür sorgen, dass das passiert.“, sprach er weiter und jetzt sah sie ihn ein wenig erschrocken an. „Die Fässer sind fest verschlossen und ich kann sie nicht öffnen bevor er sie bekommen hat. Erst wenn sie geliefert wurden, wird Barrington selbst eine Probe nehmen wollen.“

Ohne zu zögern nickte sie. Es gab schlicht keine andere Möglichkeit, auch wenn sie sich absolut nicht vorstellen konnte, wie sie es bewerkstelligen sollte. Dennoch war da noch ein anderer Zweifel: „Woher willst du wissen, dass er sich auch für dein Geschenk entscheidet?“

„Hast du schon einmal jemanden gesehen, der diesem Wein wiederstehen konnte?“, fragte er leicht grinsend.

Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Da hatte er recht. „Vielleicht könnten auch die Bediensteten einen Schluck davon bekommen?“, wisperte Alexander weiter.

Ihr Lächeln schwand schnell wieder. Wie sollte sie das schaffen?

„Ich muss dir nicht sagen, warum oder?“

„Nein.“, antwortete sie schlicht. „Ich werde es versuchen, aber was wenn ich es nicht schaffe?“

Alexander schüttelte kurz den Kopf. „Barrington und seine Gäste werden ihn trinken, dass muss dann reichen. Ich frage mich nur, was wir ohne Hera machen, wenn es sich wirklich so entwickelt, wie Barrington sich das wünscht. Keines der anderen Tier ist so schnell und ausdauernd.“

„Dann nehmen wir eines von Barringtons Tieren.“, erwiderte Annie kalt. Daran sollte Dracos Flucht gewiss nicht scheitern.

Jetzt schüttelte Alexander den Kopf. „Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, ihr etwas Eingewöhnungszeit zu geben, bevor sie sie mit dem Hengst zusammenbringen. Möglicherweise verhält sie sich auch so, wie wir sie einschätzen. Wenn es so wäre, dann wäre es perfekt.“

„Das hört sich nach sehr vielen ‚vielleicht‘ an.“, sagte Annie und in ihrer Stimme schwang Resignation mit. Sie mussten es wenigstens versuchen.
 

Tag und Nacht waren schon lange aus Dracos Bewusstsein verschwunden. In seinem Gefängnis gab es kein Fenster aus dem er die Sonne hätte sehen könnte, oder den Mond. Mit jedem Tag, den er zwischen diesen schwarzen Wänden verbrachte schien seine Sehnsucht nur noch heftiger zu werden. Als könnte er ohne das helle und kühle Licht nicht existieren.

Draco führte den Wasserbecher an die Lippen. Er trank es ohne dass der Arzt ihn daran erinnern musste. Er verstand sich selbst nicht recht. Wie hatte er sich auch nur einen Moment seinem Schicksal fügen können? Nur, weil Barrington ihn schon einmal fast getötet hätte? Weil er jetzt sein Gefangener war? Noch hatte er ihn nicht getötet. Und wenn Draco den Worten von Doktor Storm Glauben schenkte, würde John Barrington das auch nicht tun. Er liebte es zu sehr ihn zu quälen und leiden zu sehen.

Doch Draco wollte sich auch nicht damit abfinden, dass der Rest seines Lebens nur aus Schmerz und Folter bestehen würde. Er musste geduldig sein. Etwas, was Alexander ihm mehrmals geraten und angemahnt hatte. Er musste warten bis sich eine Gelegenheit bot um zurückzuschlagen. Irgendwann würde Barrington unaufmerksam sein.

Er musste nur warten.

Und versuchen zu überleben.

Dennoch fiel es ihm schwer sich in Geduld zu üben. Draco war sich sehr wohl bewusst, dass die Behandlung von Doktor Storm nur ein Aufschub war, eine Gelegenheit für ihn sich zu erholen, damit John Barrington weiter machen konnte. Allein bei dem Gedanken daran brannten die Wunden unter seinen Verbänden und durch seine linke Hand fuhr ein dumpfer Schmerz. Er würde die Hand nie wieder so nutzen können, wie zuvor. Das hatte er bereits in dem Moment gewusst, als Barrington ihm den ersten Finger gebrochen hatte. Doch es war auch nicht die linke Hand mit der er das Schwert führte.

Draco nahm das Stück Brot, das neben ihm lag und tauchte es in das Wasser, um es aufzuweichen. Nur so konnte er es überhaupt essen und schlucken. Auch seine Zunge war inzwischen etwas abgeheilt und es tat beim Essen nicht mehr gar so sehr weh. Trotzdem wusste er, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er sie wieder zerbissen hatte. Denn niemals würde er einen Laut der Qualen von sich geben. Deswegen aß er jetzt, wann immer man ihm etwas gab. Er musste Kräfte sammeln um das Nächste auszuhalten, damit er seine Rache bekommen konnte.

Draco lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, wären er langsam das weiche Brot kaute, immer darauf bedacht, es nicht zu sehr an seine wunde Zunge kommen zu lassen. In Gedanken jedoch beschäftigte ihn nun etwas ganz anderes.

Er sah Annie vor sich. Seitdem er sie das letzte Mal sah, schien sie untrennbar mit seinen Gedanken verbunden. Selbst sein Hass auf Barrington brachte ihn immer wieder zu ihr zurück und zu dem, was sie in sich trug.

Selbst jetzt, nach all den Tagen, tat er sich immer noch schwer den Gedanken überhaupt zu formulieren, zu akzeptieren, was er doch tief in sich wusste. Doch im Grunde wusste er nicht einmal, was er darüber denken sollte. Anders als Alexander erfreut über Susans Zustand gewesen war, konnte er nichts davon empfinden. Warum sollte er auch? Vielmehr herrschte in ihm die Angst vor, dass niemand sagen konnte, wie dieses Kind einmal aussehen würde. Wurde es vollkommen menschlich sein, so wie er im Moment? Oder würde es Teile seines alten Selbst haben? Würde es missgebildet sein? Würde es seine Erinnerungen haben? Die Sehnsucht nach dem leuchtenden Mond? Das Gefühl kein richtiger Mensch zu sein, aber auch kein Drache? Würde es sich, genauso wie er, nirgendwo dazugehörig fühlen?

Vielleicht waren seinen Gedanken auch vollkommen unbegründet. Für ihn machte es keinen Unterschied. Er würde es nicht erleben, dachte er. Er würde dieses Kind nicht in seinen Armen halten. Barrington wusste nichts davon und wenn er es als sein eigenes aufzog, würde es vor ihm geschützt sein, besser als sonst irgendwie. Vielleicht war das auch der Gedanke, den Annie in sich trug.

Plötzlich hörte er die oberste Tür aufgehen und Schritte folgten auf der Treppe. Sein Wachmann stand auf. Draco lauschte einen Moment. Es waren abermals drei Personen und einer von ihnen war John Barrington! Der andere Semerloy doch die dritte Person konnte er nicht identifizieren. Es war nicht Doktor Storm. Dieser hatte sich für die nächsten Tage verabschiedet.

So aufrichtig, wie es ihm möglich war, setzte sich Draco hin. Kurze Zeit später standen sie vor seiner Zellentür und Barrington musterte ihn abfällig. Ein Blick den Draco gewohnt war und der ihn inzwischen nicht weiter rührte. Links neben Barrington stand Semerloy. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, doch auch das überraschte Draco nicht. Dieser Mann war am schwersten einzuschätzen.

Am meistens jedoch verwunderte ihn die Frau, die an Barringtons rechter Seite stand. Sie hatte langes, rotblondes Haar, das, obwohl es kunstvoll aufgesteckt war, ihr bis zur Taille reichte. Ihre braunen Augen waren von schwarzen Ringen eingerahmt, was ihr etwas Unheimliches verlieh. Ihre Nase war schmal und lang und ihr Mund unnatürlich rot. Noch nie zuvor hatte Draco solche eine Farbe an einem Menschen gesehen. Für einen Moment fragte er sich sogar ob es Blut war. Sein Blick glitt ihren Körper weiter entlang, ihren Hals hinab bis zu ihrem großzügigen Dekolleté. Die Zeichen ihrer Weiblichkeit schienen fest geschnürt in ihrem Mieder zu sitzen und viel zu groß für den kleinen Stoff zu sein. Ihre Taille selbst war schlank, ihre Hüften hingegen ausladend. Der Rest verschwand unter dem Stoff ihres Kleides.

„Das ist er?“, fragte sie mit rauchiger Stimme und Draco überkam eine Gänsehaut bei der Art und Weise, wie sie es fragte. Als hätte sie schon viel von ihm gehört.

„Ja.“, antwortete John Barrington und sah sie dabei nicht einmal an. „Du weißt, was du zutun hast. Henry, die Arme hinter dem Rücken zusammenketten.“, befahl John Barrington in einem Satz. Henry schloss die Tür zu seiner Zelle auf und aus dem Augenwinkel sah Draco, wie er in seine Zelle trat. „Du hast ihn ja ganz schön zugerichtet.“, merkte die Frau an. „Hoffentlich ist noch etwas da, womit ich auch arbeiten kann.“, sagte sie leicht entrüstet. Dann kicherte sie jedoch und sprach weiter: „Natürlich ist es das. Bei euch Männern doch immer, ganz egal wie schlecht es euch geht.“

„Das sollst du herausfinden.“

„Ich weiß. Ich soll herausfinden, ob er überhaupt ein Mann ist. Nichts leichter als das, verlass dich auf mich. Außerdem bezahlst du mich ja großzügig genug dafür. Danach möchte ich mich aber wieder mit einem gesunden Mann vergnügen.“ Ihre Stimme klang sanft und während sie sprach fuhr sie Barrington unter dem Doppelkinn entlang und zwinkerte ihn zu.

Daraufhin erwiderte Barrington nichts und Draco fragte sich, worüber die beiden eigentlich sprachen. Er ahnte nichts Gutes dabei. Allerdings sah sie auch nicht so aus, als könnte sie ihm groß schaden. Im gleichen Augenblick war Henry bei ihm und öffnete mit einem Schlüssel die Ketten an Dracos Handgelenken. Schwer vielen sie herab und er konnte nicht anders als seine Hände ein wenig zu bewegen. Es tat gut das schwere Eisen nicht mehr zu spüren. Allerdings währte dieses Gefühl nicht lange, denn Henry zog ihm schon im nächsten Moment die Hände hinter den Rücken und legte die Ketten abermals an. Doch dieses Mal befestigte er die Kette mit einer weiteren in einer Metallöse in der Wand. Für ihn gab es nun keinerlei entrinnen. Das ungute Gefühl wuchs und innerlich bereitet Draco sich auf jeden Schmerz vor, den er bisher schon einmal erfahren hatte. Würde sie es nun sein, die ihn auspeitschte? Nein, das Vergnügen würden sich John Barrington und Jonathan Semerloy gewiss nicht nehmen lassen. Was sollte dann mit ihm geschehen?

Sie trat ein und Henry verließ die Zelle im nächsten Moment. Hinter sich schloss er die Tür, verriegelte sie aber nicht. „Du wirst zusehen und mir genau berichten, was passiert ist. Ich will mir diesen Anblick ersparen.“, ordnete Barrington an und Draco wunderte es ein wenig, dass diese Aufgabe dem Mann plötzlich unangenehm war. Dabei hatte er doch sonst auch zugesehen und schien sich nicht daran zu stören, dachte er bitter. Trotzdem nickte Henry gehorsam. Barrington und Semerloy verließen den Kerker und Draco war nur umso verwirrter. Die Frau kam näher und kniete sich vor ihn hin.

„Dann wollen wir zwei uns vergnügen oder?“, sprach sie sanft gegen sein Ohr, so dass es kribbelte. „Ich bin an Zuschauer gewöhnt und du? Aber daran wollen wir uns nicht stören lassen, vielleicht kann der liebe Henry ja noch einiges lernen.“ Ein leises Kichern entfuhr ihr und wieder stellten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf. Was hatte das alles zu bedeuten? Verwirrt sah Draco von dem Wachmann zu der Frau vor ihm. Sie streckte ihm ihren Oberkörper entgegen, so dass er einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté bekam.

Sie musste seinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn sie strich ihm über die Wange. Anscheinend sollte es beruhigend auf ihn wirken, doch automatisch rückte Draco näher an die Wand hinter sich.

„Oh, bist du etwas schüchtern? Das ist so süß. Jeder andere Mann, wäre bei meinem Anblick nicht so zaghaft. Oder sollte John am Ende vielleicht recht haben?“, redete sie weiter, während ihre Hand seine Wange hinab, über seinen Hals glitt und schließlich seine Schulter berührte. Dort verweilte sie einen Augenblick und ihre Augen folgten der Bewegung ihrer Hand. „Was für ein schöner Körper. Wie schade, dass er schon so missbraucht wurde. Ich hätte ihn gern im gesunden Zustand gesehen. Selbst in meinem Beruf bekommt man so einen schönen Mann nicht täglich zu sehen.“ Wieder kicherte sie leise, als hätte sie ihre eigenen Worte besonders amüsant gefunden.

Sacht fuhren ihre Finger über die Verbände an seinem Oberkörper und Draco sog scharf die Luft, in Erwartung eines Schmerzes, ein. Doch nichts geschah und wieder lachte sie leise. „Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun. Ich werde zwar auch ein paar Empfindungen bescheren, doch diese werden ganz anderer Natur sein, als der gute Barrington das gemacht hat.“, hauchte sie gegen sein Ohr. Ihre Hand verweilt auf seiner Brust, während sie sich noch ein wenig mehr zu ihm vorbeugte. Ihr Busen berührte seine Schulter und wieder versuchte Draco von ihr abzurücken. Doch er befand sich bereits an der Wand, so dass er nicht weiter nach hinten ausweichen konnte. Sein Blick wanderte zwischen ihrer Hand und ihrem Gesicht hin und her. Alles in ihm schrie danach zu wissen, was sie tun würde, was ihre Worte bedeuteten. Was immer es war, er wünschte, dass es schnell gehen würde.

Draco erstarrte als er auf einmal ihre Lippen an seiner Wange spürte. Schon lange war es her, dass Annie ihn auf diese Weise geküsst hatte. Jedoch waren die Lippen dieser Frau größer, rauer und durch die Farbe erschreckend. Sie waren keineswegs so einladend wie Annies. Außerdem bemerkte er erst jetzt den starken Geruch der von dieser Frau ausging. Er lag schwer auf ihr, eine Mischung aus starken Blumen, Schweiß und etwas anderem, was er nicht benennen konnte. Aber er wusste, dass er diesen Geruch nicht lange würde er tragen können. Draco spürte, wie der Duft bereits jetzt seine Sinne benebelte. Sein Atem wurde schneller und er musste heftig schlucken, um seinen Kopf wenigstens ein bisschen klar halten zu können. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sie von sich gestoßen.

„Nicht nur schüchtern, sondern auch nervös.“, hauchte sie gegen seine Wange. „Das wird gleich vorbei sein.“ Dann drückte sie ihre großen Lippen auf seinen Mund und für einen Moment schien die Welt um ihn herum schwarz zu werden. Dracos Atmung setzte aus, stumm starrte er Henry an, der seinen Blick mit einer Mischung aus unverhohlener Neugier und Scham begegnet. Erst als es bereits in seiner Brust schmerzte, atmete er tief ein und damit auch ihren starken Duft. Das war es, was ihn aufwachen ließ, was ihn realisieren ließ, was geschah.

Heftig bewegte er seinen Körper und versuchte sie von sich zu schütteln, doch erst nachdem er seinen Kopf ruckartig nach hinten riss und an die Steinmauer hinter sich schlug, gelang es ihm. Sein Kopf schmerzte zwar, aber das war nicht der Grund, warum er nach Luft schnappte. Sein Körper war begierig darauf Luft zu atmen, die nicht von diesem schweren Geruch erfüllt war, doch er schien überall zu sein. Draco spürte, wie ihm langsam schwindlig wurde.

„John sagte mir schon, dass du vielleicht anders reagierst und er sagte auch, ich könnte ein bisschen nachhelfen. Bisher hat mir noch kein Mann wiederstanden. Ihr seid doch alle gleich.“, sagte die Frau und klang nun schon nicht mehr so sanft und gewählt. Ihre linke Hand lag immer noch auf Dracos Brustkorb und übte einen leichten Druck darauf aus. Die rechte fuhr wieder Dracos Wange entlang, dieses Mal nach oben zu seinen Haaren durch die sie hindurch fuhr. Plötzlich verkrallte sie sich darin und riss seinen Kopf zurück. Draco war über die unerwartete Stärke dieser Person überrascht. Sie war nicht viel anders als Barrington. Aber ihre Methoden würden andere sein, dachte er fieberhaft.

Sie lächelte ihn mit schiefem Mundwinkel an, bevor sich ihre Lippen wieder auf seine senkten. Dieses Mal versuchte Draco nicht zu entkommen. Stattdessen konzentrierte er sich darauf so flach wie möglich zu atmen. Wenn er den Kuss einfach aushalten würde, würde sie vielleicht schneller aufhören, hatte er die naive Hoffnung. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, was sie damit bezweckte. Bisher hatte er einen Kuss als etwas Schönes kennengelernt, etwas das Appetit auf mehr machte. Er hatte Annie so oft geküsst und hätte am liebsten nie aufgehört, doch dies hier war etwas vollkommen anderes. Es war überhaupt nicht süß und verheißungsvoll, sondern widerlich.

Ihr Mund bewegte sich auf seinem, verschmierte das rote Zeug, das sie darauf trug. Draco richtete seinen Blick wieder auf den Mann vor seiner Zellentür. Dieser sah ihnen immer noch zu. Langsam wanderte ihre linke Hand seinen Oberkörper hinauf und ab. Draco konnte die Berührung ihrer Finger nur schwach durch den Verband spüren, doch dies genügte ihm. Es brachte seine Wunden dazu unangenehm zu jucken. Er hob das Knie ein wenig an, um sie von sich zu stoßen, doch da auch seine Füße einander gefesselt waren, war sie schneller als er und konnte seine Bewegung erahnen. Schnell setzte sie sich auf seine Beine und verhinderte damit jede weitere Bewegungsmöglichkeit.

Ihre Hand fuhr seine Brust herunter zu seinen Bauch und streichelte diesen einen Moment. Noch immer verstand Draco nicht, was dies alles sollte. Er empfand keinen Schmerz dabei, aber was sollte er sonst empfinden? Alles was er spüren konnte, war die Übelkeit die langsam in ihm aufstieg, je länger sie ihn küsste. Ihre Finger glitten weiter nach unten und schienen nicht aufhören zu wollen. Dracos Atem und Herzschlag wurden beinah panisch. Was geschah hier?

Ihre Hand rutschte zu seiner Körpermitte.

Dracos Augen weiteten sich vor Überraschung. Wieder versuchte er sich von ihr zu befreien. Allein der Gedanken, dass sie ihn dort berührte, ließ ihn fast wahnsinnig vor Wut werden. Er versuchte sie abzuschütteln, doch sie saß so fest auf ihm, dass es ihm nicht gelang. Wieder versuchte er den Kopf zurückzureisen, doch er hatte vor Schreck vergessen, dass kein Raum mehr hinter ihm war. Also konnte er nur noch zu Seite. Er bewegten den Kopf nach links und hoffte sie so abschüttelt zu können, doch ihr Griff in seinen Haaren war fest und stark.

„Zier dich nicht so, ich weiß, es wird dir gleich gefallen.“, gurrte sie und rieb ihre Handfläche weiter an jener Stelle. Wieder begann sie ihn zu küssen und als Draco scharf die Luft einsog gelang es ihr sogar ihre Zunge in seinen Mund zu schieben. Dabei berührte sie seine wunde Zunge und ein neuer Schmerz schoss durch seine Mundhöhle und Rachen hinab.

Draco glaubte sein Mangen drehte sich um. Ihm war schlecht. Er würde sich jeden Augenblick übergeben müssen. Und dieses Gefühl kannte er nur zu gut.

Wieder versuchte er sich von ihr loszureißen. Abermals machte er eine ruckartige Bewegung nach links und dieses Mal mit so viel Kraft, dass er sich befreien konnte und sie ihm dabei ein paar Haarbüschel ausriss. Mit der Stirn prallte er seitlich gegen die Mauer. Doch noch bevor er diesen Schmerz spüren konnte, hob er das rechte Bein und nutzen den Moment ihrer Überraschung und stieß sie von seinem Schoß herunter. Im nächsten Augenblick tanzten weiße Punkte vor seinem Blickfeld und Kopfschmerzen machten sich in ihm breit.

Draco ließ sich ganz zur Seite sinken. Seine Augen waren geschlossen und er atmete schwer. Er wollte dem Gefühl Herr werden, was sie sich ihm zu bemächtigen drohte, doch vergebens. Als sein Körper auf der Seite lag wurde es nur noch schlimmer und er begann zu würgen. Hastig richtete er sich auf. Irgendwo hörte er die Stimme der Frau, die nun laut und zeternd war. Was sie sagte, verstand er nicht. Er bemühte sich auch nicht. Zu sehr kämpfte er mit der Übelkeit. Doch kaum hatte Draco sich aufgerichtet, gewann sie über ihn und er schaffte es gerade so den Kopf rechtzeitig zur Seite zu drehen.

Noch immer keuchend und hustend lehnte er sich gegen die Wand. Er spürte das kühle Gestein an den Handflächen und war sogar froh darum. Es half ihm schneller wieder zu sinnen zu kommen. Jetzt, nachdem er das Gefühl hatte den widerwärtigen Gestank ausgebrochen zu haben, fiel ihm das Atmen leichter. Aber er merkte nun auch, wie die Frau schrie und Henry die Zellentür wieder öffnete.

„So etwas ist mir noch nie passiert!“, schimpfte sie. „Noch nie hat auch nur ein Mann meine Gunst so erwidert. Ich glaube John hat recht! Er kann kein richtiger Mann sein! Bring mich nach oben, ich will ihm davon berichten.“, sagte sie mit schriller Stimme.

Draco schluckte heftig. Langsam dämmerte ihm, was eigentlich vorgefallen war.

Mit klappernden Schritten entfernte sie sich und Henry betrat die Zelle abermals. Wortlos fast er Draco an den Schulter und richtete seinen Oberkörper nach vorn. Dann löste er die Ketten hinter seinen Rücken und band sie ihm vorn wieder zusammen. Draco wischte seinen Mund an dem dünnen Hemd ab, was man ihm gegeben hatte und sah die rote Farbe, die die Lippen der Frau geziert hat. Er ließ sich abermals gegen das Mauerwerk sinken und versuchte sich zu beruhigen. Doch noch immer stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Für einen winzigen, einzigen Augenblick dachte er, dass ihm der Schmerz den Barrington ihm zufügte, lieber war.

Keine Flucht

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Vorkehrungen

Es entwickelte sich eine Art Routine.

Zwei Mal täglich wurde Draco zu Hera geführt, um sich für eine gewisse Zeit um sie zu kümmern. Immer kamen vier Männer, die ihn aus seinem Gefängnis holten und zum Pferdestall schafften. Während er ihren Stall säuberte, frisches Stroh darin verteilte – im Gegensatz zu ihm bekam Hera täglich welches, genauso wie frische Wasser und Hafer – und sie striegelte, standen die vier Männer vor der Box und rührten sich nicht. Doch bereits am dritten Tag schien sie ihre Aufgabe zu langweilen. Sie unterhielten sich, ihre Blicke schweiften umher und sie gähnten sichtbar. Sie störten sich nicht an seiner Gesellschaft und vielleicht hielten sie ihn auch für Schwachsinnig. Es war Draco egal. Es konnte ihm nur nützen.

Wenn er seine Aufgaben im Stall beendet hatte, führte er Hera zur Koppel. John Barringtons hatte einen Teil davon extra für Hera und den Hengst abgrenzen lassen. Zuerst legte Draco immer erst Hera ihr Zaumzeug an. Danach kümmerte er sich um den Rappen, der in der Box neben Heras untergebracht war, in der Hoffnung, dass sie sich so bereits näher kamen. Doch bisher hatte Hera keinerlei Anstalten gemacht sich auch nur für ihn zu interessieren. Es hatte Draco sehr gewundert, dass er auch für den Rappen zuständig war, aber offenbar lag Barrington letztendlich mehr an einem Fohlen als an seinem Stolz. Da Draco der Einzige war, den Hera an sich heran ließ, war es nur logisch so. Schließlich wurde Hera bereits unruhig, wenn sich ein Fremder auch nur näherte. Selbst Dracos Wachleute hatte Hera noch immer nicht akzeptiert und scheute jedes Mal, wenn einer von ihnen lauter wurde oder sich ihr näherte.

Trotzdem ließ John Barrington ihn nie vergessen, dass er sein Gefangener war. Auch war er noch immer davon überzeugt, dass er es mit einem echten Drachen zu tun hatte. Draco bekam Essen und Trinken, gerade so viel, dass es reichte um ihn bei Kräften zu halten.

Und er bekam Schläge. Jeden Abend kam Barrington zu ihm, als bräuchte er diese Beschäftigung um anschließend gut schlafen zu können. Barrington verzichtete auf die Peitsche. Er hatte Gefallen daran gefunden, ihn mit Fäusten zu schlagen. Er sagte, er könnte damit besser zielen und hatte Draco im nächsten Moment in den Magen geschlagen. Doch das war nicht der einzige Grund, erkannte Draco schnell. Barringtons Faust hinterließ nie offensichtliche Verletzungen, die einer Behandlung bedurften. Gegen die blauen Flecke konnte Doktor Storm nichts ausrichten, er konnte ihm lediglich etwas gegen die Schmerzen geben, aber auch davon hielt Draco Abstand. Es war bei weitem nicht so schlimm, wie zuvor und dieses Mittel benebelte seinen Verstand so sehr, dass ihm selbst das Denken schwer fiel.
 

Eines Abends nachdem Barrington mit seinem Schlägen für diesen Tag geendet hatte, nahm dieser Dracos linke Hand, an der Doktor Storm den Verband am Tag zuvor abgenommen hatte, und betrachtete sie prüfend. Er drehte sie ein paar Mal in seiner eigenen Hand und sah sich dann die Handfläche an. Es sah beinah so aus, als wollte er mit Daumen und Zeigefinger die Größe messen und schnalzte dabei mit der Zunge. Draco erwartete bereits erneuten Schmerz, umso überraschter war er, als nichts dergleichen geschah. Aber in Barringtons Augen erkannte er wieder dieses Funkeln. Danach hatte er Dracos rechten Arm genommen und sich sein Werk besehen, wie er es flüsternd genannt hatte. Noch immer war die Wunde nicht verheilt und blutete auch hin und wieder, wenn Draco den Arm zu sehr beanspruchte. Die Buchstaben, die Barrington eins in seinen Arm geritzt hatte, waren nicht mehr zu erkennen. Es war nur noch eine einzige Wunde, die wie ein Krater in seinem Arm klaffte. Draco erwartete, dass er von neuem beginnen würde sie mit dem Messer aufzureißen, doch auch das geschah nicht. Stattdessen verließ Barrington schweigend sein Gefängnis und Draco starrte ihm leicht ungläubig hinterher. Seine Brust zog sich zusammen. Was immer in Barringtons Kopf vorgegangen sein mochte, er war sicher, dass er es erfahren würde.
 

Draco stand vor dem Zaun der Weide und beobachtete Hera, wie diese dem Rappen, dessen Name Nachthimmel war, immer wieder auswich und in eine vollkommen andere Richtung lief als der Hengst. Dieser versuchte zwar ihr näher zu kommen, offenbar wollte er sich mit ihr paaren, doch sobald er es versuchte stieß Hera ihn unsanft von sich. Irgendwann gab der Hengst bis zum nächsten Tag auf und beide standen in großer Entfernung voneinander. Es schien als würde Hera seine Anwesenheit geradeso akzeptieren. Draco wusste, dass er etwas tun sollte, damit Hera das andere Tier an sich heran ließ, aber er war ratlos. Außerdem lag ihm selbst auch nicht sehr viel daran. Es war ihm vollkommen egal, ob Barrington sein Fohlen bekam oder nicht.

Es war ein Nachmittag, wie einige zuvor, an dem Draco draußen bei den Tieren stand und sie beobachtete. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis man ihn wieder in das dunkle Verließ bringen würde, umso mehr versuchte er die warmen Sonnenstrahlen zu genießen. Die vier Wachleute standen um ihn herum und schienen abermals von ihrer Aufgabe gelangweilt. Aus den Augenwinkeln jedoch sah Draco, wie sie plötzlich steif wurden. Barrington musste sich nähern.

Er sollte recht behalten. Nur wenige Augenblicke später trat John Barrington an die Koppel heran und betrachtete die grasenden Tiere schweigend.

„Fortschritte?“, fragte er an niemand bestimmtes gewandt, aber da Draco ihm sowieso nicht antworten würde, tat es einer der Wachmänner. „Keine, Sir. Er hat versucht sich ihr zu nähern, aber sie stößt ihn immer wieder von sich.“

John Barrington brummt kurz unzufrieden. Hera hatte Barrington wohl ebenso bemerkt, denn sie wurde unruhiger und tänzelte auf der Stelle hin und her. Sie schien genau zu spüren, dass dieser Mensch nie etwas Gutes brachte. Obwohl Draco versucht nicht auf Barrington neben sich zu achten, konnte er doch dessen Blick auf sich spüren.

„Mitnehmen.“, befahl dieser dann plötzlich und die vier Wachleute reagierten sofort. Sie packten Draco grob an den Armen und stießen ihn vorwärts. Draco stolperte oft, da seine Füße noch immer in Ketten lagen. Was würde nun mit ihm geschehen? Er war sich fast sicher, dass Barrington nichts tun würde, was ihm länger schadete. Dafür brauchte er ihn zu sehr. Sie wählten nicht den direkten Weg in das Verließ zurück und langsam wuchs in Draco die Unruhe. Wo brachte man ihn hin? Hinter sich hörte er Hera laut wieher und als es ihm gelang sich noch einmal umzudrehen, sah er wie sie am Zaun stand und sich aufbäumte. Er konnte ihre Unruhe verstehen, doch gleichzeitig versuchte er sich einzureden, dass sie ihm nicht schlimmeres antun konnten, als sie bereits getan hatten.

Sie führten ihn zu einem Teil der Burganlage, den er noch nicht gesehen hatte. Ein weites Gebäude tauchte in seinem Blickfeld auf. Es hatte ein großes Tor, welches im Moment weit offen stand. In dem Gebäude selbst erkannte Draco allerlei metallende Geräte. An verschiedenen Stellen standen Ambosse, an denen mächtige Hammer lehnten. An den Wänden hingen Hufeisen, Speerspitzen, Schwerter, die noch nicht fertig schienen. Hinten in der Ecke brannte ein großes loderndes Feuer. Es war stickig und das Atmen fiel ihm schwer. Er musste ein Husten unterdrücken, als sich seine Lungen mit der schweren Luft füllten. Draco wusste nicht, wie dieser Ort hieß und erst recht nicht, was er dort sollte.

„Ist es fertig?“, bellte Barrington durch den großen Raum und aus der hintersten, rechten Ecke kam ein kleiner, älterer, gedrungener Mann. Er war kahl und sein Gesicht verrußt. Über seiner Kleidung hatte er eine Schütze angelegt, die aussah wie gewebtes Metall, doch sicher war sich Draco nicht. Es wurde immer seltsamer. Der Mann schaute Draco einen Moment überrascht an. Als er anschließend antwortete, entblößte er eine Reihe fehlender Zähne.

„Es hat die richtige Temperatur erreicht. Ich muss sagen, ich bin stolz auf dieses Werk. Das Motiv ist einmalig und so fein, wie es noch keines gab. Mein Sohn hat euren Entwurf vorzüglich umgesetzt. Ihr werdet sicher nicht enttäuscht sein. Möchtet ihr es zuvor an einem anderen Tier ausprobieren, bevor es eure edlen Pferde schmücken soll?“, fragte der Mann.

„In der Tat, das möchte ich.“, antwortete Barrington und Dracos Nackenhaare stellten sich dabei auf. „An ihm hier.“, fügte er an und zog Draco an dem dünnen Hemd, welches man ihm gegeben hatte, nach vorn. Abermals stolperte er, doch in seinem Kopf raste es. Was sollte an ihm probiert werden? Das freudige Gesicht des Mannes war bei Barringtons Worten zusammengefallen. Stattdessen lag darauf nun Entsetzen. Draco Herz schlug heftig in seiner Brust und seine Augen sahen sich suchend im Raum um. Es gab so vieles was ihm Schmerz zufügen konnte, realisierte er schwach. „Gibt es ein Problem?“, fragte Barrington drohend, nachdem der ältere Mann noch immer nicht reagiert hatte.

„N-Nein.“ ,stotterte er. „Natürlich nicht. Wo... Wo soll es hin?“

Draco sah verwirrte von einem zum anderen. Er verstand einfach nicht wovon sie sprachen. Was sollte er bekommen, was eigentlich Pferde schmückte?

John Barrington packte Dracos linke Hand, während ein Wachmann die Rechte noch festhielt, und zog sie nach vorn. „Hierher. Es dürfte passen.“, sagte er mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht.

„Wie ihr meint.“, antwortete sein Gegenüber und trotz des verrußten Gesichts, meinte Draco zu erkennen, wie viel Blasser es geworden war.

„Auf den Boden mit ihm und festhalten.“, gab Barrington den Befehl. Die vier Wachleute stellten sich hinter Draco. Einer von ihnen stieß ihn in die Kniekehlen, so dass er zu Boden sackte. Als nächstes packte ihn jemand im Nacken und drückte ihn nach vorn, so dass er mit dem Bauch auf dem Boden lag. Einer setzte sich auf seinen Rücken, zwei anderen auf seine Beine. Der Vierte hielt Dracos rechten Arm nach hinten und den linken nach vorn. Es war Draco unmöglich sich zu rühren. John Barrington beugte sich nach unten und Draco fing seinen selbstgefälligen Blick auf. Es kostete ihn Anstrengung den Kopf erhoben zu halten, doch er wollte sehen, was mit ihm geschehen sollte. Barrington nahm Dracos linke Hand und drehte sie so, dass die Handfläche nach oben zeigte. Dann hielt der Wachmann sie wieder fest umklammert.

„Perfekt.“, murmelte Barrington und trat einen Schritt zurück. Draco folgte seinem Blick und sah den älteren Mann, der nun etwas in den Händen hielt.

Es war ein langer Eisenstab. An dem Ende, welches der Mann weit von sich hielt, sah es so aus, als würde eine Scheibe darauf sitzen. Fast gewann Draco den Eindruck, als würde ein verschlungenes Muster darin zu sehen sein. Doch er konnte es nicht richtig erkennen, denn das Metall glühte so hell und orange, wie er es erst bei einem Sonnenaufgang gesehen hatte. Je näher der Mann kam, desto mehr spürte Draco die Hitze, die von diesem seltsamen Gegenstand ausging. Barrington zog sich einen festen, ledernen Handschuh an, wie ihn auch der alte Mann trug und nahm die Eisenstange andächtig aus der Hand des anderen. Der Wachmann, der Dracos Arme festhielt, packte nun sein Handgelenk und drückte es mit solch einer Stärke auf den Boden, das es schmerzte. Doch der Gedanken schwand, als Draco sah, wie Barrington das glühende Eisen mit dem runden Ende nach unten senkte, langsam und immer weiter. Er platzierte es über seiner Handfläche, drehte es noch ein wenig, bis er offenbar die richtige Position gefunden hatte. Dann drückte er die glühende Scheibe auf Dracos Handfläche.
 

Jemand trug seinen Körper. Das war alles, was Draco wahrnahm, als er die Augen für einen kurzen Moment öffnete. Seine Beine schleiften über den Boden. Sein linker Arm fühlte sich an, als würde er brennen. Dann wieder Schwärze.
 

Als er wieder erwachte, spürte er, wie etwas seinen rechten Arm durchschnitt. Er riss die Augen auf und sah Barrington, über sich gebeugt. Gleichzeitig nahm er wahr, dass er sich wohl wieder im Verließ befand. Barrington hielt ein Messer in seiner Hand, an dessen Klinge Blut haftete. Draco brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Barrington seine alte Wunde am rechten Arm erneut geöffnet hatte. Erst als ihm dieser Gedanke kam, merkte er, wie klein doch dieser Schmerz im Vergleich zu dem in seiner linken Hand war. Doch noch bevor er nachsehen konnte, was diese unglaubliche Qual verursachte, wurde er von Barrington abgelenkt. Dieser holte einen kleinen goldenen Kelch aus seiner Gürteltasche. Er war nicht besonders groß und passte gerade in Barringtons Hand. Verwirrt sah Draco das Stück an. Grob griff John Barrington nach Dracos blutenden Arm und hielt ihn nach oben. Seine Finger drückten oberhalb der Wunde zu, so dass das Blut noch mehr herausfloss, je fester er drückte. Gleichzeitig hielt Barrington den Kelch darunter und fing den roten Lebenssaft darin auf.

Der Schmerz in Dracos linker Hand wuchs indessen immer weiter. Man hatte ihm das glühende Metall auf die Hand gesetzt und die Pein, war so heftig gewesen, dass er sofort das Bewusstsein verloren hatte. Doch der Schmerz war zu groß, dass selbst die Dunkelheit ihn nicht halten konnte. Seine Hand brannte, als würde sie direkt in Flammen gehalten.

Als Barrington seinen rechten Arm losließ, wurde er etwas von dem Schmerz abgelenkt. Fassungslos sah Draco, wie Barrington den Kelch mit seinem Blut darin an die Lippen setzte und daraus trank. In jenem Moment schien der Schmerz vergessen. Draco konnte einfach nicht glauben, was er da sah.

Es war das erste Mal, dass Draco den Anblick dieses Mannes nicht ertragen konnte, den Blick abwand und die Augen schloss. Trotzdem hörte er, wie Barrington sich über die Lippen leckte.

„Mmh... mit ein bisschen Wein ist es sicher vorzüglich.“, stellte Barrington schmatzend fest und Draco hörte den erfreulichen Unterton in seiner Stimme. „Ich hätte früher darauf kommen sollen.“ Dann hörte er, wie Barrington entfernte. Erst als er weg war, nahm Draco alles andere wahr. Es war kein Wachmann bei ihm gewesen, der ihn festgehalten hatte, dachte er. Er versuchte sich die linke Hand zu besehen, doch als er versuchte den Arm zu bewegen, spürte er, wie sehr sein Körper zitterte. Er atmete durch den Mund. Wie lange schon? Doch als er versuchte ihn zu schließen und normal zu atmen, bekam er keine Luft. Das Zittern schien alle Luft aus seinen Lungen zu schüttelten.

Langsam zog Draco den linken Arm zu sich und drehte die Hand so, dass er ihm schwachen Kerzenlicht etwas sehen konnte. Etwas war in seine Handfläche eingebrannt worden. Ein rundes Muster, in dessen Mitte etwas anderes lag. Er konnte es nicht erkennen. Die Haut war verbrannt, rot und schwarz und roch auch so. Blasen hatten sich gebildet und waren aufgesprungen. Ihm wurde übel, doch das Zittern verhinderte, dass er sich übergeben konnte.

Mit bebendem Körper kroch er in die hinterste Ecke seines Gefängnisses und krümmte sich dort zusammen.
 

Der Schmerz wollte nicht weniger werden. Draco saß in seiner dunklen Zelle und krümmte sich so sehr, dass ihm bereits auch Bauch und Rücken wehtaten. Die linke Hand presste er so fest er konnte an seinen Körper. Er glaubte, dass dadurch der Schmerz weniger wurde oder wenigstens das Zittern aufhörte. Er wollte es sich einreden. Der rechte Arm blutete nur noch schwach. Er machte sich keinerlei Gedanken darüber. Er konnte nicht darüber nachdenken.

Immer dann, wenn er es überhaupt nicht mehr ertragen konnte, nahm Draco den nassen Stoffe, den er auf die Verbrennung gelegt hatte, vorsichtig herunter. Er hatte sein Hemd zerrissen und mit Wasser befeuchtet, in der Hoffnung, dass dies ihm Linderung verschaffen könnte. Doch es währte nie lange. Er drehte den nassen Stoff ein wenig, um vielleicht doch noch eine kühle Stelle zu finden, mit der er seine Hand beruhigen konnte. Aber es war schon lange nicht mehr feucht und kalt genug.

Er würde den Stoff abermals nass machen müssen, dachte er müde. Der Becher mit seinem Wasser war nur noch halb voll und neben dem brennenden Schmerz, verspürte Draco auch unglaublichen Durst.

Langsam nahm er den Stoff von der Wunde und drehte die Hand noch einmal gegen das Kerzenlicht. Es sah noch immer genauso furchtbar aus, wie zuvor. Nur glaubte Draco jetzt das Muster besser erkennen zu können. Dabei war es nicht einmal ein richtiges Muster, sondern zwei ineinander verschlungene Buchstaben: J und B.

Sie waren nun für immer in seine Haut gebrannt.

Mit rechts nahm Draco den Becher und setzte ihn an die trockenen Lippen. Er trank einen Schluck, dann noch einen. Mehr erlaubte er sich nicht, dabei dürstete ihm nach so viel mehr. Doch er wusste nicht, wann er das nächste Mal etwas zu trinken bekommen würde.

Im Anschluss ließ er ein wenig des Wassers auf das Tuch tropfen, um es sich wieder auf die Hand zu legen. Übrig blieb ein kleiner Schluck im Becher, den Draco am liebsten sofort getrunken hätte. Doch er stellte den Becher wieder ab.

Als der nasse und doch kalte Stoff seine verbrannte Hand berührte, keuchte er auf und schloss die Augen, um die Übelkeit zu bekämpfen. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Wann würde es enden?, dachte er. Das Zittern hörte nicht auf und er zog die Knie an, um sich noch kleiner, noch steifer zu machen. Sein Körper war am Ende, doch der Schmerz wollte ihn nicht schlafen lassen.

Unbewusst nahm Draco wahr, wie Henry vor seinem Gefängnis aufstand und die Tür öffnete. Doch er reagierte nicht einmal darauf. Das Zittern wurde heftiger und er merkte, wie ihm kalt wurde, während seine Hand in Flammen zu stehen schien. Zum ersten Mal zweifelte Draco an sich selbst. Er wusste nicht, wie viel er noch würde ertragen können.

Henry kam näher und Draco schaffte es gerade noch ihn anzusehen. Sein Blick war verschwommen, trotzdem glaubte er auf dem Gesicht des Anderen so etwas wie Mitgefühl zu entdecken. Unter anderen Umständen wäre es ihm wohl zu wieder gewesen, doch jetzt war es ihm gleich. Draco beobachtete, wie Henry wortlos den Becher neben ihm füllte. Anschließend nahm er ihn und gab ihm Draco direkt in die unversehrte Hand. Ein wenig Wasser schwappte über den Rand, als er den Becher in den zitternden Händen hielt. Vielleicht hätte er misstrauisch sein sollten, doch sein Durst war größer und er setzte den Becher an und trank begierig daraus. Er leerte ihn in einem Zug, schaffte es aber nicht einmal mehr ihn auch wieder abzustellen. Henry nahm ihn und füllte ihn noch einmal. Dann stellte er ihn neben Draco ab. Wortlos verließ er die Zelle, genauso wie er sie auch betreten hatte.

Draco lehnt sich erneut gegen die kalten Mauersteine und presste die Stirn dagegen. Es fühlte sich gut an, doch den Schmerz in seiner Hand konnte er nicht nehmen. Und die Kälte kroch immer mehr durch seinen Körper.
 

In dieser Nacht schlief er nicht. Vielleicht nickte er für ein paar kurze Augenblicke vor Erschöpfung ein, doch der Schmerz weckte ihn gleich wieder auf. Auch der nasse und kühle Stoff, verschafften keine dauerhafte Linderung. Das Zittern hatte ein wenig nachgelassen, doch Draco glaubte fast, dass sein Körper nur zu erschöpfte dafür war. Er fror unglaublich und egal, wie klein er sich machte, die Kälte saß in ihm fest.
 

Dass sich ihm am nächsten Morgen die Wachmänner näherten bemerkte er kaum. Das Öffnen der Zellentür klang wie von einem anderen Ort, genauso die Schritte und Stimmen, die plötzlich neben ihm waren. Die Männer zogen ihn auf die Beine und stießen ihn vorwärts, damit er lief, doch er konnte es nicht. Nur mühsam schaffte er es einen Schritt vor den anderen zu setzen, aber er konnte kaum sein eigenes Gewicht tragen. Sie musste ihn mehr ziehen, als das er selbst lief.

An den Weg konnte Draco sich nicht mehr erinnern. Auf einmal stand er vor Hera, spürte ihren warmen Atem im Nacken und wie er sie mit der gesunden Hand berührte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich daran erinnern konnte, warum er eigentlich bei ihr war. Noch nie, war ihm so etwas geschehen. Noch nie hatte er nach einer Erinnerung suchen müssen. Doch auch darüber dachte er nicht nach. Er konnte nicht. Beschwerlich öffnete er die Box und als er es geschafft hatte, musste er ausruhen, um weitere Kräfte zu sammeln. Dann griff er zu der Bürste, die er am vergangenen Morgen vor der Box abgelegt hatte und wollte sie striegeln. Er drehte sich zu ihr um, sah ihre vertraute Gestalt und dann...
 

Etwas Kaltes auf seinem Gesicht und seiner Hand weckte ihn. Es war kühl und obwohl sein Körper ihm immer noch unglaublich kalt erschien, wirkte es doch beruhigend auf ihn. Er versuchte nicht die Augen zu öffnen, sondern sich so zu orientieren. Er roch Pferde und Stroh, also musste er noch im Stall sein.

„Draco?“, hörte er eine männliche Stimme an seinem Ohr und es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, ehe er sie als Alexanders erkannte. Annies Bruder rüttelte an seiner Schulter und nur wiederwillig öffnete Draco die Augen ein wenig. Würde er sehen, so glaubte er, würde er wieder Schmerzen spüren. Und so war es auch. Je mehr sein Bewusstsein in die Wirklichkeit zurückkehrte, desto deutlicher konnte er das Pochen und Brennen in seiner Hand spüren. Ein Becher Wasser wurde an seine Lippen gesetzt und er trank es ohne Wiederspruch. Es waren nur wenige Schlucke und er wollte eigentlich mehr, doch als er sich bereits daran verschluckte, war er froh, dass es eben nicht mehr gewesen war. Durch das Husten wachte er jedoch ganz auf und es gelang ihm die Augen zu öffnen. Er blickte direkt in Alexanders braune.

„Diese Wahnsinnigen...“, hörte er jemand anderen murmeln und sah nach vorn. Dort erkannte er Doktor Storm. Dieser beugte über seine Hand und hielt das Tuch fest, dass sie kühlte.

Verwirrte sah Draco noch einmal zu Alexander. Stumm bat er ihn um eine Erklärung. „Du bist umgekippt.“, antwortete dieser leise. „Deine Wachen wollten zu dir, doch Hera hat sie nicht gelassen. Daraufhin haben sie Barrington Bescheid gegeben und der tobte vor Wut. Davon hat sich Hera aber auch nicht beeindrucken lassen.“ Draco spürte ein kurzes Schütteln an seiner Schulter und warme Luft, die ihn in den Nacken geblasen wurde. Hera stupste seine Wange mit ihrem weichen Maul an, um ihm wohl zu sagen, dass er ihr nun etwas schuldete.

„Ich war zufällig heute da und habe Barringtons Geschenk gebracht. Er hat mich sofort zu ihr geschickt. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis sie mich zu dir gelassen hat. Doktor Storm kam gerade eben erst. Laut den Wachen bist du schon eine ganze Weile weggetreten. Wundert mich gar nicht.“ Die letzten Worte klangen eher wie ein Knurren.

Draco schluckte und schloss die Augen wieder. Der Arzt hatte inzwischen das Tuch wieder entfernt und sobald der kühlende Stoff weg war, schien es nur umso mehr zu brennen. Kurz stöhnte Draco auf. Ob vor Schmerz oder Müdigkeit konnte er nicht sagen.

„Ich brauche mehr Licht.“, sagte Doktor Storm laut und sofort wurde es heller in der Box. Wie viele Leute waren noch da? Es war gerade Morgen gewesen, als man ihn zu Hera gebracht hatte, dachte Draco träge.

„Ich sehe es mir jetzt an.“, sagte Doktor Storm und es dauerte einen Moment bis Draco begriff, dass er mit ihm sprach. „Ich berühre es auch. Ich kann dir nicht versprechen, dass es nicht wehtun wird.“, Gleich darauf fuhr er mit den Finger bereits die Ränder der Brandwunde entlang. Draco biss die Zähne aufeinander und unterdrückte einen Schrei. Sein Atem ging hektisch. Es schmerzte nicht so sehr, aber allein die Vorstellung, die Angst vor dem Schmerz ließ ihn fast wahnsinnig werden. Alexander berührte ihn an den Schultern und drückte ihn nach unten. Erst als der ältere Mann die Finger wegzog und sich seine Hand nur besah, atmete Draco erleichtert auf. Dann setzte das Zittern wieder ein.

„Was ist?“, hörte er Alexander fragen und Sorge schwang in dessen Stimme mit.

„Es ist sehr tief.“, antwortete der Arzt, „Ich denke jedoch nicht, dass sie den Knochen erreicht haben und das ist wohl sein Glück. Es kann sich entzünden und wird es wohl auch.“ Kaum hatte er zu Ende gesprochen, legte er eine Hand auf Dracos Stirn und dieser zuckte bei der unerwarteten Berührung zusammen. „Oder bereits hat.“, fügte Doktor Storm an. „Er ist fiebrig.“

„Was ist hier los?“, brüllte Barrington irgendwo von der Seite und sofort wurde Hera unruhig. Sie wieherte laut. Alexander ließ ihn los und beruhigte wohl Hera. Wie er das machte, bekam Draco nicht mehr. Sein Körper fühlte sich an, als würde er gleichzeitig in Flammen stehen und vor Kälte erfrieren.

„Ihre Gastfreundschaft ist wirklich sehr seltsam.“, sagte Doktor Storm scharf, offenbar ohne jede Furcht vor Barrington.

„Ihr wagt es!“, schrie Barrington ihn an. Etwas donnerte gegen die Holztür und entsetzte Aufschreie waren zu hören. Draco versuchte die Augen abermals zu öffnen und sah gerade noch, wie Hera erneut gegen die Tür schlug. John Barrington war rot vor Zorn, doch in seinen Augen lag Bewunderung für das Pferd.

„Ich habe eine Frage an euch. Sie ist einfach und ihr braucht sie nur mit ja oder nein zu beantworten.“, fuhr Doktor Storm ungerührt fort. „Wollt ihr dass dieser Mann lebt?“

Draco konnte ihn klar und deutlich verstehen und wünschte doch er könnte es nicht. Die Antwort auf diese Frage war eindeutig.

„WAS?!“, kreischte John Barrington.

„Es ist ganz einfach. Ich habe den Eindruck, dass ihr nur darauf wartet, dass er sterben wird. Ich kann das für euch schneller geschehen lassen. Alles wäre besser, als ihn so etwas anzutun. Er ist bereits jetzt mehr Tod als lebendig.“, sagte Doktor Storm sachlich.

„Ihr wagt es mir so etwas direkt ins Gesicht zu sagen?“, fragte Barrington und klang fast ein wenig ungläubig.

„Ich sage nur die Wahrheit. Was ist euch lieber? Sein Leben oder sein Tod? Mehr will ich nicht wissen. Aber als Arzt kann ich nicht zusehen, wie ihr ihn weiter foltert, noch dazu vollkommen grundlos wie mir scheint. Außerdem möchte ich nicht sinnlos meine Zeit vergeuden. Wenn ihr vorhabt ihn ohnehin zu töten, dann sagt es mir besser gleich, dann kann ich mir die Behandlung sparen.“ Die Stimme des Arztes war fast ein wenig kalt und Draco schauderte. Hing davon nun sein Leben ab? Er versuchte den Mann, der ihn in den letzten Wochen so oft behandelt hatte, zu fixieren, doch seine Augen wollten nicht still halten. Vielleicht war es besser so, dachte Draco.

„Ihr imponiert mir.“, antwortete Barrington zu Dracos Überraschung und er glaubte fast so etwas, wie ein Lächeln aus dessen Stimme zu hören. „Dennoch solltet ihr euch in Zukunft gut überlegen, was ihr sagt. Kümmert euch um ihn. Tod nützt er mir noch weniger, als so schon.“ Die Drohung in seinen Worten war nicht zu überhören, dennoch konnte es Draco kaum glauben. Was das gerade wirklich geschehen oder träumte er immer noch? Barringtons Schritte entfernten sich und kurz darauf hörte Draco Doktor Storm erleichtert aufatmen. „Das war knapp“, flüsterte dieser, so dass nur Draco und Alexander es hören konnten. Dann hörte Draco etwas rascheln und schlussfolgerte, dass der Arzt wohl etwas suchen musste.

„Was machen sie?“, hörte er Annies Bruder neugierig fragen.

„Ich gebe ihm etwas gegen die Entzündung und das Fieber. Es ist eigentlich ein Schimmelpilzpulver, aber es hilft gegen eine Menge Krankheiten. Es ist dafür aber auch schwer herzustellen. Ich habe es erst vor kurzem entdeckt.“, beantwortete der Arzt Alexander Frage.

„Wasser.“, wies der Arzt noch jemand anderen an, denn Alexander bewegte sich nicht, sondern hielt seinen Kopf.

„Was machen sie noch?“, wollte er weiter wissen. Abermals wurde ein Becher an Dracos Lippen gesetzt und inzwischen war es ihm egal, was er trank. Er wollte nur irgendetwas trinken. Es schmeckte bitter und hatte einen seltsamen, leicht verfaulten Nachgeschmack, aber es war zu ertragen. „Dann gebe ich ihm noch ein bisschen Opium, damit er ein wenig Schlaf finden kann und dann sehe ich mir beide Verletzungen noch einmal genauer an. Ich habe in die Salbe mit den Ringelblumen etwas von dem Schimmelpilz gemischt, dass ich auch auf den anderen Arm auftragen werde. Vielleicht heilt es so schneller. Außerdem braucht er ein anständiges Bett. Aber wenn er ihn nicht in Ruhe lässt, ist es sowieso zwecklos.“

Alexander beugte sich noch ein wenig vor und Draco konnte ihn flüstern hören: „Es dauert nicht mehr lange.“

Dieses Mal bestand er nicht darauf zu bleiben.
 

Annie lief vor dem Weinkeller auf und ab. Wo blieben sie nur? Die Verkostung für den Wein, den Alexander Barrington geschenkt hatte, sollte jetzt stattfinden. Sie wollte auch daran teilnehmen. Aber vor allem wollte sie diese Gelegenheit nutzen sich noch einmal genau hier umzusehen. Sie musste die Räumlichkeiten kennen, wenn sie ihren Plan umsetzten wollten. Außerdem hatte sie nun vielleicht eine Idee, wie sie die Bediensteten des Schlosse außer Gefecht setzten konnte.

Aber warum kamen sie nicht? Annie hatte Alexander mit einem schwer beladenen Wagen bereits vor einer ganzen Weile in den Hof fahren sehen. Die Fässer waren gleich in den Keller geschafft worden, auch das hatte sie von ihrem Fenstern aus gesehen. Dann hatte sie ein wenig gewartet, bevor sie nach unten gegangen war. Sie hatte fest damit gerechnet, die Männer bereits anzutreffen.

Einen Moment überlegte, sie ob sie nach draußen gehen und nachsehen sollte. Möglicherweise waren Alexander und Barrington noch bei Hera. Annie hatte es bisher vermieden das Tier zu sehen, weil sie wusste, dass Draco nun für sie zuständig war. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würde. Alexander hatte ihr von seiner Antwort erzählt, von seinem ‚Nein‘ und ihr Bruder hatte ganz recht gehabt: Sie akzeptierte es nicht.

Sie presste die Lippen zusammen und strich sich über den Bauch. Nachdem das Kind sich die ganze Nacht bewegt und sie munter gehalten hatte, schien es jetzt zu schlafen. Auch Annie hatte sich nach dem Essen noch einmal hingelegt, doch die Wichtigkeit dieses Termins hatte sie nicht lange schlafen lassen. Ihre innere Stimme sagte ihr, dass das Kind schon bald geboren würde. Auch Doktor Storm mahnte sie jedes Mal Aufregung zu vermeiden. Aber sie würde erst Ruhe finden, wenn Draco nicht mehr in dieser Burg war. Dann konnte sie sich entspannen. Dabei erzählten weder ihr Bruder noch der Arzt ihr, was Draco angetan wurde. Es konnte nur furchtbar sein.

Vielleicht war es ja gerade das, was sie jetzt taten, überlegte sie und ihr Herzschlag beschleunigte sich schon wieder. Sie musste nachsehen! Gerade als sie den langen Gang zum Weinkeller verlassen wollte, kam ihr Jonathan Semerloy entgegen.

„Wohin des Weges?“, fragte er mit seiner glatten Stimme.

„Ich wollte sehen, wo mein Gemahl und mein Bruder bleiben. Der Wein ist schon im Keller und die Probe sollte längst beginnen.“, sagte sie ebenso geschmeidig. Ihre Nervosität vor ihm hatte sie fast gänzlich abgelegt. Natürlich konnte sie ihn noch immer nicht einschätzen, aber sie verspürte keine Angst mehr. Vielleich weil ihre Angst ständig bei jemand anderem war, genauso wie ihr ganzes Denken, Fühlen und Sein.

„Warum seid ihr so erpicht darauf?“, fragte Jonathan weiter. Sie hasste es, wenn er alles was sie sagte und tat in Frage stellte. Als wäre alles verdächtig oder falsch. Obwohl er dieses Mal gar nicht so unrecht hatte, dachte sie still.

„Der Wein ist sehr bekömmlich und ich hatte gehofft auch ein Schluck zu bekommen.“, antwortete sie gerade heraus und lächelte leicht. „Außerdem möchte ich meinem Mann einen Vorschlag unterbreiten.“

„Ihr mögt diesen Wein?“, fragte er interessiert.

„Ja, sehr gern sogar. Er ist wirklich sehr schmackhaft.“

„Und was für einen Vorschlag? Sagt es mir und ich werde euch seine Antwort mitteilen.“

Annie sah ihm direkt in die Augen. Wer sehr sie seine arrogante Art verabscheute.

„Ich verzichte dankend. John wird entscheiden und nicht ihr.“, antwortete sie kühl und gefasst. Einer von Semerloys Mundwinkeln zuckte nach oben. Sie wusste, dass er es genoss, wenn sie ihn so behandelte und wie um ihre Gedanken zu unterstreichen, streckte er eine Hand aus und nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen seine Finger. Würde sie nicht solche Kopfschmerzen davon bekommen, würde sie die Haare immer hochgesteckt tragen, dachte sie zum wiederholten Male verärgert. Dann würde er solche Gelegenheiten nicht mehr bekommen.

Jonathan drehte die Strähne zwischen den Finger und ließ sie dann wieder fallen. „Nicht mehr lange.“, murmelte er. Annie wagte es nicht einmal nachzufragen, was er damit meinte.

„Sie kommen gleich. Es gab eine kleine... Komplikation mit unserem... Gefangenen.“, sagte er langsam.

Augenblicklich erstarrte Annies Gesicht, doch als sie das Grinsen sah, welches sich augenblicklich in Semerloys Gesicht stahl, riss sie sich zusammen und versuchte ihn gleichgültig anzusehen. Er hatte nur auf ihre Reaktion gewartet.

„Gibt es ein Problem?“, fragte er weiter.

„Nein. Ich frage mich nur, wie diese Komplikation wohl entstanden sein mag.“, antwortete sie fast ein wenig zu scharf. Daraufhin zuckte Semerloy bloß mit den Schultern und wandte sich ab. „Ich denke, da kommen sie.“

Verwirrte blickte Annie nach vorn und konnte dann tatsächlich Schritte und Stimmen hören. Es waren John Barrington und Alexander und offenbar diskutierten sie über etwas.

„So etwas habe ich noch nicht erlebt! Wie konnte er es nur wagen! Dafür wird er bezahlen, das schwöre ich und zwar bitterlich!“, sagte Barrington so laut, dass Annie es bereits von weitem hören konnte. Sofort bekam sie Angst und versuchte aus Alexanders Antwort herauszufinden, um wen es ging. Natürlich konnte sie es sich bereits denken.

„Sir, ich bin sicher, er hat nicht aus Respektlosigkeit gehandelt und ganz gewiss nicht, um euch anzugreifen. Er nimmt nur seine Arbeit sehr ernst, das ist alles.“

„Seien sie bloß still!“, fauchte Barrington ihn an. „Ich könnte durchaus auf die Idee kommen, dass sie es sogar begrüßen, dass er nun für Tage nicht nach dem Pferd sehen kann!“

Annie sah nun die beiden Männer und Alexander hob gerade abwehrend die Hände. „Sir, nichts liegt mir ferner. Ich wünsche mir, dass Hera ein Fohlen bekommt, was nur ihnen gehört. Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies wohl die einzige Chance ist und dafür bin ich dankbar. Ich hege den leisen Wunsch, dass sie dann etwas umgänglicher werden könnte.“

„Sparen sie sich das! Ich habe genau gesehen, wie besorg sie um ihn waren! Das Tier ist ihnen vollkommen egal!“

Alexander blieb stehen und Annie bekam es mit der Angst zu tun. Wovon sprachen sie? Was war geschehen?

„Ich muss ihnen wiedersprechen.“, sagte ihr Bruder mit fester Stimme. „Hera ist mein bestes Pferd und ich würde es nur sehr ungern sehen, wenn ihr Schaden wiederfährt. Natürlich bin ich ein wenig besorgt um ihn. Schließlich ist er der einzige der sich um sie kümmern kann. All ihre anderen Männer scheinen nicht in der Lage zu sein, sie zu beruhigen. Sie lässt sie ja nicht einmal in ihre Nähe.“

„Wollen sie etwa sagen, dass mein Männer unfähig sind, sich um sie zu kümmern?“, fragte John Barrington mit Grabesstimme.

Alexander schüttelte den Kopf. „Mitnichten. Ich habe ihre Pferde gesehen und ihre Männer leisten exzellente Arbeit. Nur scheint Hera keinen von ihnen zu akzeptieren und für ein Fohlen ist es wichtig, dass sie sich wohlfühlt. Es wäre schlichtweg Schade, wenn ihr Wunsch ein Fohlen von ihr zu bekommen oder vielleicht sogar mehrere, nur daran scheitert, dass niemand zu ihr gelangt. Deswegen war ich so schnell bei ihm. Er ist nun mal der Einzige, der sie zu verstehen scheint, dem sie vertraut. So verrückt es auch klingen mag. Ich sagte ihnen bereits, dass wohl an seinem Schwachsinn liegen muss.“

Daraufhin sagte Barrington nichts, sondern drehte sich um und sah Annie.

„Was willst du hier?!“, fragte er und klang entnervt.

„Die Weinprobe, Sir.“, sagte sie und verbeugte sich leicht. „Wenn ihr es erlaubt, würde ich gern daran teilnehmen. Außerdem habe ich einen Vorschlag zu unterbreiten.“ Annie schluckte heftig. Sie hatte einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt gewählt. Barrington war bereits jetzt schon wütend und aufgebracht. Er würde es sicherlich ablehnen.

„Ich rate euch mich heute nicht noch mehr zu provozieren.“, knurrte er und Annie warf ihrem Bruder einen raschen Blick zu. Dieser schüttelte leichte den Kopf. Er würde es ihr nicht erzählen, dachte sie. In den letzten Wochen verschwieg er ihr immer mehr. Sie wusste zwar, dass er es zu ihrem Schutz tat, aber sie konnte nicht richtig dankbar dafür sein. Sie malte sich nur immer schrecklichere Bilder aus.

John Barrington entriegelte die Tür, die nur durch einen einfachen Balken gesichert war. Anscheinend machte er sich keine Sorgen darum, ob jemand seinen Wein anrührte oder nicht. Es würde wohl ohnehin niemand wagen. Kaum hatte Annie den Weinkeller betreten wurde die Luft um sie herum kühler und es roch nach vergangenen Jahren. Aber auch der Alkoholgeruch der bereits geöffneten Fässer lag schwer in der Luft oder aber von jenen Momenten in denen doch etwas verschüttet worden war. Genau konnte es Annie nicht sagen. An den Wänden waren die Fackeln zuvor schon entzündet worden und tauchten den sonst so düsteren Raum in ein warmes Licht.

Links und rechts waren die Wände von schweren, fest verschlossenen Fässern gesäumt. Die langen Reihen ließen die Raum schmaler erscheinen, als er eigentlich war. Dennoch war er immer noch groß genug, damit vier Leute nebeneinander Platz fanden. Vereinzelt standen einige Fässer vor den Reihen. Diese waren in Benutzung. Zu viert gingen sie auf die neun Fässer zu, die fast am Ende des Raumes standen.

„Neun Fässer? Dann muss der Wein ja wirklich fantastisch sein, wenn sie mir so viele davon zukommen lassen.“, sagte Barrington und klang schon weitaus besänftigter.

„Von mir stammen nur fünf, Sir.“, sagte Alexander und bevor Barrington etwas erwidern konnte, fügte er an: „Die anderen vier sind von meiner Schwester. Sie bat mich zusätzlich um diese Fässer. Der Wein ist von minderer Qualität.“

Barrington drehte sich zu ihr um und das Funkeln und der Zorn schienen sofort zurück zu sein. „Die Fässer sollen natürlich nicht für euch bestimmt sein.“, sagte Annie hastig. „Nie würde es mir einfallen, euch so etwas zuzumuten.“ Sie verbeugte sich leicht um ihre Unterwürfigkeit zu demonstrieren.

„Und was haben diese Fässer, dann in meinem Weinkeller verloren?“, fragte Barrington scharf.

„Das möchte ich euch gern erklären, doch vielleicht probiert ihr erst einmal von denen, die mein Bruder euch mitbrachte. Er möchte sicher wissen, ob er euren hohen Ansprüchen gerecht werden kann, bevor ihr euch mir zuwendet.“, sage sie demütig.

„Nun gut, ich will auch nicht länger warten. Der Morgen war schließlich furchtbar genug.“ Jonathan Semerloy reicht Barrington zwei silberne Kelche, die er vom Deckel eines anderen Fasses genommen hatte. Dann wies Barrington Alexander an: „Öffnet ein Fass.“

Dieser nahm den langen Eisenstab, der vor den Fässern gelegen hatte und setzte die schmale Seite am Decke des Weinfasses an. Er vollführte einige Hebelbewegungen und der Deckel gab wenige Augenblicke später lautlos und geschmeidig nach. Kaum war der Decke zur Seite genommen worden, konnte man das feine Aroma des Weines riechen.

„Es riecht schon einmal sehr vielversprechend.“ lobte Barrington und auch Annie konnte nicht umhin das anzuerkennen. Dabei war ihr bisher jeglicher Alkohol zu wieder gewesen, seit sie das Kind unter ihrem Herzen trug. Nur hin und wieder trank sie einen Schluck, weil es ihr von Doktor Storm wirklich empfohlen worden war.

„Bitte, Sir.“, sagte Alexander bescheiden und trat einen Schritt zu Seite. Barrington und Semerloy tauchten beide ihre silbernen Kelche in das Fass und rochen dann noch einmal prüfend an dem Wein. „Sehr süß, nicht unbedingt mein Geschmack.“, sagte Jonathan Semerloy und Annie sah auf dem Gesicht ihres Bruders, dass sein Lächeln gefälscht war. „Trinken sie nur erst einmal einen Schluck. Ich bin sicher, sie werden nicht enttäuscht sein.“, antwortete er höflich.

Die beiden Männer tranken und schmeckten den Wein mit ihrer Zunge nach. Nach einem Moment des Schweigend nickte John Barrington schließlich. „Nicht schlecht.“, sagte er und trank ganz aus. Dann nahm er sich noch ein zweites Mal nach.

„Das Aroma ist süß und die Kirschen schmeckt man heraus. Aber sobald er Gaumen und Kehle erreicht, wird er leicht säuerlich und herb. Genauso, wie ein guter Wein sein sollte. Er ist schwer und perlt am Rand herab. Die Farbe allein ist einmalig. Selten habe ich Wein von solch einen intensiven, dunklen Rot gesehen. Man gewinnt fast den Eindruck es handle sich um Blut.“, lobte Barrington. „Was meint ihr Jonathan?“

„Auch wenn es mir nicht gefällt, so muss ich euch doch recht geben. Ich mag süße Weine nicht und ich kenne Kirschwein zur Genüge, doch dieser hier war sehr überraschend.“, konnte er auch nicht anders urteilen. Alexander atmete tief aus und Annie konnte seine Erleichterung förmlich spüren. Dass sie den Wein akzeptierten und für gut befanden, war äußerst wichtig. Jetzt musste sie ihn nur noch von ein paar anderen Dingen überzeugen.

„Ich freue mich, dass dieser Wein ihnen so mundet.“, sagte Alexander. „Ich bin sicher ihre Gäste werden in den höchsten Tönen von ihnen sprechen, wenn sie die Gelegenheit haben ihn zu probieren.“

„Meine Gäste? Ich denke nicht, dass ich diesen Wein mit ihnen teilen werde.“, sagte Barrington und Annie blieb das Herz fast stehen. „Da trinke ich ihn doch lieber allein.“

Alexander lachte kurz. „Verzeiht, Sir, aber ich kann euch beruhigen. Wenn ihr die Befürchtung habt, dass nicht genügend von dem edlen Tropfen für euch bleibt, so kann ich gern noch einmal ein paar weitere Fässer liefern lassen. Mein Freund hat noch jüngere Jahrgänge, die diesen hier aber in nichts nachstehen. Ich bin sicher, er würde die Ehre zu schätzen wissen, wenn ihr seinen Wein an eurem Ehrentag serviert.“

„Nun, wenn das so ist, dann bringt mir noch fünf weitere Fässer. Ich denke, das dürfte genügen. Wann und wie wird der Wein hergestellt?“, fragte John Barrington sehr interessiert.

„Im Sommer werden die Kirschen geerntet und handverlesen, selbstverständlich. Die Gärung geschieht den ganzen Herbst und Winter über, in drei Mal so großen Fässern wie diesen hier. Erst dann werden sie abgefüllt, um in diesen Fässern noch ein weiteres Jahr oder auch zwei zu reifen, bevor es getrunken werden kann.“

„Ich würde mir das gern einmal anschauen. Die Herstellung von gewöhnlichem Wein kennt man ja zur Genüge, aber ich würde gern sehen, was ihr Freund noch dazugibt.“

„Natürlich, Sir. Wenn sie wünschen kann ich gleich einen Termin vereinbaren, wenn ich die weiteren fünf Fässer bestelle.“

„Wunderbar! Sie sind ja doch zu etwas zu gebrauchen!“, rief Barrington und nahm noch einmal einen vollen Kelch nach, den er in einem Zug leerte.

„Schon besser.“, sagte er dann mehr zu sich selbst, als zu jemand bestimmtes. Semerloy hatte seinen Kelch noch immer in der Hand und nippte kurz daran. Sein Blick blieb auf Annie haften, ganz so als würde er auf etwas warten.

„Was hat es mit den anderen Fässern auf sich?“, fragte Jonathan Semerloy deswegen und auch Barrington wurde hellhörig. „Ich rate euch, dass es einen guten Grund dafür gibt, warum sich minderwertiger Wein in meinen Räumen befindet sollte. Meine Geduld ist heute sehr dünn.“, sagte er drohend.

„Nun...“, begann Annie zaghaft. „Da es solch ein ehrenvoller Tag ist, dachte ich, dass wir vielleicht auch die Bediensteten daran teilhaben lassen sollten.“

Schweigend und mit eiskaltem Blick sah ihr Gegenüber sie an, doch Annie sprach mutig weiter. Zu viel hing davon ab. „Würdet ihr diesen Tag mit ihnen feiern und sei es auch nur durch einen Schluck Wein, den ihr ihnen gönnt, würden sie euch noch mehr schätzen und noch härter für euch arbeiten. Sie würden alles für euch tun, nicht aus Angst, sondern aus Dankbarkeit und Respekt. Da bin ich mir sicher.“

Spöttisch zog sich einer von Barringtons Mundwinkel nach oben. „Ich habe noch nie etwas schwachsinnigeres gehört.“, sagte er dann. „Ihr amüsiert mich. Mir ist egal, aus welchen Gründen sie mir gehorchen, Hauptsache sie tun es. Ich werde sie nicht verwöhnen, nur um Treue von ihnen zu bekommen. Da habe ich meine ganze eigenen Methoden.“ Er grinste bei diesen Worten und Annie war nicht einmal überrascht. Natürlich hatte sie mit dieser Antwort gerechnet. Aber sie hatte es versuchen wollen, denn die andere Möglichkeit behagte ihr noch weniger. „Natürlich, ihr habt recht. Ich werde die Fässer wieder entfernen und wegkippen lassen.“, sagte sie und verbeugte sich tiefer als zuvor.

„Eure neue Art gefällt mir, obwohl ich das widerspenstige lieber mochte. Ich hoffe ihr gedenkt nicht so zu bleiben, das würde mich zu schnell langweilen.“

„Ganz gewiss nicht.“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. Barrington musterte sie und brach dann in schallendes Gelächter aus. „So gefällt mir das schon besser! Ich hoffe eurer Geschenk ist genauso... interessant, wie das eures Bruders.“

„Selbstverständlich.“, log sie ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte nicht einmal darüber nachgedacht, dass sie ihm auch etwas schenken müsste.

„Aber den Wein wegkippen, auch wenn er von minderer Qualität ist... Ich frage mich, ob das nicht eine Verschwendung wäre. Vielleicht könnte man ihn weniger liebsamen Gästen servieren.“

„Es liegt ganz bei euch.“, erwiderte Annie. „Ich werde tun, was ihr wünscht.“ Sie schlug die Augen nieder.

„Wunderbar! Ich denke darüber nach.“ Barrington lachte immer noch, als er sich dem Ausgang zuwandte. „Alexander sie kommen mit mir. Hera muss heute noch ihrem Partner begegnen, nicht das alles für umsonst war. Sie werden das heute machen. Ich hoffe man hat ihn inzwischen schon fortgeschafft.“, sagte Barrington und klang weit weniger amüsiert. Trotzdem sah Annie ein schiefes Grinsen auf seinem Gesicht. Sie musste tief durchatmen, um nicht augenblicklich danach zu fragen, was vorgefallen war.

Stattdessen wandte sie den Blick ab und sah sich Jonathan gegenüber. Schweigend sahen sie sich einen Moment an.

„Wie kommt ihr darauf den Bediensteten etwas schenken zu wollen?“, fragte er sie und sie konnte nicht einmal sagen, dass Spott in seiner Stimme lag.

„Warum nicht? Sie sind nicht viel schlechter als wir. Ihnen verdanken wir, das bequeme Leben, welches wir jeden Tag führen. Man muss sie nur einmal beobachten und man bekommt einen kleinen Eindruck dessen, was sie wirklich vollbringen. Ich glaube, wir wissen es nicht zu schätzen. Es kann nicht schaden, ihre Arbeit ein wenig anzuerkennen. Ich bin sicher, wir würden nur davon profitieren.“, erwiderte sie ehrlich.

Auf sein Gesicht zog sich ein Lächeln. „Das gefällt mir und ich kann euch nur recht geben.“, sagte er, doch er sah sie dabei nicht an. Seine Gedanken schienen ganz wo anders zu sein.

Verblüfft sah Annie ihn an. Sie hatte nicht damit gerechnet, sondern eher damit, dass er sich genauso über sie lustig machen würde, wie Barrington.

„Danke.“, sagte sie trotzdem.

„Ihr seht in allem immer nur das gute oder?“, fragte er sie schließlich und nun war sie noch erstaunter.

„Ich versuche es.“ Sie wusste nicht, warum sie ihm ehrlich antwortete. Vielleicht weil sie sich dadurch von ihm unterscheiden wollte.

„Seht ihr auch in mir etwas Gutes?“

„Ich habe die Suche danach schon längst aufgegeben.“, antwortete sie ohne Umschweife.

„In der Tat.“, erwiderte er und bildete sie sich das ein oder war er tatsächlich ein wenig gekränkt?

„Glaubt ihr aber, ich habe es jemals besessen?“, fragte er weiter. Fragend sah sie ihn an. Was sollte das? Versuchte er etwa eine Unterhaltung mit ihr zu führen?

„Ich weiß es nicht.“, antwortete sie. „Ich kann es mir schwer vorstellen. Vielleicht, bevor ihr John Barrington kennenlerntet.“

Jetzt zog sich ein spöttisches Lächeln über seine Lippen. „Vielleicht habt ihr recht.“

„Wie kommt es dass ihr so...“

„Was? Dass ich so nett sein kann?“

„Nein, ich wollte sagen, menschlich.“

Jetzt musste er wirklich lachen, wurde aber gleich wieder ernst. „Das ist eure schuld.“, gab er zu und Annie glaubte sogar, dass er sie anzwinkerte. Doch kaum hatte er das gesagt, wurde er wieder ernst und in sich gekehrt, als hätte er sich an etwas Unliebsames erinnert. „Oder es liegt einfach an der Jahreszeit.“, fügte er leise an. Doch bevor sie Gelegenheit hatte etwas zu erwidern oder nachzufragen, änderte sich sein Gesichtsausdruck abermals und der Mann mit dem sie sich gerade beinah normal unterhalten hatte, schien verschwunden.

„Wolltet ihr nicht etwas von dem Wein?“, fragte sie schließlich und hielt ihr den Kelch hin.

„Ja, das wollte ich, aber...“ Ganz bestimmt werde ich mit dir nicht aus einem Becher trinken. Amüsiert schaute er sie an.

„Manchmal seid ihr wirklich leicht zu durchschauen und dann seid ihr wieder so geheimnisvoll wie das innere eines Kunstwerks.“, sagte er und Annie wusste nicht, ob es ein Kompliment war oder eher eine Beleidigung.

„Ihr kennt euch mit Kunst aus?“, entfuhr es ihr, weil es sie wirklich überraschte.

„Ja.“, antwortete er und schien mit seinem Blick wieder wo ganz anders zu sein. „Ich habe es sogar studiert, auch wenn ihr mir den Intellekt wohl nicht zugetraut hättet. Sogar vier Jahre lang. Kunst und Architektur, es war recht... interessant.“

„Wie kam es dazu?“

Er zuckte mit den Schultern, doch in seinen Augen lag auf einmal eine tiefe Traurigkeit. Plötzlich kam Annie Semerloy verändert vor oder sie sah ihn anders. Vielleicht war dieser Mann wirklich einmal ein anderer gewesen. Nicht so ein Scheusal. Sie glaubte einen kurzen Blick auf den Mann zu erhaschen, der ein einmal gewesen war. Doch was war geschehen, dass ihn dann so veränderte?

„Ich bin erstaunt.“, sagte sie ehrlich. Doch mit ihren Worten schien der andere Mann wieder verschwunden zu sein und der ihr bekannte, selbstgefällige Jonathan Semerloy stand wieder vor ihr.

„Was ist nun? Wolltet ihr nicht einen Schluck von dem guten Wein?“

„Ich habe keinen Becher.“, sprach sie das offensichtliche aus. Er lächelte schief.

„Ich biete euch meinen an.“

„Nein, danke.“

Schweigend standen sie sich gegenüber, bis sich Jonathan Mundwinkel wieder leicht nach oben zog. „Ich könnte John sicher überreden, euren Vorschlag anzunehmen.“

„Warum solltet ihr das tun?“, fragte sie misstrauisch zurück.

„Ich mag euch, wenn es euch noch nicht aufgefallen ist. Ihr... erinnerte mich an jemanden.“, sagte er und Annie sah überrascht auf. Da war er wieder gewesen, dieser andere Mann. Seine Stimme hatte voll Sehnsucht und Schmerz geklungen. Doch es verschwand abermals so schnell, wie es gekommen war.

„Wie sollte es mir aufgefallen sein?“, fragte sie stattdessen zurück. Sie konnte nicht richtig damit umgehen, wenn er sich so ihr gegenüber verhielt. „Ihr benehmt euch nicht wie ein Gentleman in meiner Gegenwart.“

„Und trotzdem könnt ihr euch mir nicht entziehen.“, konterte er.

„Nur in euren Träumen.“, erwiderte sie sofort. Diesen Jonathan Semerloy kannte sie. Mit seinen Worten konnte er sie gewiss nicht betören.

„Das ist einer der Gründe, warum ich euch mag. Ihr sagt, was ihr denkt.“

„Ich sollte gehen.“, erwiderte sie daraufhin und wandte sich um.

„Ich dachte, ich sollte mit John sprechen.“

„Ich verzichte. Was ihr als Dank verlangt, könnte ich nicht zahlen.“

„Oh, ich verlange nichts. Es bereitet mir Freude zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln, zu erraten, was ihr vorhabt und ob es euch vielleicht gelingt, den guten John doch noch zu ändern.“

„Es liegt nicht in meiner Absicht ihn zu ändern. Das könnte niemand.“

„Da muss ich euch allerdings recht geben. Was ist nun? Nehmt ihr mein Angebot an.“, fragte er noch einmal und hielt ihr den Kelch abermals hin.

Annie wusste, dass wenn sie wollte, dass Jonathan seinen Einfluss bei Barrington ausnutzte, sie es mit dem Kelche besiegeln musste. Sie musste davon trinken.

Aber das war es auch gewesen, was sie sich insgeheim erhofft hatte. Sie hatte Jonathan Semerloys Neugier erwägt und schon fast darauf vertraut, dass er sie weiter nach ihrem Vorschlag fragen würde. Er war noch die einzige Möglichkeit, die ihr blieb um ihre Vorhaben zu realisieren. Barringtons Geburtstag war bereits in ein paar Tagen. Sie hatte schlicht keine Zeit mehr.

„Ich habe nichts weiter vor. Ich möchte diesen Ort nur erträglicher für alle machen.“, sagte sie mit fester Stimme und griff nach dem silbernen Kelch. Sie setzte ihn an und trank ohne weiter darüber nachzudenken, dass sie womöglich die gleiche Stelle berührte, wie er zuvor mit seinen Lippen. Der Wein war süß und schwer, genauso wie Barrington es beschrieben hatte. Sie nahm nur einen kleinen Schluck und spürte beinah augenblicklich, wie er durch ihren Körper floss und für eine angenehme Wärme sorgte.

Sie reichte Jonathan Semerloy den Kelch zurück und er trank den letzten Schluck. Vorher drehten der den Becher so, dass er genau aus der Stelle trank, an der zuvor ihre Lippen gelegen hatten. Ein Schauer durchlief ihren Körper, ob dieser intimen Geste.

Semerloy stellte den Becher auf eines der Fässer und lächelte sie an. Was geht wohl in seinem Kopf vor, fragte sich Annie zum wiederholten Male.

„Wir sollten vielleicht gehen, nicht das noch jemand auf falsche Gedanken kommt.“, sagte er und ließ Annie vortreten. Schweigend verließen sie den Weinkeller. Sie würde noch vorsichtiger sein müssen.

Und sie brauchte irgendein Geburtstagsgeschenk für John Barrington.
 

Sein Körper zitterte nur noch. Wann immer Draco aufwachte, bebte sein Körper, seine Muskeln, sein Fleisch. Er selbst wusste nicht, ob es nun von dem Schmerz kam oder von dem Fieber, von dem Doktor Storm gesprochen hatte. Aber es hörte nicht auf und jedes Mal, wenn er von neuem erwachte, schien es schlimmer zu sein, als zuvor.

Man hatte ihn in einen anderen Raum gebracht. Es war ein kleinerer Raum, ohne Fenster, aber vielleicht war er wärmer. So genau konnte er das nicht sagen, da ihm abwechselnd heiß und kalt war und manchmal auch beides gleichzeitig. Sein Blick war noch immer verschwommen und immer, wenn er versuchte etwas zu erkennen, wurde ihm nur noch schwindliger.

Wann würde es aufhören?, fragte er sich.

Doktor Storm kam hin und wieder, vielleicht auch regelmäßig. Draco konnte es nicht genau sagen, da er anfangs nicht einmal die Momente zwischen Traum und Wachen richtig unterscheiden konnte. Manchmal träumte er, dass Barrington zu ihm kam, einen weiteren Schnitt in seine Haut machte und wieder Blut in dem goldenen Kelch auffing. Er träumte auch von Annie oder Alexander und sie erschienen ihm immer so real. Der Mediziner legte jedes Mal neue Verbände an Arm und Hand an.

Gleichgültigkeit befiel ihn in seinem Krankenbett, wie er sie bisher nur einmal erlebt hatte: als Annie zu Barrington ging. Entweder er würde leben oder sterben.

Zum Kämpfen hatte er keine Kraft mehr.
 

Nur sehr langsam besserte sich sein Zustand. In Tagen konnte er nicht mehr zählen, nur noch in wachen Momenten und davon gab es nicht sehr viele.

Verräterischer Mond

Alexander überreichte ihr neun kleine Beutel, die Annie zwischen den Latten ihres Bettes versteckte, unter der Matratze und für niemanden zu finden. Währenddessen schrieb Alexander auf einen Bogen Pergament:

„Du musst es in die Fässer geben, bevor sie auch nur den ersten Schluck genommen haben. Lässt man dich noch einmal in den Weinkeller?“
 

Annie nickte kurz, nahm dann die Feder aus seiner Hand und schrieb ihre Antwort:
 

„Ja, ich denke schon. Jonathan hat ihn doch dazu überredet meinen Vorschlag anzunehmen. Ich werde morgen die Fässer öffnen lassen und Anweisung geben, wie es verteilt werden soll. Außerdem kann ich immer noch sagen, dass ich nachsehen will, ob wirklich alles in Ordnung ist.“
 

Die letzten paar Mal hatten sie sich bereits nur über das geschriebene Wort unterhalten. Es erschien ihnen sicherer, denn Annie verbrannte die Schriftstücke noch bevor Alexander ging. Niemand würde sie so belauschen können oder einen anderen Beweis finden. Doch jetzt zwei Tage vor dem Fest, war sie nicht sicher, ob sich nicht doch jemand in ihr Zimmer geschlichen hatte und sie belauschte. Zum wiederholten Male sah sie sich um, konnte aber natürlich niemanden entdecken.
 

„Jonathan?“, schrieb ihr Bruder ungläubig.
 

Annie nickte kurz, schüttelte dann aber den Kopf, um ihn zu bedeuten, dass er nicht weiter nachfragen brauchte. Sie wollte ihm lieber nichts von ihrem Gespräch mit diesem Mann erzählen.

Stattdessen schrieb sie:
 

Wie geht es ihm?
 

Noch immer hatte Alexander ihr nichts genaueres erzählt und während seine Hand über das Papier glitt, hielt Annie sich den Bauch und streichelte darüber. Das Kind bewegte sich leicht. Sie wusste, dass es für sie beide besser war, je weniger sie über Dracos Zustand erfuhr, aber es nicht zu wissen machte sie fast verrückt.
 

Etwas besser., schrieb Alexander und sie atmete erleichtert auf.
 

Er ist länger bei Bewusstsein und ich denke er wird den Weg bis zum Tor schaffen. Dort werde ich mit Hera auf euch warten. Wir müssen ihn nur irgendwie auf ihren Rücken bekommen, den Rest macht sie.
 

Annie nickte, dann nahm sie ihm das Papier aus der Hand und hielt es gegen die brennende Kerze. Nachdem alles verbrannt war, unterhielten sie sich über anderes.

Susans Schwangerschaft neigte sich dem Ende und in den letzten Wochen hatte sie das Bett kaum verlassen können. Das wusste Annie. Susan gab sich noch immer die Schuld an dem was mit Draco geschehen war und auch wenn Alexander mit ihr nicht über Draco sprach, nahm sie es scheinbar doch sehr mit. Annie konnte Alexanders Sorge deutlich aus seiner Stimme hören, vor allem die, ob die Schwangerschaft seiner Frau gut enden würde. Annie drückte seine Hand und versuchte ihm so Mut zu machen, dabei besaß sie selbst nicht besonders viel davon.

Über das, was mit ihnen allen geschehen würde, würde Dracos Flucht misslingen, sprachen sie nicht.

Es würde für keinen von ihnen ein Danach geben.
 

Auch die nächsten zwei Tage vergingen. Annie hatte es noch nicht geschafft in den Weinkeller zu gelangen. Sie selbst hatte sich gestern ganz seltsam gefühlt und alles war ihr zu anstrengend gewesen. Als sie es dann aber doch gewagt hatte, war ihr Barrington entgegen gekommen und sie hatte einfach nicht die Kraft und den Mut besessen sich ihm zu stellen.

Doch heute musste es geschehen. Es war der langerwartete Tag: John Barringtons Geburtstag.

Barringtons Geburtstag war für Annie eine einzige Qual. Nicht weil sie den ganzen Tag in Barringtons Gesellschaft verbringen musste, sondern weil ihr das Herz bis zum Hals schlug. Am Vormittag befahl sie einem der Dienstboten sie in den Weinkeller zu begleiten. Sie gab die Anweisung extra laut, damit auch Barrington und Semerloy davon erfuhren. Sie war sich fast sicher, dass nur einer von ihnen kommen würde und sie ahnte auch wer.

Kaum hatte der Mann, den sie damit beauftragt hatte, die Tür zum Weinkeller geöffnet, näherte sich auch schon Semerloy und Annie wartete bis er bei ihr war.

„Was wollt ihr dort drin? Wollt ihr euch noch eine Probe des köstlichen Weines stehlen? Ihr seid wohl so ungeduldig und könnt nicht bis heute Abend warten?“, fragte er und lächelte schief. Annie konnte nicht anders als zu denken, dass er mit diesem Lächeln gut aussah.

„Ihr habt recht.“, erwiderte sie. „Ich möchte sicher gehen, dass der Wein noch genauso vorzüglich ist wie zuvor und durch die Lagerung keinen Schaden davon getragen hat. Sollte er den Herren nicht munden, würde dies ein schlechtes Licht auf meinen Bruder werfen und das möchte ich vermeiden. Außerdem wollte ich dem Dienstboden Anweisung geben, wie mit dem Wein für die Dienerschaft zu verfahren ist. Ich danke euch, dass ihr John schließlich doch noch von diesem Vorschlag überzeugen konntet.“

Jonathan Semerloy zuckte mit den Schultern. „Ich werden euren Dank noch anderweitig einfordern.“, erwiderte er bloß und in diesem Moment hasste sie ihn wieder.

Annie verbiss sich ein Kommentar und betrat den Keller. „Ich nehme an ihr werdet mich begleiten.“, sagte sie, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen.

„Wenn ihr mich so nett darum bittet.“, erwiderte er und folgte ihr.

Dieses Mal hatte Annie daran gedacht sich einen eigenen Becher mitzubringen. Sie tauchte ihn in die dunkelrote Flüssigkeit und nippte leicht an dem Getränk. Der Wein schmeckte noch genauso vorzüglich wie zuvor, dachte sie zufrieden. Im Gegensatz zum vorherigen Mal, war Jonathan Semerloy recht schweigsam. Annie störte dies nicht im Geringsten. Sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und dem was sie gedacht zu tun. Heute Nacht würde es endlich so weit sein, dachte sie still und drehte den Kelch zwischen ihren Finger. Immer wieder betete sie dafür, dass es gelingen würde. Sie wollte und konnte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde wenn nicht.

„Was für ein Geschenk habt ihr für John?“, sagte Semerloy plötzlich.

„Ich habe eine Tanztruppe bestellt. Sie sind im Moment in der Stadt und sehr beliebt bei den Leuten.“

„Und ihr glaubt wirklich, dass sie Johns Ansprüchen und denen seiner Gäste gerecht werden können?“, fragt er spöttisch.

„Das glaube ich schon. Alexander und Doktor Storm haben sie mir beide empfohlen.“

„Ihrem Bruder hätte ich so etwas gar nicht zugetraut. Bei Doktor Storm allerdings weiß man ja nie.“, fuhr er fort.

„Was soll das heißen?“, fragte sie irritiert. Sie vertraute diesem Arzt vollkommen. Solch eine Aussage passte nicht dazu.

„Nichts.“, erwiderte er. „Ich kenne ihn eben schon ein wenig länger als ihr.“ Annie dachte kurz an die Dinge, die Doktor Storm ihr erzählt hatte. Dennoch klang Jonathan Semerloys Aussage sehr vertraut.

„Ich denke nicht, dass es sich um solche Tänzer handelt, die ihr vielleicht gerade im Sinn habt.“, sagte sie schließlich scharf. Konnte dieser Mann an nichts anderes denken?

„Ach nein?“

„Nein, sie sollen sehr ästhetisch sein und in ihrer Kunst sehr gut. Ich bin sicher, sie werden ihrem Ruf gerecht werden.“

„Das hoffe ich für euch, aber ihr hättet John eine viel einfachere Freude machen können, indem ihr ihm ein paar hübsche Damen auf sein Zimmer geschickt hättet.“ Abwartend sah er sie an. Annie wusste, dass er sie damit nur provozieren wollte.

„Ich dachte, das wäre eurer Geschenk.“, sagte sie schließlich und war über ihre eigene Antwort überrascht. Seit wann war sie so gerade heraus?

Jetzt lachte er laut und sah sie mit blitzenden Augen an. „In der Tat, das wird meines sein. Es ist so einfach ihn zufrieden zu stellen. Man muss nur wissen, was man zu tun hat und man wird von ihm in Ruhe gelassen. So ist es doch oder nicht?“, fragte er sie. Seine Worte hatten sie schon wieder irritiert.

„Das klingt nicht gerade so, als sei euch viel an dieser Freundschaft gelegen.“

Jonathan Semerloy zuckte abermals mit den Schultern, dann ging er an ihr vorbei. „Beeilt euch mit den Anweisungen. Die ersten Gäste werden bald hier sein und wenn John euch dann noch hier findet, werde ihr nicht so viel Glück haben.“ Mit diesen Worten verließ er den Keller und ließ sie allein zurück.

Annie wusste nicht mehr, was sie über diesen Menschen denken sollte. Bisher war er ihr als ihr größter Feind erschienen, noch gefährlicher als John Barrington selbst. Aber in den letzten Wochen schien es fast, als wäre er ein anderer. Als würde er ihr eine Seite von sich zeigen, die sie nicht einmal an ihm vermutet hätte. Heftig schüttelte sie den Kopf. Sie hatte nun weitaus wichtigere Dinge zu tun, als sich um ihn Gedanken zu machen.

„Komm her.“, rief sie kurz. Der Diener, der zuvor draußen gewartet hatte, trat ein. „Öffne die Fässer. Alle.“, befahl sie. Der Mann machte sogleich an seine Arbeit und öffnete die Fässer, die Alexander gebracht hatte. Sie würde ihrem Mann nur einen Gefallen erweisen, würde ihre Antwort sein, wenn man sie fragte, warum sie auch die anderen Fässer öffnen ließ. Nachdem die Fässer alle geöffnet waren, gab sie dem Mann kurz Anweisungen.

„Diese Fässer hier“, sagte sie und deutet auf die, die abseits standen, „sind für die Dienerschaft. Mein Mann möchte, dass ihr diesen feierlichen Tag mit ihm zusammen begeht. Du bekommst die Verantwortung, dass jeder mindestens drei Kelch voll von diesem Wein erhält. Egal, welches Alter oder Geschlecht er hat. Heute ist ein großer Tag und er soll von allen angemessen gefeiert werden. Suche dir ein paar Männer, die du mit nach unten nehmen wirst und die den Wein in Krüge füllen und dann verteilen.“

Mit großen Augen sah der Mann sie an. Es war offensichtlich, dass er nicht glauben konnte, was er da hörte. „Hast du verstanden?“, fragte sie deswegen.

„Ja, Mylady. Danke, Mylady.“, stammelte er und verbeugte sich tief. Kurz hatte Annie ein schlechtes Gewissen, dass sie diese Männer für ihre Zwecke missbrauchte, aber sie würden ja keinen längeren Schaden davon tragen, sagte sie sich selbst.

„Ihr könnt gehen.“, befahl sie dem Mann anschließend.

„Aber, die Fässer...“, begann er zu wiedersprechen und deutete unsicher auf die Deckel. „Das ist in Ordnung. Der Wein wird ohnehin bald in Krüge gefüllt.“ Sie hoffte, dass er ihre Worte so annehmen würde. Sie hatte ihm ja gerade erzählt, dass auch er etwas von den Wein bekommen würde. Sicher würde er dann nicht so töricht sein und versuchen ihr weiter zu wiedersprechen.

Sie sollte recht behalten. Er verbeugte sich noch einmal tief vor ihr und verließ dann den Keller. Annies Herz schlug ihr nun bis zum Hals und sie sah sich noch einmal um. Er hatte die Tür hinter sich leicht geschlossen. Sie konnte zwar keine Geräusche vom Gang hören, dennoch ging sie noch einmal zu Tür und schaute den Gang hinauf. Fast hätte sie erwartet Jonathan Semerloy zu sehen, doch sie war allein.

So schnell es ihr möglich war ging sie zu den Fässern zurück. Jetzt musste sie sich beeilen, damit sie nicht zu lange im Keller blieb und es doch auffiel. Annie raffte ihre Röcke nach oben und schlug schließlich die Innenseite um. Sicher griff sie zu dem losen Faden, der die angenähte Tasche zusammenhielt.

Erst diese Nacht war ihr eine Möglichkeit eingefallen, wie sie die Beutel unbemerkt in den Keller schaffen konnte. Sie hatte aus einem Stück Stoff, den sie eigentlich hatte besticken wollen, um daraus ein Kissen zu machen, eine Innentasche für ihr Kleid gemacht. Erst hatte sie es so angenäht, dass nur noch eine Öffnung geblieben war. Dann hatte sie die Beutel hineingelegt und anschließend den Rest vernäht. Das Ende des Fadens hatte sie jedoch nicht verknotet, sondern offen gelassen. So konnte sie es nun schnell auftrennen.

Es war ein wenig umständlich gewesen, damit zu laufen, aber trotzdem hatte niemand etwas bemerkt. Einen nach dem anderen holte sie die Beutel hervor und ließ sie sanft auf den Boden falle Sie konnte nicht alle auf einmal tragen. Es war umständlicher, nun da sie das Kleid trug, dennoch gelang es ihr irgendwie. Sie musste hinterher jedoch einen Moment ausruhen. Das ganze hatte sie bereits jetzt viel Kraft gekostet. Was würde sie erst heute Abend tun? Aber daran wollte sich nicht denken. Eines nach dem anderen, sagte sie sich.

Langsam bückte sie sich nach den Beuteln und sammelte die ersten in ihrer Hand. Auch diese waren mit einem einfachen Fadenstich geschlossen worden, den sie mühelos mit den Zähnen auftrennen konnte. Kurz schnupperte sie an dem Inhalt, zog die Nase jedoch schnell wieder weg. Alexander hatte ihr nicht gesagt was darin war, aber der Geruch war stechend. Und wenn es nun Auswirkungen auf dem Geschmack des Weines hatte?, überlegte sie. Sicher nicht, sonst hätte Alexander es ihr nicht gegeben, beruhigte sie sich selbst. Alexander hatte gesagt, es würde mit dem Wein zusammen sein übriges tun.

Ohne weiter darüber nachzudenken oder zu zögern, schüttete sie den Inhalt des ersten Beutels in ein Fass. Das Pulver sah in dem schwachen Licht fast schwarz aus. Sobald sie ganz sicher war, dass der Beutel leer war, ging sie zum nächsten Fass und präparierte auch dieses. Das gleiche geschah auch mit den anderen sieben Fässern. Die leeren Beutel versteckte sie wieder in der Innentasche ihres Kleides. Dann verließ sie den Weinkeller.

Jetzt lag es nicht mehr in ihrer Hand.
 

„Schon besser, schon viel besser.“, murmelte Doktor Storm leise vor sich hin, während er Dracos Hand untersuchte. Müde beobachtete Draco den Mann, den er nun täglich sah. Zumindest, wenn er bei Bewusstsein war. Dann seufzte Doktor Storm. „Allerdings ist es ebenso gut sichtbar und eindeutig.“, fuhr er fort.

Draco entzog ihm seine Hand und sah sich seine Handfläche das erste Mal selbst an. In dem Verließ hatte er nicht viel erkannt und dann war seine Hand immer verbunden. Er war dankbar dafür gewesen, wusste er doch nicht, was ihn erwarten würde. Doch jetzt, glaubte er sich dem stellen zu können. Er wollte wissen, was Barrington für immer auf seinen Körper gebrannt hatte.

Über seine gesamte Handfläche verlief ein Kreis. Das Innere war verziert mit Ranken und Blättern. Darin verschlungen die Buchstaben J und B und diese lagen wiederum hinter zwei sich kreuzenden Schwertern.

Das Fleisch war noch immer rot und laut Doktor Storm hatte es sich entzündet. Die Blasen waren zwar fast verschwunden, dafür hatte sich an einigen Stellen Eiter gebildet. Diesen hatte Doktor Storm in den letzten Tagen immer wieder abgetragen und die Wunde gereinigt. An die Prozedur hatte sich Draco gewöhnt und ihm wurde nicht mehr ganz so schlecht dabei. Dennoch hatte er dauerhaft das Gefühl sich übergeben zu müssen.

„Es ist nicht ungewöhnlich, dass Verbrecher gebrandmarkt werden, aber dafür gibt es andere Zeichen. So eines wird normalerweise nur für Kühe oder Pferde gemacht, aber selbst dafür ist es sehr prächtig. Barrington zeigen, dass er dich besitzt. Ganz so wie ein Stück Vieh.“

Draco ließ seinen Arm sinken. Er musste ihm das nicht erklären. Das hatte er auch so verstanden.

Nachdem Barrington die Buchstaden, die er in seinen rechten Arm geritzt hatte, auch wieder herausgerissen hatte, musste er ihn irgendwie anders kennzeichnen. Was wäre da besser geeignet gewesen, als das, was er auch für sein Vieh nahm? Nichts anderes war er schließlich für diesen Mann.

Doktor Storm fuhr damit fort, die Wund zu desinfizieren und trug wieder etwas von der Salbe auf. Immer noch wirkte sie angenehm kühlend auf seine Haut und Draco genoss das Gefühl regelrecht, wenn die Hitze in seinem Arm ein wenig nachließ.

Nachdem die Hand wieder verbunden war, wandte sich Doktor Storm dem rechten Arm zu und verband auch diesen neu. Barrington hatte davon abgesehen, Draco aufzusuchen und von seinen Blut zu stehlen. Zumindest glaubte Draco dies. Er wusste nicht, ob seine Träume nicht doch Wirklichkeit gewesen waren.

Zum Schluss löste Doktor Storm noch etwas von dem weißen Pulver in Wasser auf. Draco kannte es inzwischen und hatte sich an den Geschmack gewöhnt. Durch dieses Pulver war sein Fieber heruntergegangen und hatte ihm geholfen sich schneller zu erholen. Dabei wusste er nicht einmal, was genau in dem Pulver war. Es war seltsam was er inzwischen zu sich nahm, ohne nach dem Inhalt zu fragen. Es war seltsam, wie sehr er diesem Mann vertraute, dachte er.

Bevor Doktor Storm ging sah er Draco noch einmal prüfend in die Augen.

„Ich gebe dir nichts mehr von dem Opium.“, sagte er schließlich. „Ich habe die letzte Male die Dosis schon immer so klein wie möglich gehalten und schon vor zwei Tagen begonnen ganz darauf zu verzichten. Fühlst du dich nach dem Aufwachen immer noch leicht benommen?“, fragte er Draco, doch dieser starrte ihn weiterhin nur ausdruckslos an. Auch wenn er ihm vertrauen mochte, würde er nicht mit ihm sprechen.

„Es wird vorbei gehen.“, sprach Doktor Storm weiter. Er begann seine Sachen wieder in seine Tasche zu packen und erhob sich. Draco hatte die Augen bereits schon wieder geschlossen, doch er spürte dass der Blick des älteren Mannes noch immer auf ihm ruhte. Also sah er ihn an.

„Ich kann verstehen, warum Barrington so fasziniert von dir ist.“, hörte Draco den Arzt sagen. „Du kannst nichts dafür, es ist dein Aussehen. Niemand würde dir den Schwachsinnigen glauben. Deine Augen sprechen von zu viel Weisheit.“

Mit diesen Worten drehte sich Doktor Storm um und verließ das Zimmer. Die Holztür fiel hinter ihm zu und Draco war wieder allein. Behutsam drehte er sich zur Seite, so dass sein Körper mit dem Rücken zur Wand lag und er die Tür im Blick hatte. Seine Augen schlossen sich jedoch wie von selbst. Weisheit? Was war das? Wie konnte es in seinen Augen sein? Was war das besondere daran?, fragte er sich zum wiederholten Male.

Abermals driftete er langsam in den Schlaf an. Er tat nichts anderes mehr, so schien es ihm. Ihm war ständig schwindlig und er war müde. Er wünschte es würde endlich enden. Das erschien ihm besser, als diese Hilflosigkeit und das Warten.
 

Mehr als hundert Leute, fast ausschließlich Männer, füllten die große Halle.

Es war früher Abend und die Gäste waren vor wenigen Augenblicken vollzählig geworden. Jeder von ihnen hatte John Barrington begrüßt und sein Geschenk überreicht oder es aber angekündigt, wenn es aufgrund der Größe nicht mitgebracht werden konnte und es gesondert zu ihm kommen würde.

Annie hatte schweigend neben ihrem Mann gesessen und die Augen niedergeschlagen, wenn sich einer von Barringtons sogenannten Freunden ihnen genähert und ihren Gatten begrüßt hatte. Ganz so, wie es von einer demütigen Frau erwartet wurde. Natürlich wurde auch sie mit Komplimenten überhäuft, doch sie perlten wie Wasser an ihr ab. Sie gab nichts auf die verlogenen Worte dieser Männer.

Nun saßen sie alle um die lange Tafel versammelt und unterhielten sich laut. Es war ein einziges Getöse, das in Annies Ohren zu einem Summen anschwoll. Sie konnte keiner Unterhaltung ganz folgen. Nicht, dass sie mit einbezogen wurde. Sie saß neben John Barrington und hörte nur zu. Sie legte auch keinen Wert darauf sich mit seinen Gästen zu unterhalten. An diesem Abend diente sie nur dazu die Anderen zu beeindrucken, zu zeigen, dass Barrington alles haben konnte und sogar seine Nachfolge gesichert war.

Die Gespräche wurden etwas leiser, als das Essen gebracht wurde. Es war so viel, dass sich der Tisch unter der Last bog: Spanferkel, Wildschwein, gefüllte Hühner, Enten und Gänse sowie Truthähne, aber auch Rind und sogar Pferd. Das alles war zu vielfältigen Gerichten verarbeitet worden und die unterschiedlichen Gerüche füllten den ganzen Raum. Dazu wurden Kartoffeln gereicht, die die Diener einzeln auf die Teller der Gäste legten. Auch Erbsengemüse und Möhren durfte nicht fehlen, ebenso Sauerkraut und Pilze. Außerdem gab es große Teller mit scheinbar unzähligen Käsevariationen und Wurst. Zwischen den überladenen Platten standen Schalen mit Obst: Erdbeeren, Himbeeren, Weintrauben und Kirschen. Sogar die ersten sehr frühen Äpfel hatten ihren Platz zwischen all den anderen Dingen gefunden.

Annie konnte nicht anders, als schlichtweg beeindruckt zu sein. Die Küche hatte sich selbst übertroffen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie lange und vor allem wie viele Menschen dafür gearbeitet hatten.

Das schwere Essen und der Wein würden hoffentlich dafür sorgen, dass an diesem Abend ihr Vorhaben gelang, dachte Annie. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende bracht, brachten die Diener neue Krüge, die mit dem Wein gefüllt waren. Gleichzeitig wurden die Becher der Gäste erneut aufgefüllt. Nachdem jeder der Männer etwas zu trinken hatte, erhob sich Barrington und augenblicklich verstummten die Gespräche.

„Meine liebe Gäste.“, begann er und Annie musste an sich halten, nicht die Augen vor aller zu verdrehen, „Ich freue mich, dass ihr hier erschienen seid. Natürlich freue ich mich noch mehr über die zahlreichen Geschenke. Einige sind wirklich außergewöhnlich. Ganz besonders neugierig bin ich aber auf das Geschenk meiner Gattin. Ich hoffe es wird keine Enttäuschung.“, sagte er und die Gäste lachten verhalten. Offenbar wussten auch sie nicht recht, ob es nun eine Drohung war oder wirklich nur ein Scherz. Annie reckte das Kinn nach oben und sah in die Runde. Ihr Geschenk würde den Männern gefallen, davon war sie überzeugt. Wenn nicht Barrington, dann doch den anderen und das würde genügen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Sie durfte nicht vergessen, dass sie Barrington an diesem Abend zufrieden stellen musste. Er durfte durch nichts von dieser Feier abgelenkt werden. Die Männer stießen an und auch Annie nahm ihren Becher. Allerdings tat sie nur so, als würde sie davon trinken. Sie glaubte zwar nicht, dass der Wein auf sie irgendeine Wirkung haben könnte, dafür war sie einfach viel zu nervös, aber sie wollte es nicht riskieren. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie ihren Becher mit einem der anderen Männer tauschen konnte.

Erneut wurde der Wein in den höchsten Tönen gelobt und viele von den Männern tranken ihre Becher zum wiederholten Male in einem Zug leer und verlangen noch mehr. Sie alle rätselten, wie es gelingen konnte, solch einen köstlichen Wein herzustellen und Barrington versprach ihnen, das Geheimnis schon bald zu erfahren. Alexander wurde mit keinem Wort erwähnt. Barrington fühlte sich wohl beleidigt, dass Alexander die Einladung abgelehnt hatte, mutmaßte sie. Aber Susan war es in den vergangen Tagen schlechter gegangen. Doktor Storm hatte sogar davon gesprochen, dass es zu einer verfrühten Niederkunft kommen könnte, wenn sie sich nicht schonte und im Bett blieb. Alexander war stolz auf ihren Bruder und sie war ihm unendlich dankbar, dass er dennoch versprochen hatte, in dieser Nacht zu kommen und Draco fortzubringen.

Nach Einbruch der Dunkelheit wollte Alexander kommen und Hera satteln. Bis dahin, so hofften sie, würden die Stallburschen schon lange schlafen. Wenn nicht so könnte er immer noch behaupten, dass er einer von Barringtons Gästen sein und nach Hera sehen wollte. Alexander war inzwischen bei den Stallburschen bekannt und sie würde sicher keine Fragen stellen. Zumindest bis er anfangen würde sie zu satteln.

Annie legte die Hand auf den Bauch. Ihr war den ganzen Tag schon seltsam zu Mute und etwas flatterte nervös in ihrem Körper auf und ab. Sie wünschte, dass alles schon vorbei wäre. Es war einfach Wahnsinn, was sie vorhatten.

Aber um es zu verhindern, war es ebenso zu spät. Sie konnte Alexander kein Zeichen geben. Er würde kommen und Hera vorbereiten. Der Rest lag an ihr. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie dieser Tag enden konnte. Würde es gelingen wäre Draco frei. Würden sie scheitern, würden sie noch in dieser Nacht sterben. Annie glaubte sogar, dass Barrington selbst vor dem Kind nicht halt machen würde.
 

Sie schob das Essen auf ihrem Teller hin und her, damit es so aussah als würde sie etwas zu sich nehmen. Die Männer um sie herum beachteten sie gar nicht. Zu sehr waren sie in ihrer eigenen Großartigkeit vertieft und prahlten mit immer mehr Schätzen, Frauen, Jagdbeuten oder was ihnen sonst noch einfiel. Es war ein dekadenter Abend und Annie vermisste das einfache Leben in ihrer Hütte einmal mehr. Dort hat es das alles nicht gegeben und sie war trotzdem glücklich gewesen, auch wenn sie am Anfang ein wenig einsam gewesen war. Sie würde die Einsamkeit diesem Schauspiel jederzeit vorziehen, dachte sie bitter.

Sie wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war. Das Essen wurde nicht abgeräumt, sondern immer nur wieder aufgefüllt. Die Gäste sollten sich die ganze Nacht hindurch an all den Speisen laben. Irgendwann schließlich trat ein Diener an sie heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und wandte sich anschließend an Barrington. Da er so sehr in ein Gespräch vertief war, berührte sie ihn flüchtig am Arm um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Was ist?“, fragte er sie barsch und klang genervt.

„Ich wollte euch nur wissen lassen, dass mein Geschenk eingetroffen ist. Wenn ihr es wünscht kann die Vorführung für euch allein oder eure Gäste gemeinsam stattfinden.“, ließ sie sich von seinen Worten nicht irritieren.

„Vor den Gästen.“, antwortete er sofort. „Ich will, dass sie genauso viel Freude daran haben wie ich.“, sagte er und hatte einen gehässigen Unterton in der Stimme. Natürlich ging er davon aus, dass ihr Geschenk ihm missfallen würde. Er wollte sie vor all den anderen lächerlich machen.

Annie nickte dem Diener an ihrer Seite zu und er entfernte sich. Die Männer nahmen ihre Unterhaltung wieder auf, als seien sie nicht unterbrochen worden und Annie faltete die Hände in ihrem Schoß. Wenn ihr Geschenk vorgeführt worden war, konnte sie den Abend offiziell beenden und sich zurückziehen. Sie würde in ihr Zimmer gehen und warten. Ihr graute bereits jetzt davor.

Plötzlich erklangen leise die Klänge eines Tamburins und die Männer, die in der Nähe der Tür saßen verstummten zuerst. Dann wurden sie alle nach und nach leiser und sahen erwartungsvoll zu der großen Flügeltür. Die Schellen wurden lauter und deutlicher und ein steter Takt wurde angeschlagen. Trommeln setzten dazu ein und kurz darauf kam eine Flöte hinzu, die von einem weiteren Instrument, einer Drehleier, begleitet wurde. Die Türen schwangen auf und die Musik war nun klar zu hören. Der Takt wurde beständig schneller. Schließlich betraten vier Männer die Halle. Ein jeder spielt ein anderes Musikinstrument. Sie traten ein und stellten sich jeweils zu zweit links und rechts neben der Tür auf. Sie spielten weiter und in ihren Gesichtern spiegelte sich die Leidenschaft für ihre Musik.

Ihre Kostüme waren prächtig und leicht östlich angehaucht, dachte Annie. Sie trugen nur kurze Jacken, die bis zu ihrem Bauchnabel reichten und offenstanden, so dass man einen Blick auf ihre glatte und muskulöse Brust erhaschen konnte. Ebenso ansehnlich waren ihre Arme, die mit viel Kraft und Übung die Instrumente führten. Sie trugen weite Hosen, die an den Knöcheln zusammengebunden waren. Die Füße selbst waren nackt. Die Kostüme waren aus einem schlichten weisen Stoff gefertigt, nur der Saum ihrer Jacken zeigte immer eine andere Farbe: Blau, Grün, Türkis und ein wenig Gelb, dass schon fast wie Ocker aussah. Ihre Haut war ein wenig dunkler, als Annie es bisher gesehen hatte. Ihre Haare und Augen waren so schwarz, wie die Federn eines Raben.

„Pah, du bringst mir ein paar Spielleute, wie ich so schon oft gesehen habe.“, sagte Barrington verächtlich und riss Annie somit aus ihren Gedanken.

„Wartet es ab.“, erwiderte sie kurz. Im gleichen Augenblick verstummte die Musik auf einmal und eine fast unheimliche Stille trat ein. Dann begann die Trommel abermals zu spielen und aus der Ferne war leises Klingeln von Glöckchen zu hören. Wie schon zuvor wurden auch die Glöckchen zunehmend lauter und schneller. Mit beinah fliegenden Bewegungen erschienen vier Tänzerinnen in der Tür. Zu der Trommel gesellten sich nun auch die anderen Instrumente. Die Frauen begannen sich wild zum Takt der Musik zu bewegen. Ihre hüftlangen Haare flogen durch die Luft und schienen im Schein der Kerzen und Fackeln ständig die Farbe zu wechseln. Die der einen Tänzerin wirkten dunkelbraun, schimmerten aber leicht rötlich, die der anderen schwarz und glänzten wie Obsidiane. Die nächste hatte blondes Haar, das wie gesponnenes Gold wirkte und bei der vierten war das Haar rot und schien selbst zu brennen, wenn sie an einer Flamme vorbeiwirbelte. Die Hautfarbe der Frauen war so unterschiedlich wie ihr Haar. Die, die schwarzes Haar hatte, hatte die gleiche Hautfarbe, wie die vier Männer. Die anderen drei Frauen hatte hellere Haut. Die der Rothaarigen wirkte fast so weiß wie Milch. Alle vier Frauen zeigten sehr viel von ihrem Körper. Nur ihre Gesichter waren von einem zarten Schleier verhüllt. Dennoch glaubte Annie ein verführerisches, neckendes Lächeln darunter erkennen zu können.

Die Frauen hat ein Tuch um ihren Busen gebunden, an dessen unteren Seite ein goldenes Band gewebt war. Daran hingen kleine goldene Plättchen, die bei jeder Bewegung und Drehung rasselnd aneinander schlugen. Ebenso hatte sie auch nur ein etwas größeres Tuch um ihre Hüften gebunden. Es reichte ihnen gerade einmal bis zur Mitte der Oberschenkel und hatte zudem noch einen hohen Schlitz an der Seite, der das rechte Bein gänzlich sichtbar machte. Auch am unteren Rand des Tuches waren die kleinen goldenen Plättchen befestigt.

Jedes Kostüm hatte eine andere Farbe. Die Frau mit den schwarzen Haaren und der dunkleren Haarfarbe trug ein kräftiges Rot. Die Blondhaarig trug ein Kostüm aus zartem Blau. Die Farbe der Braunhaarigen war orange und die der Rothaarigen grün. Es glich einer Explosion von Farben, wenn sie um einander herum tanzten, sich näher kamen und schnell wieder abwandten.

An Schmuck trug jede von ihnen golden Ketten und Armreifen. Am verführerischsten waren wohl aber die schmalen goldenen Ketten, die sie um ihren Bauch trugen. An jeder dieser Ketten hing ein Edelstein, passend zu der Farbe ihres Kostüms, der in ihrem Bauchnabel spielte. An ihren Fußfesseln konnte Annie Bänder aus kleinen Glöckchen ausmachen, die für das beständige Klingeln sorgten.

Es war einen Euphonie an Klängen und Geräuschen und versetzten jeder Mann um sie in Trance. Der Tanz sprühte vor Lebendigkeit, Exotik aber vor allem auch Erotik, so dass die Spannung, die in der Luft lag, fast zum Greifen war.

Es war ein Schauspiel, wie es Annie bisher noch nicht erlebt hatte. Die Bewegungen der Tänzerinnen zum schnellen Rhythmus der Instrumente, schienen einen gefangen zu nehmen und fortzutragen, in ein anderes, weit entferntes Land, das noch keiner von ihnen gesehen hatte.

Annie blickte sich um und stellte fest, dass es den Männern ebenso erging wie ihr. Sie stierten mit glasigem Blick die Frauen an, ihre Münder waren geöffnet, als wollten sie sie mit Haut und Haar verschlingen.

Und immer wieder griffen sie zu ihren vollen Weinkelchen. Einige von ihnen johlten und riefen anzügliche Bemerkungen. Annie schämte sich ein wenig für die Männer, doch sie hoffte, dass die Tänzer solch ein Verhalten gewöhnt waren. Ihre Wirkung auf ihr Publikum war ihnen sicher bewusst. Ein Blick in John Barringtons Gesicht verriet ihr, dass auch er an diesem Schauspiel, das sich ihm bot und nur für ihn allein bestimmt war, Gefallen fand. Vielleicht bereute er es auch schon keine Privatvorführung verlangt zu haben.
 

Leise schob Annie ihren Stuhl zurück und erhob sich. Es würde niemanden auffallen, wenn sie jetzt ging. Ihre Anwesenheit war sowieso nicht länger erwünscht. Sie verließ die Halle durch den anderen Ausgang und ging geradewegs in den Weinkeller. Dort wollte sie nach dem Rechten sehen und sicher gehen, dass auch die Dienerschaft genug von dem Wein trank. Auf ihrem Weg kamen ihr immer wieder Frauen und Männer entgegen, die entweder schwere Tabletts mit Essen brachten oder Weinkrüge in den Händen hielten, wie sie zufrieden feststellte.

Im Weinkeller selbst herrschte ebenso reges Treiben. Gerade wurde ein weiterer Krug aufgefüllt und der nächste stand ebenfalls da. Scheinbar tranken die Männer so schnell, dass die Diener gerade so mit der Versorgung hinterher kamen. Aber auch bei den Fässern, die sie extra gekauft hatte, herrschte reges Treiben. Annie ging zu dem Mann, den sie damit beauftragt hatte und erkundigte sich nach dem Vorangehen.

„Es hat jeder bereits zwei Becher erhalten.“, antwortete er ihr und verbeugte sich noch einmal tief. „Der Wein schmeckt wirklich vorzüglich und wir sind ihnen allen sehr Dankbar, dass sie uns an diesem großen Tag teilhaben lassen.“

„Dafür müssen sie nicht mir danken, sondern meinem Mann.“, antwortete sie. „Es war seine Idee ihre harte Arbeit endlich einmal zu würdigen.“

Zweifelnd sah er sie an, wagte es aber natürlich nicht zu wiedersprechen. „Ist denn noch etwas übrig?“, fragte sie schnell weiter.

„Ja, natürlich. Wir haben gerade das dritte Fass angefangen.“

„Bitte verteilen sie den gesamten Wein. Es wäre schade, wenn etwas übrig bliebe. Mein Mann könnte sich sonst gekränkt fühlen, wo der doch schon einmal so großzügig zu ihnen war.“

Ein ängstlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht und er nickte sofort. „Gewiss doch.“

„Sorgen sie auch dafür, dass die vier Männer, die den Gefangen bewachen genug erhalten. Sie machen eine schwere Arbeit. Offenbar ist dieser Mann sehr gefährlich, wenn er gleich vier Wachen benötigt. Sie sollen ausreichend belohnt werden.“

Der Diener öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder. „Ist etwas?“

„Nein, Mylady, es wird alles so geschehen, wie ihr es wünscht.“

„Gut. Ich ziehe mich jetzt zurück. Sollten sich Schwierigkeiten ergeben, möchte ich darüber informiert werden. Ich bin in meinem Zimmer.“

„Jawohl, Mylady.“, noch einmal verbeugte er sich tief und Annie verließ den Keller.
 

Annie ging wirklich in ihr Zimmer zurück. Sie war sich sicher, dass Barrington sie nicht vermissen würde. Aber vor allem wusste sie nicht, ob sie ihre Anspannung und Nervosität länger vor den anderen verbergen konnte.

Das Warten machte sie halb wahnsinnig. Sie trat an das Fenster und sah der Sonne beim untergehen zu. Der Himmel hatte sich am Horizont schon orange gefärbt und wurde nun langsam rot, um anschließend in ein dunkles lila überzugehen. Doch genießen konnte sie den Anblick nicht. Immerfort waren ihre Gedanken bei Draco, den vielen Gästen in der Halle, Barrington und ihrem Bruder. Sobald das letzte Licht am Horizont verschwunden war, würde Alexander den Hof betreten. Sicher wartete er in der Stadt bereits darauf zu handeln. Sobald es dunkel war, würde sie noch ein wenig warten, sicher gehen, dass die Männer wirklich schliefen und dann würde sie zu Draco gehen. Ihr Herz machte bei dem Gedanken einen Hüpfer. Sie würde ihn endlich wiedersehen! Dabei versuchte sie sich gleichzeitig einzureden, dass sie sich auf keinen Fall von seinem Anblick ablenken lassen durfte. Sie durfte nicht darüber nachdenken, wie er aussah oder sich vorstellen, was Barrington ihm angetan hatte. Es war wichtig, dass sie sich nur auf ihre Aufgabe konzentrierte.

Wenn sie denn bis zu Draco gelangen würde.

Annie knetet unentwegt ihre Finger.

Nicht darüber nachdenken, sagte sie sich immer wieder. Nicht darüber nachdenken.
 

Annie blieb so lang in ihrem Zimmer, bis sie es nicht mehr ertragen konnte. Sie konnte die Zeit schlecht einschätzen. Tage kamen ihr seit langem wie eine Ewigkeit vor.

Sie ging die Treppe langsam und leise nach unten und versuchte besonders gut auf ihre Umgebung zu hören. Doch verglichen mit dem Treiben und Murmeln, welches vorher in diesen Mauern geherrscht hatte, war es jetzt auf einmal recht ruhig. Ihr Herz würde sicher gleich aus ihrer Brust springen, dachte sie, denn es schlug laut und schnell gegen ihr Inneres.

Vorsichtig näherte sie sich der Halle und blieb hinter der Tür stehen. Nur noch leise Stimmen waren zu hören. Ohne entdeckt zu werden, spähte sie um die Ecke, in die Halle hinein. Die Männer lagen mehr auf den Tischen, als dass sie auf ihren Stühlen saßen. Annie verstand kaum ein Wort von dem, was sie sagten. Sie sprachen sehr leise und der Alkohol hatte ihre Zunge schwer gemacht. Auch John Barrington hing müde in seinem breiten Stuhl, mit der Hand den Kopf stützend und die Augen halb geschlossen. Auf den Gesichtern der Gäste lag ein Ausdruck tiefer Zufriedenheit und Gelassenheit. Diejenigen, die sich zurückgelehnt hatten, hielten ihre Bäuche, die sicherlich gut gefüllt waren.

John Barrington gähnte herzhaft. „Wie kann es sein, dass ich jetzt schon so müde bin?!“, fragte er und gähnte noch einmal. Die anderen Männer nickten zustimmend und murmelten etwas Unverständliches. Auch die Dienerschaft, die immer noch Weinkrüge in den Händen hielt oder weitere Teller mit Speisen, gähnten verstohlen.

Bald würde es so weit sein, dachte sie hoffnungsvoll. Es konnte nicht mehr lange dauern. Plötzlich erhob sich Barrington und der Stuhl rutschte scharrend über den Boden. „Aber dafür habe ich immer noch genügend Energie!“, rief er aus. „Du da!“, befahl er einer Dienstmagd und sie zuckte erschrocken zusammen. „Komm her! Bringe mich in mein Zimmer!“ Ein Grinsen trat auf sein Gesicht, während die Frau mit zitternden Fingern das Tablett abstellte und dann zu ihm ging. „Und danach wirst du mich noch auf ganz besondere Weise an meinem Geburtstag erfreuen.“, sagte er hämisch und tätschelte ihr den Hintern. Annie verzog angewidert das Gesicht. Sie war aber nicht nur von John Barrington angewidert, sondern auch von sich selbst. Denn ihr erster Gedanke hatte ihr selbst gegolten und wie froh sie war, nicht an der Stelle der Frau zu sein. Die Magd sollte ihr leid tun und das tat sie auch. Dennoch konnte Annie nicht umhin erleichtert zu sein. Würde sie mit ihm gehen, währe Barrington für alles andere auf jeden Fall zu beschäftigt. Und vielleicht würde er ja gleich einschlafen, wenn er sich auf das Bett legte.

Annie drehte sich um und ging den Gang entlang, zu der Tür die so streng bewacht wurde. In den vergangenen Tagen war sie oft daran vorbeigegangen, ohne jemals zu fragen, was sich dahinter befand. Sie wusste es auch so.

Als Annie die vier Wachen von weitem erblickte atmete sie erleichtert auf. Die Ablösung hatte noch nicht stattgefunden. Aber es würde bald so weit sein, sollte sie noch nicht schlafen. Sie musste es jetzt tun. Außerdem war es zum Umkehren bereits zu spät, denn die Männer hatten sie entdeckt und beobachteten sie neugierig. Annie wusste nicht, ob sie schon genügend von dem Wein getrunken hatten. Zwei von ihnen saßen bereits auf dem Fußboden, ein dritter hatte sich gegen die Wand gelehnt und der vierte schwankte leicht, stellte sie beim näherkommen fest.

Annie straffte die Schultern und trat festen Schrittes an sie heran. Die zwei, die saßen, versuchten sich aufzurappeln, doch es dauerte ein wenig. Annie wartete bis sie es geschafft hatten, bevor sie sprach.

„Haben sie etwas von dem Wein bekommen, den mein Mann an all seine Leute verteilen ließ?“, fragte sie mit süßer Stimme.

„Ja, Mylady. Vielen Dank dafür.“, antwortete der links von ihr und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.

„Wie viel haben sie bekommen?“

„Drei Becher jeder von uns. Es war ganz köstlich.“

Annie lächelte gewinnend. „Das freut mich zu hören. Sagen sie, ist ihnen heute etwas ungewöhnliches hier aufgefallen?“

„Nein, Mylady, warum fragen sie?“, antwortete der Rechte.

„Das dachte ich mir bereits, deswegen wollte ich ihnen einen Vorschlag machen. Warum gehen sie nicht zu Bett? Ich bin sicher ihre Ablösung wird bald kommen. Niemand wird es wagen, heute Nacht hier einzudringen und zu stehlen, was auch immer sie hinter dieser Tür bewachen.“

„Es geht nicht darum, dass jemand etwas stehlen könnte, Mylady.“, erwiderte ein anderer.

„Ach nein?“, fragte sie unschuldig. „Worum dann?“

„Wir bewachen den Gefangenen.“

„Oh, das ist natürlich etwas anderes.“, sagte sie und nickte verständnisvoll. „Ich habe ihn nur einmal gesehen, wissen sie. Ist er denn wirklich so gefährlich, dass er gleich vier so starker Männer bedarf?“

Die vier sahen sich verstohlen an, offenbar unsicher, was sie antworten sollten. „Was ist? Ist er wirklich so schrecklich, wie ich meinen Mann sagen höre?“, fragte sie nach und sah die Männer mit großen Augen an.

„Eigentlich...“, begann der eine zaghaft. „Ja?“, bohrte Annie weiter. „Eigentlich, ist er sehr harmlos. Er hat sich noch nicht einmal gewehrt und in den Zustand in dem er im Moment ist, würde er sowieso nicht so weit kommen.“

„Verstehe.“, sagte sie nachdenklich und nickte. „Dann brauchen sie doch auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie jetzt gehen. Wenn sie möchten, dann bleibe ich hier und sage ihrer Ablösung, dass ich sie bereits entlassen habe.“

„Uhm... Das ist... das ist sehr großzügig von ihnen, dennoch können wir das nicht annehmen. Wir würden unsere Pflicht verletzten und ihr Gemahl...“

„Ich weiß.“, knurrte sie nun fast, weil sie langsam die Geduld verlor. Trotzdem schaffte sie ein weiteres Lächeln. „Was halten sie davon, wenn wir einfach nachsehen, ob von dem Gefangenen im Moment eine Gefahr ausgeht? Ist dem nicht so, können sie beruhigt gehen und ich werde mich um alles Weitere kümmern.“

„Ich weiß nicht...“

„Ach mach schon!“, drängte der, der vorhin schon auf dem Boden gesessen hatte. „Ich bin müde und der rührt sich doch schon seit Tagen nicht mehr.“

„Er hat recht, gibt mir den Schlüssel.“, forderte der andere und riss ihm seinen Partner bereits von Gürtel. „He!“, protestierte dieser nur schwach.

Der Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und die Tür sprang augenblicklich auf. Einer der Männer zog sie so weit auf dass Annie hereinblicken konnte. Nur eine einzige Kerze brannte, die auf einen Holzhocker abgestellt war. Dracos Gestalt lag schemenhaft auf einem provisorischen Bett. Doch Annie sah genug, um festzustellen, dass sein Atmen ruhig war und er schlief

„Für mich sieht er nicht sehr gefährlich aus.“, stellte sie gespielt verwundert fest und brachte sogar so etwas, wie ein Kichern zustande.

„Dieser Doktor gibt ihm schon seit Tagen Opium. Der würde nicht mal mitbekommen, wenn wir ihn sonst wohin brächten.“, spottete einer der Männer neben ihr und Annie musste sich zusammenreisen, um ihm keine Ohrfeige zu geben.

„Na sehen sie, sie können also beruhigt gehen.“, erwiderte sie stattdessen mit honigsüßer Stimme und zog den Kopf aus der Tür zurück. Der Mann der aufgeschlossen hatte, versperrte sie wieder und Annie verfolgte mit dem Augen jede Bewegung und besonders, den Schlüssel, den er noch immer in der Hand hielt. „Sie könnten mir die Schüssel geben und ich reiche ihn ihrer Ablösung. Was halten sie davon? Sie müssten ja gleich kommen.“

„Mylady, das ist...“, wollte der linke ansetzen, aber da drückte ihr schon der andere die Schlüssel in die Hand. „Hab dich nicht so. Was soll schon passieren? Wir haben unseren Dienst getan und die anderen sind sowieso schon zu spät dran.“ An Annie gewandt sagte er: „Vielen Dank, Mylady, dass sie dies für uns tun.“

„Natürlich, ich weiß ihre schwere Arbeit zu schätzen und wenn sie es wünschen, wird nichts davon zu meinem Gemahl gelangen.“

Leicht verlegen nickten die Männer und bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnten, drehten sie sich um und gingen den Gang entlang, aus dem Annie zuvor gekommen war.
 

Auch wenn es ihr schwer viel, wartete sie bis sie die Schritte der Männer nicht mehr hören konnte. Sie hoffte, dass auch sie sie dann nicht mehr hören konnten. Besonders nicht jenen Moment, wenn sie den Schlüssel im Schloss herumdrehen würde.

Trotzdem durchflutete sie eine leichte Euphorie. Sie konnte kaum glauben, wie einfach es gewesen war. Diesen Teil hatte sie nicht planen können, aber offenbar hatte es trotzdem gereicht. Doch jetzt war wirklich höchste Eile geboten. Alexander wartete sicher schon mit Hera.

Hastig steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mit einer schnellen Bewegung herum. Die Tür sprang auf und Annie atmete noch einmal tief durch, bevor sie das Zimmer betrat. Sobald sie die Türschwelle überquert hatte, zog sie die Tür wieder hinter sich zu. Auch die Ablösung sollte inzwischen schlafen, dachte sie, aber sie wollte es nicht riskieren sich zu irren. Sie wartete einen Moment bis ihre Augen sich an das schwache Licht der Kerze gewöhnt hatten. Es war seltsam, dachte sie. Normalerweise wäre Draco schon längst aufgewacht, wenn sich ihm jemand genähert hätte. Sie war sicher, er hätte die Tür gehört.

Angst befiel sie. Was wenn die Männer recht gehabt hatten und er wirklich so viel Opium im Körper hatte, dass er tief und fest schlief? Was, wenn sie ihn gar nicht würde wach bekommen? Was sollte sie dann tun? Soweit hatte sie nicht gedacht. Sie hätte Doktor Storm genauer fragen müssen!

Dafür war es jetzt zu spät. Sie musste es so versuchen. Sie musste ihn wecken. Sie musste sich beeilen, für ihn und auch für sich. Lange würde sie es in diesem Raum, der nach Krankheit und Leid stank, nicht aushalten.

Annie stolperte zu seinem Bett und begann ihn leicht an der Schulter zu rütteln. Eindringlich und doch leise, so dass es fast wie ein Zischen klang, flüsterte sie seinen Namen immer und immer wieder: „Draco! Draco!“

Er stöhnte leise und sie wollte es als gutes Zeichen verstehen. Also fuhr sie fort. Unbewusst registrierte sie seine Blässe und die vielen Verbände, aber sie konzentrierte sich auf sein Gesicht und die Augenlider die sich hoffentlich bald öffnen würden.
 

Ah, dachte er. Es war so weit. Sie waren gekommen, um fortzufahren. Sie hatte ihn lange genug in Ruhe gelassen. Jetzt würde es umso furchtbarer werden.

Unbewusst nahm Draco das Rütteln an seinem Körper war und spürte, wie es ihn aus dem Schaf riss. Es geschah langsam und beinah ein wenig sanft, so dass er nicht umhin konnte sich darüber zu wundern. Jeden Moment würde der Schmerz kommen, dachte er. Lieber wollte er noch in diesem Zustand, in dem der Schmerz nur ein dumpfes Pochen war, bleiben. Doch die Stimme, die sein Verstand ihm zuflüsterte, war so vertraut und so verlockend, dass es ihm nicht gelang. Wie oft hatte er geglaubt ihre Stimme, in all den Momenten, in denen er nicht sicher gewesen war, ob er schlief oder wachte, zu hören?

Er konnte sich ihr nicht entziehen, sondern wurde von ihr angezogen. Sein Geist erwachte, von den sanften Worten, die sie zu ihm sprach, wollte mehr hören – auch wenn er wusste, dass es nicht sein konnte. Nicht Annie würde in der realen Welt auf ihn warten, sondern dieser Mann und er würde ihm Schmerzen zufügen.

Obwohl ihm dies bewusst war, öffnete er die Augen, bereit sie gleich wieder gehen zu lassen und das andere zu empfangen. Draco wollte glauben, dass dieser eine Blick genug sein würde. Zumindest für den Moment.

Er spürte, wie eine zarte Hand über seine Wange strich, dann über seine Stirn. Eine so vertraute und beruhigende Geste, die ihn aufseufzen ließ. In diesem Augenblick wollte er nur zu gern an seine Geliebt glauben.

Dracos Blick war verschwommen und doch erkannte er einige Konturen: schwarzes langes Haar, dass bis zu den Hüften reichte, braune Augen und himbeerfarbene Lippen. Sie war so echt, dachte er. So echt, dass er zaghaft eine Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu berühren.

Er zuckte heftig zusammen, als sie seine Hand ergriff und fest drückte.

„Draco, hörst du mich?“, fragte sie eindringlich und strich mit der anderen Hand noch immer über seine Wange. Als wollte sie ihn daran hindern, wieder einzuschlafen.

Kurz nickte er. Gleichzeitig schlossen sich seine Augen. Er schaffte es nicht, so offen zu halten. Sein Blick war nicht klarer geworden und das Verschwommene machte ihn schwindlig.

Selbst wenn sie echt war, würde es nichts ändern.

„Draco, du musst aufstehen.“, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht einmal richtig sehen. Aufstehen erschien ihm noch unmöglicher.

„Doch du musst!“, sagte sie und ihre Stimme war laut geworden und klang voller Verzweiflung, so dass er sie wieder ansah.
 

Ihr standen die Tränen in den Augen, aber jetzt zu weinen, würde nichts nützen. Sie griff unter seinen Kopf und versuchte ihn anzuheben. Nur wenig gelang es ihr. Doch als sie ihn berührte, merkte sie wie viel Gewicht er verloren hatte. Seine Knochen stachen spitz hervor.

Mit der Hand, die noch immer seine umfasste, zog sie ihn ebenfalls nach oben. „Du musst aufstehen, hörst du! Es ist wichtig! Ich bitte dich, tu es für mich!“, flehte sie ihn an.
 

Er nickte. Ihre Stimme klang so dringend, so flehentlich, dass er ihr alles versprochen hätte. Er versuchte etwas in seinem Inneren zu spüren, etwas zu fühlen, da war nichts, als wäre er leer. Es war Draco unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Doch das Aufsetzen gelang ihm. Er hatte es nicht verlernt. Der Arzt hatte es ihn ein paar Mal tun lassen.
 

Annie legte Dracos Arm um ihre Schultern und ihren eigenen Arm um seinen Rücken. Sie versuchte aufzustehen und Draco mit sich zu ziehen, doch natürlich gelang es nicht beim ersten Mal.

„Du musst mir helfen.“, flüsterte sie und war noch immer den Tränen nahe. Noch nie hatte sie ihn so gesehen. Sein Kopf ruhte auf seiner Brust und er schien abermals abzudriften.

Annie versuchte es dieses Mal mit ein wenig mehr Schwung und sie spürte auch, dass Draco sich bemühte. Dieses Mal schafften sie es sich zu erheben. Sie schwankten einen Moment und es kostete Annie unheimlich viel Anstrengung ihr eigenes Gleichgewicht wieder zu finden und ihn dabei noch zu stützen. Sie hielt seinen Arm mit ihrer Hand fest umklammert und drückte mit aller Kraft gegen seinen Rücken.
 

Draco spürte ihre Wärme. Sie war ihm so nah, wie schon lange nicht mehr, wenn sie es denn war. Aber für den Augenblick wollte er es einfach glauben. Selbst, wenn es sich um Barringtons handeln würde oder seine Wachen, die ihn in das Verließ zurückbrachten.

Er musste sich sehr darauf konzentrieren, immer einen Schritt vor den anderen zu machen.
 

Annie sah, dass sich bereits nach den ersten drei Schritten kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sie hatten die Tür erreicht und unsicher streckte Annie einen Arm nach dem Griff aus. Es war ihr Glück, dass sie sich nach außen öffnete. Sie führte Draco bis zum Türrahmen und steckte dann selbst den Kopf heraus. Sie sah den Gang auf und ab, doch er war noch genauso verlassen wie zuvor. Die Wachen mussten nun wirklich alle eingeschlafen sein.

„Wir müssen uns beeilen.“, flüsterte sie ihm zu. „Ich weiß du kannst es schaffen!“, beschwor sie ihn, dabei klang ihre Stimme gepresst. Er wurde ihr langsam zu schwer und wenn sie an den Weg dachte, der noch vor ihnen lag, schluckte sie heftig. Wie sollte sie das schaffen?
 

Draco nickte bloß noch einmal. Ihm war, als hätte er sein eigenes Denken aufgegeben. Er handelte nur noch nach ihrem Willen, ohne darüber nachzudenken.
 

Nur sehr beschwerlich liefen sie den Gang entlang. Immer wieder machten sie halt, um nach verräterischen Geräuschen zu horchen, aber vor allem um zu Atem zu kommen. Die Burg blieb still. Nur ihr eigener, stoßweiser Atem war zu hören.

Während des Weges trieb Annie Draco unerbittlich weiter voran. Sie merkte, dass er wieder müde wurde, dass es ihn unheimlich viel Kraft kostete, aber immer wenn sie merkte, dass er ihr drohte zu entgleiten, ging sie weiter.

Sie erreichten den Seiteneingang nach einer gefühlten Ewigkeit, doch Annie hätte am liebsten vor Freude geweint, als sie ihn sah. Nur noch diese Tür, sagte sie sich. Dann wären sie fast in Sicherheit. Um diese Tür zu öffnen, benötigte Annie jedoch beide Hände. Sie ließ Draco los, der sich gegen die Wand lehnte. Annie entriegelte die Tür und späte in die kühle Nachtluft hinaus. Niemand war zu sehen. Sie hob den Blick und sah den fast vollen Mond. Er war zu hell, dachte sie, aber alle schliefen. Er würde sie nicht verraten. Und Draco würde ihm nicht wiederstehen können.
 

Nur langsam begriff Draco, dass er offenbar doch nicht auf dem Weg in sein Verließ war. Kalte Luft schlug ihm entgegen und er sog sie begierig ein. Nachtluft schmeckte immer anders, dachte er. Sie ist frischer und reiner. Aber wohin wurde er geführt? War es tatsächlich Annie und nicht nur ein Trugbild?

Plötzlich war ihre liebliche Stimme wieder an seinem Ohr und was sie ihm zuflüsterte ließ Schauer über seinen Rücken laufen: „Komm nach draußen. Der Mond ist fast voll und er sieht fantastisch aus. Du hast den Mond doch so lange nicht mehr gesehen. Sieh ihn dir an.“

Der Mond? Oh, wie verzehrte er sich nach dieser hellen, kühlen, runden Scheibe! Er wollte ihn sehen! Wollte in seiner Kälte baden!
 

Aus trüben Augen sah er sie an und Annie glaubte erst, er würde nun vollkommen aufgeben, doch zu ihrer Überraschung machte er einen Schritt nach vorn.
 

Als die kühle Nachtluft in gänzlich umfing, atmete er zitternd ein und aus.

„Sieh nach oben.“, flüsterte Annie an sein Ohr. Zögernd reagierte er. Draco hob den Blick und da war er tatsächlich: der Mond. Und obwohl auch seine Konturen verschwommen und unklar waren, war er dennoch unglaublich schön. Schon morgen Nacht würde er voll sein. Würde er das noch erleben?

„Wir müssen weiter.“, sprach Annie. Verwirrt schüttelte Draco den Kopf. Langsam wurde ihm bewusst, dass es wirklich Annie war, die die ganze Zeit mit ihm sprach, die ihn zum gehen aufforderte. Aber wo wollte sie mit ihm hin? Doch er fragte sie nicht danach. Sein Mund wollte sich nicht öffnen und seine Zunge keine Worte formen.

Sie führte ihn weiter und Draco ließ es geschehen.
 

Annie blickte sich um und hoffte Alexander auszumachen. Im Schatten des Tores nahm sie eine Bewegung wahr und abrupt blieb sie stehen. Waren sie etwa doch entdeckt worden?!, fragte sie sich panisch. Abermals sah sie die Bewegung und ihr Herz hüpfte bereits auf ihrer Zunge.

„Annie?“, hörte sie ein leises flüstern und erst als sie Alexanders gepresste Stimme erkannte, atmete sie erleichtert auf. Sie zog Draco mit sich, aber sprach nicht eher, bis sie den schützenden Schatten erreicht hatten.

„Alexander.“, flüsterte sie, als er sie kurz umarmte. Dann nahm er Dracos Gewicht von ihrem Körper auf seinen eigenen und führte ihn zu Hera. Sie war so schwarz, wie die Nacht selbst, so dass Annie sie im ersten Moment gar nicht bemerkt hatte. Das Pferd stand vollkommen still und gab keinen Laut von sich, als wüsste sie sehr genau, wie wichtig und entscheidend dieser Moment war. Aber sie war auch furchtbar groß, wurde Annie bewusst.

„Wie bekommen wir ihn auf Hera?“, fragte Annie leise.

„Ich hebe ihn hoch.“, antwortete Alexander und Annie hörte die Anspannung aus seiner Stimme.

„Er wird sich nicht auf ihr halten können.“

„Das dachte ich mir, deswegen habe ich ein paar Seile mitgebracht. Ich werde ihn festbinden.“

„Ja, aber er... er könnte trotzdem stürzen. Er ist überhaupt nicht bei klarem Verstand. Was ist morgen oder übermorgen?“ Sie wollte ihn retten, doch gleichzeitig machte es ihr so viel Angst nicht zu wissen, wo er sein würde, dass sie ihn am liebsten bei sich behalten hätte.

„Morgen wird es ihm besser gehen.“, versicherte Alexander ihr. „Er wird es schaffen, Annie. Dafür ist er geboren.“

Sie biss sich auf die Lippe und nickte. „Ich will mich noch verabschieden.“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Mach schnell.“, sagte Alexander und drehte sich um, um ihnen einen kurzen Moment Zweisamkeit zu gönnen.
 

Draco stand unsicher auf den Beinen und schwach hatte er gehört, über was die beiden sich unterhalten hatten. Langsam begriff er, was geschehen würde. Er spürte etwas Breites und warmes im Rücken und nahm einen sehr vertrauten Geruch war. Behutsam drehte er den Kopf und blickte auf einen schwarzen Pferdekörper. Vorsichtig lehnte er sich gegen Heras kräftigen Körper, der ihn davon abhielt auf den Boden zu sinken. Würde er sich nur einmal setzten, würde er nicht mehr aufstehen.

Warum sagte er ihnen nicht, dass er nicht gehen wollte?, überlegte Draco langsam. Warum bestand er nicht darauf zu bleiben? Waren es denn nur leere Worte gewesen? Sein Schwur auf Rache wertlos? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er weitere Schmerzen nicht würde aushalten können. Er war am Ende.

Im nächsten Augenblick trat Annie an ihn heran und legte ihre Hände auf seine Wangen. Krampfhaft versuchte Draco ihr in die Augen zu blicken, doch sein Blick huschte ständig hin und her, egal wie oft er auch blinzelte. Aber er sah genug, um die Tränen in ihren Augen zu erkennen.

„Ich liebe dich.“, flüsterte sie heißer. „Hast du mich gehört? Ich liebe dich, das habe ich immer und daran wird sich auch nichts ändern, ganz egal wo du bist.“ Ein Schluchzen entfuhr ihr und sie blickte nach unten, um ihre Gedanken zu sammeln. „Du musst dem Polarstern folgen, dem hellsten Stern am Himmel. Er wird dich immer nach Norden führen. Dort wirst du in Sicherheit sein.

„Auch wenn ich kein ewiges Gedächtnis besitzt, werde ich dich doch nie vergessen.“, wisperte sie. „Niemals. Ich danke dir für alles.“ Annie nahm seine rechte, gesunde Hand und legte sie sich auf den Bauch. Es sollte ihr Abschied für immer sein.

Doch kaum berührte seine Hand ihren Bauch, zuckte Draco merklich zusammen und er sog scharf die Luft ein. Seine Lippen waren fest zusammen gepresst, doch seine Augen weit geöffnet.

„Draco?“, fragte Annie unsicher und mit ein wenig Angst in der Stimme. Sie wollte seine Hand bereits loslassen, da umschlossen seine Finger die ihren und hielt sie fest. Er sah sie plötzlich direkt an und sein Blick war so klar und fest, wie Annie es schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Ein Blick wie sie ihn kannte und liebte. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper und ihre Knie wurden weich.
 

Für einen Moment war sein so unglaublich klar. Sein Blick war scharf und er sah alles deutlich. Er verstand es ohne Zweifel: Er war mit den Kind verbunden. Stärker und Enger, als es sonst bei ihnen üblich war. So stark, dass es ihm Angst machte.

Die Verbindung, die die Monddrachen zu ihren Nachkommen hatten, endete mit der Zeugung. Alle Erinnerungen, die die ausgewachsenen Drachen machten, waren für den Nachkommen verloren.

Doch das Wese in Annies Körper war anders.

Zwischen ihm und dem Kind bestand diese Verbindung immer noch, dachte Draco verwundert. Das Kind besaß jede seiner Erinnerungen und auch Annies, bis genau zu diesen Moment. Das Band würde erst bei der Geburt zerreisen oder meinem Tod, dachte er.

Draco wusste es. Er konnte nicht sagen, woher er dieses Wissen nahm. Er wusste es einfach, als hätte das Kind es ihm selbst gesagt.

In Annies Augen sah er, dass sie nichts von all dem ahnte.

Er zog sie an sich und legte die Hände um ihren Körper. Den Schmerz konnte er kaum spüren. Ihr Körper an seinem war alles, was er wahrnahm. Mit der rechten Hand fuhr er durch ihre Haare und griff hinein, während er sie mit links an sich gedrückt hielt. Seine Lippen fanden ihre wie von selbst und er küsste sie wild und ausgehungert.

Selbst jetzt, nach allem, was geschehen war, wollte er sie immer noch genauso sehr. Es war Wahnsinn! Hatte durch sie doch erst alles begonnen.

Ein Räuspern riss sie auseinander. Alexander stand neben ihnen und sah sie ungeduldig an. Ohne das Feuer ihres Kusses spürte Draco, wie sich der Nebel wieder seinen Verstand legte. Ein letztes Mal strich er ihr über das Gesicht und küsste eine Träne von ihrer Wange. Dann löste er sich endgültig von ihr.

Ohne sie begann er wieder leicht zu schwanken und Alexander legte einen Arm um seine Schulter. „Ich werde dir helfen, aber du musst mitmachen.“, sagte er und führte ihn nah an Hera heran. Dann stellte er Dracos linken Fuß in den Steigbügel und legte dessen Hände auf den Sattel. „Bei drei.“, wies er ihn an.

Draco wusste nicht, wie ihm geschah. Er wusste, dass er fliehen sollte, dass es das war, was Alexander und Annie wollten. Was ihn ein erschreckte, war der Gedanke, dass er es ebenso wollte. Der Gedanke in diesen dunklen Raum oder gar das Verließ zurückzukehren ließ ihn kalten Schweiß ausbrechen. Sein Körper zitterte nur noch heftiger.

Ganz gleich, was er sich vorgenommen hatte, wie groß seine Rachegedanken waren, wie sehr er sich nichts weiter wünschte als John Barrington die Kehle aufzuschlitzen, der Wunsch zur Flucht war weitaus größer. Seine Instinkte schrien danach sein eigenes Leben zu retten.

„Eins, zwei, drei.“, zählte Alexander und bei drei spannte Draco seine Muskeln an, mobilisierte das letzte bisschen Kraft, was er noch besaß und stemmte sich in den Sattel. Es war ein herrliches Gefühl, wieder auf Hera zu sitzen. Doch so sehr er es genoss, er schaffte es nicht, das Gleichgewicht zu halten. Er wäre wohl herunter geglitten, wenn Alexander ihn nicht von der Seite gestützt hätte. „Schling die Zügel um deine Handgelenkt und beug dich nach vorn. Halt dich an ihrer Mähne fest.“, sagte Annies Bruder und widerstandslos tat Draco wie ihm geheißen.

Unbewusst nahm er war, wie Alexander Seile um seinen Körper band und sie am Sattel befestigte. Draco spürte Heras Mähne unter seinen Finger und ihre Wärme, er roch ihren Duft und es schien ihm, als würde sie ihn forttragen und alles andere vergessen lassen.
 

Annie sah wie Alexander auf Wüstensand aufsaß und Heras Zügel nahm. Sie biss sich wieder auf die Lippen vor Anspannung und schickte stumme Gebete zum Himmel. Alexander würde Draco aus der Stadt führen. Von dort aus, müsste er den Weg allein finden, aber er brauchte nur geradeaus zu reiten. Etwas, was Hera vielleicht auch allein schaffen würde. Nach ungefähr zwei Tagen würde er die Grenze erreichen. Natürlich musste er zwischendurch rasten. In seinen Satteltaschen war genug Proviant, dass er sich darüber keine Gedanken machen musste. Und Wasser würde er in den Flüssen finden, an denen er vorbei kommen würde.

Sie musste sich keine Sorgen mehr machen, versuchte sie sich einzureden. Das schlimmste war überstanden. Sie hatten es geschafft ihn aus dem Schloss herauszuschaffen. Das war alles was zählte.

Dennoch konnte sie nicht aufhören zu weinen. Der Gedanke ihn nie wiederzusehen, lag schwer auf ihrem Herzen. Sein Kuss brannte noch auf ihren Lippen und Annie wusste, dass sie ihn nie vergessen würde. Ein Leben ohne ihn, zwischen den dicken Mauern, kaum ihr unendlich lang vor. Annie spürte einen kleinen Teil von sich sterben. Sie sah wie Alexander Hera zum Tor führte. Draco lag mehr auf ihr, als das er saß. Sie wünschte, er würde sich noch einmal umdrehen. Es geschah nicht.

Das letzte was sie von ihm sah, war sein blondes Haar, welches direkt vom Vollmondlicht angestrahlt wurde und Silber leuchtete.
 

Sie ging die steinerne Wendeltreppe nach oben. Inzwischen herrschte fast Stille in der Burg. Ihr Herz schlug schmerzhaft in ihrer Brust, doch Annie wusste, dass dieser Schmerz so schnell nicht gehen würde. Die Wunde würde für immer dort bleiben.

Mit dem Handrücken wischte sie sich eine weitere Träne von der Wange. Sie wollte nur noch in ihr Zimmer und sich unter den Decken verkriechen, um anschließend in ihr Kissen weinen zu können. Niemand würde sie hören. Niemand würde sie fragen. Sie wollte allein sein in ihrem Kummer und Trauer.

Und sie war so furchtbar müde.

Gleich würde sie in ihrem Zimmer sein, dachte sie, als sie den breiten Absatz erreichte, der um einen Bogen führte. Sie würde am nächsten Tag nicht aufstehen und sich mit Unwohlsein entschuldigen.

„Eine äußerst interessante Nacht, findet ihr nicht?“, erklang plötzlich eine Stimme über ihr. Annie blieb ruckartig stehen und starrte mit weitaufgerissenen Augen nach oben. Schlagartig wurde ihr Kalt.

Auf der obersten Stufe stand Jonathan Semerloy.

Todsünde

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Annie konnte einfach nicht fassen, dass er tatsächlich vor ihr stand.

„So überrascht mich zu sehen?“, fragte er und ging ihr weiter entgegen. Ihr Mund öffnete sich, als wollte sie Worte formen, doch kein Ton entwich ihr. Ihr Mund schloss sich und sie schluckte heftig.

Sie wich wenige Schritte zurück und zuckte zusammen, als sie im Rücken plötzlich die Mauer spürte. Ihre Augen zuckten nach rechts und sie sah die Stufen, die sie vor wenigen Augenblicken erst hinaufgekommen war. Sie würde niemals schnell genug sein, um vor ihm davon zu laufen. Aber es schien nur er allein zu sein. Vielleicht konnte sie ihm ja doch entkommen.

Doch mit seinem triumphierenden Lächeln schwand ihre Hoffnung auch wieder.

Jonathan Semerloy stand nun direkt vor ihr.

Annies Herz schlug laut und heftig in ihrer Brust. Ihr Atem ging stoßweise und Schweiß brach ihr aus allen Poren aus. Jonathan hob eine Hand und fuhr mit dem Daumen über ihre zitternde Unterlippe. Sie war starr vor Angst. „So rot und so verführerisch. Wie viele Männer haben diese Lippen wohl schon geküsst? Dabei hätte dir das gar nicht zugetraut.“, flüsterte er heißer.

Annie schluckte, doch ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass es schmerzte. Ohne, dass er es direkt ausgesprochen hatte, wusste sie, dass er sie gesehen hatte. Aber wie? Es war doch dunkel!

„Du bist eine kleine Hure.“, fuhr Semerloy fort und nun war seine Stimme kalt und schneidend. „Wer hätte das gedacht? Ich bin fast ein wenig gekränkt.“

Bei dieser Beleidigung schnappte sie nach Luft. Noch nie hatte jemand sie so genannt. Wie konnte er es wagen! Er kannte sie nicht! Er hatte keine Ahnung!

Wütend funkelte sie ihn an. Jonathan Semerloy hob fragend und scheinbar auch amüsiert die Augenbrauen. Offenbar fand er es ganz erheiternd sich anzuhören, was sie zu sagen hatte.

„Ihr habt keine Ahnung!“, zischte sie und erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder. Nie zuvor hatte sie so voller Verachtung und Hass gesprochen. „Wagt es nie wieder mich eine Hure zu nennen! Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, wäre ich niemals die Frau von diesem... diesem Monster geworden! Ich habe immer einen anderen geliebt! Ihr kennt mich nicht! Ihr wisst nicht, wie es ist jemanden zu lieben, den man nicht lieben darf! Also urteilt nicht über mich! Heute Nacht habe ich das einzig richtige getan.“ Ihr Burstkorb hob und senkte sich heftig und ihr schwirrte von ihren eigenen Worten der Kopf.

Schweigend sah er sie an, dann verzog sich sein Gesicht zu seiner Maske aus Wut. Er holte mit der Hand aus. Annie hob die Hände, um ihren Kopf zu schützen, doch er schlug neben sie auf die Wand ein. „Du hast keine Ahnung!!!“, schrie er sie laut an. „Ich habe mich immer an die Regeln gehalten und konnte trotzdem nicht verhindern, dass-“ Plötzlich brach er ab, als wurde er sich erst richtig bewusst, was er hatte sagen wollen. Auf einmal fuhr er mit seiner Hand grob in ihre Haare. Im nächsten Augenblick konnte Annie seine Lippen auf ihren spüren.

„Nein.“, formte sie unter seinem Mund und versuchte ihn von sich zudrücken. Doch er ließ nicht von ihr ab, sondern küsste sie nur umso heftiger. Dieses Mal stemmte sie richtig ihre Arme gegen seine Brust. Seine rechte Hand fuhr ihren Körper entlang und berührte ihren Busen.

„Nein!“, sagte sie noch einmal. Nicht einmal schreien würde ihr etwas nützen, realisierte sie mit Schrecken. Niemand würde sie hören. Sie versuchte alle Kraft aufzubringen, die sie hatte. Tränen rannen ihr über die Wangen. „Warum tut ihr das?“, fragte sie verzweifelt, während er nun ihren Hals küsste.

„Ich nehme mir nur, was ich will.“, antwortete Jonathan und küsste ihr Ohr.

„Warum?“

„Ich weiß genau wie es ist.“, antwortete er und versiegelte ihren Mund erneut.

Das durfte nicht geschehen!, dachte Annie panisch. Ihr Leben war ihr egal, aber nicht das Kind. Sie musste sein Kind beschützen! Das war sie ihm schuldig, unter allen Umständen und egal was es sie kosten würde. Noch einmal versuchte sie all ihre Kräfte aufzubringen und Jonathan Semerloy mit einem Ruck von sich zu stoßen. Die Angst um ihr Kind verlieh ihr zusätzliche Kräfte. Sie fühlte sich stärker, als irgendwann schon einmal zuvor.

Zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr sogar. Auch Jonathan war sichtbar überrascht. Das Staunen war offen in seinem Gesicht zu sehen.

Ein paar Schritte stolperte er zurück.

Zu viel.
 

Plötzlich kippte Jonathan Semerloys Körper nach hinten. Annie sah, wie sein linker Fuß in der Luft hing. Der rechte stand halb auf der Treppenstufe. Seine Arme suchten nach Gleichgewicht, wo es keines mehr gab. Sein Gesichtsausdruck änderte sich blitzschnell von Staunen zu Ungläubigkeit und schließlich, als er realisierte was geschah, in nackte Angst.

Ohne nachzudenken machte Annie einen Satz nach vorn und streckte die Arme nach ihm aus. Obwohl sich die Zeit plötzlich endlich auszudehnen schien, verfehlte sie ihn knapp. Ihre Finger griffen ins Leere.

Einen Wimpernschlag lang schien Jonathan Semerloy in der Luft zu schweben. Sein Körper zeichnete einen Bogen. Dann war der Moment vorbei und es ging rasend schnell. Er fiel nach unten.

Hart schlug sein Körper auf den Stufen auf. Er überschlug sich zwei oder dreimal, bevor er die restlichen Stufen nach unten stürzte.

Annie hörte seine Schmerzensschreie.

Und das Brechen von Knochen.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bevor er zum erliegen kam.

Jonathan Semerloy lag mit dem Bauch auf dem kalten Boden. Sein Kopf war zur Seite gedreht, die Augen noch geöffnet. Der linke Arm war merkwürdig verdreht, ebenso das rechte und linke Bein. Der rechte Arm lag unter seinem Körper, als hätte er versucht den Sturz abzufangen. Er rührte sich nicht.

Steif vor Entsetzen starrte Annie ihn an. Sie wartete darauf, dass er sich bewegten oder einen Laut von sich gab. Ein Stöhnen oder Ächzen oder eine seiner Beleidigungen, ganz egal was.

Nichts dergleichen geschah.

Er rührte sich nicht.

Zitternd machte sie einen Schritt nach vorn. Ihre Hände fanden Halt am Mauerwerk. Ohne dass sie es bemerkte, rutschte ihr Körper die Wand nach unten, so dass sie schließlich die Stufen mit den Fingern berührte. Daran hielt sie sich nun fest. Sie kroch die Stufen nach unten. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden.

„Jonathan?“, flüsterte sie heißer und mit kaum hörbarer Stimme. Sie erhielt keine Antwort.

Langsam kroch sie neben ihn, bis sie in seine grünen Augen blicken konnte. Sie schienen blind, starrten leblos ins Leere.

Mit bebenden Fingern berührte Annie ihn an der Schulter, hoffte so ein Zeichen von ihm zu bekommen. Als nichts geschah, schüttelte sie ihn sogar leicht. So, wie sie es früher am Abend mit Draco getan hatte. Gleichzeitig rann eine Träne ihre Wange hinab, als das Geschehene langsam in ihr Bewusstsein drang.

Auch dieses Mal erhielt sie keine Reaktion.

Erst jetzt begriff Annie, was wirklich geschehen war, was sie getan hatte. Entsetzt schlug sie beide Hände vor den Mund um ihren Schrei zu unterdrücken.
 

Sie hatte ihn umgebracht.
 

Sie schrie gegen ihre Handflächen und biss schließlich hinein. Schmerz schoss durch ihre Hand. Es war wahr. Es war nicht nur ein Traum, dachte sie panisch. Ihr Atem ging hektisch, gleichzeitig liefen ihr Tränen in Bächen die Wangen herunter. Als sie schließlich keine Luft mehr bekam, musste sie die Hände wegnehmen. Sie beugte sich nach vorn, stützte sich mit den Händen ab und atmet durch den Mund. Ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt und sie begann zu würgen.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Das hatte sie nicht gewollt! Sie hatte doch nur das Kind schützen wollen!

Sie hatte jemanden getötet! Sie war eine Mörderin!

Wenn Barrington davon erfuhr... Man würde sie bestrafen, sie verurteilen und dann hängen, hinrichten oder bei lebendigem Leib verbrennen.

Sie hatte all dies verdient.

Aber das Kind, rief eine leise Stimme in ihr.

„Das Kind.“, wiederholte sie die Worte laut. Sie musste das Kind in Sicherheit bringen.

Auf einmal spürte sie ein starkes Ziehen im Unterleib, der sie schmerzhaft zusammensinken ließ. Sie musste sich verstecken, dachte sie ängstlich. Sie brauchte ein Versteck, bis das Kind geboren war. Sie musste es in Sicherheit wissen.

Erst dann würde sie sich ihrer gerechten Strafe stellen können.

Sie musste die Burg verlassen, überlegte sie, während ihre Tränen langsam versiegten.

Mit zitternden Knien stand sie auf und machte vorsichtig einen Schritt zurück. Dann noch einen und noch einen. Langsam entfernte sie sich immer weiter vom grausigen Ort ihrer Todsünde. Erst als sie Jonathans Semerloys Leiche nicht mehr sehen konnte, wagte sie es sich umzudrehen. So schnell es ihr möglich war lief sie zum Seiteneingang, von dem sie zuvor gekommen war.

Sie kannte nur noch einen Gedanken: Sie musste fliehen und das so schnell wie möglich und so weit wie möglich.

Ihre Angst trieb sie direkt zum Pferdestall.

Auf dem Hof war es stockdunkel. Annie achtete nicht auf den Weg und sie stolperte hin und wieder, schaffte es aber sich zu fangen, bevor sie fiel. Sie wurde allein von dem Gedanken, ihr Kind in Sicherheit zu bringen, getrieben. Auch, wenn sie wusste, dass ihr eigenes Leben verwirkte war.

Annie war erleichtert, dass sie keinen der Stallburschen wach an traf. Zwei von ihnen schliefen schon vor dem Tor. Es stand noch offen und Annie trat in das dunkle Gebäude ein. Nur eine einzelne Lampe flackerte noch schwach und erhellte den Raum spärlich. Ohne zu überlegen, lief sie weiter in den Stall hinein. Ohne Sattel würde sie nicht reiten können, dachte sie. Selbst mit Sattel war es fraglich, ob sie sich auf dem Pferd würde halten können. Ob es gut oder schlecht für ihren Zustand war, daran verschwendete sie keinen Gedanken. Sie musste weg und das um jeden Preis. Am Ende des Stalles sah sie plötzlich einen braunen, ledernen Sattel auf einem Strohballen abgelegt. Sicher sollte er noch weggeräumt werden, aber das hatten die Burschen nicht mehr geschafft.

So schnell sie konnte, ging sie darauf zu. Neben sich tänzelten die Pferde leicht. Sie waren aufgewacht und eine Box stand sogar offen. Das musste die von Hera sein. Sobald sie merkten, dass Hera verschwunden war, würde sich Dracos Flucht von selber erklären. Vor dem Sattel blieb sie stehen und atmete tief durch. Als sie daneben auch noch das passend Zaumzeug liegen sah, konnte sie ihr Glück kaum glauben.

Mit beiden Armen versuchte Annie den Sattel anzuheben. Nur mäßig gelang es ihr, aber sie würde ihn auf keinen Fall bis in die Box und dann auf das Pferd bekommen. Zuerst einmal musste sie also das Pferd holen. Annie nahm das Zaumzeug in die Hände und ging damit zu der Box, die ihr am nächsten war. Sie hatte keine Zeit wählerisch zu sein. Sie kannte die Tiere sowieso nicht.

Vorsichtig öffnete sie die Tür. Es war ein gräulicher Hengst. Wage kam er Annie bekannt vor. Das Pferd ging misstrauisch einen Schritt zurück und Annie wartete in der Tür, bis es sich beruhigt hatte. Erst dann machte sie einen weiteren Schritt und streckte dabei ihre Hand aus. Vorsichtig kam das Tier näher und ließ sich dann von ihr am Kopf berühren.

„Gutes Pferd.“, flüsterte Annie und redete sanft auf es ein. „Du bist ganz bestimmt ein sehr schnelles Tier und sehr stark. Du wirst mich und mein Kind sicher hier fortschaffen, nicht wahr? Brav.“ Mit geübten Griffen legten sie dem Hengst das Zaumzeug an, während sie weiter auf ihn einredete. Gleichzeitig war sie ihrem Bruder unendlich dankbar, dass er ihr gegen den Willen ihrer Eltern das Reiten gelehrt hatte.

Nachdem fertig war, führte sie das Pferd aus der Box heraus, nahe zu der Stelle an der auch der Sattel lag. Dann strich sie dem Tier noch einmal beruhigend über die Nase. Anschließend beugte sie sich noch einmal über den Sattel. Sie würde nur einen Versuch haben. Würde es misslingen, würde sie das Tier nur unnötig scheu machen und vor allem keine Kraft mehr für einen zweiten Versuch haben.

Zuerst drehte sie den Sattel so, dass sie ihn auf den Rücken des Tieres schwingen konnte. Dann umfasste sie den Sattel mit beiden Händen und begann bis drei zu zählen: „Eins, zwei, drei.“ Bei drei nahm sie all ihre Kraft zusammen, riss den Sattel hoch und schwang ihn auf den Rücken des Tieres. Er lag schief und ein Steigbügel hatte sich zwischen Sattel und Pferderücken verklemmt. Das Tier wurde unruhig. Annie wusste, dass sie ihm wehtat, aber zuerst musste sie den Sattel richtig auf seinen Rücken platzieren. Erst, als sie das geschafft hatte, ging sie um das Tier herum. Kurz streichelte sie das Pferd auf dem Nasenrücken. Dann stemmte sie eine Hand unter den Sattel. Mit der anderen zog sie den Steigbügel hervor. Sie rückte den Sattel noch ein wenig zurecht und redete die ganze Zeit weiter auf das Tier ein. Langsam beruhigt es sich wieder. Als sie sicher war, dass der Sattel gut saß, schloss sie den Verschluss.

Kurz verspürte sie ein neues Ziehen im Bauch und sie blieb einen Moment regungslos stehen. Es war zu anstrengend. Aber es würde bald vorbei sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie wusste zwar noch nicht, was sie tun würde, aber wenn sie erst einmal weg von der Burg war, würde ihr sicher etwas einfallen.

Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, stellte sie sich nun auf den Strohballen. Es war so fest gebunden, dass es sie tragen konnte. Von dort aus, setzte sie einen Fuß in den Steigbügel. So fiel es ihr leichter aufzusitzen. Doch das Sitzen war ihr unangenehm. Ihr runder Bauch drückt gegen den Knauf und ihr Kleid hatte sich irgendwo verhakt. Sie versucht es hervorzuziehen, doch es gelang ihr kaum. Also ließ sie es bleiben. Es raubte ihr nur wertvolle Zeit.

Mit einem kurzen Schnalzen der Zunge brachte sie das Tier dazu sich in Bewegung zu setzen. Das Geräusch der Hufe, die auf den steinernen Boden aufschlugen, war das einzige in das Nacht. Es bereitete Annie eine Gänsehaut. Die Burg lag wie ausgestorben da. Und dann musste sie an denjenigen denken, der am Fuße der Treppe lag.

Sie ritt durch das große Tor und begann gleichzeitig zu überlegen, wo sie eigentlich hinwollte. Zu Alexander konnte sie auf keinen Fall gehen, denn das würde gewiss der erste Ort sein, an dem Barrington nach ihr suchen würde. Vielleicht konnte sie in die Richtung reiten, in die Draco geritten war. Vielleicht würde sie ihn einholen können. Für einen kurzen Moment gab sie sich der Illusion hin, dass sie gemeinsam fliehen könnten. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein, für sie gab es keine glückliche Zukunft. Nicht nachdem, was sie getan hatte.
 

Annie konnte nur im Trapp reiten. An einen schnellen Galopp war nicht zu denken. Zu sehr schmerzte es in ihrem Unterleib und das Stechen kehrte zurück. Die Stadt verließ sie. Sie war dankbar dafür, dass Barringtons in seiner Eitelkeit die Stadtmauer hatte abreisen lassen, um eine neue, größere zu errichten. So hatte Draco zuvor schon ungehindert die Stadt verlassen können und nun auch sie.

Der Vollmond spendete ihr Licht und Annie wählte einen Weg weiter abseits, der an einem schmalen Waldweg entlangführte. Es hatte seit Tagen nicht geregnet und das Gras war trocken. Sie würde keine sehr auffälligen Spuren hinterlassen. Und wenn, dann bestand immer noch die Möglichkeit, dass Wildtiere sie wieder unkenntlich machten.

Alles um sie herum war still und bei jedem Knacken, welches aus dem Wald drang, zuckte sie ängstlich zusammen. Für Wegelagerer oder Diebe war sie eine leichte Beute. Dabei hatte sie nicht einmal etwas, was man ihr stehlen konnte. Sie besaß nichts, außer dem Kleid auf ihrem Leib und vielleicht noch ihren Haarschmuck.

Plötzlich hörte sie neben sich ein Rascheln und sie umklammerte die Zügel fester. Gleichzeitig versuchte sie sich einzureden, dass es nur ein Tier gewesen war. Vielleicht ein Reh oder Fuchs. Doch das Rascheln kam noch einmal und kurz darauf hörte sie ein kurzes Kichern. Annie sträubten sich die Haare und trotz der Schmerzen, die es ihr bringen würde, trieb sie das Pferd dazu an, schneller zu werden. Aber das Kichern und das Geräusch von Hufen verfolgte sie. Zuerst konnte sie es nur hinter sich hören. Sie blickte nach links, doch konnte sie nichts ausmachen. Es war zu dunkel und das Licht des Mondes reichte nicht bis in das tiefe Astwerk der Bäume hinein. Dann war es plötzlich neben ihr und verstummte auf einmal so schnell, wie es gekommen war. Annie zog an den Zügeln und das Pferd blieb stehen. Mit hämmernden Herzen horchte sie in die Nacht hinein, strengte ihre Augen an, in der Hoffnung, etwas erkennen zu können. Doch der Wald lag schwarz und unheimlich neben ihr. Nur ein paar Grillen hörte sie zirpen und sie atmete erleichtert aus. Sie waren an ihr vorbei geritten. Was wollten sie auch mit einer schwangeren Frau, die nichts bei sich hatte? Sicher hatten sie das eingesehen und waren weiter geritten.

Abermals schnalzte sie mit der Zunge und das Pferd machte einen Schritt nach vorn. Jäh sprang etwas Riesiges, Dunkles aus dem Wald hervor und stellte sich ihr mitten in den Weg. Vor Schreck schrie Annie und das Pferd bäumte sich auf.

„Wohin des Weges schöne Frau?“, sagte eine Männerstimme vor ihr. Erst jetzt wurde sich Annie bewusst, dass es sich um ein Mann und sein Pferd handelte, die plötzlich vor ihr standen. Doch nicht nur vor ihr, realisierte sie mit Entsetzen. Auch hinter ihr tauchte ein Mann zwischen den Büschen auf, gefolgt von einem Weiteren.

„Was für einen interessanten Fang wir doch gemacht haben.“, sagte der Mann vor ihr. „Ihr könnt es leicht haben oder schwer, das liegt ganz bei euch. Gebt uns einfach alles wertvolle was ihr besitzt und das Pferd und wir lassen euch gehen oder wir müssen ein wenig nachhelfen und das würde uns nicht sonderlich gefallen.“, grinste er sie an.

Trotz ihrer Angst konnte Annie nur daran denken, dass sie ohne Pferd noch hilfloser wäre. Barrington hätte sie ohne weiteres eingeholt. Sie schüttelte zitternd den Kopf und flüsterte heißer: „Nein... Ich kann euch das Pferd nicht geben. Ich... Ich habe nur das Tier und das was ich auf dem Leib trage. Ihr könnte es mir nicht wegnehmen.“

„Ach, das tut uns aber leid. Bevor wir es euch wegnehmen, verratet uns doch, warum ihr das Pferd so dringend braucht. Dann haben wir hinterher mehr zu Lachen.“, sagte er hämisch und die anderen beiden lachten laut. Annie strafte die Schultern und sah ihr Gegenüber an. Es gab nicht mehr viel, was sie zu verlieren hatte.

„Ich brauche es, um zu fliehen.“, antwortete sie ehrlich.

Spöttisch sah der Mann sie an. „Ach und wovor?“

„Vor meinem Mann.“

„Ts, was habt ihr ihm denn getan, dass ihr noch in der Nacht vor ihm davon laufen müsst. Wolltet ihr ihm nicht gefällig sein?“ Wieder ertönte schallendes Lachen hinter hier. Annie wurde ganz kalt, als sie daran dachte, was sie tatsächlich getan hatte.

„Ich tötete seinen besten Freund.“, antwortete sie heißer und hielt dennoch dem Blick des Mannes stand. Sie sah wie sich seine Augen vor Schreck weiteten. Die anderen verstummten schlagartig. Sie empfand eine gewisse Genugtuung dabei und das machte ihr noch mehr Angst.

„Ich mache euch ein Angebot.“, fuhr Annie fort, ehe einer der Männer etwas sagen konnte. Sie sagte zwar etwas, doch sie wusste nicht, ob es wirklich sie war, die da sprach. Nie zuvor hatte sie sich so reden gehört.

„Was für eines?“, fragte der fremde Mann und klang schon nicht mehr so spöttisch. Offenbar hatte ihn ihre Antwort nachhaltig beeindruckt.

„Versteckt mich über den Tag, bis zu Einbruch der Nacht. Danach bringt mich zu meinen Bruder. Im Gegenzug verspreche ich euch, das Pferd, meine Kleider, die sich sicher teuer verkaufen lassen, meinen Haarschmuck und noch ein paar extra Goldmünzen.“

„Und wo wollt ihr die Goldmünzen hernehmen? Ihr sagtet doch gerade, dass ihr nichts bei euch habt.“

„Mein Bruder wird sie euch natürlich geben. Er ist ein angesehener Mann und wird euch belohnen.“

„Ich weiß nicht, einen Handel mit einer Frau nimmt nie ein gutes Ende.“, murmelte einer hinter ihr und Annie warf ihm einen abfälligen Blick zu. „Habt ihr Angst vor mir?“, fragte sie und nun war sie es die spöttisch klang. „Ich bin doch nur eine einfache Frau, die eure Hilfe erbittet.“

„Ihr könntet uns jederzeit in einer Falle locken!“, wiedersprach er heftig.

Annie schüttelte den Kopf. „Und wie sollte ich das anstellen? Ihr seid mir zahlenmäßig überlegen, eure Stärke einmal ungeachtet. Ihr habt nichts zu verlieren, sondern könnt nur gewinnen. Alles was ich dafür verlange, ist ein wenig Schutz.“ Genau in jenem Moment spürte sie abermals dieses schmerzhafte Ziehen in ihrem Unterleib und sie zog scharf die Luft ein.

„Wie heißt euer Mann?“, fragte der Mann vor ihr und schien offenbar der Anführer zu sein. Anscheinend war von ihrer Antwort, seine Entscheidung abhängig. Annie zögerte. Sollte die Wahrheit sagen oder wäre dies erst recht ein Grund, sie sofort auszurauben und einfach ihrem Schicksal zu überlassen? Barrington war gefürchtet, gewiss auch bei den wage mutigsten Männern.

„Was ist? Ist euch der Name entfallen?“, drängte er sie zu einer Antwort.

„John Barrington.“, stieß sie aus und schloss die Augen. „Es ist John Barrington, er ist mein Mann.“, flüsterte sie.

Schweigen folgte und unsicher sah Annie die Männer einen nach dem anderen an. Sie konnte in ihren Gesichtern nicht lesen, was sie dachten.

„John Barrington?“, wiederholte er ungläubig. „Als ihr sagte, ihr habt seinen Freund getötet, meintet ihr den, der immer mit ihm unterwegs ist? So ein großer, blonder?“, fragte der Anführer schließlich. Annie nickte und zog die Schultern nach oben. Wenn sie daran dachte, wie Jonathan die Treppe herunterfiel, an seinem überraschten Gesichtsausdruck und die starren Augen, wurde ihr ganz schlecht.

„Wie ist es passiert?“

„Es... es war ein Unfall... Er wollte mich ber- berühren und ich habe ihn die Treppe heruntergestoßen.“, stammelte Annie und Tränen traten in ihre Augen. Mörderin!

„Er hat es verdient.“, stieß ihr Gegenüber auf einmal so heftig aus, dass sie zusammenzuckte. „Auch ich habe schon meine Bekanntschaft mit ihm gemacht oder besser gesagt meine Frau. Zumindest war sie das damals noch. Keine Ahnung was jetzt aus ihr geworden ist.“, sagte er verächtlich und Annie konnte den Schmerz aus seiner Stimme hören. Sie musste nicht einmal fragen, was geschehen war. „Was immer sie getan haben, er hat es verdient. Wir werden sie morgen Nacht sicher zu ihrem Bruder bringen, sie haben mein Wort darauf.“, sagte der Mann. Überrascht blickte Annie ihn an. Doch noch bevor sie ihm danken konnte, gab er einem der Männer hinter ihr ein Zeichen und dieser griff nach ihren Zügeln. Zum Dank nickte Annie stumm. Sie fragte nicht einmal danach, wo man sie hinbrachte, sondern legte ihr Schicksal ganz in die Hände dieser fremden Männer. Sie hatte wirklich nichts mehr zu verlieren.
 

Die Sonne war kurz vorm Aufgehen, als sie endlich anhielten. Vollkommen erschöpft hob Annie den Kopf. Sie standen vor einem heruntergekommenen Haus, irgendwo am Rande der Stadt. Die Fenster waren an einigen Stellen eingeschlagen und das Dach teilweise eingefallen. Niemand würde wohl auf die Vermutung kommen, dass sich hier überhaupt jemand aufhielt, dachte sie

Einer der Männer stieg ab und half ihr vom Pferd. Inzwischen war sie so schwach, dass ihre Beine sofort nachgaben, als ihre Füße den Boden berührten. Der Unbekannte stützte sie. Auch ihr Blick war verschwommen. In ihrem Nacken spürte sie den Atem des Pferdes und sie sah es an. Vorsichtig strich sie ihm über die Nase. Es hatte sie weit gebracht. Doch als sie erkannte, welche Farbe sein Fell wirklich hatte, erstarrte sie. Es war ein schneeweiser Schimmel. Ein großartiges, prächtiges Tier. Genau so einen Schimmel hatte Jonathan... Entsetzt ließ Annie die Hand sinken. Ein wahnsinniges Lachen bildete sich tief in ihr und nur mit Mühe unterdrückte sie es. Von all den Pferden in Barringtons Stall, wählte sie ausgerechnet, dass, dessen Besitzer sie umgebracht hatte.

Wie grausam konnte das Schicksal sein?

Am ganzen Körper zitternd würde sie in das Haus geführt, zu einer windgeschützten Ecke. Dort war ein einfaches Lager errichtet worden, ausgestattet mit Decken und sogar Kissen. Man hatte sie anscheinend direkt in ihren Unterschlupf gebracht.

„Mann, sie sehen echt fertig aus.“, sagte der Anführer und strich ihr über die Wange. „Sie können sich hier beruhig ausruhen. Es wird sie niemand finden und wenn, dann schaffen wir sie vorher weg. Niemand sollte den Zorn von John Barrington ausgesetzt sein und schon gar nicht, nachdem was sie getan haben.“

Ohne seine Worte richtig verarbeitet zu haben, nickte Annie trotzdem und ließ sich dann in die Decken sinken. Bevor sie in den Schlaf glitt spürte sie noch einmal das Ziehen.
 

Mühsam öffnete er die Augen. Seit einiger Zeit war Hera langsamer geworden. War sie zu Beginn ihrer Reise im schnellen Galopp geritten, trappte sie nun mehr vor sich hin. Ihr Rücken schaukelte in einem gleichmäßigen Takt unter ihm und hatte ihn immer wieder in den Schlaf gelockt.

Nur wage erkannte Draco, das sie durch einen Wald ritten. Doch welcher Wald es war oder wie lange sie eigentlich schon unterwegs waren, konnte er nicht sagen. Seine Erinnerungen verschwammen, wenn er versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Etwas, was ihm zuvor noch nie passiert war.

Obwohl Hera die ganze Arbeit geleistet hatte, so war es ihm doch, als hätte er die Strecke zu Fuß zurückgelegt. Er wollte ausruhen, schlafen. Für einen kurzen Moment, kam ihm in den Sinn, wie erbärmlich das klang. Der Drache, der er einst gewesen war, war endgültig gestorben.

Sein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, doch es währte nur kurz.

Plötzlich kam Hera zum Stehen. Bewegungslos verharrte Draco auf ihrem Rücken, zu schwach das Seil zu lösen. Erst da nahm er das vertraute Gurgeln eines Bachlaufs war. Ein Blick nach unten bestätigte es ihm. Hera hatte an einer Quelle halt gemacht. Sie trank bereits davon. Er sollte auch etwas trinken, dachte Draco langsam. Er war ausgedorrt. Mit der rechten, gesunden Hand, tastete er an den Taschen entlang, die an dem Sattel befestigt waren. Er musste seinen Körper ein wenig krümmen, damit seine Hand in die Tasche fassen konnte. Zuerst spürte er nur Stoff und Leder. Seine Finger stießen schließlich auf etwas festes, ledernes und schließlich kaltes Metall.

Erleichtert atmete Draco auf. Er hatte gewusst, dass Alexander an so etwas gedacht haben würde. Draco zog den Dolch aus der Satteltasche. Er legte den Zeigefinger auf die Klinge, um ein besseres Gefühl dafür zu haben, wie er den Dolch führte. Anschließend führte er ihn unter das Seil und mit einer schnellen Ruckbewegung schnitt er es durch. Er spürte, wie sein Körper nun etwas lose auf dem Rücken lag. Wäre er nicht an der einen Seite noch festgebunden, wäre er sicher heruntergefallen. Mühsam hob Draco den rechten Arm und gleichzeitig den linken und nahm den Dolch so in die linke Hand. Dann machte er das gleiche auf der anderen Seite. Sobald das Seil durchschnitten war, hielt ihn nichts mehr auf Hera und er glitt seitlich von ihrem Rücken herunter. Unsanft landete er mit dem Rücken auf der Erde, den Dolch noch immer fest umklammert.

Er würde ihn auch nicht loslassen.

Zitternd drehte er sich um. Der Bach lag direkt vor ihm. Mit den Händen klammerte sich Draco am Gras fest und zog sich nach vorn. Sein Kopf war etwas über dem Ufer und er streckte die rechte Hand nach dem Wasser aus. Er nahm eine Hand voll und trank es gierig, genauso wie es Hera neben ihm tat. Das wiederholte er noch eins, zwei Mal, dann verließen ihn wieder die Kräfte. Er brauchte einen Unterschlupf. Vorsichtig drehte er den Kopf ein wenig. Dieser Teil des Waldes war von Büschen und Hecken überwuchert. Niemand würde ihn sehen können, wenn er darin ein Versteck fand. Hera würde besser auf sich aufpassen können, als er jemals in der Lage dazu gewesen war, dachte er bitter. Auf die Ellenbogen gestützt kroch Draco nach vorn. Sein Blick war starr auf den Busch vor ihm geheftet. Unten, nahe dem Boden, war er nicht ganz so stark bewachsen. Es sah sogar beinah so aus, als wäre es das Versteck eines Rehs gewesen. Wenn er dort war, würde er ausruhen können, sagte er sich immer wieder. Nur noch ein Stückchen.

Mit letzter Kraft schleppte sich Draco unter den Busch. Den Dolch hatte er noch immer in der Hand und platzierte ihn schützend vor seinem Körper. Kaum war er im Schatten der Zweige, Äste und Blätter gelegen, verschwand die Welt um ihn herum auf ein Neues.
 

Den Tag verbrachte Annie in einem halbwachen Zustand. Ihr Körper war zwar vollkommen erschöpft, doch ihr Geist war zu aufgewühlt, um erholsamen Schlaf zu finden. Immer wenn sie dabei war in den Schlaf abzudriften, sah sie wie sie Jonathan Semerloy die Treppen herunter stieß und er tot an dessen Ende liegen blieb.

Einer der Männer ging irgendwann. Die anderen gaben ihr Wasser und einen Kanten Brot, wobei sie das Brot nicht herunterwürgen konnte. Sie hatte keinerlei Appetit. Nicht einmal der Gedanke an das Kind, konnte sie dazu bringen etwas zu essen.

Erst am Nachmittag kam der Mann zurück. Abermals war sie aus einem Albtraum erwacht und streichelte ihren Bauch. Das Ziehen in ihrem Unterleib kam und ging und sie betete, dass es so bleiben würde. Inzwischen war ihr nur zu bewusst, was es eigentlich bedeutete. Aber es durfte einfach noch nicht sein.

„Ich kann Ihnen sagen, sie haben ganze Arbeit geleistet.“, sagte einer der Männer zu ihr. Annie schaute ihn mit verschleiertem Blick an.

„Was meinen sie?“, brachte sie zwischen trockenen Lippen hervor. Der Mann vor ihr hatte schwarzes, lockiges Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte. Es sah schmutzig und strähnig aus, doch es tat seinem Gesicht keinen Abbruch. Denn das war recht hübsch, stellte Annie fest. Glatte, ebenmäßige Züge, volle Lippen und grau-blaue Augen. Über seine Nase zog sich eine rosa Narbe, die ihn gefährlich wirken ließ, auch wenn Annie den Eindruck hatte, das er das eigentlich gar nicht war oder sein wollte. Seine Kleidung war abgetragen und doch bewegte er sich mit einer Gewandtheit, die vermuten ließ, dass er eine anständige Bildung und Erziehung genossen hatte. Nach seinen Namen hatte sie nicht gefragt und das würde sie auch nicht. Er würde ihnen allen nur zum Verhängnis werden.

Ein anderer reichte ihr noch einmal einem Becher Wasser und sie trank es dankbar. Dieser Mann war klein und ein wenig untersetzt, doch unter seinem Hemd und der ledernen Weste konnte sie feste Muskeln sehen. Er hatte fliehendes, aschblondes Haar und seine Augen waren braun. Seine Nase war ein wenig Schief, als wäre sie schon einmal gebrochen gewesen. Doch auch sein Gesicht wirkte auf sie freundlich. Sie konnte gar nicht glaube, dass diese Männer Wegelagerer sein sollten und unschuldige Reisende ausraubten. Genauso erging es ihr auch mit dem dritten Mann. Er hatte rötliches Haar und Sommersprossen im Gesicht verteilt. Seine Augen waren grün, braun und er war von großer und kräftiger Statur.

„Nun, ihr Gatte lässt sie im ganzen Land suchen. Sie und noch einen Gefangenen, den er als groß, sehr hellhaarig und blauäugig beschreiben ließ. Außerdem sollte er wohl eine Brandmarkung in der linken Hand haben. Auch er ist gestern Nacht aus der Burg verschwunden. Eure Flucht und die des Anderen hängen nicht zufällig zusammen?“, fragte der schwarzhaarige Mann und musterte sie eindringlich.

„Nein.“, flüsterte Annie und widerstand dem Drang den Kopf zu senken. Diese Geste hätte sonst alles verraten. Dennoch konnte sie in seinem Gesicht sehen, dass er ihr nicht richtig glaubte.

„Es ist eine hohe Belohnung, sowohl auf sie als auch auf den Kerl ausgesetzt.“, fuhr er fort und zog dabei seinen Dolch aus der Scheide. Scheinbar in Gedanken versunken, warf er ihn von einer Hand in die andere.

Einen Moment war Annie über dieser Nachricht erschrocken. Ihre Bedeutung war ihr nur allzu verständlich. Doch dann besann sie sich. Diese Männer waren nicht dumm und jeder von ihnen hatte wohl schon genug über John Barrington gehört. „Sie wissen, dass sie ihre Belohnung niemals erhalten werden, auch wenn sie mich jetzt auf der Stelle zu ihm bringen.“

„Ts, ja.“, antwortete er verächtlich. „Es bringt uns wirklich mehr, wenn wir dann ihr Pferd nehmen und das verkaufen. Würden wir sie zurückbringen, würden wir wahrscheinlich mit am Galgen landen.“

Annie nickte leicht. Sie war froh, dass diese Männer sich nicht so leicht von Gold und Versprechungen täuschen ließen. Auch, wenn sie ihr nur aus eben diesem Grund halfen. Sie sog scharf die Luft ein, als das Ziehen plötzlich wieder durch ihren Körper fuhr. Sie hielt sich den Bauch.

„Sie bekommen jetzt aber nicht ihr Kind?“, fragte der Blonde. Annie musste bei der Panik in seiner Stimme sogar leicht lächeln.

„Ich denke, es ist noch Zeit.“, antwortete sie und schloss die Augen. Sie hoffte, sie würde es noch bis zu Alexander schaffen – wenn Barringtons nicht seine Wut an ihm ausgelassen hätte. Zweifelsohne würde er bei ihm zuerst nach ihr suchen.
 

Nach Einbruch der Dunkelheit wurde sie von einem Rütteln an der Schulter geweckt. Irgendwann war sie schließlich doch vor Erschöpfung eingeschlafen. Der rothaarige Mann kniete über ihr und half ihr nach oben.

„Es ist alles ruhig und aus der Stadt gab es auch nichts Neues.“

„Wissen sie ob Barrington bei meinem Bruder gewesen ist?“, fragte Annie ängstlich.

„Nein, wie gesagt man hört nichts. Es wird sogar erzählt, dass Barrington seit heute Morgen nicht wieder in die Burg zurückgekehrt ist. Wir sollten jetzt aufbrechen. Sie reiten mit mir im Sattel. So wie sie aussehen, würden sie ohnehin nur sofort wieder vom Pferd rutschen.“

Wiederstandlos ließ Annie sich auf die brauen Stute aufhelfen und ließ auch zu, dass er die Arme um ihren Taille legte. Sie lehnte sich sogar gegen seine Brust, einfach um ihren eigenen Körper zu entlasten.

Bereits am Tag hatte Annie ihnen beschrieben, wie sie zu Alexander gelangen könnten. Mit gleichmäßigen Atemzügen versuchte sie den Schmerz, den die Wehen verursachten abzuschwächen. Die Abstände waren geringer geworden und noch mehr Angst machte sich in ihr breit. Warum wollte es jetzt schon geboren werden?, dachte sie verzweifelt.

Willkommen und Abschied

Alexanders Hof lag ruhig da. So ruhig, wie es hätte sein sollen, um diese Nachtzeit. In der Küche brannte ein schwaches Licht. Es war nicht ungewöhnlich. Doch Annie wusste, dass es trügerisch sein konnte. Ihr Herz zog sich zusammen und sie atmete mehrmals ein, um sich zu beruhigen. Sie standen in etwas weiterer Entfernung vor dem Haus. Keiner von ihnen war sicher, was sie erwarten würde, sobald sie sich der Tür näherten. Schließlich nickte Annie. Der Mann hinter ihr saß vom Pferd ab und half anschließend ihr herunter. Zu viert gingen sie zur Tür. Aus den Augenwinkeln sah Annie, wie die drei Männer sich wachsam umsahen, die Hand an ihren Dolchen oder Schwertern.

Sie legten den Weg bis zur Tür zurück und Annie blieb davor stehen. Der dunkelhaarige Mann neigte den Kopf in Richtung Tür, während er mit den Finger auf die Seiten links und rechts davon deutet. Annie verstand ihn. Sie sollte klopfen und die anderen beiden würden sich an der Tür positionieren.

Kurz blickte sich Annie noch einmal um. Es sah nicht so aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Dennoch war dies noch kein Grund erleichtert zu sein.

Der schwarzhaarige Mann stellte sich leicht vor sie, während die anderen beiden links und rechts neben der Tür Stellung bezogen. So würden sie geschützt sein, wenn sich Barringtons Leute doch in den Haus aufhalten würden. Sie hätte das Haus vielleicht noch ein wenig länger beobachten sollen. Doch sie hatte keine Zeit mehr. Annie biss die Zähne fest zusammen, um nicht aufzuschreien. Die Wehen kamen nun in regelmäßigen, immer kürzer werdenden, Abständen, dass sie am liebsten geweint hätte, wenn sie gekonnt hätte.

Das erste Mal klopfte sie noch zaghaft, doch niemand antwortete. Also schlug sie heftiger gegen das Holz. Ihr Herz klopfte genauso stark in ihrer Brust, dass ihr schwindlig wurde. Gleichzeitig schickte sie immer wieder stumme Gebete gegen den Himmel, dass Alexander und Susan nichts passiert sei. Auch jetzt öffnete niemand. Die drei Männer sahen sich bedeutungsvoll an.

Nein, das durfte nicht sein!, schrie es in ihrem Kopf. Mit den Fäusten hämmerte sie so fest sie konnte gegen das Holz und schrie dabei seinen Namen. Wenn sie ihn auch noch verloren hatte, konnte sie genauso gut gleich sterben. Dann würde auch das Kind keinen Platz mehr in dieser Welt haben.

„Alexander! Alexander mach auf!“, schrie sie immer wieder, so dass sich ihre Stimme überschlug. Blanke Angst hatte von ihr Besitz ergriffen.

Der Schwarzhaarige packte sie und wollte sie von der Tür wegziehen, als der rothaarige plötzlich die Finger auf die Lippen legte und den Kopf zur Tür neigte. Augenblicklich verstummten sie alle. Von drinnen konnten sie nun eilige Schritte hören, die Annie nur zu vertraut waren. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen.

Annie starrte ihren Bruder an. Sie konnte nicht glauben, dass er es wirklich war. Er schien vollkommen unversehrt! Nur sein Gesicht war ungewöhnlich blass und seine Augen stark gerötet. Mehr nahm sie nicht war, denn da hatte Alexander sie bereits in eine fest Umarmung gezogen.

„Gott, Annie!“, stieß er aus und küsste sie auf das Haar. Etwas, was er seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Ein Schluchzen entfuhr ihr und sie klammerte sich an seine Brust. Alexanders Umarmung schien noch fester zu werden und Annie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob nur sie es war die zitterte.

„Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“, flüsterte Alexander mit gebrochener Stimme, was sie nur noch mehr weinen lies. Sie hatte das gleiche gedacht.

„Was ist passiert? Wer seid ihr?“, hörte Annie ihn schließlich fragen. Er sprach zu den drei Männern und sie wusste, dass sie es hätte erklären sollen, doch sie brachte es nicht über sich ihn loszulassen.

„Niemand.“, hörte Annie einen von ihnen antworten. „Wir haben sie hergebracht, das ist alles.“ Dann hörte Annie, wie sie sich umdrehten und gingen. „Nein, bezahlen...“, flüsterte sie, während sie abermals von einer Wehe geschüttelte wurde.

„Nein, schon gut.“, sagte einer der Männer in ihrem Rücken. „Wir nehmen das Pferd das reicht uns. Viel Glück noch.“ Dann müssen sie gegangen sein, denn Annie spürte, wie Alexander sie in das Haus zog. Bereitwillig ließ sie sich zu dem großen Sofa führen, dass in der Ecke des Raumes unter der Treppe stand.

„Leg dich hin.“, flüsterte er. „Wie lange schon? Wie lange hast du schon Wehen?“, fragte er sie eindringlich. Sie war erleichtert, dass er begriff, ohne dass sie es erklären musste.

„Seit gestern, glaube ich.“, brachte sie keuchend hervor. „Aber... auf dem Weg hierher... ist es so... Aah...“, schrie sie und bäumte den Körper auf, um den Schmerz erträglicher zu machen.

„Gut, gut... leg dich hin, hörst du. Tief ein- und ausatmen.“, hörte sie Alexander sagen, während er ihr über die Stirn strich. Sie versuchte seinen Rat so gut wie möglich zu befolgen. Annie sah verschwommen, wie er sich von ihr entfernte. Kurz darauf vernahm sie in Klappern von Schüsseln, Wasserplätschern und das Rascheln von Decken. Wenigen Augenblicke später war Alexander wieder bei ihr. Die Decken schob er ihr behutsam unter den Körper. Sie versuchte ihm so gut sie konnte zu helfen, doch sie war kaum bewegungsfähig. Doch sofort lag sie bequemer. Eine andere Decke legte er auf sie. Dann stand er abermals auf und als er zurückkehrte, legte er ihr ein feuchtes, kühles Tuch auf die Stirn. Sofort schien der Schmerz in ihrem Kopf ein wenig abzuebben. Annie konnte klarer denken, doch damit kehrte auch die Erinnerung an ihre Tat zurück. Sie musste es jemanden sagen, dachte sie verzweifelt. Es würde sie sonst zerdrücken.

„Ich habe ihn umgebracht.“, flüsterte Annie. Augenblicklich hielt Alexander inne.

„Was?“, fragte er verwirrt.

„Jonathan,... er ist tot. Ich habe ihn umgebracht.“, schluchzte sie und unterdrückte den nächsten Schmerzensschrei. „Er hat uns gesehen und... Ich habe ihn weggestoßen... an der Treppe. Und er ... er fiel... einfach... Er fiel einfach herunter. Er ist... Er... Jonathan... Ich habe ihn umgebracht. ... Er ist tot.“ Ihre Worte waren nur noch ein Stammeln und sie wusste selbst nicht, ob es überhaupt einen Sinn ergab, was sie da sagte. Annie sah, wie ihr Bruder sie fassungslos anstarrte, dann schüttelte er auf einmal heftig den Kopf.

„Versuche nicht daran zu denken. Das Kind ist jetzt wichtiger.“, sagte er bestimmt und strich ihr durch das Haar. „Du musst jetzt dafür stark sein.“ Schwach nickte sie und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Er hatte ja recht. Trotzdem gab es noch so vieles, was sie wissen musste.

„War er hier?“, fragte sie weiter. Kurz darauf wurde sie von einer neuen Wehe geschüttelte und sie keuchte auf.

„Wer?“, erwiderte Alexander. Er wusste doch von wem sie sprach, dachte Annie. Warum ließ er es sie sagen?

„John.“

Ohne sie anzusehen nickte Alexander und Annie wusste, dass etwas nicht stimmen konnte. Erst jetzt dachte sie an Susan und ihr Kind. Was, wenn John...

„Was... Was hat er getan?“, fragte sie zittrig.

„Nichts... Er wollte wissen, ob du hier bist oder warst. Ich verneinte und ließ ihn das Haus und die Stallungen durchsuchen. Als er dich nicht fand, ging er wieder.“

Trotz der Schmerzen sah Annie ihren Bruder ungläubig an. „Einfach so?“

„Ja, einfach so.“ Er log, dass wusste sie. Unter anderen Umständen hätte sie ihn danach gefragt, doch erneut überkam sie eine Wehe und dieses Mal konnte sie den Schmerz nicht hinweg beißen.

„Hier...“ Alexander drehte ein Stofftuch in seiner Hand und legte es Annie anschließend in den Mund. Die nächste Wehe kam. Aus den tränennassen Augen sah sie, wie Alexander sich die Hände im heißen Wasser wusch. Er sah konzentriert und angespannt aus, aber da war noch etwas anderes, dachte sie kurz. Er ging gebeugt, als würde er eine schwere Last auf seinen Schultern tragen. Sie konnte den Gedanken nicht weiter spinnen, denn die nächste Wehe kam. Alexanders Worte konnten sie nicht im Geringsten beruhigen und ihr etwas von der Angst nehmen.
 

Doch beim ersten Schrei ihres Kindes, schien all dies in weiter Vergangenheit zu liegen und vergessen. Ungläubig musste Annie lachen. Sie war erschöpft und unendlich müde, aber so glücklich, wie sie es seit den liebevoll verbrachten Stunden mit Draco nicht mehr gewesen war. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, als ihre Gefühle sie gar zu überwältigen drohten.

„Gibt ihn mir.“, forderte sie ihren Bruder schließlich auf und hob den Kopf. Als sie dann Alexanders Gesichtsausdruck sah, hielt sie inne. Er wirkte so traurig und niedergeschlagen. Als würde der Anblick ihres Kindes ihm unerträgliche Schmerzen bereiten. Im nächsten Augenblick verschwand es jedoch und Annie war sich nicht sicher, ob sie es sich nicht doch nur eingebildet hatte. Mit einem leichten Lächeln legte er ihr das Kind, das er in eine Decke gewickelt hatte, in die Arme. Sobald es Annie berührte hörte es auf zu Schreien und sah sie scheinbar direkt an. Als würde es sie erkennen. Als wüsste es sehr genau, was geschehen war. Vielleicht tat es das auch, dachte Annie, während ihr Herz vor Liebe für das kleine Wesen überquoll.

„Es ist ein Junge.“, sagte Alexander flüsternd.

„Ja.“, erwiderte sie schlicht. Es überraschte sie nicht im Geringsten. Liebevoll strich sie über den kleinen Kopf ihres Sohnes und spürte dabei mehr, als dass sie ihn sah, den dünnen Haarpflaum. Nur wenn sie genau hinsah, erkannte sie feines, helles, blondes Haar. Seine Augen waren von einem strahlenden, eisigen Blau. Ganz so wie es auch Dracos waren. Ihre Liebe wuchs nur noch mehr und ihr Lächeln wurde noch breiter. Er war ganz wie sein Vater, dachte sie.

Und dann begriff Annie, dass es gut war, so wie es geschehen ist. Ganz gleich, wie grausam es gewesen war. Sie hätte das Kind niemals als Barringtons oder gar Semerloys ausgeben können. Niemand hätte ihr geglaubt.

„Willkommen.“, flüsterte sie schließlich leise und eine Träne rollte ihre Wange hinab. Sie küsste ihren Sohn sanft auf die Stirn. In ihren Gedanken war sie dabei bei dem Mann, den sie liebte. Sie hätte alles gegeben, wenn er in diesem Moment hätte bei ihr sein können. Was würde Draco sagen? Wie würde sein Gesicht aussehen? Was würde er tun?

Sie würde es nie erfahren. Mehr Tränen stahlen sich aus ihren Augen, aber sie lächelte dennoch tapfer. Wo immer er war, er war in Sicherheit, redete sie sich selbst ein.

„Wie willst du ihn nennen?“, fragte Alexander sanfte neben ihr und strich ihr die verschwitzen Haare aus dem Gesicht. Erst da wurde sie sich seiner Gegenwart wieder bewusst.

„Luan.“, erwiderte sie schlicht und betrachtete ihn noch immer zärtlich.

Fragend hob Alexander eine Augenbraue und Annie musste schmunzeln. „Kannst du dir denn nicht denken warum?“, fragte sie mit einem Lächeln.

„Doch das kann ich.“, seufzte er gespielt und schüttelte den Kopf. Jetzt musste Annie sogar ein wenig lachen. „Weil ich ihn genauso sehr liebe, wie Draco den Mond.“, fügte sie hinzu.

Wieder versank sie in schweigender Betrachtung. Sie konnte nicht genug von Luans Anblick bekommen. Nie wieder wollte sie ihn loslassen. Sie wollte bei ihm sein, ihn aufwachsen und lachen sehen.

Deswegen war es an der Zeit zu gehen. Je länger sie blieb, desto schwerer würde es werden. Annie wusste nicht einmal, ob sie es jetzt noch schaffen würde.

Sie sah ihren Bruder an und dieser schien sie ohne jedes Wort zu verstehen.

„Du musst das nicht tun.“, sagte er.

„Doch, das muss ich. Ich habe Draco verloren, ich bringe euch in Gefahr und ich habe jemanden umgebracht. Ich kann doch nicht einfach davon laufen.“

„Aber das Kind?“, warf er ein.

Mit tränennassen Augen sah sie ihn an. „Ich weiß es ist viel verlangt, aber...“, sagte sie zitternd. „Du könntest ihn verstecken und dann behaupten Susan hätte Zwillinge bekommen. Sie ist blond und hat blaue Augen. Sicher würde niemand so schnell...“ Sie brach ab als sie sah, wie sich Alexanders Gesichtsausdruck wieder verschloss und etwas ihn zu überwältigen drohte.

„Was ist passiert?“, fragte sie leise. „Hat... Hat Barrington ihr etwas angetan?“

Alexander hob die Hände und verbarg darin sein Gesicht und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Noch nie hatte es Annie erlebt, dass er sie nicht anschauen konnte.

„Nein.“, sagte er schließlich. Gespannt hielt Annie den Atem an. Sie wartete bis er von allein erzählen würde. „Er fand, das wäre nicht mehr nötig, da sie es sowieso nicht überleben würde.“, wisperte er. Ihr Herz stand einen Moment still. „Und dass das auch für mich genug Strafe sein würde.“

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an und wartete bis er sie schließlich ansah. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht einmal beschreiben, so verstörend war dieser Anblick für sie. „Ist sie...“, setzte sie an, konnte es aber nicht zu Ende sprechen.

„Nein, sie lebt noch. Sie ist oben.“, erwiderte Alexander sofort. Erleichtert stieß Annie, die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte.

„Die Wehen haben letzte Nacht bei Susan eingesetzt.“, fuhr Alexander fort. Sein Blick lag dabei auf Luan. „Viel zu Früh. Als ich nach Hause kam, war es schein eine ganze Weile so. Es ging ihr gut, als ich fort bin, verstehst du? Mir wäre nie der Gedanken gekommen, dass... Und sie hat sich in den letzten Tagen erholt, kaum bewegt und viel gelegen. Ich verstehe nicht, wie es dann trotzdem... Als ich sie sah, bin ich sofort los und holte Doktor Storm. Gott, ich wusste nicht, was ich machen sollte! Die Sonne war kurz vorm aufgehen und Doktor Storm gab ihr eine grünen Flüssigkeit, die sie eigentlich beruhigen sollte, doch es wirkte nicht richtig.

„Doktor Storm schickte mich schließlich aus dem Zimmer, weil ich ihn mit meiner Unruhe nur in seiner Arbeit störte. Susan verlor zwischendurch immer wieder das Bewusstsein. Irgendwann stand plötzlich Barrington in der Tür. Ich wusste gar nicht, was er wollte. Er bedrohte mich und sagte du seiest verschwunden. Ich sollte dich rausgeben, aber du warst nicht hier und... und Susan...“ Hilflos hob Alexander die Hände, als würde er nicht einmal wissen, wie er es formulieren sollte. „Er glaubte mir natürlich nicht und ließ das Haus und die Stallungen durchsuchen. Mir hielt er die ganze Zeit das Schwert an die Kehle und forderte immer wieder deinen Aufenthaltsort. Einer der Männer sah Susan und Doktor Storm und berichtete ihm davon. Barrington machte sich ein eigenes Bild. Er kam zu dem Entschluss, dass ich die Wahrheit sagte, aber auch eine Bestrafung für mich nicht mehr nötig sei. Meine Frau sehe so erbärmlich aus, dass sie sowie so sterben würde und da ich sie ja so sehr liebte, würde das als Strafe reichen. Ich würde meine Frau verlieren und mein Kind - genauso wie er.“

„Erst da habe ich begriffen, was eigentlich passiert ist und von Jonathan Tod erfahren. Aber ich habe dann nicht wieder daran gedacht. Es tut mir leid.“

„Was? Nein, Alexander, dass... Gott! ... Mir tut es leid. Wenn ich gewusst hätte, was... Ich wäre gar nicht erst hergekommen.“, flüsterte sie und war den Tränen erneut nahe.

„Das Kind ist gestorben.“, fuhr Alexander fort, ohne auf ihre Wort einzugehen. „Es war zu schwach, noch zu klein. Die Geburt war viel zu früh. Es war ein Junge. Susan hat überlebt, aber nur knapp. Es war...“, zitternd holte Alexander Luft und dieses Mal zögerte Annie nicht, sondern legte ihre Hand auf seine und drückte sie fest. „Es war ein schrecklicher Tag.“, fügte er an. „Aber ich bin froh, dass du hergekommen bist, dass es dir gut geht, dir und deinem Sohn.“ Abermals rollt eine Träne Annies Wange hinunter. Wie hatte sie nur von Alexander verlangen können sich um ihr Kind zu kümmern? Seine Trauer musste ihn fast zerreißen. Sie hatte ein gesundes Kind auf die Welt gebracht, während er seinen Sohn verloren hatte. Doch diese Worte gaben ihr den Anstoß.

„Ich werde gehen, jetzt gleich.“ Sie richtete sich leicht auf, doch drückte sie Luan noch ein wenig fester an ihre Brust. „Wenn Barrington schon einmal hier war, wird er vielleicht wieder kommen und wenn es nur ist, um zu sehen, ob Susan wirklich gestorben ist.“ Langsam setzte sie einen Fuß auf den Boden und Schmerz durchzuckte sie. Alexander hielt sie plötzlich am Arm fest und zwang sie so zum sitzenbleiben.

„Annie, wir werden nicht hier bleiben. Sobald es Susan möglich ist, werde ich diesen Ort verlassen. Komm mit uns!“

„Du weißt, dass das nicht geht.“, sagte sie sanft und strich ihrem Bruder über die Wange. „Ich machte euch nur noch verdächtiger. Und ich... werde meiner Strafe nicht entgehen. Ich werde nicht davon laufen, wie es andere tun würde. Ich will nicht mehr feige sein. Andererseits... kann ich das Kind nicht allein lassen.“, sagte sie und sah auf es hinab.

Verwirrt sah Alexander sie an. „Du willst mit ihm davon laufen?“

„Nein.“, sagte sie ehrlich. „Ich habe Angst, große Angst. Eine Flucht würde ihm kein sicheres zu Hause bieten. Wir würden beide in ständiger Angst leben, aber... Ich weiß nicht, was ich machen werde. Mir wird schon etwas einfallen.“, gestand sie.

„Und du hättest ihn bei mir gelassen?“, fragte ihr Bruder zweifelnd.

„Natürlich. Ich kann mir keinen sicheren Ort vorstellen, doch jetzt...“

„Annie, wenn du es wünscht, werde ich ihn nehmen.“, unterbrach Alexander sie. Der schmerzhafte Ausdruck in seinen Augen lag immer noch darin, aber Annie sah auch, dass er bereits noch etwas anderes ersonnen hatte.

„Wir tauschen die Kinder.“, sprach er leise weiter. „Du musst nur sicher gehen, dass Barrington von meinen ... von dem toten Kind erfährt, dann hat er keinen Grund mehr danach zu suchen. Dann suchst du dir ein Versteck, geh über die Grenze, versuche Draco zu finden. Das werden wir auch tun. Wir könnten in einem anderen Land wieder zueinander finden und dann...Sagen wir in 30 Tagen in der nördlichen Hauptstadt.“

Hoffnungsvoll und zweifelnd zugleich sah Annie ihren Bruder an. Sie erkannte, dass auch er nicht recht an das Gelingen dieses Vorhabens glaubte. Zu viel hing von Glück und Zufall ab. Alexander und Susan wären immer noch in Gefahr, ihr Sohn ebenfalls und Draco auch. Nein, es musste ein Ende haben.

„Gut.“, stimmte sie laut zu. „So machen wir es. Wir treffen uns im Nachbarland wieder, sobald wir hier in Vergessenheit geraten sind.“

„Bist du sicher?“

„Ja.“

Vorsichtig berührte Alexander Luans Wange und Annie verstand, was diese Entscheidung für ihn bedeuten mochte. Trotz allem würde er ein Vater sein dürfen. Dennoch wünschte sie sich so sehr, dass Draco es wäre, der das Kind ansah.

„Ich sollte jetzt wirklich gehen.“, durchbrach Annie die eingetretene Stille. Stumm nickte Alexander. „Ich lass dich allein.“ Dankbar nickte sie. Während Alexander nach oben ging, versank sie in Luans Augen und versuchte ihm all das zu sagen, wofür eine Mutter eigentlich Jahre Zeit hatte. Sie legte alle ihre Liebe in ihre Berührungen. Dann hörte sie wie Alexander zurückkam.

Noch einmal strich Annie ihm über den blonden Haarpflaum, zeichnete mit ihren Finger über seine Augenbrauen, die Nase, Lippen, Wangen und Ohren. Alles wollte sie sich von ihm einprägen, damit sie es niemals vergessen würde, auch wenn sie kein ewiges Gedächtnis besaß. Anschließend beugte sie sich nach unten und küsste das Kind auf die Stirn. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie und dann: „Leb wohl.“

Erst dann sah sie zu ihrem Bruder, der vor ihr stand. Er hatte ein kleines Bündel aus weißen Leinentüchern auf dem Arm. Annie wusste, was sich darin befand und sie musste heftig schlucken. Mit zittrigen Beinen stand sie auf.

„Bist du dir wirklich ganz sicher?“, fragte Alexander sie noch einmal.

Annie nickte bloß. Sie fühlte sich schwach und ausgelaugt und wusste nicht einmal, wie weit sie kommen würde. Aber sie wollte es ihn nicht wissen lassen.

Wortlos tauschten sie die Kinder aus. Alexander nahm Luan und Annie seinen Sohn.

„Wie heißt er?“, fragte sie mit gebrochener Stimme und schob vorsichtig den Stoff zu Seite. Das kleine Kind war grau und starr. Sein Kopf war viel zu groß und seine Haut transparent, so dass sie die feinen Äderchen darunter erkennen konnte. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper und sie konnte nicht verleugnen, dass sie ein wenig Widerwillen empfand.

„Susan wollte ihn Christian Xander nennen.“, antwortete er kaum hörbar.

Die beiden Geschwister sahen sich schweigend zum Abschied an. Aus einem Impuls heraus, umarmte Annie Alexander noch einmal fest. Sie sprachen keine Worte des Abschieds und Annie ging langsam zur Tür. Dann trat in die kalte Nacht hinaus.

Noch einmal blickte sie zurück, zu Alexander und ihren Sohn, dann schloss sie die Tür hinter sich. Einen Moment stand sei allein der Dunkelheit der Nacht. Selbst der Vollmond war von dicken, schwarzen Wolken verhangen.

Mit langsamen und schweren Schritten verließ sie den Hof. Am Tor blickte sie nach rechts. Auf diesem Weg würde sie in die Stadt gelangen, nach links gelangte sie den Hügel hinauf und in den Wald hinein. Obwohl sie fest entschlossen war ihre Strafe auf sich zu nehmen, führten sie ihre Beine doch den Hügel hinauf. Doch der Aufstieg war bereits sehr anstrengend für sie. Keuchend stand sie zwischen den ersten Bäumen und sah auf Alexanders Haus. Noch immer brannte das Licht, nur war sie dieses Mal sicher, dass sich Leben dahinter verbarg. Ein neues Leben, das ihr so kostbar war, wie nichts anderes.

Ein Stechen fuhr durch ihr Herz und sie krümmte sich. Ihr wurde einen Moment schwarz vor Augen und gleich darauf folgten heftige Kopfschmerzen und Schwindel. Kurz schwankte sie und der Schmerz breitete sich in ihrer Schulter aus. Es schien ihr wie eine Ewigkeit, bis der Schmerz wieder nachließ und der Schwindel abgeklungen war. Dann drehte sie sich um und lief tiefer in den Wald hinein.
 


 

Kühlende Nachtluft strich über sein Gesicht und langsam schlug Draco die Augen auf. Es war merklich abgekühlt, doch er empfand es als angenehm. Als erstes sah er Äste, Zweige und Blätter. Nur schemenhaft erinnerte er sich daran, wie er an diesen Ort gelangt war. Doch war es die erste Nacht seit langer Zeit, in der er wieder klar denken konnte. Schmerzen verspürte er immer noch, aber sie waren bei weitem nicht mehr so heftig. Es erleichterte Draco, dass der Nebel, der sich von Doktor Storms Mittel um seinen Geist gelegt hatte, verschwunden war.

Von vorn kommend, hörte Draco ein vertrautes Schnauben und als er den Kopf ein wenig drehte, sah er Hera nicht unweit von sich stehen. Sie war den ganzen Tag über an seiner Seite geblieben.

Draco löste sich aus der Starre in die er bei Tagesanbruch gefallen war und bewegte sich zögerlich. Erst die Finger, die den Dolch noch immer fest umklammert hielten, dann die Arme, anschließend winkelte er die Beine ein wenig an. Mühsam kroch er aus seinem Versteck heraus und stand schließlich auf. Hera trabte zu ihm und Draco lehnte sich gegen sie, um sein Gleichgewicht zu halten. Sein Körper fühlte sich schwach an. Sanft strich er ihr über die Nase, ihren Hals entlang und kraulte sie zum Schluss hinter den Ohren. „Danke.“, flüsterte er leise und wusste, dass sie ihn verstand.

Im hellen Vollmondlicht sah er sich ihren Körper an, konnte aber nichts entdecken, was ihn beunruhigt hätte. Dann begann er die Satteltaschen zu lösen, die mit einem lauten Geräusch zu Boden fielen. Gleich darauf machte er sich an ihrem Sattel zu schaffen. Dabei packte er immer nur mit der rechten Hand zu und versuchte die linke so wenig, wie möglich zu belasten. Er hätte sie gleich davon befreien sollen, dachte er, wusste aber gleichzeitig, dass er es nicht fertig gebracht hätte. Er war die ganze Zeit voll auf seine Arbeit konzentrier. Er überlegte nicht, welche Schritte er als nächstes unternehmen würde. Würde er es zulassen, würden seine Gedanken in jede Richtung jagen und dessen sah er sich nicht im Stande, es zu ertragen.

Nachdem er Hera abgesattelt und ein wenig abgerieben hatte, durchsah Draco die Satteltaschen. Alexander hatte ihn einen Lederflasche mit Wasser mitgeben, die noch voll war. Dazu Brot und geräucherten Schicken. Es würde für ein paar Tage reichen. Außerdem noch einen weiteren Dolch und sogar Münzen.

In der anderen Tasche waren saubere, frische Kleidung und Schuhe, sowie eine Decke für kühle Nächte und neue Verbände. Draco trank das Wasser in einem Zug leer und nahm dann die Kleidung. Damit ging er den Bachlauf ein wenig entlang, bis er an eine Stelle kam, die breit genug für ihn war. Er entkleidete sich am Ufer und versteckte Hemd und Hose unter einem weiteren Busch. Nie wieder würde er es tragen. Dann ging er ohne innezuhalten nackt in das Wasser. Dort setzte er sich zuerst und legte sich dann hin, bis sein Körper ganz mit Wasser bedeckt war. Nur sein Gesicht schaute gerade noch heraus. Er spürte die Steine, Pflanze und kleinen Lebewesen im Wasser und stellte sich vor, wie der Dreck der vergangenen Monate so von seinem Körper gespült wurde.

Er verbrachte eine lange Zeit im Wasser. Dabei schloss er die Augen und ließ sich auf der Oberfläche treiben. Die sanften Bewegungen beruhigten ihn, entspannten seine gereizten Nerven. Irgendwann griff er schließlich nach einem Grasbüschel und begann sich den Dreck vom Körper zu schrubben. Erst als schmerzhaft wurde, verließ Draco den Bach. Er kleidete sich mit den frischen Sachen ein und aß von Brot und Schicken. Nachdem er satt war, verband er die linke Hand erneut, doch nicht so fest wie zuvor.

Die ganze Zeit über war sein Verstand wie leer. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur den Moment. Er konzentrierte sich auf jeden Schritt, jede Bewegung, die er ausführte, als müsste er seinem Körper den Befehl dazu erteilen und ihn genausten überwachen. Doch irgendwann war er fertig. Er ließ sich in das Gras fallen und sah direkt in den Nachthimmel hinein. Dann schloss er die Augen und atmete tief ein und aus. Als er sie wieder öffnete, war es als hätte er auch eine Tür geöffnet. Bilder, Geräusche, Worte, Gefühle und Empfindungen strömten auf ihn ein und überrollten ihn. Draco stockte der Atem und er zwang sich regelrecht dazu, sie nicht wieder zu verschließen. Er hatte es einmal begonnen und würde es zu Ende bringen.

Draco sah all die schrecklichen Dinge, die ihm in den vergangen Wochen widerfahren waren. Barrington und wie er sich jeden Tag aufs Neue eine anderen Folter für ihn einfallen lassen hatte: die Peitsche, das Brechen seiner Knochen, das Wachs, das Messer, die Frau... Jede dieser Erinnerungen trieb ihn immer mehr zu dem, was er tun musste. Dennoch dachte er auch an die zwei Momente, die sich ebenso stark in seine Bewusstsein gebrannt hatten, aber doch ganz anderer Natur waren: Annie und das Geheimnis, dass sie ihm offenbar hatte und jener Moment, indem er das Kind hatte spüren können.

Wollte er dies wirklich Barrington überlassen?

Welchen Weg würde er wählen?

Die Urinstinkte in ihm schrien, er solle fliehen, jetzt sofort. Jeder weitere Gedanke verschwendete nur kostbare Zeit. Er hatte diesen Kampf schon lange verloren und sollte es endlich akzeptieren. Wichtiger war sein Leben und das konnte er nur retten, indem er ging. So weit wie möglich und so schnell wie möglich, auf dass sie ihn nie wieder finden sollten.

Doch der Mann, der er inzwischen geworden war, sehnte sich nach Rache, so laut und heftig, dass sein Körper darunter erzitterte. Er wollte diesem Mann die Kehle mit den bloßen Händen heraus reißen. Er wollte das zurück, was ihm zustand: Annie und sein Kind. Draco wusste nicht, was es bedeutet ein Kind zu haben, doch der Gedanken, dass John Barrington noch etwas besitzen sollte, was eigentlich sein war, genügte um ihn dies denken zu lassen.

Abermals schloss Draco die Augen. Dann erhob er sich ohne weiteres zögern und sattelte Hera. Als er aufsaß drehte er sich nicht um und sah zum Himmel.

Es war das erste Mal, dass er dem Mond den Rücken zukehrte. Es würde für immer sein.

Der letzte Tag

Der Tag dämmerte und die ersten Sonnenstrahlen krochen über die Erde, um sie zu wärmen. Draco war die ganze Nacht ununterbrochen geritten. Er hatte Hera und sich selbst nur kleine Pausen gegönnt, eben nur so lange, wie wirklich nötig war.

Immer hatte er es vermieden, sich nach dem Vollmond umzudrehen. Er wusste, dass er dessen Anblick nicht würde ertragen können, dass er ihn in seiner Entscheidung wankend machte. Denn auch wenn er den Mond nicht sah, so sehnte er sich doch danach. Je mehr er sich davon entfernte, desto heftiger wurde es.

Er wusste nicht, wie weit es noch war, doch als er in den nächsten Wald hinein ritt, kamen in Bäume bekannt vor. Es war die Form ihres Stammes, die Reichweite ihrer Äste, die ihn merken ließen, dass er diesen Wald schon einmal betreten hatte. Es war jener Wald, in dem er sein erstes Jahr als Mensch verbracht hatte. Er war durch den Wald gestreift, gelaufen und gerannt, hatte wissen wollen, wie viel dieser neuer Körper vermochte, wie stark er war, wie ausdauernd. Oft war er enttäuscht worden.

Seine erste Zeit als Mensch... er hatte Annie misstraut und sie für alles verantwortlich gemacht. Ihre Hütte war lange Zeit sein zu Hause gewesen, das einzige, welches er je gekannt hatte. Abrupt ließ Draco Hera anhalten. Ungläubig blinzelte er mit den Augen. Plötzlich verspürte er den Wunsch noch einmal zu der Hütte zurückzukehren. Noch nie zuvor hatte er so empfunden. Auf seinen unzähligen Ausritten mit Hera, war er nie in diesen Teil des Waldes gekommen. Er hatte es vermieden, aber er hatte auch nicht das Verlangen danach verspürt. Doch nun war es anders.

Vielleicht musste er an seinen den Anfang zurückgehen, damit sein Ende beginnen konnte.
 

Es fiel ihr leichter. Mit jedem Atemzug den sie machte, hatte Annie das Gefühl, dass es leichter für sie wurde. Der Schmerz ebbte ab, ihr Herzschlag wurde langsamer, in ihrem Kopf wurde es seltsam leicht und auch ihre Arme und Beine nahm sie kaum noch wahr. Es war alles besser. Es war alles einfacher. Ihre Sorgen verschwanden, lösten sich auf und schienen nicht mehr zu ihr zu gehören, sondern zu jemand anderem, einer Person, die sie nicht kannte.

Leicht lächelte Annie. Sie hätte sich nicht vor dem Sterben fürchten brauchen, wenn sie gewusst hätte, dass es so leicht war.
 

Draco saß einen Moment unschlüssig auf Hera, dann setzte er schließlich ab. Trotzdem blieb er neben dem Tier und vor der Hütte stehen. Die Hütte war in wenigen Monaten von Efeu bewachsen. Die Pflanze hatte sich an den Fenstern entlang geschlichen, bis auf das Dach und auf der anderen Seite herunter. Das Holz der Wände war gedehnt und Draco wusste, dass die Ranken so den Weg in das Innere gefunden hatte.

Die Hütte lag verlassen da, ganz so als würde sie schon seit Jahren leer stehen. Dabei war es noch gar nicht so lange her, dass er gegangen war, um das richtige zu tun. Das Richtige... Abermals dachte Draco daran, was wohl geschehen wäre, wenn Annie und er davon gelaufen wären. Vielleicht hätte Alexander mit ihnen fliehen können und sie wären gemeinsam Barrington entgangen.

Er würde es nie wissen.

Vorsichtig ging Draco einen Schritt nach vorn. Das Efeu an der Tür sah merkwürdig aus, überlegte er. Als hätte jemand versucht es zu zerreißen. Auf dem Boden lagen Blätter und kleine Ranken und die Tür selbst, stand einen Spalt offen.

Man hatte auf ihn gewartet!

Nervös holte er tief Luft und versuchte seine Gedanken zu beruhigen. Es wäre nicht ausgeschlossen. Sicher hatte sie nach ihm gesucht und waren auch hier gewesen. Aber wenn sie noch in der Hütte wären und auf ihn gewartet hätten, dann wäre er jetzt schon längst tot, überlegte er sachlich. Vielleicht waren es auch nur wilde Tiere gewesen.

Neugierig ging er einen weiteren Schritt nach vorn, bis er in der Tür stand. Seine Augen gewöhnten sich sofort an das Licht und er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten.

An einer Gestalt, die auf dem Boden lag, blieb er hängen und sein Herz schlug auf einmal dreimal so schnell.

Es war eine Frau, die da lag.
 

Noch ehe er sich dessen selbst gewahr wurde, hatte er den kleinen Raum schon betreten und stand vor der Frau. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das wie sanfte Wellen über ihren Körper floss. Sie war in einem einfachen weißen Kleid gekleidet, das ihr bis zu den Füßen reichte. Doch darunter nahm er ihren Körper war. Es war ein Körper, der ihm beinah vertrauter war, als sein eigener.

Starr vor Fassungslosigkeit sank er auf die Knie. Sie war es wirklich, dachte er dumpf: Annie.

Aber, warum bemerkte sie ihn nicht? Warum drehte sie sich nicht um? Konnte sie so fest schlafen?

Zögernd und auch ängstlich streckte er die Arme nach ihr aus fuhr mit den Händen unter ihren Körper. Er fühlte sich klamm und kalt an. Sein eigener Körper begann zu zittern. Als er sie bewegte, löste sich etwas aus ihren Armen und rollte auf den Boden. Draco achtete nicht weiter darauf. Er hatte nur Augen für sie. Ihre Haut war blass. Selbst ihre himbeerroten Lippen hatten an Farbe verloren. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe und Schweiß haftete an ihrer Haut.

Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hoffte auf eine Reaktion. Nichts geschah. Sie blieb reglos in seinen Armen liegen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Draco auf sie herab, während sein Verstand versucht zu verstehen. Was war mit ihr geschehen? Was geschah mit ihm?

„Annie?“, flüsterte er und seine Stimme brach am Ende. „Annie?“, fragte er noch einmal und rüttelte ihren Körper. Wieder geschah nichts.

Von Draco ergriff ein solch heftiges Gefühl besitzt, wie er es noch nicht kannte. Es wurde in seinem Herzen geboren und wuchs so rasend schnell, dass er schon bald sein gesamtes Inneres ausfüllte. Doch es war nicht rot, wie die Wut, die ihn schon oft zerrissen hatte. Nein, dieses Gefühl war dunkel, schwarz, bedrohlich und alles verschlingend. Es verschlang die Sonnenstrahlen, die Wärme, die Hütte, die Geräusche und Gerüche, bis nur noch er und Annie blieben.

Dieses Gefühl nannte sich Verzweiflung.

„Nein...“, flüsterte er ungläubig und wiederholte das Wort immer und immer. „Nein... Nein... Nein...“ Ganz so, als könnte er es somit ungeschehen machen. Hilflos strich er über ihre Stirn. Ihm hatte es schließlich auch geholfen, als es ihm schlecht gegangen war. Also musste es auch ihr helfen! Es musste!

Seine Verzweiflung berührte etwas hinter seinen Augen. Sie begannen plötzlich zu brennen. Eine unbekannte Flüssigkeit sammelte sich darin.

Draco bemerkte es nicht.
 

War er wirklich bei ihr?, fragte sie sich müde und versuchte ihr Herz dazu zu bringen, noch ein wenig länger zu schlagen. War es wirklich seine Stimme, mit der diese verzweifelten Worte gesprochen wurden? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Seine Stimme war doch sanfter gewesen, nicht so tief, nicht so rau, nicht so gebrochen. Oder nicht? Das Erinnern fiel ihr schwerer.

Aber diese Nähe, dieser Geruch... Es fühlte sich wie ihr Geliebter an. Wie schön es wäre, wenn er bei ihr wäre, wie tröstend.

Sie wollte die Augen öffnen, wollte ihn ansehen und ihm sagen, dass alles gut war. Doch ihre Lider waren so unendlich schwer.

Plötzlich zuckte sie kurz zusammen, als sie etwas Nasses auf ihrer Wange spürte. Dann spürte sie die Wärme eines anderen Körpers. War er tatsächlich bei ihr? Aber warum dann...

Mit flatternden Lidern öffnete sie die Augen.
 

Draco spürte, wie sich ihre Wimpern bewegten und hob ungläubig den Kopf. Mühevoll öffnete sie die Augen. Ihr Blick wirkte blind und das Strahlen war aus ihren Augen verschwunden. Vielleicht sah sie ihn auch nicht richtig, denn sie fragte nach ihm.

„Draco?“, wisperte sie so leise, dass er es kaum verstand.

„Ja.“, antwortete er kurz und erneut brach seine Stimme. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ihre Lippen rissen dabei. Abermals brach etwas in Draco.

Wieder bewegte sie ihre Lippen, doch kein Laut drang zu ihm. Er beugte sich so weit zu ihr, dass ihre Lippen sein Ohr berührten.

„Du weinst...“, sagte sie so leise, dass ein gewöhnlicher Mensch es wohl nicht verstanden hätte. „Jetzt ... du ... richtiger Mensch.“ Zitternde atmete sie ein und Draco konnte etwas in ihrem Körper rasseln hören.

„...liebe dich...“, sprach sie weiter. Dann formten ihre Lippen zwar Worte, doch kein Ton entwich ihnen. Draco konnte erst wieder die Worte „Versprich es...“, hören.

In ihm drehte sich alles. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Warum nur war er so schwach? Warum war er so hilflos? Warum konnte er nichts anderes tun als zuschauen?

„Bitte...“, hauchte sie noch einmal. Ihre Stimme klang beinah flehend.

„Ja.“, stieß Draco hastig aus, ohne zu wissen, was er ihr versprach. Es war ihm egal. Er würde ihr alles versprechen. „Ich verspreche es.“ Eine weitere Träne rollte seine Wange hinab. Dann beugte er sich erneut zu ihr herunter und küsste sie.

Es war ein harter Kuss, ganz so als könnte er damit verhindern, dass das Leben aus ihr wich.

Unter seinen Lippen formte sie ein Lächeln.
 

Und dann, ganz sacht und leise, entschwand sie dieser Welt.
 


 

Lange Zeit rührte sich Draco nicht. Annie hatte aufgehört zu sein. Alles hatte aufgehört zu sein.

Sie lag noch immer in seinen Armen, die Augen friedlich geschlossen. Sie war für immer fort.

Etwas Schweres klemmte seine Brust sein, machte ihm das Atmen schwer und ließ ihn vor Schmerz aufkeuchen. Er konnte sie nicht beschützen. Er konnte sie nicht retten. Warum sollte er noch zu Barrington gehen? Warum starb er nicht gleich neben ihr?

Er wäre dort Stunden gesessen, hätte Heras Wiehern ihn nicht aufgeschreckt. Er nahm seine Umgebung wieder wahr. Doch im Gegensatz zu ihm, zu Annie, hatte sich nicht geändert. Die Hütte war noch immer von Efeu überwuchert, die Sonne schien noch immer durch Risse in der Wand und die Tiere des Waldes machten noch immer die gleichen Geräusche. Am deutlichsten hörte er Hera. Sie wurde unruhig und Draco wusste, dass sie ihn warnen wollte.

Er musste gehen. Für einen winzigen Moment, hatte er den Wunsch nach Rache vergessen, doch jetzt brannte er nur umso heftiger in ihm. Wenn John Barrington nicht gewesen wäre, würde sie noch leben!

Langsam legte er Annies toten Körper in das Stroh zurück. Ein letztes Mal strich er ihr durch die Haare.

Er würde zu Alexander reiten und sein Schwert holen. Er musste einen klaren Verstand haben. Er musste verdrängen, was geschehen war. Jedes Gefühl würde ihn nur an seiner Aufgabe hindern, ihn einschränken. Das hatte Alexander ihm oft genug gesagt und auch spüren lassen. Wut konnte ein mächtiger Antrieb sein, aber auch das größte Hindernis.

Als Draco endlich den Blick von ihr löste, nahm er das Stoffbündel war. Annie hatte es fest in den Armen gehalten. Warum? Vielleicht sollte er es ihr wieder in die Arme legen? Er tat es. Dann streckte er noch einmal eine Hand danach aus und löste den Stoff ein wenig. Was war ihr so wichtig? Zuerst sah er nur etwas kleines, graues, was einer Hand ähnlich war. Als er den Stoff weiter löste, erkannte er einen Körper und einen Kopf.

Die Leiche eines Kindes.

Vor Schreck zog Draco die Hand zurück. Doch er begriff schnell, was er da sah.

Zum zweiten Mal zersprang etwas in ihm.

Hastig sprang er auf und stolperte aus der Hütte. Nach Atem ringend blieb er stehen und stützte die Hände auf die Knie.

Bis zu jenem Moment hatte er nicht mehr an das Kind gedacht. Aber jetzt... sein Kind... ebenfalls tot, mit ihr gestorben. Es war... Er hatte geglaubt, er wäre mit ihm verbunden. Er hatte sich geirrt. Sein Kind war tot. Annie war tot. Sie alle... Ihm wurde schwarz vor Augen.

Er wollte sich übergeben. Er wollte weinen. Er wollte schreien. Er wollte jemanden dafür bluten lassen.

Er wollte alles zur gleichen Zeit.

Doch nichts davon geschah. Draco richtete sich auf und jetzt konnte auch er es hören: Reiter, die sich näherten. Er nahm Hera bei den Zügeln und führte sie in den Wald hinein. Kurz blickte er hinter sich, ob er ihre Spuren verwischen müsste, aber es hatte nicht geregnet und die Erde war trocken. Außerdem wuchs Gras und Moos um die Hütte herum. Es würde niemand bemerken, dass er da gewesen war.

Obwohl Draco ahnte, wer sich näherte, blieb er dennoch stehen. Er wählte eine breite Eiche, hinter der er sich und Hera versteckte und von der er aus die Hütte noch gut sehen konnte.

So beobachtete er, wie John Barrington mit zwei anderen Männern vor der Hütte hielt. Sein Blut fing an zu kochen und machte ihm das Atmen abermals schwer. Barrington stieg von seinem Pferd und betrat die Hütte. Draco ballte die linke Hand zur Faust, so dass ein stechender Schmerz seinen Arm hinaufschoss. Es war alles, was ihn davon abhielt, sich nicht sofort auf diesen Mann zu stürzen. Erst brauchte er sein Schwert. Dann würde er seine Rache bekommen.

Plötzlich ertönte ein Schrei und Draco wusste, dass Barrington entdeckt hatte, dass beide tot waren. Gleich darauf kam er mit wutverzehrten Gesicht heraus und schwang sich wieder auf sein Pferd.

„Sie sind tot! Beide sind tot! Wir hätten gleich hierher kommen sollen!“, schrie er wütend.

„Sollen wir zurückkommen und die Hütte niederbrennen?“, fragte einer der Männer, neben ihm.

„Nein.“, bellte John Barrington kurz. „Sollen doch die Maden ihr hübsches Gesicht zerfressen und sich damit vergiften.“, spie er aus und gab seinem Pferd die Sporen. Die anderen folgten ihm.

Nachdem sie fort waren, setzte auch Draco auf und ritt in Richtung von Alexanders Anwesen. Nicht wissend, was ihn dort erwarten würde.
 

Als er Alexanders Hof erreichte, ging zielstrebig auf die Tür zu. Er klopfte nicht, sondern betrat das Haus, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte. Niemand war im unteren Bereich und er stieß erleichtert den Atem aus. So musste er nichts erklären. Draco ging in das Zimmer, welches er einige Monate bewohnt hatte. Es sah durcheinander aus. Decke waren achtlos an die Seite geworfen worden, die Strohmatratze war aufgeschlitzt, der Stuhl und der Tisch umgeworfen. Als hätte jemand etwas gesucht. Mit klopfenden Herzen näherte sich Draco dem Bett. Er kniete sich davor und tastete mit der Hand unter das Holzgestell, auf dem die Matratze lag. Seine Finger berührten kaltes Metall. Erleichtert atmete er auf. Sie hatten es nicht gefunden, dachte er. Mit einer Hand hob Draco die Matratze an und Stroh folg herum. Mit der anderen Hand zog er sein Schwer aus dem Versteck. Zwischen das Holzgestell und die Matratze hatte er es immer geklemmt. Er hatte darauf geschlafen, damit es ihn immer an sein Ziel erinnern sollte. Mit festem Griff um das Leder zog er es hervor und Sonnenstrahlen fielen darauf. Die Mondsteine schimmerten lila und die Inschrift auf dem Metall blitze auf. Schon bald, würde an dieser Klinge Blut kleben, dachte er und ein Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus.

Er verließ das Zimmer und hielt einen Moment in der Küche inne. Sollte er nicht Alexander wegen Annie Bescheid geben?, haderte er mit sich selbst.

Doch jede Erklärung würde ihn nur aufhalten.

Entschlossen ging er weiter und wollte die Tür gerade öffnen, als von der oberen Etage eine Stimme ertönte.

„Du verabschiedest dich gar nicht?“, hörte Draco Alexanders Stimme fragen. Er blieb stehen und sah unschlüssig zwischen der Tür und Alexander hin und her. Er sollte gehen, doch irgendetwas hielt ihn fest. Annies Bruder kam die Treppe nach unten und musterte ihn.

„Es überrascht mich nicht dich hier zu sehen.“, sagte er und schüttelte den Kopf. Dann wurde sein Gesichtsausdruck etwas ungläubig und er trat näher an Draco heran. „Hast du geweint?“, fragte er ihn. Ohne zu Antworten sah Draco ihn immer noch an. Er hoffte, dass dieser so verstehen würde – ohne Worte. Und tatsächlich war dem so.

„Annie?“, fragte Alexander leise und mit schwacher Stimme. Kurz nickte Draco. Barrington würde noch ein wenig warten können, entschied er.

„Sie ist in der Hütte im Wald.“, antwortete er flüsternd. „Zusammen mit... dem Kind. Lass... lass sie nicht dort. ... Alle beide.“, fügte Draco hinzu und schluckte heftig.

„Gott...“, stieß Alexander aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Dann ging er zu einem der Stühle und setzte sich. Sein Kopf war noch immer in seine Hände gestützt und er schüttelte ihn immer wieder. Zum ersten Mal glaubte Draco Alexander wirklich verstehen zu können.

„Hab Dank, Alexander.“, sagte Draco und meinte jedes Wort. „Für alles.“ Dann wandte er sich erneut zum Gehen.

„Warte.“, rief Alexander im nach. Noch einmal drehte Draco sich um und erwartete, dass Alexander ihm Vorwürfe machen würde. Er hätte mit allem recht.

„Das Kind...“, sagte Annies Bruder langsam und leise. „Es ist... nicht eures gewesen.“

Einen Moment herrschte Schweigen. Draco hatte Alexanders Worte gut verstanden, aber er verstand die Bedeutung nicht. Was sollte das heißen?

„Es war meines und Susans.“ Endlich blickte Alexander ihn aus geröteten Augen an. „Du solltest dich vielleicht setzen.“, sagte er und wies mit der Hand zu den Stühlen. Gleichzeitig stand er aber auf und ging in die Vorratskammer. Von dort kam er mit zwei Bechern und einem Tonkrug zurück, den Draco nur zu gut kannte. Augenblicklich zog sich alles in ihm zusammen. Doch, wenn Alexander diesen Whiskey hervorholte, musste etwas Schreckliches geschehen sein.

Alexander stellte die Becher ab und füllte sie mit dem starken Alkohol. „Trink.“, sagte er dann und es klang fast wie ein Befehl. Wiederstrebend nahm Draco den Becher und schnupperte kurz daran. Dann verzog er das Gesicht. Nie wieder würde er dieses Gebräu trinken. Alexander hingegen setzte den Becher an und trank ihn in einem Zug leer. Verwunderte sah Draco ihm zu, während die Anspannung in seinem Inneren nur noch mehr wuchs. Doch noch bevor er Alexander fragen konnte, was genau geschehen war und was seine Worte bedeutete, begann dieser schon zu erzählen.

„Annie war hier, gestern Nacht. Sie... die Wehen hatten eingesetzt und das Kind... Sie wollte mir erzählen, was geschehen war, aber dann... Ich habe mir erst heute das Meise zusammengereimt.“, begann Alexander wirr zu erzählen.

„Semerloy muss uns wohl gesehen haben, als wir dich aus der Burg schafften. Er bedrohte Annie daraufhin und sie... sie wollte sich und das Kind schützen und stieß ihn ausversehen die Treppe herunter. Er war tot. Es muss ein Unfall gewesen sein, aber sie machte sich schreckliche Vorwürfe. Sie war vollkommen durcheinander. Annie bekam Angst und lief davon. Ich weiß nicht, was dann geschah. Am Abend des nächsten Tages stand sie mit drei fremden Männern vor meiner Tür. Inzwischen hatten die Wehen eingesetzt, dass Kind war bereit geboren zu werden. Das Kind kam noch vor Mitternacht. Sie wollte es hierlassen und für ihren Mord die Verantwortung übernehmen. Dann entschied sie sich wieder anders. Sie wollte davon laufen, ohne das Kind und wir vereinbarten uns in ein paar Jahren wieder zu treffen. Wir tauschten die Kinder und Annie verschwand. Ich dachte sie würden wirklich gehen. Dabei hätte ich wissen müssen, dass sie der Hütte zurückkehrt.“, sagte Alexander und schenkte sich noch einmal nach. Wieder leerte er den Becher schnell.

Draco verstand immer noch nicht alles. Was sollte das heißen, sie tauschen die Kinder? Er sprach seine Frage laut aus. „Welche Kinder habt ihr getauscht? Warum? Wieso?“ Draco verbot es sich weiter über die anderen Dinge nachzudenken, die Alexander ihm erzählte hatte. Sie würden ihn nur ablenken.

„Wir tauschten eures und unseres aus.“, wisperte Alexander und schenkte sich noch einmal nach. „Wir tauschten euer lebendes Kind, gegen unseres, das tot geboren wurde.“ Auch den dritten Becher trank er zügig. Dann beherrschte Schweigen den Raum.

Stumm starrte Draco ihn an. Er schluckte einmal, dann ein zweites Mal, um diese Neuigkeiten zu verarbeiten. Dann griff er wie von selbst zu dem Becher, der vor ihm stand und trank daraus. Der Alkohol brannte in seinem Hals und trieb ihn abermals Tränen in die Augen. Doch er riss ihn auch aus seiner Starre. In seinem Kopf begann es zu arbeiten. Annies und sein Kind lebte noch. Susans und Alexanders war tot. Sie hatten sie getauscht. Das Kind im Wald. Es war nicht seines gewesen. Es war Alexanders. Es war tot. Seines lebte.

Kurz dachte Draco an Susan und wie sehr sie sich auf das Kind in ihrem Bauch gefreut hatte. Jetzt war es tot, während seines lebte.

„Es ist ein Junge. Willst du ihn sehen?“, sagte Alexander plötzlich. Erschrocken hob Draco den Kopf Doch Alexanders Blick hielt ihn einen Moment von seiner Antwort zurück. Draco erkannte, dass es Alexander nicht recht war. Er hatte Angst, dass er ja sagen könnte. Warum? Doch ganz gleich, Draco hatte seine Antwort bereits gewählt.

„Nein.“, erwiderte Draco schließlich. Alexander atmete hörbar erleichtert auf.

„Warum bist du so erleichtert?“, fragte er Annies Bruder nun doch.

„Ich hatte die Befürchtung, dass du ihn mitnehmen würdest.“, gestand Alexander und wich seinem Blick aus.

„Wohin?“, erwiderte Draco und ein bissiger Unterton war aus seiner Stimme zu hören. „Es gibt keinen Ort an den ich mit ihm gehen könnte.“

„Du willst es wirklich tun?“

Fest blickte Draco sein Gegenüber in die Augen. „Natürlich.“, erwiderte er knapp. Jetzt würde er Barrington erst recht töten. Er musste sterben, damit Alexander, Susan und sein Kind in Frieden leben konnten. Draco erhob sich und ging zur Tür. Es war höchste Zeit zu gehen.

„Draco... Ich...“, sagte Alexander zögerlich und Draco hörte ihm kaum noch zu. In Gedanken stand er bereits vor Barringtons Burg. „Auch Worte können eine mächtige Waffe sein.“, hörte er Alexander doch noch sagen. Als Erwiderung nickte Draco knapp. Er hatte verstanden.

„Das solltest du nicht tun.“, hörte er nun noch eine weibliche Stimme. Leicht verärgert atmete Draco noch einmal aus und blickte zur Treppe auf der Susan stand. Sie war in ein weißes Nachthemd gekleidet und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Sie war blass und ihre Wangen eingefallen. Unter ihren Augen zeichneten sich schwarze Ringe ab.

„Er wird sterben.“. sagte Draco festentschlossen und mit kalter Stimme. Er war davon ausgegangen, dass sie über Barringtons sprach. Doch zu seiner Überraschung schüttelte Susan den Kopf.

„Das meinte ich nicht. Du solltest nicht gehen, ohne dein Kind, deinen Sohn, gesehen zu haben. Alexander holst du ihn bitte.“, wandte sie sich an ihren Mann. Während sie gesprochen hatte, war sie die Treppe herunter gekommen und stand nun vor ihnen beiden.

„Susan, du solltest wieder nach oben gehen.“, mahnte Alexander sie. „Du brauchst Ruhe!“

„Das mache ich auch, wenn diese Sache hier beendet ist. Holst du ihn nun oder soll ich es selbst tun?“, fragte sie ihren Gatten und zog dabei eine Augenbraue nach oben. Mit einem leichten Knurren ging Alexander an seiner Frau vorbei, die Treppen nach oben. Währenddessen kam Susan Draco entgegen. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie ihre Hände auf seine Wangen und sah ihm in die Augen.

„Es ist richtig was du tust. Es genügt schon, wenn du davon überzeugt bist und dieser Mensch hat es ohne jeden Zweifel verdient.“, sprach sie und ihre Blick wurde hart. „Dennoch wünsche ich gleichzeitig, du würdest es nicht tun. Ein Kind gehört zu seinen Eltern, auch wenn die Mutter vielleicht fehlt.“ Sie lächelte traurig und fuhr fort: „Aber du sollst versichert sein, dass es ihm gut gehen wird. Wir werden ihn lieben, wie wir auch unser eigenes Kind geliebt hätten. Darum musst du dir keine Gedanken machen, wenn du ihm gegenüber trittst. Denke daran, wenn John Barrington stirbt, kann dein Kind ohne Angst aufwachsen.“

Nie zuvor hatte Draco Susan so reden gehört. Er hätte nicht einmal geglaubt, dass sie so reden konnte, dass ihre Stimme so hart sein konnte. Sie hatte ihm gerade gesagt, dass er Barrington töten sollte.

Im nächsten Augenblick kam Alexander die Treppen wieder herunter. Auf seinen Armen trug er ein kleines Bündel Stoff, dem nicht unähnlich, welches auch Annie in den Armen gehalten hatte. Sofort blitzte das Bild des toten und entstellten Babys hinter seinen Augen auf. Draco schüttelte den Kopf und somit das Bild ab.

„Streck die Arme vor.“, sagte Alexander kurz und Draco tat wie geheißen. Dann legte Alexander ihm das Stoffbündel in die Arme. „Sein Name ist Luan“

Draco blickte in das kleine Gesicht eines Menschenkindes. Seine Haut war rosig und ein sehr angenehmer Geruch ging von ihm aus. Noch nie zuvor hatte er so etwas gerochen, auch als Drache nicht. Und nie würde er es vergessen. Es roch nach Unschuld und Anfang. Das Kind schlief ruhig in seinen Armen und schien friedlich vor sich hin zu träumen.

„Seine Augen sind blau und er hat auch schon die ersten blonden Haare.“, sagte Susan und Draco hörte die Liebe aus ihrer Stimme, die sie dem Kind bereits entgegenbrachte. Als er ihr in die Augen sah, konnte er es ebenso dort erkennen.

Die Gefühle, die sich seiner bemächtigten, wurden immer heftiger. Sie wurden zu etwas weitaus Größerem und Unaufhaltbarerem. Er durfte ihn nicht länger in den Händen halten, dachte er. Sein Vorhaben würde sonst ins Wanken geraden und stürzen. Er konnte es bereits spüren, wie der kleine und noch schwache Wunsch in ihm wuchs, das Kind zu nehmen und mit ihm zu verschwinden. Mit dem Kind hätte er immer noch etwas von Annie bei sich.

„Nimm ihn.“, sagte Draco auf einmal so hastig, als hätte er sich daran verbrannt. Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er Luan in Alexanders Arme. Dieser sah etwas verdutzt aus, griff das Kind aber sicher.

„Nein.“, sagte Susan entschieden. Sie nahm Luan aus Alexanders Armen und gab ihn wieder Draco. „Lass es zu und verabschiede dich richtig. Es wird dich stärker machen und er kann dich spüren.“, Dann nahm sie Alexander bei der Hand und ging mit ihm in den Raum, in dem Draco zuvor gelebt hatte.

Unsicher hielt Draco das Kind in der Hand. Er wollte das nicht tun. Aber vielleicht hatte Susan auch recht. Vielleicht würde es ihm weitere Kraft für seinen Kampf geben.

Noch einmal sah Draco das Kind, sein Kind, an. Vorsichtig hob er eine Hand und strich Luan mit zitternden Fingern über die Wange. Sie war weich und warm. Sein Sohn regte sich leicht. Behutsam nahm Draco eine kleine Hand zwischen seine Finger und streichelte sie. Sie war winzig im Vergleich zu seiner eigenen.

Luans öffnete langsam die Augen. Er blinzelte und gab dann ein glucksendes Geräusch von sich. Ganz so, als wüsste er wirklich genau, wer ihn in den Armen hielt. Seine Augen waren wirklich blau, strahlend, ganz so wie seine eigenen, dachte Draco.

Noch einmal atmete Draco tief durch. Dann ließ er den Gedanken zu, der sich leise in sein Bewusstsein geschlichen hatte: Er liebte dieses Kind. Er liebte es genauso sehr, wie er Annie geliebt hatte. Er verstand das Gefühl nicht, aber es musste wohl Liebe sein. Annie hatte davon gesprochen. Aber er hatte es ihr nie gesagt.

„Ich liebe dich.“, flüsterte er und küsste seinen Sohn auf die Stirn. Abermals gluckste das Kind und schloss dann wieder die Augen. Es wirkte zufrieden auf Draco. Gleich darauf öffnete sich die Tür des Nebenzimmers. Susan und Alexander kamen zurück. Draco übergab das Kind wieder an Annies Bruder. Seine Gefühle beruhigten sich hingegen nur langsam. Draco verschloss sie tief in seinem Herzen.

„Luan, was bedeutet der Name?“, fragte er dennoch.

„Es ist eine andere Form von Luna und bedeutet Mond.“, erwiderte Alexander und blickte Luan liebevoll an. Trotz allem spürte er einen Funken Freude in sich.

„Du solltest es Susan sagen.“, sagte Draco auf einmal und sah Alexander fest an. „Er ist wie ich. Er wird sich an alles erinnern können. Er wird wissen, was geschehen ist, bis zu meinem Tod.“, warnte er ihn. Alexander sah ihn erschrocken an, nickte aber unsicher.

„Was meint er?“, fragte Susan gleich an ihrem Mann gewandt. Dieser schüttelte den Kopf. „Später.“, fügte er an.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wandte sich Draco dieses Mal zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck.

Wenn der Tag sich seinem Ende neigte, würde auch John Barringtons Leben ein Ende finden.

Das Ende

Ohne einmal anzuhalten, sich umzusehen, ja ohne zu denken, ritt Draco direkt zu Barringtons Anwesen. Auch, wenn er diesen Weg noch nie zuvor geritten war, fand er ihn mühelos. Die Stadt hatte er ja schon einmal besucht. Die Burg war danach nicht zu übersehen. An den Stadttoren sah er die Wachen, doch er ritt einfach an ihnen vorbei. Ihre Schreie hörte er, doch machte er sich keine Mühe ihre Worte zu verstehen. Selbst als er Pferdehufen hörte, die ihm folgten, machte er sich darüber keine Gedanken. Er wollte ohnehin zu John Barrington.

Vor dem großen und recht beeindruckenden Tor der Burg machte Draco plötzlich halt. Die vier Wachen, die davor standen, sahen ihn verwirrt an. Es dauerte einen Moment ehe sie ihre Lanzen hoben und zwei ihre Schwerter zogen. Hinter sich konnte Draco die anderen Pferde hören. Sie waren noch eine gutes Stück entfernt. Sein Herzschlag war ruhig und langsam. Er spürte keine Aufregung und schon lange keine Furcht mehr. All das hatte er bei Alexander gelassen.

Diese Männer würde Barrington für ihn holen.

Noch bevor einer von ihnen den Mund aufmachen konnte, kam Draco ihnen zuvor.

„Sagt ihm sein Drache ist gekommen.“, sprach er mit kalter und, wie es ihm vorkam, toter Stimme. Sie war bar jeglicher Emotion. Das war gut, dachte er.

Draco wusste, dass John Barrington hinter diesen dicken Mauern war. Es war, als könnte er ihn regelrecht spüren. Der Mann vor ihm stutze kurz und wurde bleich. Kurz sah er zu seinen Kameraden, dann drehte er sich um und rannte in die Burg hinein. Offenbar hat man Draco nun erkannt. Die anderen drei hoben ihre Lanzen oder Schwerter. Doch Draco hob sein eigenes nur keinen kurzen Moment und die Männer zuckten zurück. Es blitze kalt in der Sonne. Sie waren unsicher, wusste nicht, was sie mit ihm tun sollten. Sicher hatte sie nicht erwartete, dass er zu ihnen kommen würde und ganz gewiss nicht mit einem eigenen Schwert bewaffnet.

Hinter ihm hatten nun auch seine Verfolger aufgeholt.

„Was soll das? Dreh dich um und stelle dich uns!“, rief einer hinter ihnen. Es waren zwei und auch sie erhoben ihre Schwerter. Doch weiter beachtete Draco sie nicht. Sein Blick war unablässig auf die Burg gerichtet. Aus den Augenwinkeln sah er, wie einer der Männer vor ihm mit dem Mund stumme Worte formte und den anderen offenbar versuchte etwas mitzuteilen. Sie verstanden es nicht.

„Was ist hier los? Warum nehmt ihr ihn nicht gefangen? Er hat ohne Erlaubnis das Tor passiert und...“ In jenem Moment regte sich etwas in der Burg. Eine laute Stimme war zu vernehmen, sie näherte sich schnell. Er war wütend, dachte Draco nicht ohne Genugtuung.

Nur wenige Augenblicke später kam John Barrington über den Hof, sein Schimpfen war bereits zu hören. Dann kam er durch das Tor mit hochrotem Gesicht. „DU!“, schrie er und zeigte mit dem dicken Fingen auf Draco. Bei seinen Anblick konnte Draco ein Lächeln nicht verhindern. Jetzt war er es, der von oben herab auf diesen Mann sah, überlegen und lächelnd.

Er wollte das Barrington genau das spürte. Und er wusste, wie er das noch steigern konnte.

„Ich.“, erwiderte er schlicht. Das Gefühl war unbeschreiblich, als er sah, wie Barringtons Gesichtsausdruck sich von Wut in Überraschung und Ungläubigkeit verwandelte und anschließend in nackten Zorn.

Noch immer zeigte John Barrington mit dem Finger auf Draco, als er seine Sprach wieder fand. Triumphierend schrie er: „Ich wusste es! Ich wusste, dass du sprechen kannst!“

Amüsiert hob Draco eine Augenbraue. Mehr fiel ihm dazu nicht ein? An seiner Stelle hätte gleich nach dem Schwert gegriffen, dachte Draco. Aber genau das hatte er von ihm erwartet. Dieses Mal würde er es sein der Ort und Zeit bestimmte.

„Ich werde dich töten!“, schrie Barringtons so laut, dass selbst die Wachen hinter ihm zusammenzuckten. Keiner von ihnen wagte es jetzt noch Draco oder gar Barringtons näher zu kommen. Sie hatte Angst etwas falsch zu machen und Barringtons Zorn auf sich zu ziehen.

„Versuch es.“, sagte Draco mit ruhiger, leiser und gefährlicher Stimme. Barrington starrte ihn an und rang nach Luft. Doch auf eine Antwort wartete Draco nicht. Er brachte Hera dazu sich zu drehen und preschte dann davon, durch die Stadt zurück. Hinter sich hörte er John Barrington nach einem Pferd brüllen.

Draco achtete darauf, dass Hera nicht gar so schnell ritt. Schließlich sollte Barrington ihm noch folgen können. Draco war sicher, dass nur John Barrington ihm folgen würde und er nicht noch seine anderen Männer herbei rief. Niemals würde er die Gelegenheit einem anderen überlassen. Draco wurde leicht übel, als ihm klar wurde, wie gut er dieses Monster einschätzen konnte.

Er ritt geradewegs auf sein Ziel zu. Draco wusste sehr genau wohin er wollte. Dennoch blieb er ab und an stehen und wartete darauf, bis er die Hufschläge von Barringtons Pferd hören konnte. Dann zeigte er sich ihm kurz und ritt wieder voraus. Barrington brüllte jedes Mal hinter ihm vor Wut.
 

Als er die Lichtung, jene Lichtung auf der seine Geschichte begonnen hatte, erreichte, setzte Draco von Hera ab. Er löste ihren Sattel und warf ihn achtlos gegen einen Baum. Er würde ihn nicht mehr benötigen. Wenn Hera sich entscheiden sollte, nicht mehr zu Alexander zurückzukehren, würde es besser so sein. Draco war davon überzeugt, dass sie auch allein in den Wäldern gut zurecht kam. Im Anschluss nahm er sein Schwert in die Hand und betrachtete es noch einmal. Die Mondsteine leuchtete blau, fast so wie die Farbe seiner Augen. Die Klinge reflektierte hell das Sonnenlicht. Die lateinischen Buchstaben schienen lebendig zu werden und ihm gleichzeitig die Erfüllung seines Zieles zu versprechen. Draco stellte sich vor wie Barringtons Blut schon bald an der Klinge klebte und neue Kraft durchflutete ihn. Er würde sterben, das wusste Draco mit Sicherheit, doch nicht vor John Barrington.

In diesem Moment fühlte sich Draco ganz so, wie das mächtige Tier, welches er einst gewesen war.
 

Endlich kam Barrington auf der Lichtung an. Er rutschte von seinem Pferd und stand schwer keuchend vor Draco. Als wäre er es gewesen, der die Strecke zu Fuß zurück gelegt hatte. Das Pferd selbst sah erschöpft aus und sein Fell glänzte vom Schweiß. Müde trat es einen Schritt zu Seite und ging zu Hera, die noch immer zwischen den Bäumen stand. Draco konnte ihre Wiehern und Schauben hören, doch seine Augen waren nur auf John Barrington gerichtet.

Sein Gegenüber hatte das Schwert nun ebenfalls gezogen und in seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. Draco ahnte, was er gleich zu hören bekommen würde, während Barrington langsam auf ihn zuschritt.

„Du bist wirklich ein dummes Tier.“, begann Barrington mit lauter und selbstsicherer Stimme. Draco legte den Kopf schief und musterte ihn stumm. Nichts konnte ihm mehr aus der Ruhe bringen. Seine Zeit war jetzt gekommen und er würde seinen Zug im passenden Moment machen. „Du hättest fliehen können“, sprach Barrington weiter, „und ich hätte dich wahrscheinlich nicht einmal gefunden! Jetzt aber werde ich dir bei lebendigem Leib die Haut vom Fleisch ziehen. Egal ob Drache oder nicht.“ Um seine Worte wohl zu unterstreichen schwang er sein Schwert bedrohlich.

Noch immer war Dracos Blick eher abschätzend. Er überlegte, ob er wirklich darauf antworten sollte oder ob nicht jedes Wort verschwendet wäre. Natürlich wäre es das, dachte er. Aber Worte waren eine ebenso mächtige Waffe, dass hatte er oft genug am eigenen Leib erfahren müssen.

John Barrington war sich seiner so gewesen, seine Miene so zufrieden und siegessicher, Draco würde alles tun um das zu zerstören. Es würde ein leichtes sein, dachte er. Schließlich gab es etwas, was er ganz gewiss nicht wusste.

„Rache. Deswegen bin ich zurückgekommen.“, erwiderte Draco laut und deutlich, damit sein Gegner auch kein Wort verpasste. „Ich will Rache für das, was du mir in diesem stinkenden Loch angetan hast. Allein dafür könnte ich dir die Kehle aufschlitzen. Ich will Rache für den Moment, in dem du es gewagt hast, mich in meinem Schlaf zu stören. Und ich will Rache, weil du mir etwas genommen hast, was schon lange mir gehörte.“

„Ach und was sollte das sein?“, fragte Barrington scheinbar gelangweilt und gähnte. Innerlich freute sich Draco darauf, wie schnell er es ihm mit nur einem Wort, vom Gesicht wischen würde.

„Annie.“, antwortete er kurz. Zum zweiten Mal an diesem Tag sah er wie Barringtons selbstsichere Miene zusammenfiel.

„Du hast mich schon verstanden.“, sagte Draco und als er sah, wie Barringtons Augen immer größer wurden, konnte er nicht mehr aufhören. „Annie war es, die mich in einen Menschen verwandelte. Sie war eine Hexe.“ Draco begann langsam um Barrington herumzugehen, das Schwert leicht erhoben, doch noch wollte er ihn nicht angreifen. Er war noch nicht fertig. „Von ihr lernte ich das Gehen und Sprechen und sie liebte mich. Ich machte sie mein lange bevor du auftauchtest.“

Während er John umkreiste kam er ihm immer näher. Schon bald hatte er alles gesagt, was es zu sagen gab. „Und soll ich dir noch etwas verraten?“, flüsterte Draco heißer. Die Worte fühlten sich fremd auf seiner Zunge an, aber es war zu spät. „Das Kind, Annies Kind, es war nicht deines. Es war mein Sohn.“

Genau mit diesen Worten griff Draco an. Er nutze den Moment der Fassungslosigkeit, der Barrington auf dem Gesicht geschrieben stand. Dracos Schwertklinge sauste durch die Luft und er sah sie schon in Barringtons Körper verschwinden, doch diese konnte gerade noch rechtzeitig reagieren. Er wehrte den Angriff mit seiner eigenen Klinge ab.

Blitzschnell zog Draco sein Schwert zurück und griff erneut an. Dieses Mal von oben. Barringtons hob sein Schwert über den Kopf und parierte den Schlag. Dann machte er selbst einen Stoß nach vorn. Draco sprang zurück und duckte sich. Im gleichen Augenblick wollte er von unten angreifen und zielte auf Barringtons Beine. Er streckte nur den Arm heraus und hielt seinen Körper in sicherer Entfernung.

Mit nur einem einfachen Schritt nach hinten wich John Barrington seinem Angriff aus, machte einen Ausfallschritt zur Seite und griff Draco erneut an. Dieser sah es gerade noch, konnte aber nicht mehr rechtzeitig ausweichen und ließ sich deswegen zur Seite fallen. Den Schwertgriff hatte er fest umklammert. Barringtons Lachen drang an seine Ohren.

„Ich sagte doch, ich werde dich töten! Und es geht schneller als ich dachte!“, rief Barringtons und stand mit dem Schwert erhoben über ihm. Er holte mit dem Schwert aus. Draco trat danach und hatte Glück, die Klinge im richtigen Winkel zu erwischen. Barrington verlor das Schwert nicht, wurde aber abgelenkt. Dennoch verschaffte es Draco genügend Zeit. Er rollte den Rücken kurz nach hinten und stand dann mit Schwung wieder auf den Beinen. Sofort setzte er seinen Angriff fort. Abermals versuchte Barringtons zu parieren, doch Draco sah seinen Zug voraus, ließ sein Schwert einen größeren Bogen beschreiben als er eigentlich vorgehabt hatte und traf seinen Gegner somit am ungeschützten Arm. Es war kein tiefer Schnitt, denn Barringtons schrie nicht einmal laut auf. Es war mehr ein Stöhnen, doch das Blut, welches aus der Wunde trat, befriedigte Draco. Das erste Blut war geflossen und es würde nicht das letzte sein, dachte er.

Kurz hielt sich John Barrington den Arm und sah dann das Blut an seinen Finger. „Das wirst du büßen.“, knurrte er. Der kommende Angriff war noch kraftvoller und heftiger, als die vorherigen. Draco hielt das Schwert schützend vor seinen Körper und die Schwerter trafen klirrend aufeinander. Ein Kräftemessen entstand. Keiner der beiden war bereit nachzugeben. Jeder wollte den anderen möglichst heftig von sich stoßen, um zum nächsten, schadhaften Schlag anzusetzen.

Barringtons Gesicht wurde immer röter. So wusste Draco, dass es Barrington Kraft und Anstrengung kostete, ihm stand zu halten. Es war etwas, was seine Siegessicherheit wieder aufflammen lies.

Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass auch sein Arm unter der Kraftanstrengung zu zittern begann. Doch sein Schwert zurückzuziehen und anderweitig einen Angriff zu versuchen, kam für ihn nicht in Frage. Draco mobilisierte all seine Kräfte, um die Stellung zu halten, auch wenn er dabei spürte wie die Wunde an seinen Unterarm wieder aufriss. Mit diesem Kraftakt gelang es Draco schließlich Barrington zurückzustoßen. Während dieser ein paar Schritte nach hinten taumelte, zeichnete Draco mit seinem Schwert einen Bogen von rechts nach links durch die Luft und traf Barrington am Bauch. Er schrie laut auf.

Trotz des Schreies wusste Draco, dass die Verletzung selbst nicht sehr tief sein konnte. Der Stoff von der dicken Kleidung hatte das meiste gewiss abgefangen. Das nächste Mal würde er noch härter zustechen, dachte Draco. Nur kurz erlaubte er sich einen Blick auf seinen rechten Arm. Der Verband hatte sich mit seinem Blut vollgesogen und darunter pulsierte der Schmerz.

Auch wenn es nur ein kurzer Moment gewesen war, so war er dennoch zu lang gewesen. John Barrington griff erneut erbarmungslos an und Draco konnte nicht ganz so schnell reagieren. Anders als zuvor schienen Draco außerdem die Angriffe unkontrollierter zu sein.

Zunächst konnte er die Angriffe noch recht gekonnt abwehren, doch schon bald begann John Barrington ihn zusätzlich mit seiner Faust zu traktieren. Nun fiel es Draco deutlich schwerer dem etwas entgegenzusetzen. Mit dem Schwert parierte er weiterhin Barringtons Klinge, während er mit dem linken Arm versuchte die Schläge abzufangen. Es gelang nicht immer. Mit jedem Treffer den Barrington auf Dracos Körper landete wurde sein Grinsen wieder breiter. Dracos keuchte vor Anstrengung und Schmerz. Er war noch lange nicht erholt genug, damit ihn dies nicht so viel ausmachte, wie es das vielleicht in gesundem Zustand getan hätte. Außerdem war er auf so einen Kampf nicht vorbereitet gewesen. Den Nahkampf hatte Alexander ihm nur wenig gelehrt, weil er mit dem Schwert einfach besser war. Dem aber ungeachtet war seine linker Arm niemals so kraftvoll gewesen, wie der rechte. Und seit dem ihm der Finger gebrochen und das Brandzeichen gesetzt worden war, war der Arm nur noch eine ständige Quelle des Schmerzes. Dies spürte er nun umso deutlicher. Er war zwar immer noch schneller als Barringtons und einer großen Anzahl von Schlägen konnte er einfach ausweichen, aber seine linke Seite ermüdete rasch.

Mit seinen Schlägen und Schwertangriffen trieb John Barringtons ihn immer weiter zurück. Er schlug erbarmungslos auf Draco ein. Draco beobachtete seine Bewegungen genau, versuchte eine Lücke zu finden um einen Schlag mit dem Schwert zu erzielen, auch wenn er dafür selbst getroffen werden sollte, doch vergebens. So würde er den Kampf niemals gewinnen, dachte er und stieß das Schwert verzweifelt nach vorn. Damit ließ er seine eigene Körpermitte ungeschützt, was Barringtons ausnutze und mit seiner Klinge genau darauf zielte. Gerade noch rechtzeitig schaffte es Draco nach rechts zu springen, wurde dafür aber von Barringtons Faust in die Rippen getroffen. Kurz hielt er vor Schmerz die Luft an. Lange hatte er nicht Zeit, sich darum Gedanken zu machen. Anders als zuvor genoss Barrington diesen Moment nicht ausgiebig, sondern griff gnadenlos weiter an. Draco blieb nur noch die Zeit sein Schwert abermals schützend vor seinen Körper zu halten und weiter Angriffe somit abzufangen.

Das Grinsen in Barringtons Gesicht wurde jedoch nur noch breiter. Draco war etwas verwirrt. So viel hatte sich nicht geändert und Barringtons konnte unmöglich wissen, welche Schmerzen seine beiden Arme ihm bereiteten. Aber schon im nächsten Augenblick erfuhr er den Grund für die Selbstsicherheit seines Gegners.

Während er zurück wich, blieb sein Fuß plötzlich an etwas hängen. Ein Stein oder eine herausragende Wurzel, Draco wusste es nicht. Er verlor den festen Stand, stolperte rückwärts und fiel schließlich zu Boden. Instinktiv versuchte er den Sturz mit der linken Hand abzufangen. Auf keinen Fall durfte er das Schwert fallen lassen, dachte er. Doch seine Handfläche berührte nicht etwa das weiche Gras, wie er angenommen hatte, sonder etwas spitzes, was sich unerbittliche und unter stechenden Schmerzen durch den Verband hindurch, in seine Hand stach. Entsetzt rang Draco nach Luft. Ihm wurde übel und schwarz vor Augen. Für diesen einen kurzen Augenblick, wurden all seine anderen Gedanken durch den Schmerz ersetzt. Sein Schwert hing halb erhoben und nutzlos in der Luft. Verzweifelte kämpfte er gegen die Übelkeit an und versuchte seinen Blick zu klären.

Zu Lange.

Draco spürte wie ihm das Schwert aus der Hand getreten wurde. Ein leises Geräusch verriet ihm, dass es nicht weit von ihm im Gras landete. Das nächste, was er auch schon wahrnahm war etwas spitzen und kaltes, das sich unaufhaltsam in seinen Körper bohrte.

Langsam und qualvoll.

Seine Augen waren weit aufgerissen und doch sah er nichts. Seine Atmung setzte für den Moment aus. Sein ganzes Sein schien innerlich zu Zerreisen. Dann hörte es einen kurzen Moment auf und Draco verstand plötzlich klar und deutlich was geschehen war. Er atmete flach ein und eine Welle neuen Schmerzes durchfuhr ihn. Dann hob er zitternd den Kopf.

Er blickte direkt in Barringtons Gesicht. John Barrington stand so dicht vor ihm, hatte sich so weit zu ihm runter gebeugt, dass Draco seinen stinkenden Atem riechen konnte. In den Augen seines Gegenübers jedoch sah er sein eigenes Spiegelbild. Er starrte sich selbst fassungslos entgegen, die Erkenntnis auf dem Gesicht, dass es vorbei war.

Er hatte verloren.

„Ich töte dich.“, wisperte John Barringtons und zog das Schwert gemächlich aus Dracos Körper heraus. Draco spürte jede einzelne Bewegung, konnte beinah sehen, wie es sein Inneres zerfetzt wurde und doch war der Schmerz nicht so heftig, wie er gedacht hatte. Er konnte es kaum spüren. Dafür brüllten die Gedanken seiner Niederlage laut in seinem Kopf.

Sobald das Schwert seinen Körper verlassen hatte, sank Draco mit dem Rücken auf den Boden und starrte in den blauen Himmel.

Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Wie hatte er... Warum... Er konnte nicht glauben, dass das alles gewesen sein sollte. Sollte das sein Ende sein? War er wirklich nicht in der Lage seine Rache zu bekommen? War es ihm so vergönnt? Hielt seine Strafe noch immer an? Hatte man ihm nicht bereits genug genommen? Er hatte über Wochen Qualen über sich ergehen lassen, immer in dem Wissen, dass sein Moment kommen würde. Er hatte Annie sterben sehen, er hatte sein Kind zurückgelassen, für diesen einen Moment. War das denn nicht genug?

Wie hatte er verlieren können?

Dracos Blick fiel zur Seite. Da sah er sein eigenes Schwert. Es lag gar nicht so weit weg, vielleicht eine Armeslänge. Wenn er nur den Arm ausstrecken könnte, dann...

Ein Schatten fiel auf ihn und als er nach oben sah, stand Barringtons direkt über ihm. Sein Schwert war hoch erhoben und Draco sah den letzten Hieb schon auf sich niederfahren. Doch stattdessen legte Barrington die Schwertspitze unter sein Kinn und ließ sie dann seinen Körper entlang nach unten gleiten.

„Wie soll ich dich nun am besten töten? Noch lebst du ja, also kann ich mich auch noch ein bisschen mit dir vergnügen. Danach ist Alexander dran. Er hat von dir gewusst, nicht wahr?“

Draco konnte sich nicht rühren, zu tief saß der Schock. Er durfte diesen Mann nicht entkommen lassen. Barrington musste sterben - egal wie! Draco biss die Zähne zusammen und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Aus den Augenwinkeln sah er sein Schwert nutzlos im Gras liegen. Er musste es doch irgendwie erreichen können!

„Mal sehen, soll dein Tod langsam und qualvoll sein oder schnell und schmerzfrei?“, sinnierte John Barrington weiter. Ohne Barringtons Blick loszulassen versuchte Draco seinen rechten Arm zu bewegen.

„Nun ich denke schnell und schmerzfrei ist ausgeschlossen.“ Barrington nahm die Kling von Dracos Körper fort und berührte sie mit den Fingerspitzen. Dabei blieb Dracos Blut an seinen Finger kleben. Einen Moment betrachtete er es interessiert, dann steckte er sich den Zeigefinger in den Mund und leckte das Blut ab.

„Ich schmecke die Angst.“, sagte er schließlich und grinste erneut. „Aber ich weiß jetzt, was ich tun werde.“ In seinen Augen lag nun das Funkeln, das Draco schon so oft gesehen hatte und Schauer durchfuhren ihn. Vielleicht war es der nahende Tod, vielleicht auch schlicht die Angst vor Barringtons nächster Tat.

Barrington setzte sich auf einmal auf Dracos Körper. Dieser sog unter dem Gewicht scharf die Luft ein. Erneut fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Körper. Barringtons linke Hand legte sich um Dracos Hals und drückte fest zu. Die andere Hand führte das Schwert zu Dracos Gesicht, so dass die Spitze auf sein Auge zeigte.

Ohne dass es Barrington aussprach, wusste Draco was er vorhatte.

Er würde ihm das Augenlicht nehmen.

Draco packte mit seiner linken Hand Barringtons Handgelenk und stemmte sich mit aller Macht gegen ihn. Für einen winzigen Moment merkte Draco, dass seine Hand nicht mehr ganz so wehtat. Überhaupt war der Schmerz im Angesicht dessen, was ihm wohl bevorstand, nur noch ein unbedeutendes Gefühl. Vielleicht blieb ihm auch einfach nicht mehr viel Zeit.

„Du wagst es...“, spie Barrington aus und verstärkte den Druck auf Dracos Hals umso mehr. Das Schwert in seiner Hand zitterte bedrohlich und Draco wollte seinen Blick nicht abwenden. Er streckte den Arm nach seinem Schwert aus und hoffte, dass er es berühren konnte. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er kurz hinsah. Es war so nah! Es fehlte nur noch ein bisschen.

Draco versuchte den Körper ein wenig zu drehen, so dass seine Finger den Griff erreichen konnten, doch Barringtons saß so schwer auf ihm, dass es unmöglich schien. Sein Blick blieb auf Barrington gerichtet. Er durfte nicht wissen, was er versuchte. Unter größter Anstrengung versuchte Draco seinen Körper ein wenig zu dehnen. Es zerriss ihn beinah innerlich. Doch plötzlich berührten seine Fingerkuppen den erkalteten Griff. Es war noch lange nicht genug, er konnte es noch nicht greifen, aber neue Hoffnung durchströmte ihn.

Sein gesamter Körper zitterte unter der Anstrengung. Mit der linken Hand versuchte er noch immer Barringtons Handgelenk festzuhalten, während dieser ihn weiterhin würgte. Es kam Draco einem Wunder gleich, dass Barrington sein Vorhaben nicht bemerkte. Vielleicht hatte er das aber auch und schenkte ihm in seiner Siegesgewissheit keine Beachtung. Unablässig blieben seine Augen auf Draco gerichtete. „Ich werde dir dieses teuflische Blau schon noch heraus reisen!“, spuckte Barrington und stieß unerwartet heftig mit dem Schwert zu. Nur knapp konnte Draco der Schwertspitze entkommen, in dem er den Kopf heftig zur Seite dreht. Doch sie streifte sein Ohr und er fühlte einen neuerlichen Schmerz.

Die Wut machte Barrington blind und unvorsichtig, dachte Draco.

Barrington hatte durch diesen Zug ein wenig an Gleichgewicht verloren und der Griff um Dracos Hals und vor allem das Gewicht auf seinem Körper, waren ein wenig leichter geworden. Nur so schaffte er es, seinen Körper weiter zu drehen und die Fingerspitzen um den Griff seines Schwertes zu legen. Er zog es an sich und seine Finger schlossen sich gänzlich darum. Schnell und hart zog Draco den Arm nach oben. Genau in diesem Moment schien Barrington zu begreifen, was geschah und wandte den Kopf herum.

Dracos Schwertgriff traf ihn mit großer Wucht und vor allem unerwartete ihm Gesicht.

Jetzt war es John Barrington, der vor Schmerzen aufheulte. Er kippte ein wenig zur Seite und hielt sich das Gesicht. Mit den Armen stieß Draco ihn ganz von seinem Körper. So schnell er konnte versuchte er aufzustehen. Dabei wurde ihm jedoch so schwindelig, dass seine Beine wieder drohten einzuknicken. Nur verschwommen nahm er wahr, dass Barrington sich noch immer das Gesicht hielt und Blut durch seine Finger rann. Offenbar hatte er ihm die Nase gebrochen. Es war nicht genug.

Draco konnte seine Beine kaum noch spüren. Als er eine Hand auf die Wunde am Bauch legte, klebte sein eigenes dunkelrotes Blut an seinen Finger. Sein Leben floss unaufhaltsam aus seinem Körper. Er hätte schon längst tot sein sollen, dachte er ohne jede Anteilnahme. Er musste schnell handeln. Der Wunsch Barrington Qualen leiden zu lassen, brannte noch immer heftig in ihm, doch blieb ihm keine Zeit mehr. Jetzt war seine Gelegenheit, auf die er so lange gewartete hatte und er würde sie nicht aus Eitelkeit ungenutzt lassen.

Mit wankenden Schritten ging Draco zu Barrington, der noch immer auf allen vieren gestützt am Boden saß und vor Schmerzen stöhnte. In der Hand hatte Draco noch immer sein Schwert, mit den funkelnden Mondsteinen.

Draco fasste es mit beiden Händen. Er hob die Arme über den Kopf.

Mit all der Kraft, die noch in seinem Körper verblieben war, rammte er die Klinge in John Barringtons Rücken.

John Barrington schrie laut auf. Das Geräusch klang, wie eine schöne Melodie in Dracos Ohren. Es ließ Schauer der Freude durch seinen gesamten Körper fahren. Er spürte Erleichterung und Triumph. Doch auch die Gier nach mehr. Es war ihm noch lange nicht genug.

Hastig zog er das das Schwert aus Barringtons Körper. Blut klebte an dem Metall. Es war genauso wunderschön, wie Draco es sich vorgestellt hatte. Sein Körper taumelte ein wenig, doch er ließ sich davon nicht beirren. Er musste schnell handeln und durfte Barringtons nicht die Gelegenheit geben, sein eigenes Schwert zu fassen zu bekommen.

Ein genaues Ziel hatte auch Dracos nächster Angriff nicht. Er stieß das Schwert abermals in Barringtons massigen Körper. Blut sickerte aus den Wunden und Barringtons schrie erneut. Mit einem Ruck, trieb Draco die Spitze weiter hinein. Das Blut, die Farbe und der Geruch raubten ihm den Verstand. Er wollte mehr davon sehen! Er wollte ihn noch mehr schreien hören!

In einem Blutrausch gefangen, stach Draco immer wieder auf den Mann vor ihm ein. Er zählte die Stiche nicht, er sah auch nicht wo er ihn traf. Alles was er sah, war das dunkle, rote Blut. Draco war erfüllt von den Gefühlen der Rache und Genugtuung. Alles andere hörte auf zu existieren.

Mit jedem Mal, das sich sein Schwert in dem Körper seines Gegners versenkte, wurden Barringtons Schreie weniger. Sie verwandelten sich in ein Wimmern und irgendwann waren sie nicht mehr als ein Röcheln.

Und dann war es auf einmal still.

Draco hielt inne, schwer atmend. Er versuchte Barringtons Körper zu erkennen, doch alles lag nur verschwommen vor ihm. Nur, dass er sich nicht mehr regte, konnte er ausmachen. Er war leblos.

Das Schwert glitt Draco aus den Fingern und landet im Gras.

Wie von allein wanderte sein Blick in den Himmel hinauf, als hoffte er dort den Vollmond zu sehen. Doch es war noch heller Tag und die Sonne schien heiß. Dracos Körper zitterte inzwischen so sehr, dass er kaum noch stehen konnte. Mit jedem Schritt, den er von Barrington weg machte, verschwand das Grün um ihn herum und Dunkelheit breitete sich aus.

Er hatte keine Angst zu sterben.

Seine Beine trugen ihn vorwärts, auch wenn er nicht wusste wohin er ging. Aber er wollte weg von dem Monster.

Seine Sinne schwanden. Zuerst konnte er nichts mehr sehen. Dann konnte er nichts mehr riechen und hören. Er hörte auf zu fühlen und zu empfinden.

Die Welt um ihn herum löste sich auf und Nichts blieb. Zum Schluss riss das schwache Band, welches ihn bisher noch am Leben gehalten hatte.

Epilog

Er riss die Augen auf und presste beide Hände auf den Mund. Wieder einmal hoffte er einfach nur, dass es bald vorbei sein würde, dass der Nachklang des Traumes abebbte. Den Schrei, der bereits auf seiner Zunge lag, konnte er zurückdrängen und herunter schlucken.

Dennoch blieb er so lange in dieser Position liegen, bis sich sein hämmerndes Herz beruhigte. Erst dann nahm er langsam die Hände herunter und ließ sie neben seinen Körper fallen. Schon wieder, dachte er matt. Schon wieder dieser Traum, schon wieder diese Erinnerungen, die sich in seinen Schlaf schlichen.

Er hat aufgehört zu zählen, wie oft es bereits geschehen war. Manchmal kamen sie nur als flüchtige Bilder oder Worte, andere Mal waren sie so intensiv und lebendig wie in dieser Nacht. Dabei verfolgten sie ihn ja auch schon am Tag. Sie waren immer da, ganz egal was er tat. Zum Glück war es ihm dieses Mal gelungen, den Schrei zu unterdrücken, dachte er. Er hätte ihr unmöglich erzählen können, dass er schon wieder nur schlecht geträumt hatte. Es wäre zwar die Wahrheit gewesen, aber er hatte es bereits so oft gesagt, dass er sich manchmal selbst nicht mehr glaubte.

Er drehte den Kopf zur Seite, um sich an dem schlafenden Gesicht seiner Frau zu beruhigen. Erneut blieb ihm das Herz stehen. Sie sah ihn aus hellwachen Augen an.

Sie hatte alles mitbekommen.

Wie ein verängstigtes Tier starre er sie an.

Da sie nichts sagte, wandte er den Blick wieder ab und fixierte die Zimmerdecke. Er wollte es ihr erzählen! So sehr! Aber was, wenn...

Plötzlich ergriff sie seine Hand und drückte sie sanft. Dann schmiegte sie ihren Körper an seinen und schloss die Augen. Er wusste, was sie ihm damit sagen wollte, was sie schon so oft gesagt hatte, mit und ohne Worte. Er musste es ihr einfach sagen... Schließlich würde es ihr ganzes gemeinsames Leben beeinflussen, wenn er nicht... Wenn er es schon nicht zu Ende bringen konnte, dann musste er ihr doch wenigstens die Wahrheit sagen, dachte er verzweifelt.

„Apple?“, sagte er leise und musste sich räuspern. Sein Herz schlug inzwischen drei Mal so schnell.

„Mmh.“, murmelte sie.

„Glaubst du... glaubst du an Drachen?“

Jetzt hob sie den Kopf und sah ihn fragend an. Sie schien sich ihre Antwort sehr genau zu überlegen. „Ich weiß es nicht... Ich habe noch nie darüber nachgedacht.“, antwortete sie schließlich. Zaghaft nickte er. Ihm wurde ganz schlecht. So nervös war er noch nie zuvor in seinem Leben. Nicht einmal an dem Tag, an dem er um ihre Hand angehalten hatte.

Sie kam seinem Gesicht näher und küsste ihn zärtlich. Er erwiderte den Kuss und glaubte erneut den Geschmack von Sommeräpfeln auf ihren Lippen schmecken zu können. „Du musst das nicht tun.“, flüsterte sie gegen seinen Mund.

„Doch... Ich muss... Noch kannst du... kannst du es dir anders überlegen. Ich hätte es dir lange vorher sagen sollen. Vielleicht willst du gar nicht... so jemanden wie mich und... Ich würde dafür bürgen, dass unsere Ehe nie vollzogen word-“

Ein Finger auf seinen Lippen unterbrach ihn. „Sch... Rede nicht so einen Mist.“, beruhigte sie ihn mit sehr deutlichen Worten. Widerwillen musste er lächeln. Genau deswegen hatte er sie geheiratet. Sie sagte immer, was sie dachte, egal wie es für andere klang.

„Apple, was ich dir jetzt erzähle ist wahr. Bitte, du musst es mir glauben.“, flehte er sie an.

„Ich habe dich noch nie so sprechen gehört.“, sagt sie nach einem kurzen Moment. „Deswegen glaube ich dir bereits jetzt.“

Ich nicke. „Gut...Gut... Als diese Geschichte ihren Anfang nahm...“
 

Es musste bereits Mitternacht gewesen sein, als er endetet. Die ganze Zeit hatte Apple ihm geduldig zugehört und ihn kein einziges Mal unterbrochen. Auch jetzt schwieg sie noch eine ganze Weile.

Er ließ sie in ihren Gedanken und betrachtete die Bilder, die gegenüber von ihrem Bett hingen. Es war eine Serie bestehend aus vier Einzelbildern. Es war eine Vollmondnacht – wieder einmal – und das Licht des Mondes reichte aus, um das Zimmer genug zu erhellen, so dass er die Motive der Bilder erkannte. Dabei kannte er sie bereits auswendig.
 

Das erste Bild trug das Thema Frühling. Es zeigte eine blühende Apfelwiese. Die Sonne schien hell und brachten die grünen Blätter zum Leuchten, während die zarten weißen und rosa Blüten selbst zu strahlen schienen. Das Gras wuchs hoch und einzelne weiße Punkte – Gänseblümchen – ragten daraus hervor. Auf der linken Seite des Bildes versteckte sich ein Junge hinter einem breiten, alten Apfelbaum. Die Äste dieses Baumes hingen besonders tief, so dass, wenn der Junge sich noch ein wenig zurücklehnen würde, er ganz unsichtbar sein würde. Doch er war so dargestellt, dass er hinter dem Baum hervor lugte und mit einem Lachen zu seiner Spielkameradin schaute. Sie war auf der linken Bildseite gemalt. Mit den Händen vor dem Gesicht lehnte sie an einen Baum und zählte vielleicht, um dann nach ihm zu suchen. Der Junge hatte strohblondes Haar, welches sich in wenige Locken um seinen Kopf legte. Seine Kleidung schien edler zu sein, doch war sie von unzähligen Grasflecken übersät. Das Mädchen trug ein schlichtes braunes Kleid, dem von Angestellten in Herrenhäusern gar nicht so unähnlich. Ihre langen, kastanienfarbenen Korkenzieherlocken fielen ungebändigt ihre Schultern herab. Es war ein fröhliches, unschuldiges Bild und er sah es sich sehr gern an.
 

Sein Blick wanderte weiter zum zweiten Bild. Dieses zeigte die gleiche Apfelwiese im Spätsommer. An den Bäumen hingen nun große, rote, reife Äpfel und die Äste beugten sich unter ihrer schweren Last. Die Kinder waren sehr gewachsen und standen kurz vor dem Erwachsenwerden. Wie alt mochten sie sein?, überlegte er. Vielleicht sechzehn oder achtzehn. Sie saßen einander gegenüber im Gras, zwischen dem jetzt Kornblumen und Margriten wuchsen. Die Locken des Mädchens hingen immer noch wirr ihre Schultern herab. Doch zwischen ihren Fingern hielt sie eine Haube. Ihr Kleid war braun, mit einer Schürze umgebunden. Die dunkle Farbe ließ ihre Haut beinah weiß wirken, nur ihre Wangen waren leicht rosa. Ihre Augen waren kleine helle Punkte. Das rosa ihrer Wangen kam von der Hand, die er nach ihr ausgestreckt hatte. Mit den Fingern legte er ihr sanft eine Haarsträhne hinter die Ohren. Es war eine vertraute und auch liebevolle Geste. Genauso liebevoll, wie auch sein Blick war, mit dem er sie ansah. Seine Locken, waren herausgewachsen und das Haar glatt. Seine Augen waren nicht zu erkennen, denn er hatte die Lider gesenkt und sah sein Gegenüber unverwandt an. Seine Kleidung schien kostbar. Er trug ein weißes Hemd und eine grüne Samtweste, die mit Goldstickereien an der Seite verziert war. Seine Hosen waren in dem gleichen passenden Grün und seine Strümpfe so weiß, wie die Apfelblüten im Frühling. Nur Schuhe trugen beide nicht mehr. Sie lagen achtlos im Gras neben ihnen. Die Äpfel mochten reif von den Ästen hängen, doch eine Liebe entstand gerade.
 

Der Herbst dominierte das dritte Bild. Die Äpfel waren geerntet worden und Blätter waren bereits von den Bäumen gefallen. Die, die sich noch an den Zweigen festhielten leuchteten in allen erdenklichen gelb, orange, rot und braun Tönen. Die Wiese hatte an Farbintensität verloren und der Himmel war von Wolken verhangen. Eine dritte Person war auf dem Bild zu sehen. Es war ein Mann, der das Mädchen an der Hand hielt und mit ihr die Wiese verlassen wollte. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, es lag im Schatten verborgen. Das Mädchen, oder vielmehr die Frau, drehte sich halb, die freie Hand nach dem Anderen erhoben. Ihre Haare waren unter einer weißen Haube gesteckt und doch hatte sich eine einzelne Strähne gelöst und schlängelte sich ihr Gesicht entlang. Sie trug nur ein schlichtes Brautkleid, nicht einmal gänzlich weiß, ohne Schleier und doch war es eindeutig. Sie hatte einen anderen geheiratet. Der blonde Mann sah ihr hinterher, auf seinem Gesicht spiegelten sich Trauer und Verzweiflung. Auch er hatte eine Hand erhoben, als wollte er ihre greifen und doch zögerte er. Sie schienen beide hilflos und in ihrem Schicksal gefangen.
 

Das letzte Bild sprach nur von Trauer. Es war Winter auf der Apfelwiese. Die Bäume waren kahl und Schnee bedeckte ihre Äste und auch die Wiese. Der Himmel war grau, kein Sonnenstrahl konnte durch die dicken, dunklen Wolken dringen. Es war so ganz anders, als das erste oder zweite Bild. Das erschütterndste war ein Kreuz, welches genau in der Bildmitte zu sehen war. Es war aus zwei einfachen, heruntergefallenen Ästen mit einem Strick zusammengebunden. Davor saß mit gesenktem Haupt der blonde, junge Mann im Schnee. Sein Körper wurde bereits von Flocken bedeckt, was davon zeugte, dass er schon ziemlich lange dort sitzen musste. Er war nach vorn gebeugt, in großem Schmerz, den er in seinem inneren trug. Das Mädchen mit den Korkenzieherlocken war gestorben.
 

„Sieh dir nicht das letzte Bild an, sondern das für den Frühling oder Sommer.“, flüsterte eine Stimme neben ihm und er zuckte kurz zusammen.

Die Bilder gehörten seiner Frau, doch wer der Künstler war, wusste auch sie nicht. Die Bildserie hatte Doktor Storm ihr gegeben, als sie vor vier Wochen geheiratet hatten. Der alte Mann lebte immer noch. Niemand wusste, wie alt er wirklich war. Er selbst machte Scherze darüber, dass seine eigene Medizin ihn so lange am Leben hält.

Apple glaubte, dass auf dem Bild ihre Mutter zu sehen ist. Sie starb früh an einer Mangelernährung. Der unbekannte Mann auf dem dritten Bild war ihr Vater, oder zumindest der Mann den ihre Mutter geheiratet hatte. Da Apple weder ihm oder ihrer Mutter ähnlich sah, war er schon früh davon überzeugt gewesen, dass sie ein Kuckuckskind war und brachte sie zu ihrer Großmutter. Dort wuchs Apple auf. Sie war also eine Waise, wie er. Sie hatten beide keiner Eltern mehr und waren doch in einem liebevollen Zuhause groß geworden. Nur konnte er sich an seine Eltern erinnern. Auch wenn es eben jene Erinnerungen waren, die ihm den Schlaf raubten. Apple hingegen besaß nichts, außer diesen Bildern und den Glauben, dass der blonde Mann ihr leiblicher Vater war. Es waren nur Vermutungen, doch Apple liebte es darüber nachzudenken und sich Geschichten zu Recht zu spinnen, warum ihre Eltern nicht beieinander sein durften und was mit ihrem leiblichen Vater gesehen war. Doch alle endete sie damit, dass sie irgendwann Nachricht von ihm bekommen würde.

Er schüttelte den Kopf und versuchte sich auf das Jetzt zu konzentrieren. „Was denkst du?“, fragte er sie schließlich.

Sie lehnte sich an ihn und verschlang ihre Finger mit seinen. Es ließ ihn hoffen. Immerhin hatte sie ihn nicht aus dem Bett gejagt.

„Ich glaube dir, das sagte ich bereits. Du hast all die Erinnerungen von ihm bekommen und unsere Kinder würden sie auch haben, nicht wahr?“

Er nickte im Dunkeln. „Wahrscheinlich.“

„Das erklärt, warum du keine Kinder möchtest. Ich dachte bisher, es wäre nur vorrübergehend und du würdest es dir noch anders überlegen.“

„Es tut mir leid!“, setzte er hastig an. „Ich hätte es dir viel früher sagen müssen. Dann hättest du gewusst, worauf du dich einlässt, dass ich... wir... Du kannst immer noch gehen. Es steht dir frei. Wie gesagt, ich würde... würde...“ Er kann die Worte nicht einmal zu Ende sprechen, so sehr ängstigt ihn die Vorstellung sie zu verlieren.

„Sei nicht albern. Du bist immer noch du. Das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Nur... Nur lass mir ein wenig Zeit, um es zu verarbeiten.“

„Natürlich.“ Ihre Worte klangen gefestigt und er wollte bereits erleichtert ausatmen, dass sie es ihm so einfach machte. Aber in dem Moment sah er sie an und sah die Tränen in ihren Augen glitzern. Sie wollte sie vor ihm verbergen, in dem sie ihr Haar wie einen Schleier vor ihr Gesicht fallen ließ, aber es war zu spät.

Es war der ausschlaggebende Punkt für ihn.

Er zog sie an sich und küsste sie hart. Dann sprang er aus dem Bett und kleidete sich an.

„W-Wo willst du hin?“, fragte sie ihn irritiert.

„Ich bin morgen Abend zurück.“, sagte er und hatte schon die Hose an.

„Was hast du vor?!“

Ohne ihr zu antworten, verließ er das Zimmer und die Tür fiel hinter ihm zu. Vor der Haustür schlüpfte er in seine Schuhe und lief über den Hof. Er hätte es schon längst tun sollen, dachte er. Es war Zeit die Toten endgültig zur Ruhe kommen zu lassen. Das Haus seiner Eltern lag nur wenige Meter vor seinem und Apples. Er und seine Frau waren auf dem gleichen Grundstück geblieben. Er würde es eines Tages erben und es gab jeden Tag viel zu tun. Es war nur logisch gewesen.

Leise öffnete er die Holztür und trat ein. Im Kamin glühen die Holzscheite noch rot-orange und jemand saß in einem Sessel davor. Überrascht hielt er inne.

„Luan? Was machst du hier?“, fragte sein Vater ihn nicht weniger überrascht.

„Das gleiche könnte ich dich fragen.“, antwortete dieser und kam näher.

„Ach, du weißt doch, bei Vollmond finde ich nie viel Schlaf.“, sagte er abwiegend.

Kurz nickt Luan. Sein Vater hatte nicht die ewigen Erinnerungen, wie er, aber seine genügen vollkommen, um ihn ebenso in seine Träume zu verfolgen.

„Ich nehme an du bist aus dem gleichen Grund hier.“, fuhr Alexander fort.

„Ja.“

Sein Adoptivvater mustert ihn eine Moment schweigend. „Woran denkst du?“, frage Luan ihn gerade heraus.

„An vieles und doch sollte es keinerlei Bedeutung mehr haben.“

„Ich werde es tun.“, sagte Luan schließlich. Ungläubig riss sein Vater die Augen auf und starrte ihn an. „Du willst den Zauber tatsächlich sprechen?“

Luan nickte knapp. „Seit dem Tag meiner Geburt, nein früher schon, trage ich diese Erinnerungen in mir. Erinnerungen, die nicht meine eigenen sind und die... schrecklich sind.“

Mehr musste er nicht sagen. Er hatte es ihm und seiner Mutter oft genug erzählt. Natürlich hatten sie ihm nicht helfen können, aber er hatte sich ein wenig erleichterter gefühlt, so wie auch jetzt noch.

„Ich habe es Apple erzählt.“, sagte Luan dann weiter. „Gerade eben, alles.“

„Wie hat sie es aufgenommen?“

„Gefasst, sie glaubt mir und sie war sogar damit einverstanden, dass wir nie Kinder haben werden, weil ich befürchte, dass sie so wären wie ich.“

„Das klingt toll.“, erwiderte Alexander, doch Luan merkte, dass seine Worte nicht echt waren. „Warum willst du es also gerade jetzt tun?“

„Weil sie Kinder haben will.“, antwortete er kurz. „Sie hat zwar gesagt, dass sei in Ordnung für sie, aber ich glaube sie würde es irgendwann bereuen und ich... ich will endlich einen Schlussstrich unter die Sache ziehen. Sie sind tot. Er... ist tot. Seine Erinnerungen sollten mit ihm gestorben sein.“

„Du wirst dich dennoch erinnern, an alles. Willst du deinen Kindern diese Erinnerungen wirklich verwehren?“

„Ich werde ihnen davon erzählen. Das ist die Art Erinnerung, die sie haben sollten und nicht dieses leibhaftige. ... Was denkst du?“

„Ich denke, dass du das richtige tust. Ich hatte das Glück, dass meine Erinnerungen in den zweiundzwanzig Jahren die vergangen sind, immer weiter verblassten und doch reicht mir das, was ich noch weiß. Ich konnte viele schöne Erinnerungen sammeln, die die schlechten in ihrer Anzahl bei weitem übertreffen: Dich aufwachsen zu sehen, die Geburt von Anne-Rose, eure Hochzeiten. Das waren nur die wirkliche großen Dinge. Doch bei dir ist es weitaus lebendiger und immer wird dieser Schatten über dir hängen. Ich glaube, Draco hätte es verstanden.“

„Glaubst du wirklich?“, flüsterte er unsicher.

„Ja. Ich wünschte, ich hätte die Kraft gehabt, dich davor zu beschützen.“ Luan schüttelte den Kopf. „Ihr habt schon so viel getan. Mehr als ich jemals zurückgeben kann.“

„Du weißt, dass es Unsinn ist, was du gerade erzählst.“, atmete Alexander genervt aus. Diese Unterhaltung hatten sie bereits mehr als einmal.

Luan grinste ihn an. Sie würden diese Worte niemals akzeptieren. „Weißt du, du magst Draco noch so ähnlich sehen“, begann Alexander, „aber er hat nie so gegrinst. Allein die Vorstellung ist gruslig.“

Jetzt musste er doch lachen und war dankbar dafür. Sein Vater schaffte es immer, dass ihm irgendwie leichter ums Herz wurde.

„Ich muss gehen. Der Beutel steht noch in der Kammer?“

„Niemand außer dir hat ihn angerührt. Wirst du die Stelle finden, an der ich sie begraben habe?“

Luan nickte zögerlich. Er war zwar noch nie dort gewesen, aber dank der Erinnerungen seines anderen Vaters, würde es leicht werden.

Er ging in die Vorratskammer und fand in der hintersten Ecke, zwischen zwei Steinkrügen verborgen, den Sack mit den Gewürzen, die er über Jahre gesammelt hatte. Einige davon waren so selten, dass ihr Preis gerade so utopisch war und doch hatte er es irgendwie geschafft sie aufzutreiben. Vielleicht hatte er tief in seinem Inneren immer gewusst, dass er es eines Tages tun würde.

Neben dem Sack nahm er noch zwei Öllampen mit. Eine davon zündete er noch am Kamin an. Die andere verstaute er sicher in dem Sack.

„Viel Glück.“, murmelte Alexander.

„Danke.“, erwiderte Luan mit belegter Stimme.
 

Mit der Öllampe in der Hand ging Luan zum Pferdestall. Dort stellte er sie gleich nach dem Eingang ab. Die Tiere hatten ihn bereits gehört und bewegten sich leicht in ihren Boxen. Das schwarze Pferd, welches gleich vorn stand, schaute ihn missmutig aus halbgeöffneten Augen an. Es war eindeutig, dass es sich in seiner Ruhe gestört fühlte.

Luan öffnete die Box und trat hinein. Den Sack stellte er davor ab. „Na, komm schon Ares. Du kannst später weiter schlafen.“, sprach er mit dem Tier und dieses schüttelte den Kopf, als wollte es wiedersprechen. „Tja, du wirst aber nicht gefragt.“, erwiderte Luan und legte ihm bereits das Zaumzeug um. Als er den Sattel befestigt hatte, band er eine Schaufel darauf fest und den Sack mit den verschiedenen Kräutern und der zweiten Öllampe. Dann führte er den Hengst nach draußen und schloss die Stalltür hinter sich. Mit der brennenden Öllampe in der Hand setzte er behutsam auf und ritt los.
 

Der Mond strahlte durch die Wipfel der Bäume, direkt auf das Stück Erde, unter welchen die Überreste von Annie, Draco und Christian lagen. Luan stand davor und starrte auf die Stelle, an der einst Annies Hütte gestanden hatte und konnte sich nicht rühren. Er hatte nicht erwartet, dass er so sein würde, wenn er zum ersten Mal dorthin käme. Am liebsten wäre er davon gelaufen und hätte seine Entscheidung rückgängig gemacht. Doch er war kein Feigling, sagte er sich selbst. Er wollte es tun. Er würde es tun.

Luan ging zu Ares und band die Schaufel los. Er wusste nicht, wie weit Alexander gegraben hatte, aber er hoffte, dass er ihre Knochen noch vor dem Morgenanbruch fand. Es musste noch in der Nacht bei Vollmond geschehen.
 

Er grub eine ganze Weil, so tief, dass das Loch so hoch wie er selbst war. Schweiß rann ihm vom Körper, doch eine Pause gönnte er sich nicht. Immer weiter stieß er die Schaufel in die Erde hinein, bis er endlich etwas Weißes aufblitzen sah. Er warf die Schaufel aus der Grube und führte seine Arbeit mit den Händen weiter. Tatsächlich... er hatte ihre Knochen gefunden. Stück für Stück und äußert behutsam, befreite er sie von der Erde. Er musste sie nicht ganz ausgraben, es genügte wenn sie sichtbar waren, dachte er.

Mit jedem Teil, welches Luan freilegte, beschleunigte sich sein Herzschlag und ihm wurde schlecht. Warum musste es gerade so sein? Reichte es denn nicht, wenn er den Zauber einfach über Feuer sprach, die Kräuter dazu gab und gut? Natürlich nicht, der Zauber musste so stark wie möglich sein und dafür brauchte er etwas von ihnen, ihre Knochen.
 

Schließlich lagen die Knochen offen vor ihm. Links und rechts zwei Erwachsene und in der Mitte ein kleinerer Mensch, Christian. Luan schluckte heftig. Er bemerkte, wie eine Träne seine Wange hinab lief. Es tat weh. Der Schmerz kam aus seinem Inneren und die Sehnsucht nach einer Umarmung oder einem Wort von ihnen schwoll wieder an. Dabei hatte er das doch schon längst hinter sich gelassen, dachte er leicht verärgert. Und er besaß solch eine Erinnerung doch auch. Seine ganz eigene: Der Kuss von Annie und Draco und die liebevoll geflüsterten Worte. Mehr würde er nie haben. Es war also vollkommener Unsinn jetzt darüber zu weinen, schallte er sich selbst.

Er schüttelte heftig den Kopf. Er musste sich konzentrieren und die Aufgabe beenden. Er hatte nur noch eine Stunde bevor die Sonne aufging.

Luan sah von einem Skelett zum anderen. Es war leicht Dracos herauszufinden. Selbst seine Knochen leuchteten im Mondlicht weiß, und sahen aus als hätten sie einen silbrigen Schimmer. Luans Finger zitterten, als er sie ausstreckte und nach dem Schädel griff. Mit einem leichten Ruck löste er ihn vom Rest des Skelettes. Er legte ihn auf dem Gras ab und kletterte aus der Grube. Anschließend nahm er die zweite Öllampe, öffnete sie und goss den Inhalt über die Knochen. Die andere Öllampe warf er hinein und sofort stiegen hell leuchtende Flammen in den Nachthimmel. Es zischte und knackte aus der Grube und kleine Aschewölkchen wirbelten bald herum.
 

Nach und nach fügte er die Kräuter hinzu. Dabei murmelte er Worte in einer Sprache, die noch nie jemand zuvor gesprochen hatte und niemand mehr sprechen würde. Luan wusste nicht, woher die Worte kamen, aber sie flogen wie von selbst über seine Lippen, versiegelten seinen Wunsch und trugen ihn in den Himmel hinauf und durch die Zeit hindurch.
 

Zum Schluss nahm Luan den Schädel in die Hand. Er hielt ihn so hoch, dass die leeren Augenhöhlen mit seinen eigenen, blauen Augen auf einer Höhe waren. Hätte es Draco verstanden? Hätte er es akzeptiert, dass er das Erbe der Monddrachen ablehnte und einem Anderen aufbürdete?

Vielleicht nicht, aber Luan wollte glauben, dass er ihm verzeihen würde. Schließlich war Draco mit Annie an seiner Seite bereit gewesen nur noch ein Mensch zu sein.

Noch einmal sprach Luan die Worte.

Dann ließ er den Schädel ins Feuer fallen.

Die Flammen schossen hoch empor und für einen Augenblick glaubte Luan einen Drachen aufsteigen zu sehen, geradewegs zum Mond hinauf.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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Da bin ich auch schon wieder.^^
So viel ist ja noch nicht passiert, aber ich hoffe es hat trotzdem gefallen und ihr seid neugierig geworden.
Diese Geschichte liegt mir wirklich sehr am Herzen (warum weiß ich auch nicht) aber ich würde mich über jedes Kommentar freuen.

Ich hoffe wir lesen uns in Kapitel 1 wieder.

Bis dahin.
maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~
Weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.^^° So viel passiert immer noch nicht. Kommt aber noch, versprochen. >.<
Ich hoffe es hat trotzdem gefallen.

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~
Sooo... jetzt kommen wir der Sache schon etwas näher. Diese Chap ist ja aus Annies Sicht der Dinge geschrieben, aber wenn man die Spannung aufrecht erhalten will, dann muss man eben auch auf manche Dinge verzichten. ~.~° Leider...
In diesem Chap wurde aber aus zweien eins gemacht. XD Dachte mir, da hat man mehr zu lesen. Aber in der ursprünglichen Version verlief das ganze auch sehr viel anders, aber das kommt dann später schon noch mal... denke ich... wenn’s denn geht.

Ich werde sehen, dass nächste Chap wieder so bald wie möglich hochzuladen. Jetzt ist erst mal Vampire Knight wieder dran.^^° Ich mach zu viel...

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Hier haben wir auch schon das nächste Kapitel.^^ Noch geht es recht schnell mit dem Hochladen, aber ich denke, dass Tempo kann ich nicht mehr lange halten. Irgendwann muss ich ja doch mal anfangen, etwas für meine Hausarbeiten zu tun (auch wenn ich lieber etwas anderes machen würde).

Viel Spaß damit.

maidlin

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Oh, wenn ich nicht irre, ist das bisher das längste Kapitel. Wundert mich gar nicht. XD Ich hoffe Dracos Charakter kommt einigermaßen rüber. Ich weiß wie er ist, aber es ist schwierig, das auch zu schreiben. ~.~ Gemein, ist das.

Ich hoffe ihr hattet euren Spaß und nun da Draco spricht – wenn auch sehr unfreiwillig – kann ich ein neues „Kapitel“ der Geschichte anfangen. XD Freu mich schon drauf!

Wir lesen uns dann hoffentlich auch beim nächsten Mal.

hel maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~

Ich frage mich ja, ob Draco jemals erfahren wird, was ein Kuss ist? Und wird er jemals herausfinden, was die beiden am See wirklich getr... gemacht haben? Was denkt ihr? =)

Ich hoffe, dieses Kapitel hat wieder gefallen – auch wenn ihr etwas länger warten musstet. Die Uni hat nun mal Vorrang und ganz besonders in den letzen Wochen. Ich hoffe, dass es danach aber etwas schneller mit updates geht.^^

Bis zum nächsten Mal.

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~

*grins*
Endlich! Ich dachte schon Draco schafft es gar nicht mehr. *schwitz* Mit seinen Gedankengängen kann er mich manchmal echt in den Wahnsinn treiben. Warum kann er nicht so spontan wie Annie sein? Ein Mal darüber nachdenken und dann handeln. Aber das wäre wohl zu einfach. -.-°

Jedenfalls... hoffe ich es hat euch gefallen und ihr hattet euren Spaß. XD Ich schon...

Wir lesen uns dann beim nächsten Mal hoffentlich wieder und dann so frisch und munter, wie eh und je.^^ Kommis sind in der Zwischenzeit natürlich immer gern gesehen.

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
So langsam blick ich bei Draco nicht mehr durch. -.-° Was will dieser Mann eigentlich? Kann er sich nicht endlich mal entscheiden? Nein... offensichtlich nicht.
Und ich darf das ganze nun ausbaden.

Na ja... was solls, muss ich eben damit leben. ;_;

Ich hoffe es hat wenigstens ein bisschen gefallen und ihr habt ihn verstanden.^^; (Ich glaube, ich sollte es dann doch besser aufschreiben, wenn es nicht der Fall ist. =.=;)

Kommis sind immer gern gesehen und bis zum nächsten Mal dann.

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Damit hätten wir also den ersten Teil beendet.^^ Deswegen ist auch an dieser Stelle Schluss und das Kapitel nicht so lange. Gut für mich. XD

Das war’s auch schon.

Bis zum nächsten Mal!

lg Maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Es tut mir leid, dass es immer so lange dauert. u.u
Das wollte ich nochmal gesagt haben. Life keeps me busy. ;_;
Und das nächste Kapitel wird wohl erst im nächsten Monat kommen… Sorry!

Ah ja… nun… Was wollte ich nochmal gleich sagen? Ich weiß es nicht mehr.
Ich hoffe es hat euch gefallen und ihr seid gespannt, wie es weiter geht.^^ Bin ich auch. XP Auch, wenn ich so eine gewisse Ahnung habe. Aber mal sehen, was sich meine lieben Charaktere noch so einfallen lassen. Sie können manchmal so spontan sein!

Also dann, bis zum nächsten Mal!

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Wieder ein neues Kapitel.^^
Ja, es hat wieder etwas länger gedauert. Aber... das nächste dauert noch länger. Bei mir stehen ein paar gravierende Veränderungen an – ich ziehe von Thüringen nach Sachsen – und hab keine Ahnung, wann mein Leben wieder so geordnet sein wird, dass ich wieder Muse zum Schreiben finden werde. Ich hoffe wirklich, es dauert nicht so lange, aber ich will nichts versprechen.
Wie immer streng ich mich aber an. Schließlich wartet das nächste Kapitel schon lange darauf geschrieben zu werden.^^;

Oh und meinen Titel mag ich dieses Mal auch. Zuerst war es ja ganz einfallsreich „Flucht“ -.-° Schweigen wir lieber. Mit dem hier kann ich leben. Ich bin also lernfähig.

Also dann... bis demnächst!

hel maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Er hat es also doch getan. Zwischendurch wusste ich nicht einmal, ob es wirklich so kommt.

Als die Idee für dieses Kapitel fertig war, bin ich wenige Tage später über ein Lied gestolpert, bei dem ich für ein paar Sekunden an mir gezweifelt habe, ob ich es nicht doch schon kenne und das Kapitel einfach danach geschrieben habe. o.O Aber nein, ich kannte den Song wirklich nicht. Von dieser Band kannte ich bisher nur einen einzigen, aber nicht diesen. Aber er passt perfekt. Deswegen hat er mich auch zu dem Titel inspiriert.^^
Hier mal zum anhören:http://www.youtube.com/watch?v=vLynGtgnHzY

Tja... und nun warten wir alle gespannt auf das nächste Kapitel. Was darin wohl passiert – ich weiß es auch noch nicht. Allerdings hoffe ich, dass es dieses Mal schneller zu einem Update kommt. Das hängt ganz davon ab, wie viel ich unterrichten muss und wie sehr mich die Stunden schlauchen.^^; Man wird ja schließlich auch nicht jünger.

Also dann. Ich würde mich freuen, wenn ihr auch beim nächsten Mal dabei seid. Bis dahin bin ich für jede Art von Kommis dankbar und empfänglich.

maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Soho... fertig! Und ich gebe mir wie immer Mühe, dass das nächste Kapitel nicht so lang wird! Ich hoffe es zumindest. Aber ich will nichts versprechen. So lange ich nicht selber weiß, worum genau es eigentlich geht, ist das schwer zu sagen. Ich muss mir erst mal wieder ein paar Notizen machen. Aber es sind bald Ferien und ich hoffe, dass ich dann zu was kommen werde. Wenigstens die „Grobvorlage“ will ich schreiben.

Ansonsten bleibt mir wie immer nichts weiter übrig als zu hoffen, dass es euch gefallen hat.^^;

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Jedes Kapitel wird anstrengender... Warum das so ist, kann ich euch aber auch nicht sagen. Vielleicht liegt es an der Gesamtsituation, dass ich immer nur zwischendurch mal zum Schreiben komme. Ich kann euch nicht sagen, wie schei** ich das finde.
Obwohl das Kapitel nur halb so lang ist, wie ursprünglich – hab die andere Hälfte weggelassen und das wird dann Kapitel 16 – hoffe ich, dass es euch gefällt.
Draco ist mir wie immer sehr schwer gefallen. Ich steh ja auch eine gewisse Art von Schmerzen, aber das ist manchmal Folter. *seufz*
Vielleicht vertragen wir uns ja noch mal.

Also dann... Ich muss mal wieder weiter.

Hoffentlich liest man sich auch beim nächste Mal frisch und munter... *hüstel*

glg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Damit verabschiede ich mich für dieses Jahr.^^ Wir haben den 31.12.2009 und ich muss sagen, ich hätte nicht gedacht, dass es diese Geschichte so lang laufen wird. Geplant war das alles nicht.^^ Aber das Leben ist halt voller Überraschungen.
Wann es wieder ein nächstes Kapitel geben wird, kann ich nicht versprechen oder gar vorhersagen. Das hängt wie immer alles von den Stunden ab, die ich zu planen habe und wie einfach oder schwer mir das fällt.^^°

Also dann... feiert 2010 und schaut nicht so tief ins Glas hinein!

glg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Mmh... heute habe ich gar nichts weiter dazu zu sagen. O.o Na so was....^^;
Na ja... außer, dass ich finde, dass der Titel dieses Mal sogar gut passt. *lol* Endlich mal...ich sollte es im Kalender vermerken. Kommt ja selten vor, dass ich selber damit zufrieden bin.^^

Kapitel 18 ist schon in Arbeit, und ich hab auch schon ein paar Seiten geschrieben. Ich gebe dieser FF im Moment einen kleinen Voran vor meinen anderen. Warum weiß ich selbst nicht, aber mir soll‘s recht sein.

Bis zum nächsten Mal hoffentlich!

glg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Hab heute nicht wirklich was zu erzählen.^^ Deswegen sag ich Tschüsselchen aufs Rüsselchen und bis zum nächsten Mal!

maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Tja... das war es auch schon wieder und dieses Mal habe ich es doch tatsächlich geschafft, das Kapitel von rund 7500 Wörtern auf ca. 7450 zu kürzen! Ich nenne das Fortschritt. >.<

Ich hoffe es ist nicht zu viele Fehler drin. Ich weiß, ich übersehen öfters welche, aber heute hab ich das Gefühl überhaupt nichts mehr mitzubekommen. Scheiß Klimaanlage im Zug!

Okay... Ich hoffe wir lesen uns auch beim nächsten Mal frisch und munter!

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Ich muss sagen, ich habe mich reichlich mit diesem Kapitel abgemüht. Vielleicht merkt man das auch. Aber es wollte einfach nicht fertig werden. Dabei hat nicht einmal das Schreiben so lange gedauert, sondern die Korrektur (die mir wohl nicht so richtig gelungen ist). Ständig habe ich wieder was geändert, umformuliert und dann doch wieder rückgängig gemacht.
Besonders schwierig, war es eben diese Traumbilder zu schreiben und zu beschreiben. Ich hoffe ihr verstehen, wie Annie diese Träume erlebt! Sie ist immer noch sie selbst und doch jemand anderes. Verwirrend, ich weiß!
Vergebt mir!
Es kommt nicht noch mal vor. Aber dieses Kapitel war nun mal für den weiteren Verlauf wichtig. ^^° Ich hoffe, das entschuldigt ist.

Also dann... bleibt mir weiterhin treu, ich würde mich freuen.

glg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Hach schön... ich bin fertig und ihr auch, wenn ihr das hier lest. >.< Allerdings weiß ich nicht, was ich noch groß sagen soll. Bis hierher ist alles gesagt, was es in Kapitel 22 zu sagen gibt. XP Das nächste ist aber schon zur Hälfte fertig und die 24 hab ich auch schon angefangen.

Bleibt mir also weiterhin treu... ich weiß schon was ich mache. Meistens auf jeden Fall. XD

glg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Tja... und nun? Was passiert nun?
Lassen wie uns überraschen und hoffen, dass ich es schaffe, ein weiteres Kapitel noch in diesem Jahr online zu bringen. Ich bete zumindest dafür! Vielleicht zum zweijährigem Jubiläum? Mal schauen...^^° Ich geb mir Mühe und verspreche... erst einmal nichts... ich weiß nämlich gerade nicht, was im nächsten Kapitel geschehen soll. Ist schon zu lange her, dass ich darüber nachgedacht habe. Muss erst mal nachschauen. Inzwischen hoffe ich aber, dass ihr mit dem her Spaß hattet.

lg maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Auch hier sage ich es noch mal: Meine Prüfungszeit beginnt im Februar und ich weiß nicht, wann und wie ich zum Schreiben komme. Ich bemühe mich redlich aller zwei Monate ein neues Kapitel zu posten, aber da ich noch eine andere FF laufen habe und mich wirklich endlich mal auf meine Prüfungen konzentrieren muss, kann ich nichts versprechen. Ich hoffe, ihr habt Verständnis dafür. Ich schreibe, wann immer ich Zeit habe. Bleibt mir weiterhin treu.
LG maidlin
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Ich kann nicht versprechen, wann das nächste Kapitel kommt, aber ich denke doch, dass es nicht wieder so lange dauern wird. Dennoch muss ich erst mal meinen Umzug im Juli über die Bühne bringen und meine Vampire Knight FF habe ich auch noch am Laufen – aber wenn es euch irgendwie tröstet: Die habe ich in den letzten Wochen und Monaten genauso vernachlässigt.^^°

Bis bald hoffentlich
maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Noch ein Kapitel vor meinem Umzug, danach wird es wohl erst mal wieder dauern. Zum einen weiß ich nicht, wann ich wieder Internetanschluss habe und zum anderen hab ich im nächsten Schuljahr ja eine eigene Klasse (noch dazu ein Lehrwerk mit dem ich noch nie gearbeitet habe, ach und eine Vollzeitstelle) und werde mich wohl damit erst mal genug rumschlagen müssen. Noch dazu gilt es ja auch Leipzig zu erkunden.
Aber wie immer kann ich euch nur versprechen, dass ich mich bemühe. Ich will ja schließlich auch in diesem Jahr endlich mit der Story fertig werden.^^° Es wird höchste Zeit!

Das Ende ist...mmh... fieß? Vielleicht. Was wird wohl geschehen? Lassen wir uns überraschen. Allerdings habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass ich Draco ein wenig zum Experimentieren missbrauche. Das geht so in die Richtung, was kann ich schreiben... Muss man nicht verstehen, ich finde es auch noch heraus.^^°

Ich hoffe wie immer, dass wir uns auch das nächste Mal lesen, wann immer das sein wird.

Grüße maidlin
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Das Schimmelpilzpulver gibt es auch heute noch als sehr wirksames Medikament: Penicillin.^^ Komplett anzeigen
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Dieses Mal will ich euch nicht einfach am Ende eines Chaps einfach so im „Regen stehen“ lassen. Aber was soll ich sagen?
Die Szene von Jonathans Tod zu schreiben, ist mir sehr, sehr schwer gefallen. Ich habe nebenbei gerade Angefangen Supernatural Season One zu schauen (das war also im August letzten Jahres) und trotzdem, konnte ich es nicht über mich bringen. Für diesen doch relativ kurzen Abschnitt, brauchte ich ungefähr 2 Stunden und jetzt bei der Überarbeitung hat es noch mal so lange gedauert.
Ich mag Jonathan sehr und es tut mir leid, dass er hier als der totale Arsch rüber kommt. Ich wünschte, ich hätte Gelegenheit gehabt ihn mir zu entwickeln und vor allem Einblick in seine Geschichte zu geben. Denn das würde einiges erklären. So müsst ihr euch mit Andeutungen zufrieden geben (oder auch nicht) und vielleicht in der Hoffnung leben, dass da doch noch mal was zu ihm kommt. (Ich habe es zumindest vor. -.^)
Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen. Mit seinem Tod wurde das Ende definitiv eingeläutet und ich freue mich schon darauf, es endlich hochladen zu können. Wenn ich mich nicht irre, sind es nur noch vier Kapitel – wenn sie sich nicht wieder verselbstständigen und teilen. Das hier war auch mal sehr viel länger.

CU
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Das Ende naht, das Ende naht... trallala... ich bin so aufgeregt. >.< Noch zwei Kapitel und der Epilog und dann ist es geschafft! Ich freu mich so! XD

Ich hoffe ihr bleibt mir auch am Schluss noch treu und seid gespannt, wie es denn nun alles ein Ende findet.^^

maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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*schnüff,schnüff*

War das jetzt wirklich das letzte Kapitel? Ich kann es gar nicht glauben... drei Jahre ist es her, dass ich mich an die Überarbeitung gemacht habe (eigentlich Ende 2008) und bis auf die Grundstory ist nicht so geblieben, wie es war – was gut ist. Ich denke, ich habe mich damit schon sehr verbessert.
Ich hoffe, dass letzte Kapitel hat euch gefallen und ihr seid genauso... zufrieden wie ich. Auch, wenn sich manch einer für Draco und Annie vielleicht ein anderes Ende gewünscht hat.
Der Epilog – ja, es gibt einen – folgt so bald wie möglich. Ich hatte ihn schon fertig, muss ihn aber noch mal komplett überarbeiten, weil die die Erzählperspektive ändern werde. Zumindest hatte ich das gestern noch vor, heute bin ich nicht mehr so sicher.

Dennoch verabschiede ich mich erst einmal und einmal lesen wir uns hoffentlich noch.

LG maidlin
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Nachwort zu diesem Kapitel:
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Damit ist diese Geschichte, dann wirklich beendet. ;_; Tut mir noch mehr leid, als meine Vampire Knight FF. *schnüff* Ich habe den Epilog mehrmals umgeschrieben und den ursprünglichen auch ganz verworfen. Vielleicht lade ich den dann auch noch mal hoch. :) Mal schauen...

Ich weiß jetzt auch gar nicht, was ich so richtig sagen soll.
Die Geschichte habe ich 2006 das erste Mal aufgeschrieben und 2008 begonnen komplett zu überarbeiten. Das war dann schon das dritte Mal. Und jedes Kapitel, welches ich hochladen wollte, hab ich auch noch mal stark geändert. Die Geschichte hat mich in dieser Zeit durch zwei Abschlüsse (Uni und Referendariat) und drei Umzüge begleitet und sollte natürlich schon lange fertig sein. Außerdem hatten einige Kapitel und Charakter doch mehr als einmal die Angewohnheit sich selbstständig zu machen und nicht so zu verlaufen, wie ich das gern gehabt hätte. Aber gut, so kann man nur lernen. ;)
Ich danke euch, dass ihr diese FF bis zum Schluss gelesen habt. Ich hoffe, ihr hattet Spaß an der Geschichte und den Charakteren und das ihr euch für sie begeistern konntet. Ich weiß es war nicht immer alles perfekt, aber für mein „erstes Mal“ bin ich doch sehr stolz auf mich. ;)
Mir spuckt noch eine Prequel im Kopf herum, das kommt vielleicht auch noch. Damit könnten dann vielleicht auch noch einige Fragen geklärt werden, die jetzt vielleicht im Epilog aufgeworfen wurden. Dann würde ich mich natürlich freuen, wenn ihr wieder mit dabei wäret. :D

Zum Schluss gibt es Tee und Kekse für alle!

LG maidlin
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Kommentare zu dieser Fanfic (75)
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Von:  Azahra
2014-01-12T16:54:09+00:00 12.01.2014 17:54
Huhu,

also ich bin von deinem Prolog überwältigt! Er ist so toll geschrieben und mir gefällt es sehr wie du mit den Wörtern umgehst und sie richtig einsetzt.
Du hast den Drachen so schön ausführlich beschreiben <3 Einfach wundervoll!
Von:  KuroMikan
2012-09-17T16:44:23+00:00 17.09.2012 18:44
zuerst mal, GOMENASAI !!! ich wollt nich jedes kapi kommentieren, das hätte ewig gedauert zumal ich die ganze ff in einem durch gelesen hab ^^°
sooo und jetz...

eine total schöne geschichte! mit viel spannung, action, fantasy, liebe...
einfach suuuuupermegaklasse! mehr kann man gar nicht sagen ^^
ich hab am ende geheult -.-° so toll war das bzw schrecklich-traurig (ach du weißt was ich mein... also halt vor dem epilog... ok danach auch XD ach egal :)

jedenfalls sehr gelungen!!! total fesselnd ^^

lg mikan
Von:  funnymarie
2012-07-21T11:48:17+00:00 21.07.2012 13:48
huhu^^
ein schönes kapitel^^
und luan ist also erwachsen geworden und hat geheiratet^^
bei seiner frau würde ich ja jetzt einfach mal auf die tochter von barringtons gefolgsmann tippen und das die vier bilder seine geschichte erzählen und warum er so verhärmt und unglücklich gewesen ist!
naja, nun scheinen ja jedenfalls alle ihre frieden gefunden zu haben^^
und anni und draco zusammen begraben, sicherlich nicht verkehrt^^
und bestimmt wird draco verständnis dafür haben, dass sein sohn das erbe der monddrachen nicht an seine kinder weiter geben will!
schade, dass diese schöne geschichte jetzt vorbei ist
ich hab sich wirklich gemocht und anni und draco sind mir sehr ans herz gewachsen und auch wenn ihre liebe so tragisch enden musste
wenigstens hat ihr sohn jetzt noch das happy-end bekommen, auf welches sie verzichten mussten dank barrington!
ich hoffe, dass man sich mal wieder liest
lg funnymarie
Von: enni
2012-07-15T19:51:35+00:00 15.07.2012 21:51
WOW, wie geil!!!

Das sind wohl die passenden Worte für dieses Kapitel. Ich hatte dieses Chapter ja mit einem sehr mulmigen Gefühl angefangen, besonders in anbetracht dessen, was im letzten kapitel mit Annie geschehen ist. Was du da aber darbrachtest hat meine größten ängste bestätigt aber zugleich auch meine niedersten Instinkte begeistert! Und ich bin jetzt am ende dieses Teiles geradezu enthusiastisch! Es war genial, ich konnte und wollte meine Augen nicht davon losreisen und ich habe jedes Wort davon genossen!

Eine für mich sehr schöne stelle war wohl die, bei der Draco Barrington erzählt hat das Annie viel früher "sein" wahr und das in Fakt das Kind das Annie in sich trug, Draco als Vater hatte! Was für eine Befriedigung! Außerdem fand ich die worte von sich aus einfach sehr anregend: ^^ Man das haut einem doch Schmetterlinge in den Bauch! XD Mit diesem sehr schönen gefühl in meinen innersten Eingeweiden gings dann weiter und ab da wurde es fast unerträglich spannend. Sagtest du nicht einmal du bist dir so unsicher kampfszenen zu schreiben? Nun lass dir gesagt sein, diese Angs ist unbegründet. Es war fantastisch geschrieben, man kann sich die szene prima vorstellen und alles im allen war es super spannend. Genau so sollte es sein und du hast mich sicherlich nicht enttäuscht. Ich wollte noch nicht einmal dir auf deinen eintrag antworten, weils einfach zu spannend zum umklicken war und das will ja was heißen! >.< Und zum schluss, daß was ich befürchtet hatte. Doch mit all diesen wunderschönen szenen dieses kapitels in Hinterkopf kann ich nicht wirklich traurig sein über Dracos tot. Er hat seine Rache bekommen und ich bin glücklich darüber.

So und jetzt kann ich es kaum erwarten den epilog zu lesen! Also immer her damit, ich kanns kaum abwarten! *__*

hdgdl enni
Von:  funnymarie
2012-07-15T13:15:27+00:00 15.07.2012 15:15
endlich, endlich hat dieser schweinehund sein verdientes ende gefunden und auch noch qualvoll!
leider hat er nicht so gelitten wie draco, aber dafür hat draco auch endlich seine rache bekommen und ihm die wahreit offenbart^^
nämlich dass diese kleine hirnlose lusche von einem mann nicht einmal in der lage war, ein kind zu zeugen!
schade, dass man nicht hören konnte, was er in seinen letzten augenblicken gedacht hat!
so genug hergezogen über barringten, gott sei dank weilt er nicht mehr unter lebenden!
diese kleine feige ratte
schade natürlich, dass draco und anni beide sterben mussten und kein happy end hatten
aber wenistens kann ihr sohn nun frei von barrinton leben und erwachsen werden^^
ich bin gespannt auf den epilog und kann es auch kaum glauben, dass die story jetzt wirklich fast vorbei ist
schade^^
ja aber es war eine wunderbare, fantasievolle, dramatische geschichte mit vielschichtigen liebevollen gestaltenen charakteren^^ die spannung war bis zum letzten gegeben und der finale kampf war wunderbar inszeniert^^
lg funnymarie
Von:  Dark-Angel132
2012-07-15T09:13:51+00:00 15.07.2012 11:13
maidlin .. Da enni eine Andeutung hierzu gemacht hat, hat es mir jetzt unter den Fingern gebrannt und .. ach du heiliges Gebet!
Das ist schockierend, vorallendingen weil Annie so viel mitgemacht hat - und man immer und immer wieder gehofft hat das sie und Draco es doch noch irgendwie schaffen einen gemeinsamen (friedlichen) Weg mit dem Kind zu finden.

Die Stelle mit Annies letzten Worten und wie Draco zu ihr geeilt ist, war wirklich sehr gefühvoll. Ein glatter Stich ins Herz!

Zweiter Stich war dann natürlich die tote Kinder Hand .. und du hast es echt geschafft mich dran zu kriegen - weil ich wirklich befürchtet hatte es ist sein Kind. Ich glaube, wäre es echt so gewesen .. dann hättest du das perfekte Drama noch tragischer hinbekommen. ^^;

Sehr gelungene Namensauswahl übrigens. "Luan" Hat was!


Von: enni
2012-06-08T05:45:30+00:00 08.06.2012 07:45
...
Ich..bin sprachlos!
...
...
Entschuldige aber das bin ich grad wirklich. Nach all der zeit, nach all dem was die beiden mitgemacht haben...
..
nach all dem was ich gehofft hab für die beiden nämlich ein gutes Ende, muss ich hier jetzt voller entsetzen Annies Tod lesen. Ich müsste Lügen wenn ich sagen würde, daß mich das in moment nicht übelst hart trifft und das tut es wirklich. Es macht mich traurig, weil mir nach all der Zeit Annie Charakter so sehr ans Herz gewachsen ist. Ich hab mit ihr gelitten, mit ihr gehofft, hab mich mit ihr gefreut und mit ihr gebangt und jetzt trauer ich um sie. Es soll ein zeichen für dich sein, wie gut du es geschafft hast einen Charakter zu erschaffen, für den man alles empfinden kann.

Auserdem sollte ich wohl noch erwähnen, daß mir im diesen Kapitel auch die Tränen kamen und nicht nur Draco. Für den seh ich jetzt leider auch kein schönes ende mehr, aber will ich das denn überhaupt noch haben? Nein wohl eher nicht, außerdem gönnen ich Susan und Alexander ihr Glück mit Luan.

Verzeih mir wenn ich hier schluss mache, aber ich fürchte ich muss mich jetzt erstmal von dem Schock erholen.

hdgdl enni
Von: enni
2012-06-08T05:10:58+00:00 08.06.2012 07:10
Ach verflixt ist dieses kapitel traurig! ;__;
Ich bin mir grad nicht sicher was das schlimmste davon war, das Annie Luan aufgegeben hat oder doch eher das in Draco die Rache so laut ruft das ich schlimmstes ahne für ihn aber auch für Annie oder ist es das Susan ihr Kind verloren hat? So viele dinge in so einen kurzen Kapitel die einem durch und durch gehen. *seufz*

Was also haben Annie und Draco jetzt vor? Wird das ganze überhaupt ein gutes ende nehmen? Werden es Susan und Alexander schaffen zu entkommen? Eins zumindest ist gewiss, ich glaub ich werd darüber depressiv! XD

Auf der Gegenseite bin ich aber doch sehr zufrieden wie du die situation mit Barrington und Alexander gelöst hast. Klar das ihm die sache mit Alexanders Frau und Kind als angemessene Strafe ansieht und darum wieder geht. Ich hätte ihn zwar mehr auch noch zugetraut, aber es passt wirklich gut zu diesen verrotteten Charakter. Hoffentlich machen ihn Draco und Annie den garaus und genau das hoffe ich jetzt im nächsten Kapitel zu lesen!

hdgdl enni :D
Von: enni
2012-06-07T07:01:18+00:00 07.06.2012 09:01
Treppenstufen? Du bringst so einen genialen Kerl mit sowas banalem wie Treppenstufen um? *Heul!!!!* Das war für mich jetzt mal eben die absolut schockierenste Stelle im ganzen Kapitel! Man ich mochte diesen hinterhältigen Sohn einer Schxxxx! ;______; (man was benutz ich denn für ausdrücke [grad über sich selber ziemlich entsetzt ist] daran siehst du aber mal, wie tief du mich da wirklich jetzt erwischt hast. ^^;

Nun von dem mal abgesehen, hat es eine gewisse Ironie das Annies Flucht nun wirklich Semerloy zu verdanken ist, wenn auch auf etwas andere art und weise, wie ich mir das eigentlich vorgestellt hatte. ^^; Noch Ironischer finde ich eigentlich nur noch das Annie dann auch noch Jonathans Pferd erwischt hat. Auch wenn Annie ihr wahnsinniges Gelächter bei der entdecktung nicht entwichen ist, so ist es auf jedenfall mir entkommen. Ich hatte mich darüber köstlich amüsiert. XD

Nun diese "Räuber" sind aber auch nicht unbedingt uninteressant. Es freut mich das sie in ihnen so eine art Helfer gefunden hat, auch wenn ich nicht sagen kann, daß ich einem von denen vertraue. Gut sie werden sie nicht ausliefern, aber Annie sollte trotzdem auf der Hut sein, schaden kann es nie.

Tja die guten sind jetzt auf dem Weg zu Alexander, nur was erwartet Annie da jetzt vorzufinden? Ich weiß sie hatte in letzter zeit viel im Kopf, aber wie sie schon gedacht hatte, Barrington wird doch zuerst da suchen udn sie glaubt doch wohl nicht allem ernstes er wird da einen Stein auf dem anderen lassen. Auserdem egal was Alexander auch zu seiner verteidigung sagen könnte und auch wenn Barrington nicht weiß das Alexander bei der Flucht beteiligt war, er wird ihm nicht verzeihen was Annie getan hat, seinem kranken Geist traue ich verzeihen nicht zu. Was glaubt sie also vorzufinden? Ich frage mich überhaupt was sich die beiden da gedacht haben. Haben sie nicht weiter als bis zu Flucht gedacht? Es verwundert mich und bringt mich zum Kopfschütteln, aber vllt. gibst du mir im nächsten Kapitel ja eine logische Erklärung dazu. XD

Bis dahin fühl dich kräftig geknuddelt!
>.< enni
Von: enni
2012-06-07T06:07:41+00:00 07.06.2012 08:07
Ich wusste es, Ohhh ich wusste es!
Es kam mir eh schon so verdächtig vor, daß der gute Jonathan kein einzigesmal bei der Feier erwähnt wurde. Kein schiefes grinsen, keine stichelnde Bemerkung, so überhaupt nicht Semerloy. Es war klar der Typ ist zu intelligent um sich mit sowas übers Ohr hauen zu lassen. Besonders wenn er ein alter schemenplaner ist, was er ja im letzten Kapitel quasi zugegeben hat. Ich verzeih Annie das sie es nicht bemerkt oder beachtet hat, sie hatte fürwahr ganz andere probleme, aber das war erstaunlich sorglos von ihr, obwohl sie wohl sehr genau wusste, wie gefährlich der gute Jonathan ist.

Ich gestehe gern, daß Kapitel hat mir doch etwas aufgeregtes Herzklopfen bereitet, besonders bei der sache mit dem Pulver in den Wein. Ich hatte echt etwas panik da kommt jetzt einer und fragt sie was sie da tut. XD Ach und für was Kleider nicht alles praktisch sind (und stick- und nähkünste! *lol*).

Die Begegnung mit Draco und die Szene in der er seine Hand auf Annies Bauch liegen und verbindung zum Kind hat, war Bittersüß! Ein klarer moment und mir ging geradezu das Herz dabei auf. Ich hätte diesen augenblick wohl genausogern wie Annie und Draco länger gehabt, bin Alexander für seinen Räusper aber durchaus dankbar. Auch wenn das Schloss sprichwörlich in Dornrösschenschlaf liegt, so hab ich doch jeden Augenblick Semerloy erwartet (der dann auch noch kam, allerdings etwas später als erwartet, schande über ihn! XD).

Tja Draco ist jetzt also fort und hoffentlich erfolgreich auf der Flucht, was aber jetzt mit Annie? Ich hätte ja erwartet sie flüchtet mit, es deutet doch alles sehr auf sie mit der Flucht und ich bin doch etwas erstaunt das sie es vorgezogen hat zu bleiben! o_O Warum? Was hat sie davon bei Barrington zu bleiben, der ihr das ganze sicherlich nicht verzeihen wird. Hat sie einen Plan um sich rauszureden? Ich mein die Wachen werden sie ja einhundert prozent verraten, die werden wenn das rauskommt aber sowieso die ärmsten aller schweine sein. Eigentlich tut es mir schon weh darüber nur nachzudenken. Aber zurück zu Annie, Semerloy hatte ihr kleines Spiel also durchschaut, was wird er jetzt tun? Ihr helfen oder sie verraten. Rät Er ihr zu Flucht? Ich könnte es ihn sogar zutrauen, er ist so undurchsichtig (meistens XD).

Ich schätz ich werd mich jetzt einfach mal überraschen lassen. XD

Auf zum Batmobil und auf in dein nächste Kapitel! >.<

XXX enni


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