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Drachenkind

von

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Willkommen und Abschied

Alexanders Hof lag ruhig da. So ruhig, wie es hätte sein sollen, um diese Nachtzeit. In der Küche brannte ein schwaches Licht. Es war nicht ungewöhnlich. Doch Annie wusste, dass es trügerisch sein konnte. Ihr Herz zog sich zusammen und sie atmete mehrmals ein, um sich zu beruhigen. Sie standen in etwas weiterer Entfernung vor dem Haus. Keiner von ihnen war sicher, was sie erwarten würde, sobald sie sich der Tür näherten. Schließlich nickte Annie. Der Mann hinter ihr saß vom Pferd ab und half anschließend ihr herunter. Zu viert gingen sie zur Tür. Aus den Augenwinkeln sah Annie, wie die drei Männer sich wachsam umsahen, die Hand an ihren Dolchen oder Schwertern.

Sie legten den Weg bis zur Tür zurück und Annie blieb davor stehen. Der dunkelhaarige Mann neigte den Kopf in Richtung Tür, während er mit den Finger auf die Seiten links und rechts davon deutet. Annie verstand ihn. Sie sollte klopfen und die anderen beiden würden sich an der Tür positionieren.

Kurz blickte sich Annie noch einmal um. Es sah nicht so aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Dennoch war dies noch kein Grund erleichtert zu sein.

Der schwarzhaarige Mann stellte sich leicht vor sie, während die anderen beiden links und rechts neben der Tür Stellung bezogen. So würden sie geschützt sein, wenn sich Barringtons Leute doch in den Haus aufhalten würden. Sie hätte das Haus vielleicht noch ein wenig länger beobachten sollen. Doch sie hatte keine Zeit mehr. Annie biss die Zähne fest zusammen, um nicht aufzuschreien. Die Wehen kamen nun in regelmäßigen, immer kürzer werdenden, Abständen, dass sie am liebsten geweint hätte, wenn sie gekonnt hätte.

Das erste Mal klopfte sie noch zaghaft, doch niemand antwortete. Also schlug sie heftiger gegen das Holz. Ihr Herz klopfte genauso stark in ihrer Brust, dass ihr schwindlig wurde. Gleichzeitig schickte sie immer wieder stumme Gebete gegen den Himmel, dass Alexander und Susan nichts passiert sei. Auch jetzt öffnete niemand. Die drei Männer sahen sich bedeutungsvoll an.

Nein, das durfte nicht sein!, schrie es in ihrem Kopf. Mit den Fäusten hämmerte sie so fest sie konnte gegen das Holz und schrie dabei seinen Namen. Wenn sie ihn auch noch verloren hatte, konnte sie genauso gut gleich sterben. Dann würde auch das Kind keinen Platz mehr in dieser Welt haben.

„Alexander! Alexander mach auf!“, schrie sie immer wieder, so dass sich ihre Stimme überschlug. Blanke Angst hatte von ihr Besitz ergriffen.

Der Schwarzhaarige packte sie und wollte sie von der Tür wegziehen, als der rothaarige plötzlich die Finger auf die Lippen legte und den Kopf zur Tür neigte. Augenblicklich verstummten sie alle. Von drinnen konnten sie nun eilige Schritte hören, die Annie nur zu vertraut waren. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen.

Annie starrte ihren Bruder an. Sie konnte nicht glauben, dass er es wirklich war. Er schien vollkommen unversehrt! Nur sein Gesicht war ungewöhnlich blass und seine Augen stark gerötet. Mehr nahm sie nicht war, denn da hatte Alexander sie bereits in eine fest Umarmung gezogen.

„Gott, Annie!“, stieß er aus und küsste sie auf das Haar. Etwas, was er seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Ein Schluchzen entfuhr ihr und sie klammerte sich an seine Brust. Alexanders Umarmung schien noch fester zu werden und Annie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob nur sie es war die zitterte.

„Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“, flüsterte Alexander mit gebrochener Stimme, was sie nur noch mehr weinen lies. Sie hatte das gleiche gedacht.

„Was ist passiert? Wer seid ihr?“, hörte Annie ihn schließlich fragen. Er sprach zu den drei Männern und sie wusste, dass sie es hätte erklären sollen, doch sie brachte es nicht über sich ihn loszulassen.

„Niemand.“, hörte Annie einen von ihnen antworten. „Wir haben sie hergebracht, das ist alles.“ Dann hörte Annie, wie sie sich umdrehten und gingen. „Nein, bezahlen...“, flüsterte sie, während sie abermals von einer Wehe geschüttelte wurde.

„Nein, schon gut.“, sagte einer der Männer in ihrem Rücken. „Wir nehmen das Pferd das reicht uns. Viel Glück noch.“ Dann müssen sie gegangen sein, denn Annie spürte, wie Alexander sie in das Haus zog. Bereitwillig ließ sie sich zu dem großen Sofa führen, dass in der Ecke des Raumes unter der Treppe stand.

„Leg dich hin.“, flüsterte er. „Wie lange schon? Wie lange hast du schon Wehen?“, fragte er sie eindringlich. Sie war erleichtert, dass er begriff, ohne dass sie es erklären musste.

„Seit gestern, glaube ich.“, brachte sie keuchend hervor. „Aber... auf dem Weg hierher... ist es so... Aah...“, schrie sie und bäumte den Körper auf, um den Schmerz erträglicher zu machen.

„Gut, gut... leg dich hin, hörst du. Tief ein- und ausatmen.“, hörte sie Alexander sagen, während er ihr über die Stirn strich. Sie versuchte seinen Rat so gut wie möglich zu befolgen. Annie sah verschwommen, wie er sich von ihr entfernte. Kurz darauf vernahm sie in Klappern von Schüsseln, Wasserplätschern und das Rascheln von Decken. Wenigen Augenblicke später war Alexander wieder bei ihr. Die Decken schob er ihr behutsam unter den Körper. Sie versuchte ihm so gut sie konnte zu helfen, doch sie war kaum bewegungsfähig. Doch sofort lag sie bequemer. Eine andere Decke legte er auf sie. Dann stand er abermals auf und als er zurückkehrte, legte er ihr ein feuchtes, kühles Tuch auf die Stirn. Sofort schien der Schmerz in ihrem Kopf ein wenig abzuebben. Annie konnte klarer denken, doch damit kehrte auch die Erinnerung an ihre Tat zurück. Sie musste es jemanden sagen, dachte sie verzweifelt. Es würde sie sonst zerdrücken.

„Ich habe ihn umgebracht.“, flüsterte Annie. Augenblicklich hielt Alexander inne.

„Was?“, fragte er verwirrt.

„Jonathan,... er ist tot. Ich habe ihn umgebracht.“, schluchzte sie und unterdrückte den nächsten Schmerzensschrei. „Er hat uns gesehen und... Ich habe ihn weggestoßen... an der Treppe. Und er ... er fiel... einfach... Er fiel einfach herunter. Er ist... Er... Jonathan... Ich habe ihn umgebracht. ... Er ist tot.“ Ihre Worte waren nur noch ein Stammeln und sie wusste selbst nicht, ob es überhaupt einen Sinn ergab, was sie da sagte. Annie sah, wie ihr Bruder sie fassungslos anstarrte, dann schüttelte er auf einmal heftig den Kopf.

„Versuche nicht daran zu denken. Das Kind ist jetzt wichtiger.“, sagte er bestimmt und strich ihr durch das Haar. „Du musst jetzt dafür stark sein.“ Schwach nickte sie und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Er hatte ja recht. Trotzdem gab es noch so vieles, was sie wissen musste.

„War er hier?“, fragte sie weiter. Kurz darauf wurde sie von einer neuen Wehe geschüttelte und sie keuchte auf.

„Wer?“, erwiderte Alexander. Er wusste doch von wem sie sprach, dachte Annie. Warum ließ er es sie sagen?

„John.“

Ohne sie anzusehen nickte Alexander und Annie wusste, dass etwas nicht stimmen konnte. Erst jetzt dachte sie an Susan und ihr Kind. Was, wenn John...

„Was... Was hat er getan?“, fragte sie zittrig.

„Nichts... Er wollte wissen, ob du hier bist oder warst. Ich verneinte und ließ ihn das Haus und die Stallungen durchsuchen. Als er dich nicht fand, ging er wieder.“

Trotz der Schmerzen sah Annie ihren Bruder ungläubig an. „Einfach so?“

„Ja, einfach so.“ Er log, dass wusste sie. Unter anderen Umständen hätte sie ihn danach gefragt, doch erneut überkam sie eine Wehe und dieses Mal konnte sie den Schmerz nicht hinweg beißen.

„Hier...“ Alexander drehte ein Stofftuch in seiner Hand und legte es Annie anschließend in den Mund. Die nächste Wehe kam. Aus den tränennassen Augen sah sie, wie Alexander sich die Hände im heißen Wasser wusch. Er sah konzentriert und angespannt aus, aber da war noch etwas anderes, dachte sie kurz. Er ging gebeugt, als würde er eine schwere Last auf seinen Schultern tragen. Sie konnte den Gedanken nicht weiter spinnen, denn die nächste Wehe kam. Alexanders Worte konnten sie nicht im Geringsten beruhigen und ihr etwas von der Angst nehmen.
 

Doch beim ersten Schrei ihres Kindes, schien all dies in weiter Vergangenheit zu liegen und vergessen. Ungläubig musste Annie lachen. Sie war erschöpft und unendlich müde, aber so glücklich, wie sie es seit den liebevoll verbrachten Stunden mit Draco nicht mehr gewesen war. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, als ihre Gefühle sie gar zu überwältigen drohten.

„Gibt ihn mir.“, forderte sie ihren Bruder schließlich auf und hob den Kopf. Als sie dann Alexanders Gesichtsausdruck sah, hielt sie inne. Er wirkte so traurig und niedergeschlagen. Als würde der Anblick ihres Kindes ihm unerträgliche Schmerzen bereiten. Im nächsten Augenblick verschwand es jedoch und Annie war sich nicht sicher, ob sie es sich nicht doch nur eingebildet hatte. Mit einem leichten Lächeln legte er ihr das Kind, das er in eine Decke gewickelt hatte, in die Arme. Sobald es Annie berührte hörte es auf zu Schreien und sah sie scheinbar direkt an. Als würde es sie erkennen. Als wüsste es sehr genau, was geschehen war. Vielleicht tat es das auch, dachte Annie, während ihr Herz vor Liebe für das kleine Wesen überquoll.

„Es ist ein Junge.“, sagte Alexander flüsternd.

„Ja.“, erwiderte sie schlicht. Es überraschte sie nicht im Geringsten. Liebevoll strich sie über den kleinen Kopf ihres Sohnes und spürte dabei mehr, als dass sie ihn sah, den dünnen Haarpflaum. Nur wenn sie genau hinsah, erkannte sie feines, helles, blondes Haar. Seine Augen waren von einem strahlenden, eisigen Blau. Ganz so wie es auch Dracos waren. Ihre Liebe wuchs nur noch mehr und ihr Lächeln wurde noch breiter. Er war ganz wie sein Vater, dachte sie.

Und dann begriff Annie, dass es gut war, so wie es geschehen ist. Ganz gleich, wie grausam es gewesen war. Sie hätte das Kind niemals als Barringtons oder gar Semerloys ausgeben können. Niemand hätte ihr geglaubt.

„Willkommen.“, flüsterte sie schließlich leise und eine Träne rollte ihre Wange hinab. Sie küsste ihren Sohn sanft auf die Stirn. In ihren Gedanken war sie dabei bei dem Mann, den sie liebte. Sie hätte alles gegeben, wenn er in diesem Moment hätte bei ihr sein können. Was würde Draco sagen? Wie würde sein Gesicht aussehen? Was würde er tun?

Sie würde es nie erfahren. Mehr Tränen stahlen sich aus ihren Augen, aber sie lächelte dennoch tapfer. Wo immer er war, er war in Sicherheit, redete sie sich selbst ein.

„Wie willst du ihn nennen?“, fragte Alexander sanfte neben ihr und strich ihr die verschwitzen Haare aus dem Gesicht. Erst da wurde sie sich seiner Gegenwart wieder bewusst.

„Luan.“, erwiderte sie schlicht und betrachtete ihn noch immer zärtlich.

Fragend hob Alexander eine Augenbraue und Annie musste schmunzeln. „Kannst du dir denn nicht denken warum?“, fragte sie mit einem Lächeln.

„Doch das kann ich.“, seufzte er gespielt und schüttelte den Kopf. Jetzt musste Annie sogar ein wenig lachen. „Weil ich ihn genauso sehr liebe, wie Draco den Mond.“, fügte sie hinzu.

Wieder versank sie in schweigender Betrachtung. Sie konnte nicht genug von Luans Anblick bekommen. Nie wieder wollte sie ihn loslassen. Sie wollte bei ihm sein, ihn aufwachsen und lachen sehen.

Deswegen war es an der Zeit zu gehen. Je länger sie blieb, desto schwerer würde es werden. Annie wusste nicht einmal, ob sie es jetzt noch schaffen würde.

Sie sah ihren Bruder an und dieser schien sie ohne jedes Wort zu verstehen.

„Du musst das nicht tun.“, sagte er.

„Doch, das muss ich. Ich habe Draco verloren, ich bringe euch in Gefahr und ich habe jemanden umgebracht. Ich kann doch nicht einfach davon laufen.“

„Aber das Kind?“, warf er ein.

Mit tränennassen Augen sah sie ihn an. „Ich weiß es ist viel verlangt, aber...“, sagte sie zitternd. „Du könntest ihn verstecken und dann behaupten Susan hätte Zwillinge bekommen. Sie ist blond und hat blaue Augen. Sicher würde niemand so schnell...“ Sie brach ab als sie sah, wie sich Alexanders Gesichtsausdruck wieder verschloss und etwas ihn zu überwältigen drohte.

„Was ist passiert?“, fragte sie leise. „Hat... Hat Barrington ihr etwas angetan?“

Alexander hob die Hände und verbarg darin sein Gesicht und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Noch nie hatte es Annie erlebt, dass er sie nicht anschauen konnte.

„Nein.“, sagte er schließlich. Gespannt hielt Annie den Atem an. Sie wartete bis er von allein erzählen würde. „Er fand, das wäre nicht mehr nötig, da sie es sowieso nicht überleben würde.“, wisperte er. Ihr Herz stand einen Moment still. „Und dass das auch für mich genug Strafe sein würde.“

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an und wartete bis er sie schließlich ansah. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht einmal beschreiben, so verstörend war dieser Anblick für sie. „Ist sie...“, setzte sie an, konnte es aber nicht zu Ende sprechen.

„Nein, sie lebt noch. Sie ist oben.“, erwiderte Alexander sofort. Erleichtert stieß Annie, die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte.

„Die Wehen haben letzte Nacht bei Susan eingesetzt.“, fuhr Alexander fort. Sein Blick lag dabei auf Luan. „Viel zu Früh. Als ich nach Hause kam, war es schein eine ganze Weile so. Es ging ihr gut, als ich fort bin, verstehst du? Mir wäre nie der Gedanken gekommen, dass... Und sie hat sich in den letzten Tagen erholt, kaum bewegt und viel gelegen. Ich verstehe nicht, wie es dann trotzdem... Als ich sie sah, bin ich sofort los und holte Doktor Storm. Gott, ich wusste nicht, was ich machen sollte! Die Sonne war kurz vorm aufgehen und Doktor Storm gab ihr eine grünen Flüssigkeit, die sie eigentlich beruhigen sollte, doch es wirkte nicht richtig.

„Doktor Storm schickte mich schließlich aus dem Zimmer, weil ich ihn mit meiner Unruhe nur in seiner Arbeit störte. Susan verlor zwischendurch immer wieder das Bewusstsein. Irgendwann stand plötzlich Barrington in der Tür. Ich wusste gar nicht, was er wollte. Er bedrohte mich und sagte du seiest verschwunden. Ich sollte dich rausgeben, aber du warst nicht hier und... und Susan...“ Hilflos hob Alexander die Hände, als würde er nicht einmal wissen, wie er es formulieren sollte. „Er glaubte mir natürlich nicht und ließ das Haus und die Stallungen durchsuchen. Mir hielt er die ganze Zeit das Schwert an die Kehle und forderte immer wieder deinen Aufenthaltsort. Einer der Männer sah Susan und Doktor Storm und berichtete ihm davon. Barrington machte sich ein eigenes Bild. Er kam zu dem Entschluss, dass ich die Wahrheit sagte, aber auch eine Bestrafung für mich nicht mehr nötig sei. Meine Frau sehe so erbärmlich aus, dass sie sowie so sterben würde und da ich sie ja so sehr liebte, würde das als Strafe reichen. Ich würde meine Frau verlieren und mein Kind - genauso wie er.“

„Erst da habe ich begriffen, was eigentlich passiert ist und von Jonathan Tod erfahren. Aber ich habe dann nicht wieder daran gedacht. Es tut mir leid.“

„Was? Nein, Alexander, dass... Gott! ... Mir tut es leid. Wenn ich gewusst hätte, was... Ich wäre gar nicht erst hergekommen.“, flüsterte sie und war den Tränen erneut nahe.

„Das Kind ist gestorben.“, fuhr Alexander fort, ohne auf ihre Wort einzugehen. „Es war zu schwach, noch zu klein. Die Geburt war viel zu früh. Es war ein Junge. Susan hat überlebt, aber nur knapp. Es war...“, zitternd holte Alexander Luft und dieses Mal zögerte Annie nicht, sondern legte ihre Hand auf seine und drückte sie fest. „Es war ein schrecklicher Tag.“, fügte er an. „Aber ich bin froh, dass du hergekommen bist, dass es dir gut geht, dir und deinem Sohn.“ Abermals rollt eine Träne Annies Wange hinunter. Wie hatte sie nur von Alexander verlangen können sich um ihr Kind zu kümmern? Seine Trauer musste ihn fast zerreißen. Sie hatte ein gesundes Kind auf die Welt gebracht, während er seinen Sohn verloren hatte. Doch diese Worte gaben ihr den Anstoß.

„Ich werde gehen, jetzt gleich.“ Sie richtete sich leicht auf, doch drückte sie Luan noch ein wenig fester an ihre Brust. „Wenn Barrington schon einmal hier war, wird er vielleicht wieder kommen und wenn es nur ist, um zu sehen, ob Susan wirklich gestorben ist.“ Langsam setzte sie einen Fuß auf den Boden und Schmerz durchzuckte sie. Alexander hielt sie plötzlich am Arm fest und zwang sie so zum sitzenbleiben.

„Annie, wir werden nicht hier bleiben. Sobald es Susan möglich ist, werde ich diesen Ort verlassen. Komm mit uns!“

„Du weißt, dass das nicht geht.“, sagte sie sanft und strich ihrem Bruder über die Wange. „Ich machte euch nur noch verdächtiger. Und ich... werde meiner Strafe nicht entgehen. Ich werde nicht davon laufen, wie es andere tun würde. Ich will nicht mehr feige sein. Andererseits... kann ich das Kind nicht allein lassen.“, sagte sie und sah auf es hinab.

Verwirrt sah Alexander sie an. „Du willst mit ihm davon laufen?“

„Nein.“, sagte sie ehrlich. „Ich habe Angst, große Angst. Eine Flucht würde ihm kein sicheres zu Hause bieten. Wir würden beide in ständiger Angst leben, aber... Ich weiß nicht, was ich machen werde. Mir wird schon etwas einfallen.“, gestand sie.

„Und du hättest ihn bei mir gelassen?“, fragte ihr Bruder zweifelnd.

„Natürlich. Ich kann mir keinen sicheren Ort vorstellen, doch jetzt...“

„Annie, wenn du es wünscht, werde ich ihn nehmen.“, unterbrach Alexander sie. Der schmerzhafte Ausdruck in seinen Augen lag immer noch darin, aber Annie sah auch, dass er bereits noch etwas anderes ersonnen hatte.

„Wir tauschen die Kinder.“, sprach er leise weiter. „Du musst nur sicher gehen, dass Barrington von meinen ... von dem toten Kind erfährt, dann hat er keinen Grund mehr danach zu suchen. Dann suchst du dir ein Versteck, geh über die Grenze, versuche Draco zu finden. Das werden wir auch tun. Wir könnten in einem anderen Land wieder zueinander finden und dann...Sagen wir in 30 Tagen in der nördlichen Hauptstadt.“

Hoffnungsvoll und zweifelnd zugleich sah Annie ihren Bruder an. Sie erkannte, dass auch er nicht recht an das Gelingen dieses Vorhabens glaubte. Zu viel hing von Glück und Zufall ab. Alexander und Susan wären immer noch in Gefahr, ihr Sohn ebenfalls und Draco auch. Nein, es musste ein Ende haben.

„Gut.“, stimmte sie laut zu. „So machen wir es. Wir treffen uns im Nachbarland wieder, sobald wir hier in Vergessenheit geraten sind.“

„Bist du sicher?“

„Ja.“

Vorsichtig berührte Alexander Luans Wange und Annie verstand, was diese Entscheidung für ihn bedeuten mochte. Trotz allem würde er ein Vater sein dürfen. Dennoch wünschte sie sich so sehr, dass Draco es wäre, der das Kind ansah.

„Ich sollte jetzt wirklich gehen.“, durchbrach Annie die eingetretene Stille. Stumm nickte Alexander. „Ich lass dich allein.“ Dankbar nickte sie. Während Alexander nach oben ging, versank sie in Luans Augen und versuchte ihm all das zu sagen, wofür eine Mutter eigentlich Jahre Zeit hatte. Sie legte alle ihre Liebe in ihre Berührungen. Dann hörte sie wie Alexander zurückkam.

Noch einmal strich Annie ihm über den blonden Haarpflaum, zeichnete mit ihren Finger über seine Augenbrauen, die Nase, Lippen, Wangen und Ohren. Alles wollte sie sich von ihm einprägen, damit sie es niemals vergessen würde, auch wenn sie kein ewiges Gedächtnis besaß. Anschließend beugte sie sich nach unten und küsste das Kind auf die Stirn. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie und dann: „Leb wohl.“

Erst dann sah sie zu ihrem Bruder, der vor ihr stand. Er hatte ein kleines Bündel aus weißen Leinentüchern auf dem Arm. Annie wusste, was sich darin befand und sie musste heftig schlucken. Mit zittrigen Beinen stand sie auf.

„Bist du dir wirklich ganz sicher?“, fragte Alexander sie noch einmal.

Annie nickte bloß. Sie fühlte sich schwach und ausgelaugt und wusste nicht einmal, wie weit sie kommen würde. Aber sie wollte es ihn nicht wissen lassen.

Wortlos tauschten sie die Kinder aus. Alexander nahm Luan und Annie seinen Sohn.

„Wie heißt er?“, fragte sie mit gebrochener Stimme und schob vorsichtig den Stoff zu Seite. Das kleine Kind war grau und starr. Sein Kopf war viel zu groß und seine Haut transparent, so dass sie die feinen Äderchen darunter erkennen konnte. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper und sie konnte nicht verleugnen, dass sie ein wenig Widerwillen empfand.

„Susan wollte ihn Christian Xander nennen.“, antwortete er kaum hörbar.

Die beiden Geschwister sahen sich schweigend zum Abschied an. Aus einem Impuls heraus, umarmte Annie Alexander noch einmal fest. Sie sprachen keine Worte des Abschieds und Annie ging langsam zur Tür. Dann trat in die kalte Nacht hinaus.

Noch einmal blickte sie zurück, zu Alexander und ihren Sohn, dann schloss sie die Tür hinter sich. Einen Moment stand sei allein der Dunkelheit der Nacht. Selbst der Vollmond war von dicken, schwarzen Wolken verhangen.

Mit langsamen und schweren Schritten verließ sie den Hof. Am Tor blickte sie nach rechts. Auf diesem Weg würde sie in die Stadt gelangen, nach links gelangte sie den Hügel hinauf und in den Wald hinein. Obwohl sie fest entschlossen war ihre Strafe auf sich zu nehmen, führten sie ihre Beine doch den Hügel hinauf. Doch der Aufstieg war bereits sehr anstrengend für sie. Keuchend stand sie zwischen den ersten Bäumen und sah auf Alexanders Haus. Noch immer brannte das Licht, nur war sie dieses Mal sicher, dass sich Leben dahinter verbarg. Ein neues Leben, das ihr so kostbar war, wie nichts anderes.

Ein Stechen fuhr durch ihr Herz und sie krümmte sich. Ihr wurde einen Moment schwarz vor Augen und gleich darauf folgten heftige Kopfschmerzen und Schwindel. Kurz schwankte sie und der Schmerz breitete sich in ihrer Schulter aus. Es schien ihr wie eine Ewigkeit, bis der Schmerz wieder nachließ und der Schwindel abgeklungen war. Dann drehte sie sich um und lief tiefer in den Wald hinein.
 


 

Kühlende Nachtluft strich über sein Gesicht und langsam schlug Draco die Augen auf. Es war merklich abgekühlt, doch er empfand es als angenehm. Als erstes sah er Äste, Zweige und Blätter. Nur schemenhaft erinnerte er sich daran, wie er an diesen Ort gelangt war. Doch war es die erste Nacht seit langer Zeit, in der er wieder klar denken konnte. Schmerzen verspürte er immer noch, aber sie waren bei weitem nicht mehr so heftig. Es erleichterte Draco, dass der Nebel, der sich von Doktor Storms Mittel um seinen Geist gelegt hatte, verschwunden war.

Von vorn kommend, hörte Draco ein vertrautes Schnauben und als er den Kopf ein wenig drehte, sah er Hera nicht unweit von sich stehen. Sie war den ganzen Tag über an seiner Seite geblieben.

Draco löste sich aus der Starre in die er bei Tagesanbruch gefallen war und bewegte sich zögerlich. Erst die Finger, die den Dolch noch immer fest umklammert hielten, dann die Arme, anschließend winkelte er die Beine ein wenig an. Mühsam kroch er aus seinem Versteck heraus und stand schließlich auf. Hera trabte zu ihm und Draco lehnte sich gegen sie, um sein Gleichgewicht zu halten. Sein Körper fühlte sich schwach an. Sanft strich er ihr über die Nase, ihren Hals entlang und kraulte sie zum Schluss hinter den Ohren. „Danke.“, flüsterte er leise und wusste, dass sie ihn verstand.

Im hellen Vollmondlicht sah er sich ihren Körper an, konnte aber nichts entdecken, was ihn beunruhigt hätte. Dann begann er die Satteltaschen zu lösen, die mit einem lauten Geräusch zu Boden fielen. Gleich darauf machte er sich an ihrem Sattel zu schaffen. Dabei packte er immer nur mit der rechten Hand zu und versuchte die linke so wenig, wie möglich zu belasten. Er hätte sie gleich davon befreien sollen, dachte er, wusste aber gleichzeitig, dass er es nicht fertig gebracht hätte. Er war die ganze Zeit voll auf seine Arbeit konzentrier. Er überlegte nicht, welche Schritte er als nächstes unternehmen würde. Würde er es zulassen, würden seine Gedanken in jede Richtung jagen und dessen sah er sich nicht im Stande, es zu ertragen.

Nachdem er Hera abgesattelt und ein wenig abgerieben hatte, durchsah Draco die Satteltaschen. Alexander hatte ihn einen Lederflasche mit Wasser mitgeben, die noch voll war. Dazu Brot und geräucherten Schicken. Es würde für ein paar Tage reichen. Außerdem noch einen weiteren Dolch und sogar Münzen.

In der anderen Tasche waren saubere, frische Kleidung und Schuhe, sowie eine Decke für kühle Nächte und neue Verbände. Draco trank das Wasser in einem Zug leer und nahm dann die Kleidung. Damit ging er den Bachlauf ein wenig entlang, bis er an eine Stelle kam, die breit genug für ihn war. Er entkleidete sich am Ufer und versteckte Hemd und Hose unter einem weiteren Busch. Nie wieder würde er es tragen. Dann ging er ohne innezuhalten nackt in das Wasser. Dort setzte er sich zuerst und legte sich dann hin, bis sein Körper ganz mit Wasser bedeckt war. Nur sein Gesicht schaute gerade noch heraus. Er spürte die Steine, Pflanze und kleinen Lebewesen im Wasser und stellte sich vor, wie der Dreck der vergangenen Monate so von seinem Körper gespült wurde.

Er verbrachte eine lange Zeit im Wasser. Dabei schloss er die Augen und ließ sich auf der Oberfläche treiben. Die sanften Bewegungen beruhigten ihn, entspannten seine gereizten Nerven. Irgendwann griff er schließlich nach einem Grasbüschel und begann sich den Dreck vom Körper zu schrubben. Erst als schmerzhaft wurde, verließ Draco den Bach. Er kleidete sich mit den frischen Sachen ein und aß von Brot und Schicken. Nachdem er satt war, verband er die linke Hand erneut, doch nicht so fest wie zuvor.

Die ganze Zeit über war sein Verstand wie leer. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur den Moment. Er konzentrierte sich auf jeden Schritt, jede Bewegung, die er ausführte, als müsste er seinem Körper den Befehl dazu erteilen und ihn genausten überwachen. Doch irgendwann war er fertig. Er ließ sich in das Gras fallen und sah direkt in den Nachthimmel hinein. Dann schloss er die Augen und atmete tief ein und aus. Als er sie wieder öffnete, war es als hätte er auch eine Tür geöffnet. Bilder, Geräusche, Worte, Gefühle und Empfindungen strömten auf ihn ein und überrollten ihn. Draco stockte der Atem und er zwang sich regelrecht dazu, sie nicht wieder zu verschließen. Er hatte es einmal begonnen und würde es zu Ende bringen.

Draco sah all die schrecklichen Dinge, die ihm in den vergangen Wochen widerfahren waren. Barrington und wie er sich jeden Tag aufs Neue eine anderen Folter für ihn einfallen lassen hatte: die Peitsche, das Brechen seiner Knochen, das Wachs, das Messer, die Frau... Jede dieser Erinnerungen trieb ihn immer mehr zu dem, was er tun musste. Dennoch dachte er auch an die zwei Momente, die sich ebenso stark in seine Bewusstsein gebrannt hatten, aber doch ganz anderer Natur waren: Annie und das Geheimnis, dass sie ihm offenbar hatte und jener Moment, indem er das Kind hatte spüren können.

Wollte er dies wirklich Barrington überlassen?

Welchen Weg würde er wählen?

Die Urinstinkte in ihm schrien, er solle fliehen, jetzt sofort. Jeder weitere Gedanke verschwendete nur kostbare Zeit. Er hatte diesen Kampf schon lange verloren und sollte es endlich akzeptieren. Wichtiger war sein Leben und das konnte er nur retten, indem er ging. So weit wie möglich und so schnell wie möglich, auf dass sie ihn nie wieder finden sollten.

Doch der Mann, der er inzwischen geworden war, sehnte sich nach Rache, so laut und heftig, dass sein Körper darunter erzitterte. Er wollte diesem Mann die Kehle mit den bloßen Händen heraus reißen. Er wollte das zurück, was ihm zustand: Annie und sein Kind. Draco wusste nicht, was es bedeutet ein Kind zu haben, doch der Gedanken, dass John Barrington noch etwas besitzen sollte, was eigentlich sein war, genügte um ihn dies denken zu lassen.

Abermals schloss Draco die Augen. Dann erhob er sich ohne weiteres zögern und sattelte Hera. Als er aufsaß drehte er sich nicht um und sah zum Himmel.

Es war das erste Mal, dass er dem Mond den Rücken zukehrte. Es würde für immer sein.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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Das Ende naht, das Ende naht... trallala... ich bin so aufgeregt. >.< Noch zwei Kapitel und der Epilog und dann ist es geschafft! Ich freu mich so! XD

Ich hoffe ihr bleibt mir auch am Schluss noch treu und seid gespannt, wie es denn nun alles ein Ende findet.^^

maidlin
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: enni
2012-06-08T05:10:58+00:00 08.06.2012 07:10
Ach verflixt ist dieses kapitel traurig! ;__;
Ich bin mir grad nicht sicher was das schlimmste davon war, das Annie Luan aufgegeben hat oder doch eher das in Draco die Rache so laut ruft das ich schlimmstes ahne für ihn aber auch für Annie oder ist es das Susan ihr Kind verloren hat? So viele dinge in so einen kurzen Kapitel die einem durch und durch gehen. *seufz*

Was also haben Annie und Draco jetzt vor? Wird das ganze überhaupt ein gutes ende nehmen? Werden es Susan und Alexander schaffen zu entkommen? Eins zumindest ist gewiss, ich glaub ich werd darüber depressiv! XD

Auf der Gegenseite bin ich aber doch sehr zufrieden wie du die situation mit Barrington und Alexander gelöst hast. Klar das ihm die sache mit Alexanders Frau und Kind als angemessene Strafe ansieht und darum wieder geht. Ich hätte ihn zwar mehr auch noch zugetraut, aber es passt wirklich gut zu diesen verrotteten Charakter. Hoffentlich machen ihn Draco und Annie den garaus und genau das hoffe ich jetzt im nächsten Kapitel zu lesen!

hdgdl enni :D
Von:  funnymarie
2012-04-15T08:52:48+00:00 15.04.2012 10:52
also ich kann dir sagen, ich bin mehr als nur gespannt^^
ich freu mich richtig auf die nächsten kapitel und kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie alles endet
hoffentlich bekommt barington seine gerechte strafe und ob anni und drake sich noch einmal sehen
und was aus dem kleinen luan wird?
ich erwarte die fortsetzung sehnsüchtig
lg funnymarie


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