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Der Seelenzähler

soul lost
von

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Soul lost

Soul
 

Ein Junge lief die Hafenstraße entlang der Donau hinab, nur er...allein... Seine breite Mütze tief ins Gesicht gezogen, rannte er als würde sein Leben davon abhängen. Wind und Wetter schlugen sich ihm entgegen, zerrten an seinen Kleidern und streichelten ihn kalt über den Nacken. Immer wieder flüsterten sie ihm die letzten, schrecklichen Ereignisse zu, gar höhnisch, verletzend. Seine Schritte erstickten unter dem Prasseln des einsetzenden Regens und er versuchte ein hellblaues Buch unter seiner dünnen Jacke so gut es ging zu verstecken. Nein, er würde nicht weinen...noch nicht.
 

Ein sonniger Abend, so sonnig wie er eben nur an einem Geburtstag sein konnte. Memel saß draußen in Ufernähe des Flusses und zählte schon seit geraumer Zeit die Anzahl der Mücken, die ihn bis jetzt in sein linkes Bein gestochen haben. Neun Stück waren es. Er war Stolz auf sich, noch unternahm er nicht den Versuch sich zu kratzen, das tun nur kleine Kinder und immerhin war er ja jetzt ein Mann, mit seinen zehn Jahren. Die Sonne schlich dem Horizont entgegen, strich tastend über die Silhouette des Waldes hinweg und tauchte das Land in ein mattes, erstickendes Schimmern, fast wie bei einer erglimmenden Kerze. Ein winziger Schwarm schnatternder Enten glitt über die dunkle, trübe Wasseroberfläche der Donau hinweg. Sie unterhielten sich über ihren vergangenen Tag und tratschten über ihre neuen Nachbarn, so behauptete es seine Mutter immer, doch er glaubte ihr inzwischen nicht mehr so recht. Für einen Augenblick lag Ruhe in der Luft, ein hauchzartes Tuch, das jederzeit zu zerreisen drohte, aber... „Memel!“, rief ein hohe Kinderstimme kichernd und durchbrach lachend die Stille, „Da bist du ja! Ich habe dich schon den ganzen Tag gesucht, bist du etwa nicht neugierig auf dein Geschenk?“ Lea. Sein Sonnenschein und seine beste, verrückteste Freundin. Strahlend hatte sie sich vor ihm aufgebaut, die kleinen Hände hinter dem Rücken versteckt und unzählbar viele Sommersprossen im Gesicht. Und es waren unzählbar viele, denn immerhin hatten sie schon einen halben Nachmittag damit verbracht um sie zu zählen und hatten es nicht geschafft. Langes, struppiges Haar umspielte ihren schlanken Hals und ein himmelblaues Kleid schmiegte sich liebevoll an ihren jungen Körper. „Na, hast du den keine Idee, was es sein könnte?“, fragte sie erwartungsvoll, biss sich auf ihre Lippe und starrte mit blitzenden Saphiraugen auf ihn hinab. „Ähm, keine Ahnung...ein neuer Angelhaken?“ Den wünschte er sich schon seit langem, seinen alten hatte erst vor kurzem sein Bruder verbogen und Leas Vater war beruflich Angler, vielleicht...Energisch schüttelte das Mädchen den Kopf und durchbrach somit seine Gedanken. „Etwas viel besseres!“, gluckste sie und stampfte mit ihren achtjährigen Füßen vor Vergnügen auf, „Einmal darfst du noch!“ Noch besser als ein Haken? Was könnte das sein? Memel war überfragt, das überstieg seinen erwachsenen, zehnjährigen Verstand. „Sag’s mir doch Lea! Ich habe keine Ahnung!“, bettelte er scheinheilig, griff aber nach einen Stück Stoff ihres Kleides und zog sie mit einem Ruck herunter, sodass sie kreischend neben ihm ins fünf Zentimeter hohe Gras plumpste. „Na gut, na gut!“, japste sie und angelte nach den grob, verpackten Gegenstand, der ihr aus den Händen gesegelt und neben Memel liegen geblieben war. Doch er war schneller, hastig packte er es und gab Lea einen sanften Nasenstüber, sodass sie kichernd und mit den Armen rudernd nach hinten fiel. Erwartungsvoll riss er das Papier in einer raschen Bewegung hinfort und starrte auf ein...ein Buch?

„Ein Buch? Das soll noch besser, als ein Angelhaken sein?“ Enttäuschung fraß sich giftig in seiner Seele empor, obwohl er wusste das er hätte dankbar sein müssen.

„Es ist nicht nur ein Buch!“ Lea hatte sich wieder aufgerichtet und entrüstet in seine verzerrte Miene geblickt, „Es ist ein Seelenzähler!“

„Ein, was bitte-?“

„Na, er enthält derweil zwei Seelen! Deine und meine! Schlag doch die ersten Seiten auf!“

Und das tat Memel, fasziniert schaute er auf zwei gemalte Gestalten herab. Seine und Leas. Jede war in groben, kindlichen Zügen auf einer saftig, grünen Wiese platziert worden und sah lachend zu den Betrachter hinauf. „Siehst du, dass sind wir, wie wir momentan leben, aber was passiert wenn einer von uns mal sterben sollte? Dafür habe ich gesorgt, schau her!“, lächelte sie verschmitzt und ihre Wangen begannen vor Aufregung zu glühen, „Wenn einer von uns stirbt, reißt der andere das Blatt des Verstorbenen aus dem Buch heraus, faltet es zu einem Schiff und setzt es auf der Donau aus, als Neubeginn so zu sagen. Als zweite Möglichkeit sich von einem zu verabschieden, falls man keine Chance dazu hatte und Glück für das zukünftige zu wünschen. Toll, was?“ Stolz über ihren Einfall griff sie nach der nächsten Seite und blätterte sie um.

„Außerdem muss es ja nicht nur bei unseren bleiben, wir können ja nicht ewig zusammen sein! Im laufe deines Lebens wirst du noch einige Menschen kennen lernen, die du liebst und die nimmst du ganz einfach in den Seelenzähler auf!“ Dieser Gedanke, allein ohne Lea zu leben, war ihm noch nie in den Sinn gekommen und es erschreckte ihn zutiefst. Ihm wurde mit einen Schlag bewusst, wie viel erwachsener und reifer Lea in anbetracht auf ihr zartes Alter war, viel reifer als er es je sein würde.

„Es ist himmelblau! Babyblau!“, wollte Memel als Protest einwenden.

„Na und?“

„Eine dumme Idee...“, murmelte er mürrisch und ließ seine Finger durch die restlichen Seiten fahren, „da wir ja nie getrennt sein werden!“

Lea ballte wütend die Hände zu Fäuste und versuchte ihr Geschenk zu verteidigen. Er hatte eindeutig den Geduldsbogen bei ihr überspannt. „Überhaupt nicht! Das weißt du ja gar nicht! Du Dummkopf! Da macht man sich die Mühe und du redest einem immer alles nur madig, du Idiot!“ Bei den letzen Worten sind Tränen in ihre Augen gestiegen, rasch drehte sie sich um und lief davon. „Lea!“, wollte er ihr nachrufen, doch sie war schon außer Hörweite. Sollte er ihr nachlaufen? Nein! Wenn sie sauer war, sollte man sie am besten in Ruhe lassen, sie würde sich schon wieder einkriegen. Verärgert starrte er auf das Buch in seinen Händen. Nur wegen dem hatten Lea und er sich nun gestritten, wegen Erinnerungen...

Es sollten die letzten sein, bevor Lea am darauf folgenden Morgen an einer Grippe starb. Man schrieb das Jahr 1917.
 

Der Junge hatte sein Ziel erreicht. Noch nach Atem ringend umklammerte sein starrer Blick den glitschigen Umschlag des Buches, seine vereisten Finger rutschten fahrig über das vergoldete Etikett. „Für Memel, liebenswürdiger, tollpatschiger Memel" stand darauf. Er wollte weinen, er wollte lachen, all den Kummer den er durch Lea erfahren durfte wollte er hinaus in die Dunkelheit schreien. Doch es half nichts, dass wusste er. Hilflos stand er am Ufer der Donau und blickte der Einsamkeit entgegen, die ihn von jetzt an ein ständiger Begleiter sein würde. Mit zittrigen Händen klappte er den Seelenzähler auf, riss ein Blatt heraus und faltete ein Schiff, ehe er es ins Wasser setzte und sich noch ein letztes Mal von Lea verabschiedete.



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