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Living In A Toy Box

von

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Showtime!

Es herrschte ein reges Treiben in der Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, denn es war der Tag der Aufführung von „Alice im Wunderland“.

Verwandte und Freunde von Patienten nutzten diese Gelegenheit um ihre Angehörigen einmal im Jahr zu besuchen.

Es kamen nicht viele freiwillig, mehr um ihr Gewissen zu beruhigen, sich ausreichend um ihre Liebsten gekümmert zu haben. Das war schon irgendwie traurig.

Jazmin war diesem Trubel zeitig aus dem Weg gegangen und verkroch sich seit der ersten Ankunft euphorischer Verwandter in ihrem Zimmer. Natürlich war sie nie unbeobachtet. Aber egal. Hauptsache Ruhe.

Doch sie lag nicht träge und faul im Bett, sie hatte sich vor ihr Fenster gesetzt und betrachtete aufmerksam ihr Spiegelbild. Lautes Getrampel und Geplapper vor der Tür versuchte sie auszuschalten und zu ignorieren. Sie hob die Hand und fasste ganz vorsichtig an das sie spiegelnde Glas, als sitze ihre Zwillingschwester in Fleisch und Blut vor ihr. Erst berührte sie ihre Nasenspitze, fuhr dann langsam an den Augenbrauen entlang und stoppte bei den Augen. Sie waren so...unergründlich...tief.

Eisblau.

Kalt.

Sie musste kurz den Blick abwenden. Irgendwie war ihr nicht wohl dabei. Doch ihre Aufmerksamkeit zog es wieder zu dem Püppchen im Glas. Sie strich sich über die Wangen bis sie schließlich am Mund angekommen war. Blutrot.

Sie erinnerte sich an die Narben des Fremden, der sie um ein Haar getötet hätte. Sie leckte ihren Zeigefinger an und zog in ihrem Spiegelbild von den Mundwinkeln aus zwei feine Linien aber die Wangen. Als sie das Ergebnis sah, hielt sie kurz inne. Was sie da sah, erschreckte sie, kurz, dann...gewöhnte sie sich daran.

Es sah...anders aus.

Irgendwie...komisch.

Plötzlich raste ein kleiner Fetzen verbliebe Fantasie durch ihren kleinen Kopf. Sie kniff die Augen zusammen und auf einmal stand sie in einer anderen Welt. Paradox. Surreal. Anders. Schön.

Durch die Tür drang leise aber gut verständlich die Klaviermusik und das schreckliche Katzengejaule der Alice.

Jazmin sprang auf und lief eilig zur Tür. Sie blickte sich um, kein Mensch da. Totenstille, nur die Musik dudelte erbarmungslos durch die hohlen Hallen. Selbst die Pfleger schienen mal eine Pause von den Patienten zu nehmen, zumindest von ihr. Eilig aber mucksmäuschen still schlich sie über die kalten Fliesen in die zweite Etage zur Aula. Die beiden Flügeltüren waren verschlossen, nur durch die darin eingelassenen Fenster, konnte sie das Publikum und die Psychopathen auf der Bühne sehen. Kurz drückte sie ihr Näschen an das kalte Glas und lugte vorsichtig um die Ecke, doch als sie Susan erblickte, und als Susan sie sah, drehte sie sich schnell weg und presste sich an die Wand. Die Tür öffnete sich langsam und Jazmin flüchtete in den Nebenraum, der hinter die Bühne führte. Dort angekommen, drehte sie schnell den Schlüssel um und horchte, ob Susan ihr gefolgt war. Stille. Gut.

Vor ihr lag nun scheinbar die Erfüllung ihrer Träume. Es war nur ein kleiner Lagerraum, der als Umkleide und Maske dienen sollte, erleuchtet von zwei mikrigen Lämpchen, die gelangweilt von der Decke baumelten. Langsam ging sie auf die Kleiderstange mit aufwändig gestalteten Kostümen zu. Vorsichtig fasste sie den weichen Samt, aus denen die Kleider gemacht waren, an. Doch das Objekt ihrer Begierde war nicht present. Natürlich nicht. Es hüpfte gerade geistesgestört auf der Bühne herum. Sie wendete den Blick von der Garderobe ab und wandte sich den „Filmdiva“ Schminktischen zu. Lange hatte sie keinen Spiegel mehr zu Gesicht bekommen...Also keinen richtigen...

Auf der kleinen Komode lag etwas Make-Up.

Rouge, Eyeliner, Wimperntusche.

Mit zittrigen Fingern griff sie zu dem Puderpinsel, tauchte ihn tief in das Rouge und verteilte es auf ihren sowieso schon rosigen Wangen. Dann fasste sie ohne Scheu in die schwarze Schminkfarbe und verteilte sie großzügig über die Augen. Ein kurzer Blick in den Spiegel. Ein kurzer Schreck. Ein zufriedenes Lächeln.

Wenn ich damit fertig bin, sperren die mich garantiert in die Innere...

Jetzt fehlte nur noch...

Hastig schaute sie sich um. Taschentücher, Creme. Eine Schere? Nein. Sie durchwühlte einige Taschen bis sie schließlich einen kleinen Spitzer hervorholte. Hektisch versuchte sie mit ihren Nägeln die Schräubchen aufzudrehen, doch schnell musste sie die Schere zu Hilfe nehmen. Sie schnitt sich einige Male in den Finger, bei dem Versuch, die Klinge aus der Plaste zu bekommen.

Dann hielt sie das gute Stück endlich in den Händen und führte es zu ihrem Mund. Ein kurzes Zögern, dann setzte sie die Klinge an den Mundwinkeln an. Behutsam schnitt sie einige Millimeter tief in ihre Porzellanhaut, doch dann musste sie absetzen, sie hatte ganz vergessen, dass das mit Schmerzen verbunden war, doch was hatte sie zu verlieren? Ein bisschen Spaß muss doch sein...

Sie biss sich auf die Zunge und schnitt weiter. Als die eine Seite geschafft war, atmete sie kurz durch und führte ihr Werk fort.

Das wird ein Spaß.

Ihr war es egal, was die anderen sagen würden, tiefer konnte sie nicht sinken, in der Klapse war sie ja schließlich schon. Nicht, dass sie jetzt völlig am Rand drehte. Um Gottes Willen! Manchmal dachte sie, sie wäre die geistig normalst Gebliebene in dieser ganzen Klinik...Ärzte und Pfleger eingeschlossen. Wenn sie aus ihr schon einen Psychopathen machen wollten, dann auch richtig.
 

Sie verdrängte den Schmerz und sah dem Blut zu, wie es langsam in feinen Tränen über ihr Gesicht ran. Plötzlich lauter Beifall, die Tür zu Bühne öffnete sich, Alice kam hinaus. Schnell kroch Jazmin unter die Komode. Alice schien sich nur schnell Nachschminken zu wollen, für ihren nächsten „großen Auftritt“. Jazmin spürte ihre Chance und zog Alice die Beine unter dem Körper weg, als diese gehen wollte. Alice fiel, Jazmin stürzte sich auf sie und zog ihr die Schleifchen aus den Haaren. Dann bekam sie eine Federboa zu fassen, die von der Garderobe herunter hing und fesselte Alice an den Handgelenken.

Dieser gefiel das Spiel natürlich überhaupt nicht und sie begann zu schreien. Doch ehe sie ihrer Gesangseinlage auf der Bühne Konkurrenz machte, stopfte Jazmin ihr ein paar Taschentücher in den Mund. Das hatte ihr noch gefehlt...nicht nur bekloppt, sondern auch noch Geiselnehmer...

Hastig fummelte sie sich die beiden Schleifen in ihre Löckchen und eilte zum Bühnenausgang.

It's Showtime!

Die Bühne war leer und dunkel. Logisch, denn die Vorhänge waren geschlossen. Welche Szene jetzt an der Reihe war, wusste sie nicht. Aber das Stück kannte sie fast auswendig. Als kleines Mädchen schaute sie es sich oft genug im Fernsehen an. Das war auch so ziemlich das Einzige, an was sie sich erinnerte, offiziell.

Ein Lied mochte sie dabei am meisten...

Sie setzte sich auf einen Deko-Baumstamm mit dem Rücken zum Publikum und wartete bis sich die Vorhänge öffneten. Sie konnte nur den schmalen Lichtstrahl sehen und brannte nur darauf, dass das Licht heller wurde...

Klatschen, Licht, Musik, die sofort verstummte, als Alice ein anderes Lied anstimmte, als das was auf dem Notenpapier verzeichnet war.
 

In the room of silent dreams

I´ve lost the light of life.

'Now cold darkness embraces me .

I´m blinded by my pain.
 

Awoke in empty halls

While shadows where dancing on the walls

I try to grip the morning light

But there´s just the silver gleam of a freezy night
 

A strange call pours into my head
 

Jazmin drehte sich langsam um und ein entsetztes Raunen ging durch das Publikum. Es blutete doch stärker als sie annahm. Sie konnte spüren wie die warme Flüssigkeit erst auf ihren Rock, dann auf den Boden tropfte. Trotz der aufkommenden Schmerzen, versuchte sie ihr Lied weiterzusingen. The Show Must Go On...
 

Whispering through the darkness of my soul
 

Sie bemerkte die verständliche Unruhe, einige Leute standen auf und verließen den Raum, andere starten sie nur geschockt an.
 

Speaking softly and clear
 

Jetzt kamen von beiden Seiten Pfleger auf sie zu. Es verwirrte sie, dass sie sich solche Zeit ließen. Oder hatten sie Angst? Vor ihr?
 

Coming from a neverseen place
 

Der Boden nahm eine rötliche Färbung an. Ein kleines Kind begann zu schreien. Die Pfleger waren nunmehr nur noch einige Schritte von ihr entfernt. Sie wollte aber noch nicht aufhören. Sie hatte noch nicht alles gesagt. Noch nicht alles erzählt.
 

I have to leave this empty hall
 

Nun packten zwei weiß gekleidete Personen sie sanft aber bestimmt an den Armen. „Ganz ruhig, Kleines“. Sie konnten sie noch nicht wegbringen! Sie war noch nicht fertig! Aber sie wehrte sich nicht. Wie ein angefahrenes Reh ließ sie sich von der Bühne bringen. Sie stoppte ihren Gesang, doch ihr kam es vor, als hallte das Lied immer noch durch die Luft. Die Zuschauer bildeten eine Gasse und wichen geschockt zurück, als die beiden Pfleger mit Jazmin im Schlepptau an ihnen vorbei gingen.
 

I have to follow my inner call
 

Draußen auf dem Flur legten sie ein wesentlich schnelleres Tempo an den Tag. „Was ist bloß in dich gefahren, Mäuschen?“ Susan. Sie kam aufgewühlt hinterher gerannt. Jazmin wurde auf eine Liege gelegt und sofort auf die Notfallstation gebracht. „Was hast du dir nur angetan?“. Ihre Stimme klang trotz der zittrigen Stimme ruhig und sanft. Ja, sie hielten sie jetzt eindeutig für ein unzurechnungsfähiges Kleinkind. Sie hatte es geschafft. Mentaler Schulterklopfer.
 

The walls close in it´s cold inside
 

Susan schien ihr übers Gesicht streichen zu wollen, aber sie tat es nicht. Warum wohl? Man brachte sie in den OP. Dann schloss Jazmin die Augen. Nur noch wie ein Flüstern hörte sie die verzweifelte Stimme Susans: „Wie konnte das nur passieren?“ Immer wieder diese Vorwürfe. Dabei war es doch gar nicht ihre Schuld.

Alles was jetzt geschehen würde, war vorhersehbar, der Preis, den sie für ihren kleinen Auftritt zahlen müsste. Aber das war es wert. Auf. Jeden. Fall.
 

No doors, no windows no single light.*
 

* “Caught By The Moon“- Alice in Wonderland



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