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Schattenräuber

Philipp & Tim
von

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Tag 4

Am nächsten Tag weckte uns kein Wecker – wir hatten beschlossen, dass wir uns erst Abends auf den Weg machen würden. Als ich auwachte, war es bereits 11 Uhr morgens. Tim war schon wach und saß auf seiner Matraze neben meinem Bett. Ein Tablett, beladen mit Nutellabroten, stand neben ihm. Er grinste mich auf eine wunderbare Art und Weise an. „Ich will doch hoffen, dass du Hunger hast!“, meinte er scherzhaft.

„Einen Bärenhunger“, antwortete ich flüsternd und mit einem Nicken. Ich war von der Überraschung immer noch ein wenig überwältigt. Er lächelte.

„Das freut mich.“

„Es ist ... nett von dir, dass du mir Frühstück machst“, bemerkte ich. Fast hätte ich statt „nett“ „süß“ gesagt, ein Wort, das meine Mum früher, als mein Dad noch dagewesen war, oft benutzt hatte.

Ich nahm mir ein Brot vom Tablett. Tiefe Zuneigung zu dem, der mich da grinsend ansah, stieg in mir auf, während ich auf der Brotscheibe kaute. Mein Freund setzte sich zu mir auf die Bettkante und sah mir weiterhin lächelnd beim Essen zu. Dieser Umstand ließ mich stutzen. Ich schluckte hastig meinen Bissen hinunter, dann fragte ich: „Hast du keinen Hunger?“

Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich habe gegessen, während du geschlafen hast. Jetzt reicht es mir voll und ganz dir zuzusehen.“

Er machte mich ein wenig nervös, wie er da saß und mir zusah. Ich schob ihn ein Brot hin. „Iss! Du machst mich ganz nervös ...“

Er lachte. „Weil du es bist“, sagte er mit einem Zwinkern und nahm sich das Brot. So verlief der Morgen sehr ruhig und entspannt. Wir redeten über unsere Vergangenheit, unsere Jahre in Deutschland, bevor wir nach Barcelona ausgewandert waren. Wir lachten und witzelten. Ich hatte mich selten so entspannt und fröhlich gefühlt.

Plötzlich hörten wir ein Piepen von unten, das ich nicht einordnen konnte. Ich fuhr erschrocken zusammen. Tim fing schallend an zu lachen.

„Warte hier!“, wies er mich an und verschwand aus meinem Zimmer. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe verklingen und wartete gespannt auf seine Rückkehr.

Ich hörte ihn unten rumoren, ein Klirren und dann das Geräusch von Wasser, das in einen Behälter gegossen wird. Als diese Geräusche verklungen waren, dauerte es nicht mehr lange bis ich seine leisen, bedächtigen Schritte erst im Flut, dann auf der Treppe hörte. Schließlich erschien sein breit grinsendes Gesicht im Türrahmen. Seine Hände hielten zwei dampfende Teetassen umpfangen.

„Du verwöhnst mich“, murmelte ich verlegen, wenn auch mit einem gewissen zärtlichen Unterton. Ein Prickeln durchströmte meinen Körper.

„Ich will meinen Fehler wieder gut machen“, meinte er seinerseits verlegen.

Er stellte die Tassen neben meinem Bett auf den Boden, legte sich neben mich und umarmte mich. Alles in mir versteifte sich. Wieder spürte ich das Prickeln, welches sich in meiner Magengegend zu verdichten schien. Bedächtig erwiderte ich die Umarmung.

„Ich will dich nicht als Freund verlieren ... Nicht wegen eines so dummen Fehlers“, flüsterte er in mein Ohr.

„So schlimm war es nicht“, versuchte ich ihn zu beruhigen. So war es auch, ich hatte ihm schon längst verziehen. Ein anderer Gedanke drängte sich mir auf. Was ist, wenn er das nicht macht, weil er sich entschuldigen will, sonder ... Nein! Dieser Gedanke war absurd. Er wollte mich doch nicht berühren. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich verdrängte diesen Gedanken.

„Gut“, meinte er erleichtert und löste sich von mir. Ich lies ihn, wenn auch mit leichten Widerwillen, los. Er lies sich wieder auf der Bettkante nieder und trank seinen Tee. Ich setzte mich auf und tat es ihm nach.

Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach. Die Frage danach, was wir heute tun sollten, hing unausgesprochen im Raum. Er setzte schwungvoll seine Tasse an die Lippen, trank den letzten Schluck und sah mich dann an.

„Lass uns fernsehn gehen.“

Ich schaute in meine Tasse, drank den Rest Tee darin und nickte.

„OK. Lass uns runtergehen.“

Auf dem Weg nach unten dachte ich an die Umstände, unter und wegen denen wir nach Barcelona, ins sonnige Spanien, gezogen waren.

Zuerst war mein Dad gestorben. Sie hatte es nie wirklich verkratet. In der Zeit danach hat sie viel mit Tims Mutter gesprochen. Sie waren besten Freundinnen. Circa einen Monat später hat sich Tims „Alte“ sich von ihrem Mann getrennt. Sie beide – meine Mum und seine – haben dann die Idee entwickelt, hierhin zu ziehen, um ein neues Leben anzufangen. Hier gingen Tim und ich nun auf eine Schule für Deutsche im Zentrum der Stadt. Dort wurde uns neben Deutsch und Englisch auch Spanisch beigebracht, welches ich fließend beherrschte. Er hatte da mehr Schwierigkeiten, er war lernfaul. Bei diesen Gedankengang musste ich grinsen, was er nicht sah, da er vor mir herging.
 

Wir saßen nebeneinander auf der Couch und ich zappte ein wenig gelangweilt durch die endlosen spanischen Programme, auf der Suche nach den deutschen. Eine Reihe von Bildern und spanischen Wörtern zeigte sich mir, doch ich machte mir nicht die Mühe zu übersetzen. Gerade waren wir an einem Nachrichtensender angelangt und ich wollte schon weiterschalten, da hielt mich Tim zurück.

„Warte!“, meinte er und legte seine Hand auf meine, um mich am weiterschalten zu hindern. Meine Haut prickelte da, wo er mich berührte.

„Was ist?“, fragte ich und konzentrierte mich auf den Bildschirm. Tatsächlich, hinter dem Moderator war ein Bilde der Blume erschienen. Ein Bild ebenjener Blume, die von den Mysteriösen kündete. Ich erschauerte unbewusst. Dann konzentrierte ich mich auf die spanischen Worte, die mir entgegenströmten.

„Die Biologen stehen vor einem Rätsel“, übersetzte ich langsam in ein einfaches Deutsch, damit auch Tim alles verstand.

„Noch nie ist ihnen so etwas untergekommen (...) Das Erdreich ist in einem ... Maß von einem Meter um die Blume rissig und trocken (...) Keiner kann sich dieses Phänonem erklären. Ein Forscher aus Barcelona berichtet: ...“

Weiter konnte ich nicht übersetzen, der Forscher redete zu schnell und zu unverständlich. Ich und mein Freund sahen uns an.

„Langsam werden sie wach“, meinte er.

Ich nickte. „Aber sie haben mit keinem Wort die Schatten erwähnt ...“, erwähnte ich nachdenklich. Jetzt war es am ihm zu nicken. „Stimmt ... Aber vielleicht sind sie zu kurzsichtig, um es zu bemerken. Vielleicht halten sie es für eine normale Naturerscheinung.“

„Ja, vielleicht.“

Ich schaute wieder zum Fernseher, wo der Wissenschaftler gerade mit seiner Ausführung geendet hatte und der Nachrichtensprecher versprach, uns alle weiterhin auf dem Laufen zu halten. Ich bemerkte, das Tims Hand immernoch auf meiner lag. Als hätte er es gespürt, zog er sie weg und ich schaltete seufzend weiter, bis zu den deutschen Sendern, wo wir uns ein paar Sendungen auf RTL 2 ansahen, um auf andere Gedanken zu kommen.
 

Gegen 13 Uhr rief die Mum meines Freundes an. Wir wurden von dem schrillen Klingeln des Telefons aufgeschreckt.

„Ich geh schon!“, sagte ich und sprang auf. Insgeheim wünschte ich, dass es das Krankenhaus war, das mir berichtete, wie es meiner Mutter ging.

Als ich abnahm, war ich fast schon enttäuscht, die Stimme von Ms. Paulin zu vernehmen.

„Hallo Philipp, mein Lieber, ich habe gerade von der schrecklichen Sache erfahren, die deiner Mutter passiert ist! Ich hoffe, dir und meinem Sohn geht es gut! Habt ihr nicht Lust heute mit mir ins Krankenhaus zu fahren, um deiner Mutter einen Besuch abzustatten? Sie würde sich bestimmt freuen!“

Ich übermittelte die Frage zu Tim und er quitierte sie mit einem Achselzucken und einem Nicken. Es sollte wohl so viel heißen wie: Von mir aus schon, kommt drauf an ob du willst.

Ich seuftzte unhörbar und antwortete der Fragenstellerin mit einem „Ja, das wäre toll, wenn du uns fahren würdest!“

Sie bestürmte mich noch ein wenig mit einem Speerfeuer aus Mitleidsbekundungen und Versicherungen, dass alles wieder gut werden würde, dann entließ sie mich mit einem fröhlichen „Bis später!“ und legte auf. Ich stand noch ein paar Sekunden mit dem Telefonhörer in der Hand da, dann legte ich meinerseits auf. Ich spürte Tims teils neugierigen, teils fragenden Blick auf mir.

„Du scheinst ja nicht sehr begeistert zu sein, deine Alte sehen zu können“, bemerkte er mit schiefgelegten Kopf.

„Najaa“, erwiederte ich gedehnt, „ich weiß es selbst nicht so genau, wenn ich ehrlich sein soll. Einerseits will ich sie ja sehen aber andererseits ...“ Ich schüttelte ratlos den Kopf. Er nickte nachdenklich vor sich hin. „Mhm ...“

Kurz darauf saßen wir wieder vor dem Fernseher. Ich konnte mich kaum auf die Worte konzentrieren, die mir entgegenströmten. Irgendwie war ich verflickst angespannt.
 

Mitten in der neuesten Folge von „King of the Queens“ – es war ungefähr 13:30- läutete es an der Haustür.

Wir standen gleichzeitig auf und gingen, um die Tür für Tims Mutter zu öffnen, nachdem ich den Fernseher ausgeschlatet hatte. Wieder machte sich eine lähmende Lustlosigkeit in mir breit. Ich fragte mich, woran das wohl lag.

Gerade, als ich die Haustür aufriss und mir eine strahlende Chlarie Paulin gegenüberstand, wurde mir peinlich bewusst, dass ich immer noch in meinem Schlafsachen – sprich ausgeleiertes T-Shirt und Boxershorts – rumlief. Chlarie schien das erst gar nicht zu bemerken und drückte erst mich, dann ihren Sohn zur Begrüßung. Unvermittelt fing sie an zu Lachen.

„Und ich dachte, ihr wärt schon aufbruchsbereit“, sagte sie fröhlich. Ihre Fröhlichkeit übertrug sich auf mich und wider Willen musste ich grinsen. Auch Tim grinste. Ich hatte den Verdacht, dass er unendlich erleichtert war, dass ich nicht mehr so ein verdriesliches Gesicht machte. All die Lustlosigkeit, die mich zuvor noch befallen hatte und sich wie ein schweres Tuch über mir ausgebreitet hatte, war verschwunden.

Immer noch lachend und mit einem „Einen Moment, wir sind gleich wieder da!“ verschwanden wir uns gegenseitig mit dem Ellebogen in die Seite stechend nach oben. Wir führten uns auch, als wären wir zwölf. Merkwürdigerweise machte mir das mit einem Mal gar nichts aus. Es war mir nicht im geringsten peinlich. Chlarie schien eine Sonne, einen Lichtstrahl mitgebracht zu haben.

Oben zogen wir uns in windeseile um, ich wie immer sehr normal und unaufällig gekleidet, Tim dagegen hätte mit seinem verwaschenem Metal-Band-T-Shirt (der Schriftzug verkündete stolz von der Gruppe Slipknot) und seiner, teils zerissenen, schwarzen kurzen Hose kaum aufälliger sein können. Seine grünen Haare, die heute nicht wie sonst gestylt waren,

machten diesen Umstand auch nicht besser.

Wir rannten wieder runter und jeder versuchte, der Erste zu sein, wodurch wir nicht nur einmal fast gestürzt wären. Die Frau, die unten geduldig auf uns gewartet hatte, lachte bei diesem Anblick glockenhell.
 

Wenig später saßen wir im Auto. Die CD einer von Tims Lieblingsbands lief und ich hatte den schleichenden Verdacht, dass es ebenjene Gruppe war, deren T-Shirt er anhatte.

Ich lehnte mich zurück und genoß das ausgelassene Geschwätz meiner Mitfahrer, während ich nur zuhörte und hier und da etwas einwarf, wenn mein Typ gefragt war. Wenn man nach der Stimmung gegangen wäre hätten wir genausogut auf dem Weg zu einem Strandausflug sein können. Noch nichtmal die Musik störte mich, die in einem so krassen Gegensatz zu meinen momentanen Gefühlen stand. Vielleicht war sie gerade desshalb so interessant.
 

Es kam mir vor als wären wir gerade erst losgefahren, da waren wir auch schon da. Groß erhob sich das „Hospital Mare De Deu Del Mar“ vor uns, als wir etwas unschlüssig vor der Tür standen. Entschlossen trat Chlarie schliesslich durch die Tür und wir tapsten ihr hinterher, bis zum Informationsschalter, wo wir uns erkundigen wollten, wo meine Mutter lag.

Nach einem kleinen Worgeplänkel in perfeckten Spanisch mit der Frau hinter dem Schalter drehte sich Ms. Paulin mit einem triumphierenden Grinsen zu uns um.

„1. Stock, Notfallaufnahmen, dritte Tür von links!“, verkündete sie mit einer gewissen Portion Stolz in der Stimme. „Erst wollte sie es mir nicht verraten, dann jedoch konnte ich sie überzeugen mit deiner Mutter befreundet zu sein“, erklärte sie kurz.

„Am Ende hat die Macht gesiegt!“, verkündete Tim theatralisch, worauf ich schallend anfing zu lachen. Erst kriegte ich mich gar nicht mehr ein und der warnende Blick der Frau, mit der sich Chlarie eben noch so nett unterhalten hatte machte es auch nicht grad besser. Schliesslich gelang es mir jedoch mich wieder zu fassen. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und fragte: „Worauf warten wir? Los geht’s!“

Ich quitierte zwei belustigte Blicke und wir begaben uns zu den Treppen. Aufzug fahren wäre viel zu einfach gewesen.
 

Wir standen unschlüssig vor der Tür. Ich fasste mir ein Herz und klopfte an. Niemand antwortete.

„Vielleicht schläft sie“, mutmaßte Tim.

Ich nickte unschlüssig.

„Lass uns einfach reingehen!“, meinte seine Mutter.

Ich nickte wieder und drückte den Türgriff runter. Nach ein paar Schritten stand ich am Bett meiner Mutter. Das Nachbarbett war leer, doch dies nahm ich gar nicht so wirklich war. Ich war wie gebannt von den Schläuchen und Vorrichtungen, die an sie angebracht waren. Ein Kasten zählte ihre Herzschläge. Alles schien in Ordnung zu sein. Ich besah mir ihr Gesicht. Ein Schlauch verlief unter ihrer Nase, ihre Augen waren geschlossen. Sie schien zu schlafen. Ihr Brust hob und senkte sich beruhigend bei jeden Atemzug. Die ausgelassene Stimmung, die eben noch geherrscht hatte, war verflogen.

Still standen wir um das Krankenbett herum, Tim links neben mir, seine Mum neben ihm. Ich spürte seine Hand, die meine suchte, und streckte meine ihm hin. Er griff sie und hielt sie fest unschlossen. Etwas tröstendes ging von dieser Geste aus.
 

Ich wusste nicht, wie lang wir schon so da standen und nichts sagten und nichts taten, außer meiner Mutter beim schlafen zuzusehen und hin und wieder einen Blick auf den Kasten zu werfen, wo ihre Herzschläge kontroliert wurden. Plötzlich wurde sie munterer. Das Herzfing an schneller zu schlagen. Eine leichte Hysterie stieg in mir auf, wurde jedoch von Chlaries Worten im Keim erstickt. „Sie wacht auf.“

Tatsächlich. Ihre Augen öffneten sich langsam und ihr Herz machte einen – wie es schien begeisterten – Satz, als sie uns erblickte.

„Philipp!“, meinte sie mit schwacher Stimme. „Tim, Chlarie.“ Sie lächelte uns an.

„Hallo Sahra“, erwiederte Chlarie ihrerseits lächelnd. Ich war zu baff um etwas zu sagen und Tim hielt ebenfalls den Mund.

Sahra lächelte und hob eine Hand, an der ein durchsichtiger Schlauch hing, der ihr unaufhörlich irgendein Medikament injizierte, und fuhr mir mit den Fingerspitzen über die Wange. Meine Haut kribbelte da, wo sie mich berührte. Wehmut stieg in mir auf, obwohl sie erst seit einem Tag in Krankenhaus lag. Außerdem hatte sich ihre Berührung so kraftlos und wehrlos angefühlt. Ich blintzelte ein paar mal zu oft und konnte es so verhindern, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Tim spürte dies und drückte meine Hand. So gestärkt konnte ich einen Gefühlsausbruch zurückhalten. Zum Glück hatte niemand sonst etwas davon mitbekommen.

Meine Mutter lies die Hand wieder auf ihre weiße Bettdecke sinken, Chlarie setzte sich mit einem aufmunternten Lächeln auf die Bettkante am Fußende des Krankenbettes.

„Und jetzt erzähl mal, wie konnte das passieren?“, fragte sie.

Sahra lächelte, seuftzte theatralisch und erzählte: „Naja, da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich wollte mich grade fertigmachen um mit den Jungs an den Strand zu gehen“, bei diesen Worten warf sie uns, die wir immer noch da standen und Händchen hielten, einen Blick zu, „und grade als ich die Sandalen ausgezogen hab war ich wohl zu unvorsichtig und bin auf diesen verflicksten nassen Fliesen ausgerutscht. Naja, zu allem Unglück bin ich so unglücklich gefallen, dass ich mir den Kopf an der Kabinenwand aufgeschlagen hab. So kam es dann zu der Gehirnerschütterung“, schloss sie. Ihre Stimme klang schwach, aber vergnügt. Es schien ihr zu gefallen, dass wir da waren.

So ging der Mittag zu ende und wir wären wohl noch länger geblieben, wäre nicht eine Krankenschwester reingekommen und hätte uns rausgescheucht mit dem Vorwand, dass „Miss Hawk Ruhe braucht“.

Hawk. Mein Nachname. Eigentlich war ich stolz, den Nachnamen eines Namenhaften Skateboarders zu tragen, doch es kam oft zu fragen wie „Kannst du denn so gut Skaten wie er?“. Natürlich konnte ich das nicht. Niemand kann das. Aber ich konnte schon ganz gut Skaten, fand ich. Auch Tim, der sich sehr für die Geschichte des Skatens interessierte, fand meinen Nachnamen „voll cool“. Insgeheim war er wohl sogar etwas neidisch, vermutete ich.

Bei diesem Gedanken musste ich lächeln. Eine Stimme dicht neben mir, die mir nur allzu vertraut war, fragte: „Warum lächelst du?“

Mein Lächeln vertiefte sich, als ich Tim antwortete: „Nur so ohne Grund.“

Er zog belustigt eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts.
 

Es dauerte nicht mehr lange, da waren wir schon wieder zu hause. Wir verabschiedeten uns von Tims Mutter und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, umpfing mich direkt wieder dieses lustlose, mutlose Gefühl. Ich versuchte nach Kräften, mir nichts anmerken zu lassen, um nicht eventuell auf meinen Freund abzufärben. Und es gelang so halbwegs.

Wir standen in der Küche und machten uns Brote. Der Ausflug zu meiner Mum hatte uns hungrig werden lassen. Ich ertappte mich immer wieder dabei, wie mein Blick zu ihm rüberwanderte, als wäre er ein Magnet. Im Gegenzug konnte ich beobachten, dass es ihm im umgekehrten Falle nicht besser ging. Irgendetwas war komisch.

Ich verscheuchte die Gedanken und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo wir uns noch etwas

entspannen wollten, bevor wir uns heute Abend auf den Weg machen würden.

Wir stellten die Brote auf den Couchtisch und ich zappte ganz wie heute Vormittag etwas gelangweilt durch die spanischen Programme. Es war lästig, aber man gewöhnte sich daran, immer so weit durchschalten zu müssen, bis man auf deutsche Sendungen stieß.
 

Tim hatte sich auf die Couch gelegt und das T-Shirt ausgezogen, da es ihm zu warm war. Es war auch verflickst warm, da musste ich ihm zustimmen. Seine Füße lagen dicht neben meinen Beinen. Ein Verlangen stieg in mir auf, gegen das ich einfach nicht ankämpfen konnte. Ich wollte es auch gar nicht. Langsam und bedächtig legte ich mich hinter ihn und schlang einen Arm um seine nackte Brust. Er sagte nichts, setzte sich auf, zog mich so mit sich und nahm den unteren Saum meines T-Shirts in die Hände. Dann zog er es mir über den Kopf. Ein ein starkes Prickeln durchlief mich. Immer noch ohne etwas zu sagen ließ er mein Shirt neben dem Sofa auf den Boden fallen, legte sich wieder hin und zog mich wieder mit. So lagen wir nebeneinander, er mit dem Rücken zum Fernseher. Er schaute mich an. Ein Lächeln umspielte seinen Lippen. Niemand konnte so lächeln wie er.

„Süß ...“, rutschte es mir bei dem Anblick heraus. Im nächsten Moment wäre ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Doch er gab keine abfällige Bemerkung. Er sagte einfach gar nichts, sondern zog mich eng an sich. Wieder durchströmte mich dieses Gefühl, nur noch stärker. Ich musste mich darauf besinnen, zu atmen. Ich vergaß diesen Vorsatz als ich seine Lippen leicht, ganz leicht an meinem Hals spürte. Ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob diese Berührung überhaupt extra gewesen war. Doch es war extra gewesen. Er küsste meinen Hals. Zwei, drei, viermal. Ich schloss die Augen und rang zitternd um Atem. Ein leises Lachen ertönte dicht neben meinem Ohr. Ich schlug die Augen wieder auf.

Sein Gesicht erschien wieder vor meinem, er fuhr mir durchs Haar. Ich hatte bis dahin gar nicht gemerkt, wie eng umschlungen wir dalagen. Ich wollte ihn auch küssen, wollte wissen, wie es war. Doch ich war zu scheu. Er lächelte, als er mein Zögern sah. Sein Gesicht kam meinem näher, seine Lippen strichen sanft über meine. Ich tat einen weiteren Atemzug in der Erwartung eines Kusses. Gerade, als er ansetzte, erscholl ein Piepen. Das laute, durchdringende Piepen meines Handyweckers. Ich hatte ihn gestellt, damit wir nicht zu spät losfuhren. Immerhin waren es knapp 4 Kilometer, mit dem Auto eine lächerliche Strecke von 10 Minuten. Mit dem Board würden wir aber länger brauchen. Ich wollte es ignorieren, wollte, dass er mich küsste, wollte meinen ersten Kuss haben ... Doch ich wurde enttäuscht. Er ließ von mir ab und machte sich sanft, aber bestimmt los.
 

Während wir unsere T-Shirts anzogen ging mir das gerade passierte durch den Kopf. Es irritierte mich, weil er ein Junge war. Wieder ertappte ich mich dabei, wie mein Blick zu ihm wanderte. Er jedoch hatte seinen stur auf seine Schuhe gerichtet, die er gerade anzog. Tat ihm das, was er gerade eben getan hatte, leid? Wenn ja, warum? Weil ich ein Junge war?

Ärgerlich schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Dafür würde mir später noch genug Zeit bleiben. Jetzt mussten wir erstmal zur verlassenen Silbermiene.
 

Wir fuhren schnell und schweigsam durch die Gassen, jeder hing seinen Gedanken nach. Ich spürte den Drang, mit ihm zu reden. Mit ihm über das zu reden, was bei mir zu hause passiert war, doch ich empfing von ihm genug ich-will-nicht-reden Signale, um den Mund zu halten.
 

Schließlich erreichten wir unser Ziel. Die Schreie der Nachtvögel durchschnitten die Stille, gab ihr etwas mysteriöses. Ebendiese Schreie übertönten unsere Schritte, die unweigerlich auf dem unebenen Untergrund leise Geräusche machten.

Wir schlichen einzeln über das Gelände, damit nur einer bemerkt wurde, falls einer bemerkt werden würde, bis wir am Eingang eines – unseres – Stollens drei Gestallten ausmachten. Sie standen in vollkommener Dunkelheit, nur das Licht des Mondes beleuchtete sie. Alle drei hatten ihre Kapuzen runtergezogen. Die Frau fiel mit ihren erregt wirkenden rot-orangen Haaren direkt auf. Diese Haare schimmerten im Schwachen Mondlicht und umspielten den Kopf wie Feuer. Die Züge ihres Gesichts waren fein und weich, das Gesicht makelos, soweit ich das erkennen konnte.

Bei ihr standen zwei Männer. Der eine hatte harte, strenge, wild wirkende Gesichtszüge. Mit ihm wäre ich nicht gerne alleine in einem Raum gewesen. Ich vermutete, dass es der war, den ich am Vortag belauscht hatte, da die Stimme, die ich gehört hatte, so wunderbar zu seinem Gesicht passte.

Der zweite sah ganz anders aus. Sein Gesicht war schön geschnitten, es sah einladend aus. Ihn hätte man sich gut als besten Kumpel vorstellen können oder als jemanden, zu dem man kommen konnte, falls man Sorgen oder Probleme hatte. Sein Name musste Timor sein.

Das einzige, was bei allen drei gleich war, waren die Augen. Sie waren rot und glänzten matt im schwachen Licht.
 

Ich hatte mich immer in der Deckung von Bäumen oder Büschen gehalten, was sich halt anbot. Jetzt lag ich flach auf dem Boden hinter einem Schutthaufen, der teils von Pflanzenflechten überzogen war. Ich schloss die Augen, da ich so besser lauschen konnte und nicht so leicht endeckt werden würde. Die Worte, die nun ertönten, wurden schwach zu mir rübergeweht. Ich musste mir sehr anstrengen, um sie zu verstehen.

„Also versammeln wir uns dann morgen alle bei ihm?“, fragte eine mir unbekannte Stimme. Sie war weich und lud dazu ein, ihr zu lauschen. Es war Timor, der da sprach.

„Ja“, antwortete die Frau.

„Wird auch höchste Zeit“, brummte der Mann, den ich gestern verfolgt hatte. „Ich bin randvoll. Wenn ich noch mehr sammle, wird es zu stark. Selbst für mich.“

„Er wird sehr zufrieden sein, denke ich“, stellte Timor fest.

„Natürlich! Und wehe wenn nicht.“

„Was willst du dann machen, Nex, außer um dein Dasein flehen?“, höhnte die Frau. „Ich werde mich nicht gegen ihn stellen. Wasimmer du dann vorhast, du wirst es wohl allein machen müssen.“

„Es hat ja keiner von dir verlangt, das du dich gegen ihn stellst, Lupa“, er spuckte den Namen verächtlich aus. „Und es war mir von vorneherein klar, dass du das nicht tun würdest. Und was du nicht tust, tut unser lieber Timor ja auch nicht“, fügte er süffisant hinzu.

„Ich würde es auch dann nicht machen, wenn Lupa es machen würde! Das Riskio wäre mir viel zu groß“, fauchte Timor. Dann fuhr er mit ruhigerer Stimme vort: „Aber egal, hören wir auf zu streiten. Wir hatten das Thema jetzt schon so oft und immer war es ein Patt, in dem wir uns wiederfanden.“

In meinem Kopf drehte sich alles. Das gerade gehörte ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Was wird zu stark? Warum hatte Lupa das Wort „Dasein“ und nicht das Wort „Leben“ gewählt? Was ging da vor? Am liebsten wäre ich wieder zurückgefahren, doch die Neugier und die Sorge um Tim hielten mich hier. Für einen Moment streiften meine Gedanken ab. Tim ...

Ich öffnete die Augen und blickte suchend umher, dann sah ich ihn. Er war – wie ich zu meiner tiefesten Bestürtzung feststellte – auf einen Schutthaufen geklettert, um besser hören zu können. Er war den drei Gestallten viel näher als ich.

Wieder ertönten Worte, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Die Sorge um meinen besten Freund – oder war er jetzt mehr? – umtrieb mich zu sehr. Mit größter Kraftanstrengung schloss ich wieder die Augen und lauschte weiter.

„ ... bis morgen. Wir treffen uns in Santa Maria“, konnte Timor noch sagen, dann wurde er von einem gewalltigen Poltern und Scheppern unterbrochen, das mich zusammenzucken ließ.

Tim!, schoss es mir durch den Kopf. Keine Frage, er war es gewesen, der diesen Radau gemacht hatte. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zu ihm gelaufen, denn er lag da, halb vom Schutt jenes Haufens bedeckt, auf dem er bis eben noch gekniet hatte. Er musste sich so weit nach vorne gebeugt haben, um alles zu verstehen, dass er eine Schuttlawine ausgelöst hatte. Hatten die drei eben noch erstarrt dagestanden, hatten sie diesen Schock jetzt überwunden und kamen hastig auf Tim zu, der da lag und sich schwach bewegte. Er versuchte wohl aufzustehen. Unruhe machte sich in mir breit. Jede Faser meines Körpers schrie danach, aufzuspringen und ihm zu helfen, doch ich blieb versteckt liegen. Wir hatten es so ausgemacht und er hätte es mir den Rest meines Lebens vorgeworfen, wenn ich jetzt aufgesprungen wäre. Wie auch immer dieser Rest aussehen würde.

Sie hatten ihn erreicht und Nex beugte sich zu ihm runter, packte ihn ohne viel Federlesen unter den Achseln und zog ihn einfach unter dem Schutt hervor. Es sah aus, als hätte er übermenschliche Kräfte. Tim stöhnte gequält auf. Ich hörte diesen Stöhnen an, dass er Angst hatte.

Nex hielt ihn eisern fest und schien gar nicht zu bemerken, wie mein Freund sich sträubte, während er sich mit seinen Verbündeten leise flüsternd austauschte. Ich konnte nichts verstehen, bis Lupa schließlich fragte: „Wie heißt du?“ Sie fixierte Tim dabei mit ihren roten Augen und ihre Stimme klang beschwörend.

„Tim“, antwortete er. Seine Stimme war von meinem Stantpunkt her kaum mehr als ein Hauch.

„Bist du alleine hier?“, fragte die Frau.

„Ja“, kam die leise, aber entschlossene Antwort. Man hörte gar nicht, wie er log. Wahrscheinlich hatte er die Wahrheit wieder so verdreht, dass es aus dieser Perspektive gesehn tatächlich so war.

„Er lügt nicht“, stellte die Frau nüchtern fest. Die beiden Männer nickten ernst.

„Nehmen wir ihn mit?“, fragte Timor. Seine sonst so schöne Stimme klang mit einem Mal begierig.

Die anderen beiden zuckten mit den Achseln.

„Wenn du willst“, meinte Lupa.

„Ich wäre dafür, ihn hier liegen zu lassen!“, knurrte Nex.

„Ganz klar“, höhnte die Frau. „Nachdem er alles mitgehört hat, sollen wir ihn hier liegen lassen?!“

„Da muss ich Lupa zustimmen“, ließ sich Timor vernehmen. „Es wäre viel zu gefährlich.“

„Nach deiner parteiischen Meinung hat keiner gefragt“, erwiderte Nex drohend.

Timor zuckte die Achseln. „Auch wenn Lupa anderer Meinung gewesen wäre, hätte ich ihn mitgenommen.“

Nex brummte unzufrieden und meinte dann resigniert: „Von mir aus. Nehmen wir ihn halt mit.“

Er schaute sich kurz um. Ich hielt den Atmen an, als sein Blick mein Versteck streifte. Zum Glück schien er mich nicht zu bemerken.
 

Verzweiflung machte sich in mir breit, als sie sich abwandten und davongingen. Nex hatte Tim geschultert, sodass dieser wie ein Sack über seinen Schultern hing.

Immerhin ist Tim nicht tot, versuchte ich mich zu beruhigen. Er bedeutete mir einfach alles. Wenn er es jetzt doch nicht überlebte ...

Ich rette ihn, dachte ich entschlossen. Ja, ich würde ihn retten. Komme, was wolle.
 

Ich wusste später nicht mehr, wie lang ich dagelegen und nachgedacht hatte. Irgendwann war ich dann aufgestanden und nach hause gegangen. Einzig der Gedanke daran, ihn zu retten, hielt mich davon ab in Tränen auszubrechen. Nun war ich allein. Ganz allein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Skeru_Seven
2008-09-13T14:43:13+00:00 13.09.2008 16:43
Deine Geschichte ist echt toll.
Zwar sind einige kleine Rechtschreibfehler drin, aber dein Schreibstil lässt sich gut lesen, Tim und Philipp sind richtig sympatisch und die Idee mag ich auch sehr gern. :]

Freu mich schon total, wenn es weiter geht.

Viele Grüße, Kavi


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