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Das Blut des Königs

Gibt es überhaupt Helden in Zeiten des Krieges?
von

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Iain hatte Recht. Und Amaryll wusste es – genau das war ihr Problem.

Dass er sosehr darauf insistierte, sie in Sicherheit zu bringen, hatte einen guten Grund: es würde gefährlich werden, sehr gefährlich. Als sie ihre Entscheidung gefällt hatte, zu bleiben, so geschah dies in der Tat nur halbherzig, denn die Möglichkeit, dass sie sterben konnte, war nicht von der Hand zu weisen. Bis jetzt hatte sie immer noch damit gehadert und ein Argument dagegen waren und blieben ihre beiden Söhne. Sie mochten in Sicherheit sein, aber konnte sie es verantworten ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen um einer möglicherweise verlorenen Sache zu dienen?

Die andere Seite der Medaille trug denselben Namen: Verantwortung.

Die Verantwortung die sie gegenüber ihrer Familie hatte, hatte sie in gewisser Weise auch gegenüber Anarea. Sie war eine der besten Heilerinnen des Landes und dazu noch eines der mächtigeren Mitglieder des Magierrates.

Wenn sie ihre Fähigkeiten nicht zur Verfügung stellte, beging sie dann nicht Verrat?

Möglicherweise bildeten gerade ihre Kräfte das berühmte Zünglein an der Waage, ganz zu schweigen was eine Niederlage für sie bedeuten konnte.

Sie wollte gar nicht erst wissen, was geschah, sollte Anareana fallen. Damit wäre die tamurische Invasion zu einem siegreichen Ende gekommen, was zweifellos zu einer Annexion von Anarea führen würde. Unter der Herrschaft des Feindes zu leben stellte keine allzu rosige Aussicht dar, ganz besonders für jemanden wie Amaryll, wenn man bedachte, wie die Tamuraner Magie gegenüber eingestellt waren.

Vielleicht war dies ihr wahrer Kampf? Was auch immer es war, Iains Worte hatten sie erst recht zögern lassen und damit er sie nicht umstimmte, hatte sie ihn mit harten Worten vertrieben und ihre Gefühle für ihn verdrängt.

Was sie unter keinen Umständen wollte, war sein Schutz. Natürlich war er ihr Beschützer, aber er war eben auch der Vater ihrer Kinder. Wenn sie schon fallen sollte, so musste zumindest irgendjemand übrig bleiben. Kriegsbedingte Vollwaisen sollten ihre Söhne nicht werden.

Vernachlässigte sie damit ihre Mutterpflichten? War sie egoistisch? Wollte sie ihren Kindern damit lediglich Schlimmeres ersparen? Oder war das, was sie für das ‚Schlimmere’ hielt eine Projektion dessen, was es für sie selbst bedeuten konnte, ganz unabhängig von den Folgen für ihre Söhne? Sie wusste es nicht und genau das ließ sie verzweifeln.

Man hielt sie meist für stark und unnahbar, aber in jenem Moment war sie verletzlich und schwach. Und das Allerschlimmste war, dass es niemanden gab, der ihr bei ihrer Entscheidung helfen konnte.
 

Wut! Wut und Unverständnis waren die Emotionen die in Iains Kopf um die Vorherrschaft kämpften, als er Amarylls Kammer verlassen hatte. Unruhig wanderte er den steinernen Korridor hinunter in Richtung Ställe oder Garten. Es war ihm relativ egal, Hauptsache ins Freie. Es begegneten ihm wohl einige Menschen, vielleicht sogar einige von Amarylls Magierkollegen, aber er beachtete sie nicht: seine Gedanken kreisten nur um eine Person – die Frau, deren Schutz er geschworen hatte.

Wie konnte sie das tun, nach all den Jahren, nach all den gemeinsamen Abenteuern? Er fragte sich, was sie zu dieser komplett unverständlichen Entscheidung getrieben hatte und ob sie sich dessen bewusst war, was sie ihm damit antat. Er war für ihre Sicherheit zuständig – und das hatte seinen Grund.

Magiewirkende, die dabei waren einen Zauber auszuführen, waren verletzlich. Sie mussten sich für eine solche Aktion sosehr konzentrieren, dass es kaum Spielraum für anderes gab, sollte der Zauber gelingen. Damit sie im Kampf nicht gestört wurden, wurde ihnen ein Beschützer zur Seite gestellt, der sämtliche Angriffe abwehrte und sich für die Sicherheit des Magiewirkenden verbürgte. Normalerweise waren die Beschützer perfekt im Kampf und für die Schlacht ausgebildete Krieger, die aber wenig bis gar nichts über Magie wussten – dafür umso mehr über den Anwender. Beschützer und Magier wurden schon in frühen Jahren zusammengebracht – so um das vierzehnte Lebensjahr – damit sie lernten, sich blindlings aufeinander verlassen zu können, wenn es notwendig war. Natürlich war zu diesem Zeitpunkt die Ausbildung beider noch nicht abgeschlossen, aber sie lernten von nun an gemeinsam.

Iain erinnerte sich noch gut an sein Zusammentreffen mit Amaryll. Er zählte zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Sommer, sie erst dreizehn. Sie war ein schüchternes, hageres Mädchen gewesen, das am liebsten den Blick senkte und nicht angesprochen werden wollte. Ihre langen braunen Locken hatte sie schon damals zusammengebunden, konnte aber nicht verhindern, dass sie ihr ins Gesicht fielen.

Als man ihn zu ihr brachte, war er nervös. Im Gegensatz zu seinen Kameraden hatte er sich gewünscht, einen männlichen Novizen zugeteilt zu bekommen, da er sich in der Gegenwart von Mädchen eher unwohl fühlte. Nun aber stand er genau einem solchen gegenüber.

Sein Lehrer, der die ganze Zeit neben ihm hergegangen war, löste sich aus der Formation, ging auf das junge Mädchen zu, das ebenfalls von einem Lehrmeister begleitet wurde. Er ergriff ihre Hand und legte sie in Iains.

„Das ist Amaryll Gunnarsdottir. Du wirst in Zukunft für ihre Sicherheit verantwortlich sein.“

Iain schluckte und zwang sich dann zu einem Lächeln.

„Es freut mich, dich kennenzulernen. Man nennt mich Iain Thoransson.“

Zum ersten Mal blickte sie ihm direkt in die Augen. Er unterdrückte ein überraschtes Aufkeuchen. Ihre Augen wirkten so unergründlich und weise für ihr Alter.

„Du bist auch ein Nordländer?“

„Ich… ja das bin ich wohl… Aber du, du siehst gar nicht aus…“

Nun lächelte sie.

„Meine Mutter kommt aus den südlichen Provinzen, aber ich fühle mich dennoch eher dem Norden zugehörig.“

„Ich verstehe…“

Nach den anfänglichen Schwierigkeiten lernte Iain eines sehr schnell. Amaryll stellte sich als zuverlässige Gefährtin heraus. Sie war ruhig und besonnen und tat niemals etwas, von dem sie glaubte, es könnte übermäßig gefährlich werden.

Sie nahm ihre Studien sehr ernst und es stellte sich bald heraus, dass sie über großes Talent verfügte. Natürlich gab es Rückschläge, aber ihre Disziplin ermöglichte ihr, das Gelernte schnell und sicher anzuwenden.

In all dieser Zeit wurde aus dem hageren Kind eine junge Frau, auch wenn Iain zu den letzten gehörte, denen dies auffiel. Für ihn war sie zu einer Freundin geworden, zu einer Weggefährtin, für deren Schutz er zu sorgen hatte. Was sie vereinte war eine rituelle Verbindung, die es ihm ermöglichte zu spüren, ob sie in Gefahr war oder nicht und umgekehrt. Diese Verbindung riss normalerweise beim Tod eines der beiden Partner, gewährleistete es aber auch, genau zu wissen, wann sie ihn brauchte und er sie.

Bis sie einander auch als Liebespartner erkannten, vergingen noch einige Jahre und wie es dazu kam, wusste Iain selbst nicht mehr. Es hatte sich einfach aus der ganzen Situation ergeben und war keine Seltenheit.

Dass ihre Verbindung auch einen anderen Vorteil hatte, erkannte er, als sie sich das erste Mal leidenschaftlich liebten.

Nach Amarylls Abschluss an der Akademie waren sie einige Jahre im Land umhergezogen, um die Menschen und die Städte zu entdecken und vielleicht beim Lösen von Problemen zu helfen.

Erst als Amaryll ein Posten als Lehrmeisterin an ihrer alten Akademie in Ternheim angeboten wurde, wurden sie sesshaft. Im Laufe der Zeit übernahm sie sogar die Leitung und den damit verbundenen Posten im Magierrat, verlor aber nie ihr eigentliches Ziel aus den Augen: die Weitergabe das Wissens und dessen Anwendung. Sie war die gefragteste Heilerin der Stadt und kam dieser Aufgabe, so gut es ging, nach. Mitten in diese Zeit wurden ihre beiden Söhne Taran und Radic geboren.

Dann kam der sinnlose Krieg.

Zwar lebten sie nach wie vor im relativen Wohlstand und waren im Norden noch nicht allzu sehr davon betroffen, aber seine Auswirkungen erreichten sie nichtsdestotrotz.

Plötzlich wurde an der Akademie wieder der Schwerpunkt auf Angriffszauber gelegt und viele junge Männer schlossen sich der Armee an.

Er hörte Amaryll oft sagen, dass das Schlimmste noch bevorstand und natürlich wusste er, wie Recht sie hatte. Mit Kämpfen kannte er sich aus.

Als Gegenreaktion, begann sie sich mehr um die Familie zu kümmern und ihren Schülern umso eindringlicher die Kunst des Heilens zu vermitteln – bis die Einladung es Königs kam.

Er wusste nicht, warum sie ihre Entscheidung so getroffen hatte, aber es sah nicht nach der Amaryll aus, die er kannte und liebte. Was war nur mit ihr geschehen?

Ohne dass er es bemerkt hatte, hatte Iain den Garten des Palastes erreicht. Es handelte sich um ein inzwischen verwildertes Areal, das aus mehreren Rasenflächen umsäumt von ehemaligen Blumenbeeten und Bäumen bestand und in dem mehrere Sitzbänke aufgestellt waren. Da der Palast die Stadt überragte, traf dies für den Garten ebenso zu. Weit unter sich konnte man die verwinkelten Straßen erkennen, auf denen trotz allem geschäftiges Treiben herrschte. Sie liefen auf die Stadttore zu, hinter denen sich erst einmal eine Ebene verbarg, die am Horizont irgendwann durch eine dunstige Bergkette unterbrochen wurde. Natürlich gab es auch in dieser Ebene kleinere Siedlungen und Gehöfte, doch diese waren aufgrund des drohenden Angriffes evakuiert worden. Wo die Bauern sich jetzt aufhielten, entzog sich Iains Kenntnis. Ganz in der Ferne vermochte er Feuer auszumachen – der Ansturm auf die Stadt war bereits im Gange. Morgen oder Übermorgen würden sie die Stadt erreicht haben.

Ganz am Rande der Stadtmauer erblickte er auch das Hauptgebäude der Magiergilde, das er inzwischen sehr gut kannte. Dort waren er und Amaryll schon oft gewesen, im Palast noch nie. Auch dieses Gebäude war inzwischen geräumt worden. Alle wichtigen Gildenmitglieder waren inzwischen hier eingetroffen und die weniger wichtigen kümmerten sich um die Truppen.

Langsam ging Iain auf eine der Bänke zu und ließ sich darauf nieder, sodass er die Aussicht genießen konnte. Man merkte, dass es Winter wurde, denn alles war von einer leichten Reifschicht bedeckt. Iain hüllte sich in seinen Umhang. Die Sonne versank langsam hinter den Bergen und tauchte alles in ein rötliches Licht. Obwohl der Garten wie ausgestorben war, fühlte sich Iain nicht alleine. Er hatte seine Gedanken...

Lohnte es sich für all das kämpfen was er unter sich erkennen konnte? Amaryll sagte ja.

Iains Augen formten sich zu Schlitzen. Er liebte sie, aber war deswegen sein Urteil getrübt? In seinen Augen war die Schlacht bereits verloren und das hatte er ihr auch gesagt. Er hielt es daher für besser, zu den Kindern zurückzukehren und zu warten, bis sich der Sturm gelegt hatte.

Glücklicherweise musste er sich um deren Sicherheit keine Sorgen machen, sie waren in relativer Sicherheit in einer recht abgelegenen Festung untergebracht. Es war unwahrscheinlich, dass der Feind Ressourcen und Energie in deren Eroberung steckte, denn sie hatte keinen strategischen Wert und wirkte zudem verlassen.

Das muntere Treiben weit unter ihm in der Stadt flachte mit der Dämmerung immer mehr ab und langsam gingen die ersten Lichter an.

Konnte er Amaryll vorwerfen, dass sie so pflichtbewusst war? Ihre Fähigkeiten waren außergewöhnlich, aber würden sie ausschlaggebend sein? Die Vorstellung, dass ihr etwas passieren konnte zerfraß jegliche andere Form der Logik, aber andererseits befand man sich in einem Krieg, den man nicht begonnen hatte.

War es wirklich besser unter Fremdherrschaft zu leben? Oder sollte man nicht zumindest sein Möglichstes tun, das zu verhindern?

Er war immerhin Kämpfer, ausgebildet für die Verteidigung – aber er wusste auch, wann es besser war, aufzuhören. Momentan sah alles nach einer Niederlage aus, sicher sein konnte man sich jedoch niemals und sie hatten immerhin einen Vorteil auf ihrer Seite: sie waren die Verteidiger und was sie verteidigten war das letzte, was sie hatten...

Als er wieder in Amarylls Kammer zurückkehrte, war sie bereits eingeschlafen. Ihr Haar reflektierte Kerzenlicht und schimmerte gelblich. Leise setzte er sich auf das von Fellen bedeckte Bett und zog die hinabgerutschte Decke über ihre freien Schultern. Dann strich er ihr über den Kopf.

„Entschuldige meinen Ausbruch von vorhin,“ flüsterte er. „aber du bist das wertvollste, das ich habe...“

Sie drehte sich um und sah ihn mit verschlafenen Augen an.

„Iain?“

„Ja?“

Sie setzte sich auf und küsste ihn liebevoll.

„Das weiß ich doch...“

„Ich habe noch einmal nachgedacht. Vielleicht gibt es noch eine Chance, aber wenn, dann ist sie sehr gering. Wenn du bleiben willst, so werde ich dich nicht aufhalten, aber bitte nimm zur Kenntnis, dass mir nicht Wohl dabei ist.“

„Mir ist selbst nicht Wohl dabei, aber ich habe dir ja schon meine Gründe genannt. Dennoch möchte ich dich bitten, zu den Jungs zurückzukehren. Sie sollen nach Möglichkeit keine Vollwaisen werden.“

„Du hast deinen Tod schon eingeplant, nicht wahr?“

„Er ist eine Möglichkeit von vielen. Aber es vergeht kein Tag an dem wir ihm nicht ins Gesicht sehen... Auf der anderen Seite.. hatte ich vorhin ein seltsames Gefühl, als ich den Sohn des Königs erblickte...“

„Ein seltsames Gefühl?“

„In Ermangelung einer besseren Beschreibung, habe ich es Schicksalshauch genannt... Es war wie ein Kribbeln, wie als hätte ich all das schon einmal erlebt. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, ihn wiederzusehen. Wenn das wahr ist, werde ich vermutlich überleben...“

„Entschuldige, wenn ich sage, dass das sehr vage ist. Du könntest dich auch getäuscht haben und dann? Sich nur aufgrund eines solchen Gefühls in Sicherheit zu wiegen, halte ich für brandgefährlich.“

„Es ist vage. Die Magie macht manchmal solche Dinge aus ihren Anwendern. Die Kraft in die Zukunft zu sehen ist selten und ungenau, aber es passiert – Visionen hatte jeder Magier schon einmal. Manche schaffen es, sich darauf zu spezialisieren, andere nicht. Meine sind selten und kaum der Rede wert und natürlich zeigen sie nur eine Möglichkeit unter vielen. Aber es ist eine Möglichkeit.“

„Ja, es ist eine Möglichkeit. Einer, der ich nicht besonders vertaue.“

Amarylls Gesichtsausdruck wurde ernst.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber ehrlich gesagt will ich jetzt nicht mehr davon sprechen. Wir haben nur noch wenig Zeit.“

„Ich habe Feuer gesehen, sie sind maximal noch eineinhalb Tagesreisen von hier entfernt.“

„Damit war zu rechnen... Bitte reite morgen gleich nach Anbruch der Dämmerung los.“

„Ich wünschte du würdest mitkommen...“

„Das wünschte ich mir auch... In einem anderen Leben vielleicht – oder in einer anderen Zeit.“

Iain setzte zur Erwiderung an, seufzte dann aber lediglich. Niemals war ihm seine Beschützerrolle schwerer gefallen.

Bevor er noch weiter in Trübsal versinken konnte, hatte Amaryll ihn zu sich aufs Bett gezogen und bald ließ sie ihn alle Finsternis vergessen – zumindest für eine Nacht.



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