Hana atmete zitternd durch den Mund. Ihre Lippen bebten. „Das ist Schwachsinn.“ Irgendwie tat es gut, das auszusprechen. Sie wollte das alles nicht glauben. „So etwas gibt es nicht – Menschen, die nur du sehen kannst.“
Joshua nickte. „Das sagen auch die Ärzte. Sie sagen, ich bilde mir meine Freunde nur ein. Dass es sie nur in meinem Kopf gibt.“
„Und was ist dann deine Meinung?“ Hana wollte sie eigentlich gar nicht wissen. Joshua war echt gestört.
„Ich denke, dass die Ärzte keine Ahnung haben.“, antwortete Joshua und sah Hana eindringlich an. „Ich bilde mir meine Freunde nicht ein. Ich bin nur der Einzige, der sie wahrnimmt. Nur weil du sie nicht sehen kannst, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht existieren. Es ist keine Krankheit. Es ist eine Gabe.“
Hanas Mund war wie ausgetrocknet. „Und was hat die Katze damit zu tun?“ Sie wollte das Thema irgendwie entschärfen, bevor sie selbst allzu genau darüber nachdachte. Die ganze Sache war ihr unheimlich und suspekt und sie hatte Angst davor, sich damit auseinander zu setzen.
„Dr. Nauser hat gesagt, die Krankheit ist das Ergebnis fehlender Bezugspersonen innerhalb und außerhalb der Familie, sowie mangelnder Kontaktbedürfnisse und fehlender klarer Sozialstruktur. Eine Katze wäre da ein Anfang.“ Es klang wie auswendig gelernt.
Wieder verstand Hana nicht wirklich was er meinte. Joshua musste ihr die Verwirrung angesehen haben, denn er erklärte sich noch einmal genauer: „Dr. Nauser meint, ich muss mehr Anhaltspunkte in der Realität finden. Wenn ich zum Beispiel Freunde an meiner Schule finde, verschwinden höchstwahrscheinlich die Freunde, die nur ich sehen kann. Ein Haustier wäre da ein günstiger erster realer Bezugspunkt für mich. Das hat jedenfalls Dr. Nauser gesagt, aber der hat keine Ahnung. Meine Freunde sind immer noch da. Und sie werden bleiben. Schnurri kann da nichts dran ändern.“ Er sah seine schlafende Katze mitleidig an, als könne sie ihr Lebensziel zu seinem Bedauern nie erfüllen.
Hanas Finger verkrampften sich in den Saum ihres alten Pullis. Sie konnte Joshua nach diesem Gespräch noch schwerer einschätzen als zuvor. Und dass der Junge offensichtlich doch nicht mit sich selbst redete, sondern mit Hirngespinsten sprach, machte die ganze Sache keineswegs besser.
Joshua wirkte unheimlich und surreal, unendlich anders als all die Menschen, deren Geschichten Hana gestohlen hatte, während sie Stunde um Stunde auf dem Alexanderplatz verbracht hatte. Joshua war viel ... düsterer. Entfremdeter.
„Und … wie viele solcher unsichtbaren Freunde hast du?“, wagte sich Hana zu fragen.
Joshua deutete auf seine Bettkante. Hanas Blick zuckte kurz zu der Reihe von Kleinkram, dann sah sie wieder Joshua an. „Was ist damit?“
„Das sind Erinnerungen.“, antwortete Joshua. „Mit jedem meiner Freunde teile ich mir eine Erinnerung. Das bindet uns zusammen. So können wir uns nicht verlieren.“
Hana zählte mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen die säuberlich geordneten Objekte durch. Sie spürte Joshuas Blick auf ihrem Gesicht, wie er jede ihrer Regungen aufmerksam beobachtete, wie er sich kein Zucken ihres Mundwinkels entgehen ließ.
„Achtzehn.“, stellte Hana mit trockener Stimme fest. Achtzehn Erinnerungen. Achtzehn Persönlichkeiten, die Joshuas Fantasie entsprungen waren.
„Neunzehn.“, verbesserte Joshua und deutete auf seine Kette.
Er trug sie ständig, aber Hana hatte sie nie wirklich beachtet. Es war ein einfaches Lederbändchen mit einem Herz aus Blech als Anhänger.
„Warum trägst du das um den Hals?“ Hanas Worte schmeckten wie Mehl.
„Es ist mir am wichtigsten. Diese Erinnerung teile ich mit meiner besten Freundin.“
Seltsamerweise versetzte das Hana einen Stich. „Wie heißt sie?“ Eine leise Stimme in ihr meldete sich, die es bescheuert fand, sich mit Joshua über seine unsichtbaren Freunde zu unterhalten, aber Hana drückte sie beiseite.
„Das weiß niemand. Vielleicht verrät sie mir irgendwann ihren Namen.“ Er lächelte mit leicht schief gelegtem Kopf.
So ein Schwachsinn. „Und wie sieht sie aus?“ Ihre Worte gewannen Schärfe.
Joshua schien einen Moment lang zu überlegen. „Ich finde sie sehr hübsch. Sie ist sehr schlank. Und blond.“
Hana schnaubte verächtlich. Bescheuertes Idealbild eines Jungen. Blond, schlank, große Brüste. Es war doch immer das Gleiche. Einen ganz kurzen Moment lang gestand sie sich ein, dass sie das verletzte. Sie hatte Joshua anders eingeschätzt. Aber was interessierte sie sich überhaupt für die dämlichen Hirngespinste dieses Jungen? So etwas sollte ihr egal sein! Dumm, Hana. Dumm.
Der Fernseher quasselte noch immer nervig vor sich hin.
„Ich muss langsam gehen.“, sagte sie gereizt. Sie ärgerte sich über sich selbst.
„Wie du willst.“ Joshua belächelte ihre plötzliche Stimmungsschwankung nur. Und das regte sie noch mehr auf. Bescheuerter Psychopath.
Hana stand auf und wandte sich in Richtung Tür.
„Warte noch.“
„Was ist?“ Sie versuchte so normal wie möglich zu klingen. Sie blickte sich nicht nach ihm um.
„Du glaubst mir nicht.“ Seine Stimme war plötzlich völlig ernst und steinhart.
Hana hatte das nicht erwartet. Sie zögerte einen Moment. Glaubte sie ihm? Nein. Sie konnte ihm das nicht glauben. Sie wollte es auch gar nicht.
„Du denkst ich bilde mir das alles ein. Du denkst ich bin gestört. Du denkst wie Dr. Nauser, oder?“
Hana blickte zur Seite. Ihre Kehle fühlte sich rau an, sie zuckte nur mit den Schultern.
„Ich bin mir sicher du kannst sie auch sehen.“ Er machte eine Pause. „Du musst nur an sie glauben.“
Und wenn Hana sie gar nicht sehen wollte? Im Grunde fürchtete sie Joshuas Freunde.
„Willst du eine der Erinnerungen mitnehmen? Du kannst eine haben. Dann siehst du meine Freunde auch.“
Hana schluckte, atmete zitternd durch. Dann drehte sie sich kurz entschlossen zu Joshua um. „Gut.“, sagte sie mit bebenden Lippen. „Dann will ich das Herz.“ Sie zeigte auf seine Kette.
Hana hatte mit Widerspruch gerechnet, doch Joshua griff sich wortlos in den Nacken und öffnete den Verschluss. Dann reichte er Hana das Band mit dem blechernen Herzanhänger.
Hana bedankte sich nicht und anstatt sich die Kette anzulegen, stopfte sie das Schmuckstück lieblos in ihre rechte Hosentasche.
Joshua sah ihr dabei zu, doch sagte nichts.
„Kannst du mir jetzt die Tür aufschließen?“
„Klar.“, antworte Joshua.
Ohne sich umzusehen durchquerte Hana schnell den schmalen Flur, dicht gefolgt von Joshua. Erst jetzt fiel ihr auf, wie hässlich sie diesen schäbigen Kitsch eigentlich fand.
Joshua schloss ihr auf und begleitete sie noch das Treppenhaus herunter. Hana hätte fast gesagt, dass sie darauf keinen Wert legte, bis ihr auffiel, dass die Haustür ja auch noch aufgeschlossenen werden musste. Also hielt sie den Mund.
„Danke für deinen Besuch.“, sagte Joshua als Hana hinaus in den Regen trat.
Das Mädchen drehte sich noch einmal zu ihm um. Sie bedankte sich nicht für die Einladung. Dazu war sie zu trotzig. Stattdessen sah sie ihn an, seine dünnen Lippen und sein pechschwarzes Haar. Und sie stellte sich vor, wie neben ihm weitere neunzehn Personen standen, die sie allesamt begafften.
Ihre Nackenhärchen stellten sich bei dieser Vorstellung unwillkürlich auf.
Joshua lächelte ganz leicht, freudlos und herausfordernd. „Und? Hast du jetzt Angst vor mir?“
„Nein.“, log Hana und wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihm ab. Um sie prasselte der Regen auf den Bürgersteig. Sie biss die Zähne zusammen und vergrub frustriert beide Hände in den Hosentaschen. Die rechte zog sie allerdings sofort wieder heraus, als sie das kalte Metall des Blechherzens zwischen den Fingern spürte.