Heimweg
Es war einmal in einer sehr dunklen und stürmischen Nacht.
Da lief ein kleines Mädchen noch draußen auf der Straße.
Sie war auf dem Heimweg.
Plötzlich, hörte sie ein Geräusch hinter sich.
Sie drehte sich um.
Doch da war nichts zu sehen, außer der verlassenen Straße, die von den Laternen in orangenes Licht getaucht wurde und die Häuser, die so unbewohnt und einsam aussahen, mit ihren dunklen Fenstern.
Das Mädchen dachte bei sich, sie hätte sich das Geräusch nur eingebildet, weil sie müde und es so dunkel war.
Keine Menschenseele war um diese Uhrzeit noch unterwegs... außer ihr.
Sie lief weiter und dachte nur noch an ihr gemütliches Bett.
Doch da war dieses Geräusch wieder.
Es klang... wie schlurfende Schritte.
Wurde sie verfolgt?
Sie spürte, dass ihr abwechselnd heiß und kalt wurde und ihr Herz begann zu rasen.
Wieder versuchte sie sich selbst davon zu überzeugen, dass ihr ihre Fantasie einen Streich spielte.
Doch dann hörte sie die Schritte direkt hinter ihr.
Mit einem leisen Schreckensschrei drehte sie sich um und sah eine dunkle, große Gestalt auf sich zu wanken.
Hohl ächzte und stöhnte sie dabei.
Das Mädchen war erstarrt.
Sie wollte schreien, wollte weglaufen, wollte sich verstecken!
Doch sie konnte es nicht.
Immer näher und näher kam die Gestalt.
Jetzt roch das verängstigte Mädchen einen schalen Geruch.
Er ging von der Gestalt aus.
Dem Mädchen stockte der Atem und ihr wurde schlecht von dem Gestank.
Nun war die stinkende, stöhnende, schwankende Gestalt genau vor ihr.
Sie streckte beide Arme nach ihr aus und... ging direkt durch sie hindurch!
Das Mädchen fuhr zusammen und wirbelte auf den Fersen herum, um die Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren.
Da lehnte sie.
An einem Laternenpfahl und sank langsam zu Boden.
Die Gestalt fing an zu lallen.
“Sssssso ein beschissssener Tag...“
Ein Betrunkener.
Nur ein Betrunkener!
Erleichtert atmete das Mädchen auf.
Doch dann stutzte sie und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken.
Das konnte kein normaler Betrunkener sein!
Schließlich war er direkt DURCH die HINDURCH gegangen!
Bei diesem Gedanken fuhr sie zusammen und trat instinktiv einen Schritt zurück.
Der geisterhafte Betrunkene schien sie aber nicht zu bemerken.
Schleunigst machte das Mädchen einen großen Bogen um die zusammengesackte, lallende Gestalt und lief so schnell es konnte nach Hause.
Als es endlich vor der Haustüre stand, war es sehr erleichtert.
Sie griff nach dem Hausschlüssel, der immer in einer verstecken Nische neben dem Briefkasten hing, um die Tür aufzuschließen.
Doch der Haken war leer.
Der Schlüssel war nicht da!
Panisch wollte das Mädchen mit den Fäusten an die Tür klopfen, damit ihr jemand öffnete... doch ihre Hände gingen DURCH das Holz HINDURCH!
Schockiert sprang das Mädchen rückwärts.
Dann, ganz langsam als wäre sie in Trance, ging sie auf die Tür zu und durch sie hindurch.
Drinnen, im Flur, war ein schwacher Lichtschein zu sehen.
Er kam aus dem Wohnzimmer.
Immer noch wie in Zeitlupe ging sie auf den Lichtschimmer zu und erneut durch die Tür.
Das Zimmer war von oben bis unten mit schwarzem Samt ausgekleidet. Die Fenster waren mit schwarzen Tüchern verhangen.
Und mitten im Raum, auf einem ebenfalls schwarzen Sockel ruhte ein weißer Sarg.
Davor kniete eine junge Frau und weinte bitterlich.
Der Sarg war offen und so trat das Mädchen schweigend an ihn heran und blickte hinein.
Dort lag ihre Leiche.
Es schien, als würde sie bloß schlafen.
Nur die unnatürliche Blässe ihrer Haut verriet, dass sie tot war.
Jetzt erinnerte sie sich wieder.
Sie war gestorben.
Nicht der Betrunkene war ein Geist gewesen sondern sie, sie selbst, war nicht weiter als eine Spur der Seele, die noch auf der Erde weilte.
Er war nicht durch sie, sondern sie durch ihn hindurch gegangen.
Sie schloss die Augen und versuchte sich an ihren Tod zu erinnern.
Sie war auf dem Heimweg gewesen, genauso wie eben noch.
Dann hatte plötzlich ihre linke Brusthälfte furchtbar geschmerzt.
Ihr ist schwarz vor Augen geworden, sie hatte nicht mehr klar denken können und es wurde kalt.
So kalt.
Und dann hatte ihr krankes Herz aufgehört zu schlagen.
Sie war niemals lebend wieder zu Hause angekommen.