Wut
„Hya!“ Es hatte doch eigentlich alles keinen Sinn. Egal, wie oft sie auch auf den alten Baumstumpf einhacken würde, egal, wie sehr sie auch ihre Klinge wie ein Beil benutzten würde, er würde ihr keine Antworten geben. Keine Antworten auf so viele tausende Fragen.
Lange Zeit, schon sehr lange Zeit lag nun zwischen ihr und ihrem damaligen Training. Wieso überhaupt hatte sie angefangen, und warum nur wieder damit aufgehört? Alles war verschleiert. Ihre Gedanken glichen der Quelle früh morgens. Dann, wenn geheimnisvolle Nebelschwaden die Bäume umspielen, wenn sich kleine Wassertröpfchen als Tau an Blätter binden und ihr Gebiet markieren. Es wirkte schön, doch es war gefährlich. Man wusste nie, was einem auflauern würde.
Mit leidvollem Blick betrachtete sie ihre Klinge. Wieso nur? Was war sie nur für Abschaum? Ihre Augen spiegelten sich in dem wundersamen Schwert, das nicht die kleinsten Spuren ihres groben Verhaltens nachzuweisen schien.
„Was ist? Deine Augen sind von Hass gezeichnet.“
Gelassen schwang sie ihren treuen Begleiter nach unten.
„Hass? Nun, du scheinst dich zu irren. Jedoch, sag mir eines, wo beginnt Hass, wo hört Verzweiflung auf? Ist die Unsicherheit an sich selbst schon Nährboden für dieses Gefühl, das ein Engel meines Standes nicht haben darf?“
Noch immer wollte sie ihrem Besuch nicht die Ehre erweisen, ihr Antlitz zu betrachten. Sie konnte es einfach nicht leiden, wenn ihr damaliges Vorbild sie in einem solchen Zustand betrachten musste.
Gefühle waren von Gott geben, und doch… waren sie Schwäche?
Sie war sich durchaus bewusst, dass man sehen konnte, wie sehr der Zweifel sie von Innen zerfraß. Und sie konnte es nicht ausstehen.
Sie solle ihr Schwert schärfen? Ihre Sinne? Dass sie nicht lachte! Verzweiflung war das Einzige, das sich in ihr weiterentwickelte.
Ja, sehr wohl! Und diese trübten ihren Blick, ihren Verstand.
Sie wollte Hilfe, und doch stand es ihr nicht zu, etwas zu verlangen. Sie wurde geschaffen, um zu geben, nicht, um zu nehmen.
Geschaffen… von Gott. Dem Allmächtigen. In seiner Güte…
gegenüber allen Wesen? Wo ist Gott und… was ist er?
Das Gras wich unter den Schritten ihres Gastes, der sich ihr nun unaufhaltsam näherte. War ihr jemals bewusst geworden, wie viele Töne sich in diesem Moment in ihrem Kopf abspielten? Wie viele einzelne Geräusche ein Büschel Gras verursachten? Jeder Halm in einer anderen Art, sie ergaben ein Konzert an Eindrücken.
So wie ihr Schicksal ein Orchester des Unwissens war.
Die Berührung auf ihrer Schulter war wie ein kleines Erschüttern des Gebildes, das ihre Gedanken darstellte. Sie trat zurück aus dieser Welt, um die herum nichts geschah, und tauchte ein in die Wirklichkeit. Diese Erkenntnis brachte einen bitter-süßen Hauch des Schmerzes mit sich. Aus dem Tagtraum geflüchtet, stellte sie sich nun wieder den Tatsachen.
„Du scheinst mir verwirrt, meine Teuerste…“
Wie Recht er doch hatte. Sie hatte mittlerweile aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Der Kampf mit sich selbst ist eben doch der schwerste.
„Nun, Kain. Nicht ich bin es, der verwirrt ist. Diese Welt ist wirr. Und ich kann mich meinem stärksten Gegner nicht stellen. Mir selbst.“ Mit sanfter Hand schob sie die seine von ihrer Schulter und stellte sich in eine Position, die einem Krieger gebührte.
Kritisch beäugte Kain seine Langzeitgefährtin. Sie war aufgebracht.
Und von der eleganten Kriegerin der Vergangenheit war nun nicht mehr als eine Barbarin ohne jeden Sinn für den wahren Kampf zu sehen. Wenn sie mit solchen Mitteln gegen sich selbst antrat, war klar, welche Seite gewonnen hatte. Wieso hatte sie denn überhaupt wieder damit angefangen? Als klar wurde, dass es keinen Krieg mit den Dämonen geben würde, legte sie doch zum Zeichen der Gutheißung das Schwert nieder, und gelobte, nie wieder in Zeiten des Friedens Gebrauch davon zu machen. Sie war wohl wirklich von Sinnen.
Doch auch, wenn ihm die Art und Weise ihres Verhaltens eigentlich missfiel, so wollte er doch nicht, dass sie nun auch noch ihr Gesicht verlor. Kurzerhand betrat er Celests Haus und nahm eines der anderen Schwerter von der Wand. Sie alle hatten Spuren des Gebrauchs an sich haften. Nur das, mit dem Celest am meisten trainierte, hatte nie einen Kratzer abbekommen. Sie nannte es „Victory“.
Mit kleinen Schritten verlies er nun ihr Haus. Nachdem er sie noch ein paar Sekunden lang kritisch, teils auch kopfschüttelnd, beobachtet hatte, streckte er ihr das geliehene Schwert mit der Spitze kerzengerade entgegen. „Nun denn, darf ich bitten?“ Als sie sich nun endlich in seine Richtung wandte, bot sich ihm ein Anblick, den man sicher noch nie hatte betrachten können. Ihr Kleid zerfetzt, nahe an der Grenze des Unsittlichen. Ihr Blick auf Angriff gestellt. Ihr Körper verschwitzt. Eine winzige Sekunde ließ er unreine Gedanken durch seinen Kopf streifen. Wenn wirklich eine Frau Sünde wert war, dann mit Sicherheit sie. Der Traum seiner schlaflosen Nächte.
Vielleicht hätte er gewagt, seine Gedanken noch etwas mehr ausschweifen zu lassen, doch der Klang aufeinandertreffenden Stahls lies ihm keine Zeit dazu. Selbst wenn diese wilde, unzähmbare Art sie nicht minder interessant wirken lies. So entschlossen hatte er sie bei einem Kampf noch nie erlebt. Als wolle sie alle Kraft loswerden. Gut, sollte sie doch ihren Willen bekommen. Er breitete seine Flügel aus und brachte das Ganze auf eine neue Ebene. Und sein Handeln verfehlte das Ziel nicht. Celest tat ihm gleich und mit einem Mal war alles starre von
ihr gewichen. Sie hatte alle quälenden Gedanken von sich fallen gelassen und fühlte sich nun frei. Und der Tanz war eröffnet.
Ein Klingentanz. Voller Anmut, voller Grazie. Nicht ohne Gefahr, doch sah alles so leicht aus. Selbst die schwersten und härtesten Schläge wirkten wie ein zarter Kuss der Tanzenden. Sie schienen sich zu lieben und zu hassen. Mittlerweile waren auch viele der Einwohner Edens erwacht und wohnten dem Spektakel bei. Eine wirklich einmalige Show, die sich ihnen da bot. Das fand auch Camui…
Plötzlich fühlte sie sich fähig. Zu etwas zu gebrauchen. Eine Kraft, die sie fast vergessen hatte, floss durch ihren strapazierten Körper. Es zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ihre Schwingen wehten ebenso hoheitsvoll, wie ihre angerissenen Gewänder. Doch all dies war nicht von Belang. Sie ging auf in diesem Tanz der Umstände. Ohne Musik.
Nur ihr Herz gab den Takt an. Ein wirklich… himmlisches Gefühl.
Camui hatte für sich nun anscheinend genug gesehen. Mit aufrechtem Gang schritt er durch seine Haustür und begab sich geradewegs in das Badezimmer. Ohne auch nur den Vorhang zu schließen oder sich den Kleidern zu entledigen, stellte er sich unter die Dusche.
Erbarmungslos schlug er mit geballter Faust gegen den Druckknopf für Kaltwasser. Während ihm langsam die nassen Strähnen seiner Haare die Sicht verdeckten, lehnte er seine Stirn an die Wand.
Dieses reine Wesen. Die unglaubliche Frau… sie brachte ihn noch um den Verstand. Er wollte sie. Ihren Körper, ihre Liebe. Sie berühren und ihr etwas Unvergessliches schenken. Wie lange sollte er noch diese Qualen erleiden? Seine Hand entspannte sich langsam wieder. Er betrachtete seine Finger, als wäre es das erste Mal gewesen, dass er die Anatomie dessen, was er sah, begutachten konnte. Leicht hob er die Stirn von der Wand ab und sank auf seine Knie. Ja verdammt! Er musste seinen Auftrag erledigen. Aber wie lange… wie lange sollte er das noch mitmachen?
Er war doch auch nur ein Mann. Er wollte ihr doch nur endlich sagen, was in ihm seit ihrer Begegnung an der Quelle auf dem Herzen lag.
Was sie für ihn bedeutete. Sie verwöhnen, nach allen Mitteln der Kunst der Engel… und der Dämonen… Der Auftrag war wichtig. Zu wichtig.
Sie musste… ja… sie musste es selbst….
„Nun, Teuerste? Bist du nun endlich zufrieden?“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Kampf hatte sie mehr beansprucht, als sie erwartet hatte. Es war eine wunderbare Erfahrung, auch, wenn sie nun kraftlos war. „Ja! Das war wirklich nötig.“ So offen hatte er sie schon lange nicht mehr lachen sehen. Als wäre das Kind in ihr durchgegangen. Wie lange war das nun her? Engel hatten eine Kindheit, die der Zeit einer menschlichen entsprach, ebenso war es mit fortgeschrittenem Alter. Jedoch war der Alterungsprozess eines jugendlichen und eines erwachsenen Engels um vielfaches höher. Und ein Engel entschied
auch selbst, wann und ob er altern, und somit auch sterben, wollte.
„Wie immer warst du ein Blickfang der Menge.“ Das Sarkastische konnte nun auch er als Engel sich nicht verkneifen. „Aber bei deinem Aussehen in diesem Moment, kannst du froh sein, das hier nur anständige Engel leben.“ Sie betrachtete ihre Gewänder. Oder viel mehr das, was davon übrig war. Augenblicklich trat ihr eine peinliche Röte ins Gesicht. Er... er hatte doch nicht…. „Hast du die Leute gesehen, die uns beobachteten?“ Einen verwunderten Blick konnte er nicht lassen.
Kain war es nicht gewohnt, dass sie sich nach Beobachtern erkundete. Immerhin war es ja nichts Neues, dass sie angehimmelt wurde.
„Ab und an blickte ich schon einmal in die Menge, wieso?“
Er hatte sie doch wohl nicht gesehen? Wieso war das so wichtig
für sie? Sie musste es einfach wissen… und das machte sie wütend.
„Kain… War Camui auch dabei?“
Wieso er? Verdammt noch mal, er hatte es nicht verdient, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Überhaupt beachtet zu werden. Sie war schon immer an Kains Seite gewesen. Dort war ihr Platz. Er würde sie nur verderben. Aus ihr das machen, was er vorhin so schmerzlich bemitleiden musste. Dieser… Bastard! „Ich glaube, mein Blick hätte ihn kurz gestreift… wieso? Ist das von Belang?“ Seine Worte waren in ihrem Kopf in einer Art Irrgarten angelangt. Denn sie wusste selbst nicht wirklich, ob es von Belang war oder nicht. Es war ein Schock,
das Zweifelsohne, aber wieso? Sein Geschwätz hätte sie weich
werden lassen. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.
„Hat er dir… etwas getan?“ Nicht körperlich, nein… aber einen Teil ihrer selbst hatte er ihr gestohlen. Jedoch sollte sie vor ihm nicht noch mehr ihr Gesicht verlieren.
„Wo denkst du hin? Ich bitte dich, als ob ich mich nicht zur Wehr setzen könnte, wenn es etwas geben würde!“ Empörung schwang in ihrer Stimme mit, sofern sie es schaffte, sie glaubhaft wirken zu lassen.
Ein Wind der Wut wehte durch Eden…
Wieso konnte niemand diese Fragen beantworten?
Wieso man sich selbst nicht mehr erkennen?
Warum durfte man nicht einfach sich selbst freien Lauf lassen?
Wieso sich nicht einfach nehmen, was man wollte?
Weshalb konnte nicht alles einfach nach Plan verlaufen?
Wieso mischte sich ein neues Schicksal in ein altes?
Keiner von ihnen Verstand, dass Wut für sie nicht angebracht war…