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Caileen, die Drachenprinzessin

von

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Prinzessin Caileen

Der Winter kam und ging. Schnee fiel, verwandelte die Hochebenen, und schmolz bald wieder. Yule, die zwölf Raunächte und auch Imbolc waren vorüber gezogen, wie sie es jedes Jahr taten. Das Schmelzwasser aus den Bergen hatte sich seinen Weg durch die Ebenen hinab in die Täler gebahnt und bildete kleine Flüsse, an welchen sie mit Krügen schöpften und ihr Vieh tränkten. Die Welt erwachte aus ihrem Winterschlaf und Kazary kam es vor, als wäre die Zeit, die sie bei den Drachenreitern verbracht hatte, nur ein aufregender Traum gewesen. Wie es nun weitergehen würde, wusste sie immer noch nicht so recht. Wahrscheinlich würde Arsinoe in wenigen Tagen wieder zurück kehren und mit ihr auf Erkundungsflüge über das Dorf gehen, so wie sie es jeden Frühling taten, wenn es in den Hochebenen wieder warm genug war. Vielleicht würden sie die Leute aus Tirganach sogar vergessen haben und sich nicht darum scheren, was sie tat. So würde sie zumindest keine Entscheidung fällen müssen. Im Geheimen aber fiel es ihr ebenso schwer, ihr neu gewonnenes Leben loszulassen.

Doch auch in der Hauptstadt hatte das Leben seinen Lauf genommen. Hier war der Winter weniger hart wie in den Hochlanden, und trotzdem freuten sich die Einwohner auf die sonnigeren Tage des neuen Jahres, denn sie hatten einen Sieg zu feiern. Während der kalten Jahreszeit hatte es wieder Kämpfe gegeben, diesmal hatten die Dunkelelfen eine kleine Stadt nahe der Grenze zwischen Dorien und Xu angegriffen. Die Häuser waren geplündert und in Brand gesetzt worden. Der Gilde der Drachenreiter war nichts anderes übrig geblieben, als die Stadt zu evakuieren, ehe sie den Kampf aufnehmen konnten. Dennoch waren nur wenige Bürger verletzt worden und sie hatten die Streiter der Dunkelelfen zumindest fürs erste vertrieben. Mit lautem Jubel und großer Freude wurden die Krieger in ihren Heimatdörfern empfangen.

„Mein König, der Hauptmann ist zurückgekehrt.“

König Meleander Stand auf einem Balkon der vielen Türme des Schlosses und war tief in Gedanken versunken. So konnte es nicht ewig weitergehen. Sie konnten den Dunkelelfen wohl kaum ewig standhalten, aber was sollte er tun?

„Mein Herr…“, wiederholte die Dienerin, die vorsichtig zu ihm herangetreten war.

Überrascht, dass man ihn so urplötzlich aus den Gedanken gerissen hatte, wandte sich Meleander nach dem Mädchen um.

„Hat er also seinen Auftrag erfüllt?“

„Ja, Herr, dem scheint so.“

„Nun, dann lass ihn kommen, mein Kind“, erwiderte er, worauf die Dienerin verschwand, nur um wenig später mit einem standfesten und entschlossen und zugleich etwas überfordert wirkenden Daeron zurückzukehren.

Dieser verneigte sich tief und sprach: „Ich habe getan, was Ihr mir aufgetragen habt, mein König, die Flüchtlinge wurden an sichere Orte gebracht, Wachen wurden an allen Grenzstädten und –Dörfern postiert und Nachricht an alle Drachenreiter geschickt, deren Drachen sich während des Winters fern ihrer Bundsbrüder aufhalten mussten.“

„Ich danke Euch, und es wundert mich zutiefst, wie Ihr es schafft, Eure Aufträge immer eher ausgeführt zu haben und früher zurück zu sein, als man erwartet!“, lächelte der König erleichtert über diese Nachricht. Doch war da immer noch eine Sache, die ihm Sorgen bereitete. Er konnte es sich nicht erklären, doch etwas im tiefsten Inneren seines Herzens sagte ihm, dass seit jener Schlacht vor über dreißig Jahren ein Netz aus Intrigen gesponnen wurde, dem er sich wohl nicht mehr entziehen können würde.

„Findet Ihr die Ähnlichkeit nicht auch überraschend, Hauptmann?“

Daeron stutze: „Bitte, welche Ähnlichkeit, mein König?“

„Die zwischen dieser Elfe, Kazary, und meiner Schwester. Glaubt ihr, es wäre möglich, dass es nur eine Intrige ist, um mich zu schwächen?“, erklärte Meleander mit abwesenden Blick.

„Nein, mein Herr, das glaube ich wohl kaum“, der Hauptmann schüttelte den Kopf, während er näher zu dem König trat, „Sie ist eine Freundin von Lavinia vom Kristallsee, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Ich setze großes Vertrauen in Lavinia und ich weiß, sie würde nie eine Verräterin in die Stadt bringen. Außerdem habe ich Kazary kennen gelernt, sie ist eine gutherzige und mutige Frau, nur etwas verwirrt, weil sie so viele Fragen hat, weil sie sich gerne erinnern würde, doch keinen Anhaltspunkt auf ihr Vergangenheit findet.“

Meleander seufzte. Ständig sah er das Bild von Caileen, seiner Schwester vor sich, wie sie trotz langer, wallender Kleider, etwas knabenhaft durch die Säle und Gänge des Schlosses lief und den Wachen im strengen Ton Anweisungen gab, nur um im nächsten Augenblick wieder eine diskrete, höfliche, etwas verlegene junge Frau zu sein. Dann sah er diese Kazary, wie sie in eben demselben Kleid durch das Schloss rannte, um den Attentäter aufzuhalten. Es war, als wäre seine Schwester wieder auferstanden.

„Mein Herr?“

Meleander schreckte aus seinen Gedanken auf.

„ Ich möchte, dass alles daran gesetzt wird, herauszufinden, wer diese Frau ist. Und sorgt bitte dafür, dass sie in die Stadt kommt!“

„Wie ihr wünscht!“, entgegnete der Hauptmann, verneigte sich erneut und verschwand dann in den zahllosen Gängen des Palastes.

Mit raschen Schritten eilte er eine der vielen Treppen hinab, froh darüber, nur wenigen Bediensteten zu begegnen. So konnte er eine ihm wohl bekannte Abkürzung nehmen. Als er in den Nordbereich des Palastes gelangte, wandte er sich einem stillen Seitenflügel zu und begann, die Türen zu seiner Linken, welche er passierte, abzuzählen. Bei der vierten Tür hielt er inne und betrat den sich dahinter befindlichen Raum. Es war nur eine kleine Studienkammer, elegant, und dennoch sparsam möbliert, mit einem kleinen Teppich auf dem Holzboden, einem Schreibpult, einigen Kerzenleuchtern, einem beinahe leeren Bücherregal und einem Schränkchen für Tintenfässer, Papier und Schreibfedern. An den Wänden befand sich nur ein einziges Gemälde; ein idyllischer Garten mit Marmorstatuetten und einem Weiher, auf dem die Seerosen blühten. Vorsichtig griff Daeron hinter den silbernen Rahmen. Ein leises Klicken ertönte und dann schwang das Kunstwerk zur Seite. Ein kleiner Pfad, von Fackellicht erhellt, führte dahinter in die Tiefe. Daeron übertrat die Schwelle des Geheimganges und verschloss diesen wieder sorgfältig hinter sich. Laut hallten seine Schritte wider, während er dem Tunnelgang weiter folgte, bis er schließlich auf eine Weggabelung stieß. Hier wandte er sich nach rechts. Bald schon begangen sich zu seinen Seiten Türen in den kalten Steinwänden zu erheben, dieselben schwere Türen, die es immer waren. Hinter einigen konnte er sogar Stimmen hören, Stimmen all jener, die denselben Pfad eingeschlagen hatten, wie er, die Stimmen der Drachenreiter. Doch er hatte keine Zeit, sich lange hier aufzuhalten, er musste weiter gehen. Sein Weg führte ihn einige Steinstufen hinauf zu einer weitläufigen, runden Halle, von der aus endlos viele Gänge abzweigten. Einige andere Drachenreiter kreuzten seinen Weg und grüßten ihn mit der üblichen Geste. Unter ihnen erkannte er Kalenth, der gemeinsam mit seiner Lyenn während des Winters von den kalten Sturmfelsen in die wärmeren Gebiete nahe dem Fluss Cerin gezogen war, und erst vor kurzem wieder zurückgekehrt war.

„Seid gegrüßt Hauptmann!“, verneigte sich der Halbelf höflich und setzte an zum Weitergehen.

„Wartet einen Augenblick!“, bat Daeron diesen, „Ich hätte einen Auftrag an Euch, bitte macht Euch mit Lyenn in die Hochebenen auf und sucht nach Kazary und, sofern sie aus ihrem Winterhorst zurückgekehrt ist, auch nach Arsinoe. König Meleander wünscht sie unbedingt zu sprechen!“

Kalenth nickte: „Unverzüglich, ich werde mich sofort auf den Weg machen“, und eilte mit raschen Schritten den Gang zurück, von dem er gekommen war.

Inzwischen bog Daeron in einem der vielen Gängen zu seiner Linken ab. Hätte er die oberirdischen Pfade genommen, würde er wohl noch eine Ewigkeit brauchen, um die Bibliothek, in welcher auch alle Aufzeichnungen über die letzten Kriege aufbewahrt wurden, zu erreichen, weshalb er froh war, dass sie dieses geheime Tunnelsystem unter der Stadt angelegt hatten, von dem nur die Drachenreiter wussten. So konnte er schnell zu der kleinen Leiter gelangen, die hinauf zu einer losen Steinplatte in dem ordentlichen Straßen des obersten Stadtringes führte, und den Hauptmann, nachdem er hinaufgeklettert war und die Steinplatte wieder an ihren rechten Platz geschoben hatte, in eine friedliche Seitengasse nahe der Bibliothek führte. Vor dem großen Eingangsportal waren zwei Wachen postiert, ein Mensch und eine Halbelfe, wie Daeron auf dem ersten Blick erkennen konnte. Seit dem Vorfall auf dem Maskenball waren viele Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Mit knappen Worten trug der Hauptmann sein Anliegen vor und die beiden ließen ihn passieren.
 

Unterdessen war Kalenth durch die Falltür in dem hintersten Zimmer von Arvigs Wirtshaus gestiegen. Während er an dem Tresen vorbei zur Tür hastete, grüßte er Arvig noch kurz, ehe er die Straßen des äußeren Stadtringes betrat. Dort herrschte wie immer reges Treiben, doch seit die Flüchtlinge eingetroffen waren, wirkte die Stadt noch voller und unüberschaubarer als sonst. Oft stieß er mit den Leuten zusammen, verlor die Orientierung oder man versperrte ihm den Weg. Schließlich schaffte er es dann doch irgendwie, das große Stadttor zu erreichen.

„Öffnet das Tor, im Auftrag des Hauptmanns der ersten Wacht!“, rief er den Wächtern entgegen, die sich sofort an die Arbeit machten. Eilig durchschritt er das Tor und wandte sich in Gedanken an Lyenn: „Wir brauchen deine Hilfe, Schwester, du findest mich vor der Stadt!“

Eine Weile lief er die Strecke zwischen dem Kristallsee und den Stadtmauern auf und ab, sah dabei ständig zum Himmel, bis er das Drachenweibchen ausfindig machen konnte. Geschickt landete sie vor seinen Füßen. Lyenn war etwas kleiner als die meisten Drachen in Dorien, doch gerade deshalb war sie überaus wendig. Ihr Schuppenpanzer ging etwas ins grün-gelbliche. Fragend legte sie den Kopf schief.

„Was gibt es denn so wichtiges?“

„Hauptmann Daeron verlangt, dass wir Kazary aus den Hochlanden nach Tirganach bringen“, erklärte er, „Wir haben Arsinoe doch im Winter am Fluss Cerin gesehen, auch sie hatte dort den Winter verbracht… erinnerst du dich noch, welchen Weg sie genommen hat?“

„Ja, und wenn ich mich nicht irre, sollte bereits wieder bei Kazary sein…“, antwortete das junge Drachenweibchen und legte sich dann nieder, damit Kalenth aufsteigen konnte.

„Dann auf!“, rief dieser, als er Platz genommen hatte.

Gemeinsam erhoben sie sich in die Lüfte. Je mehr sie an Höhe gewannen, desto kühler wurde der Frühlingswind, der sie umspielte. Bald schon erschien Kalenth die Landschaft unter ihm wie geschrumpft. Gemeinsam wandten sie sich Richtung Norden, dorthin, wo die Berge nahe den Aschefeldern lagen. Kalenth kannte dieses Gebiet nicht sonderlich gut, denn die Kriege gegen die Dunkelelfen bei der Narbe lagen noch vor seiner Geburt, auch versuchte er das alte Schlachtfeld, wenn möglich, zu vermeiden. Es bereitete ihm Unbehagen. Daher wunderte es ihn, dass Kazary, die, wie alle vermuteten, ebenfalls gegen die Dunkelelfen gekämpft hatte, in einem Dorf lebte, welches der Narbe so nahe war. Doch nach all dem, was Arsinoe Lyenn, und diese ihm berichtet hatte, war diese Elfe nur noch halb so wunderlich. In Wahrheit tat sie ihm sogar Leid.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Sie befanden sich nun hoch oben in den Lüften, unter ihnen die Hochebenen und das Almland. Und mitten in dieser Landschaft fand sich ein kleines Bergwäldchen. Aber da war noch etwas. In Gedanken bat er Lyenn, tiefer zu fliegen, um zu sehen, was da war. Als Halbelf waren seine Augen zwar besser als die der Menschen, aber dennoch nicht so weitsichtig und scharf wie die der vollblütigen Elfen.

Während das Drachenweibchen allmählich dem Erdboden entgegenkam, klärte sich sein Blick. Unter ihm befand sich ein Dorf, oder besser eine Siedlung, deren Bewohner, allesamt Menschen, wie es ihm schien, sich zusammenscharten und in die Höhe deuteten. Wahrscheinlich hatten sie ihn ebenfalls bemerkt.

„Dies müsste das Dorf sein…“, hörte Kalenth Lyenns Stimme in seinem Kopf, während sie landeten.

Sofort kam ihm ein Schwall von Leuten entgegen, um zu hören, was er, ein Drachenreiter, an einem solch entlegenen Ort suchte. Darunter waren auch ein paar Jungen, die wild durch die Menge tobten. Es waren vier, höchstwahrscheinlich Brüder, stellte Kalenth nachdenklich fest. Der älteste von ihnen bemühte sich verzweifelt, die anderen beisammen zu halten, wobei sein jüngster Bruder etwas schüchtern an seiner Seite stehend Lyenn bestaunte. Die beiden anderen trieben ihr Unwesen und machten sogar vor Lyenn keinen halt, deren Rücken sie zu erklimmen versuchten. Kalenth biss sich auf die Unterlippe. Normalerweise mochte seine geliebte Lyenn es überhaupt nicht leiden, wenn Fremde vollkommen respektlos und unbeholfen mit ihr umsprangen, doch diese Jungen schienen zu wissen, was sie taten. Geschickt stiegen sie einer nach den anderen auf das leicht gebeugte Knie ihres Hinterlaufs und schwangen sich dann auf ihren Rücken. Zu seiner allergrößten Verwunderung ließ Lyenn sogar alles schweigend über sich ergehen.

„Verzeiht, mein Herr!“, entschuldigte sich der älteste der Brüder völlig außer Atem für die beiden.

Ein Lächeln glitt über Kalenths Gesicht. Ein Blick zu Lyenn verriet ihm, dass sie sich gut mit den beiden verstand.

„Schon gut, Junge“, antwortete er, wieder an den ältesten gewandt, wobei er die rechte Hand auf die Brust legte und sich zum Gruß verneigte, „Mein Name ist Kalenth vom Sturmfelsen, im Bunde mit Lyenn!“

Der Junge verneigte sich ebenfalls tief: „Dann sucht Ihr gewiss nach Kazary!? Kommt, ich führe Euch zu ihr!“

Kurz und bestimmt pfiff er seinen Brüdern zu, die sich unverzüglich zu ihm gesellten. Ehe er sich den vieren anschloss, wandte sich Kalenth noch einmal kurz an Lyenn, strich ihr über den schönen Schuppenpanzer und bat sie, hier zu warten. Der Älteste, der sich ihm übrigens als Lomion, Sohn des Landal, vorgestellt hatte, führte ihn durch das gesamte Dorf, vorbei an Häusern, kleinen Gärten, vorbei an einem großen knorrigen Baum, den einige Kinder zum Spielen nutzten, bis zu dem kleinem Gebirgswald, der gerade erst zu Knospen begonnen hatte. Unter den Bäumen erkannte er zwei Frauen. Eine von ihnen mit recht kurzem braunem Haar und sandfarbenem Kleid, die andere, die er ohne überlegen zu müssen als Kazary erkannte, in kurzer grüner Tracht und langem zu dem üblichen Zopf geflochtenen roten Haar.

Freudig lief er den beiden entgegen.

„Kalenth… du… hier?“, fragte Kazary verwundert, nachdem sie sich, ebenso wie Kalenth vor ihr, ihre Schwerthand auf ihr Herz gelegt und sich verneigt hatte.

Ernst sah er sie an: „Hauptmann Daeron schickt mich mit einem Auftrag von König Meleander… ich weiß zwar nicht, warum, aber es muss sich um etwas Wichtiges handeln, so eilig, wie Daeron es hatte, dass dich jemand erreicht.“

„Was könnte es schon so wichtiges geben, das der König nicht alleine lösen kann!“, mischte die braunhaarige sich in das Gespräch ein, „Etliche Jahre ist eine seiner kostbaren Garde verschwunden, doch niemand hat sich auf die Suche nach ihr gemacht, oder sich um ihr Befinden geschert. Und nun? Nun glaubt ihr, das Recht zu haben, über ihr Leben zu entscheiden!?“

Verwundert über diese Schlagfertigkeit sah er sie an. Ihr braunes Haar war willkürlich knapp über den Schultern abgesäbelt worden, im Farbton war es dem der vier Jungen, die ihn hierher geführt hatten, sehr ähnlich. Vielleicht gab es eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen ihnen. In ihren ebenso braunen Augen lag etwas Stechendes und ihr Sommersprossen geziertes Gesicht, das wohl oft lachte, nahm nun, da er sie so anstarrte und schwieg, eine Art hämischen, frechen Grinsens an.

Sein Blick fiel auf ihre Kleider. Sie trug eine etwas fadenscheinige weiße Schürze über ihrem Kleid, die Ärmel hatte sie bis zu den Schultern hoch gerollt. Nun fiel ihm auf, dass sie einen Dolch, oder besser gesagt ein Jagdmesser in den Händen hielt.

„Du musst Alyssa entschuldigen, Kalenth, sie ist nicht sonderlich gut auf den Adel zu sprechen. Und außerdem, weiß ich nicht, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn ich hier bleiben würde“, sprach Kazary, ehe ihm auch nur eine Antwort auf Alyssas Vorwurf eingefallen war.

„Was?“, fragte er überrascht.

„Du hast mich schon richtig verstanden… ich weiß nicht, ob ich überhaupt zurück zu euch möchte…“

„Aber, Kazary…!?“

Kalenth wollte nicht glauben, was er da hörte. Er sollte den ganzen Weg geflogen sein, nur um zu erfahren, dass sie nicht wieder zu den Drachenreitern zurückkehren wollte? Wieso nur? Als er sie und Arsinoe kennen gelernt hatte, schien sie doch noch so versessen darauf gewesen zu sein, zu erfahren, wer sie in ihrer Vergangenheit gewesen war, und mehr über ihre Gilde zu lernen. Sie alle hatten diese fremde Elfe sofort ins Herz geschlossen. War sie denn nicht glücklich bei ihnen gewesen? Konnte es sein, dass sie etwas über sich und ihre Vergangenheit herausgefunden hatte, das sie davon abhielt, zu ihnen zurück zu kehren? Wie um alles in der Welt sollte er das nur Lavinia verständlich machen?

Er seufzte: „Willst du denn nicht zumindest wissen, was König Meleander so wichtiges zu sagen hat? Und wenn du dich dafür entschieden hast, in diesem Dorf zu bleiben, solltest du dich zumindest von allen, ganz besonders von Lavinia, verabschieden.“

Als er Lavinias Namen erwähnte, wandte die Elfe das Gesicht schuldbewusst zur Seite. Kalenth wusste, wie nahe sich die beiden standen, und erhoffte sich gerade deshalb, dass Kazary zur Vernunft kommen würde. Dennoch zögerte sie.
 

„Das kann doch nicht wahr sein!“, murrte Daeron leise, während er ein Buch nach dem anderen durchforstete.

Er saß schon seit einigen Stunden hier. Vergebens, denn nirgends konnte er eine Antwort auf seine Fragen finden. Mittlerweile hatte er sich bis in die entlegensten Abteilungen der Bibliothek vorgearbeitet und nahm nun einige Aufzeichnungen von den Kriegsjahren zur Hand.

„Gefallene, Verwundete und Verschollene der ehrenhaften Gilde…“, murmelte er den Titel eines Berichtes vor sich hin, „ Sivella aus Harlon und Lyra, beide gefallen. Elijah aus Süddorien verstorben, das Drachenweibchen Inae verwundet. Annuniel aus Tirganach und Rohan, beide lange bewusstlos… nein… auch nichts…“

Enttäuscht legte er die Liste beiseite, als er wieder einmal las, dass Caileen entweder verschollen war oder für tot erklärt wurde und dass ihr Drache kurz darauf ebenfalls verschwunden war. Alles lief auf das Gleiche hinaus. Wollte sich denn keiner an sie erinnern? Caileen hatte doch alles für diese Leute gegeben, hatte sich immer für die Armen und Schwachen eingesetzt, immer darauf bestanden, dass sie, als Tochter des Herrschers und Schwester des Thronerben, von ihren Reichtum abzugeben hätte… wieso nur wollte man sich einfach nicht an sie erinnern? Alle hatten sie doch bewundert und verehrt! Vielleicht aber war gerade das der Grund, weshalb alle versuchten, die Prinzessin aus ihrem Gedächtnis zu streichen, die Erinnerung war einfach zu schmerzhaft…

So in Gedanken und Erinnerungen verloren ging er noch einmal alle Schriftstücke durch. Schließlich erregte ein kleines, in dunkles Leder gebundenes, ziemlich zerfleddert wirkendes Buch seine Aufmerksamkeit. Vorsichtig schlug er die ersten Seiten auf. Wie die anderen Schriftstücke handelte auch dieses hier von dem großen Krieg gegen die Dunkelelfen, aber eines war anders. Das Buch, das er in den Händen hielt war, so stellte er nach einigen Zeilen fest, ein Augenzeugenbericht über die Ereignisse während und nach den Schlachten. Die Verfasserin schien eine gewisse Elodris zu sein.

„Elodris…“, wiederholte der Hauptmann.

Es gab eine Elodris hier in Tirganach. Sie war Heilerin und Zauberin gewesen und hatte sich während des Krieges um die Verwundeten gekümmert. Damals hatte sie den Oberbefehl über die Heiler, die die Kämpfenden auf das Schlachtfeld begleitet hatten. Angeblich habe sie der Königin sehr nahe gestanden und sei zu tiefst bestürzt gewesen, als man erfahren hatte, dass diese, nachdem König Meleborn, ihr Gemahl und Vater von Meleander und Caileen, in der ersten Schlacht gefallen war, den Gifttod aus Trauer um den Verlust ihres Mannes gewählt hatte.

Behutsam schlug er die nächsten Seiten auf und las darin: „Die Krieger hatten sich auf den Weg zurück gemacht, doch wir blieben auf dem Schlachtfeld. Trauer erfüllte mein Herz bei dem Anblick, der sich einem bot. Die gesamte Ebene, einst fruchtbar und grün, war verkohlt, schwarz, verbrannt. Die Zauber der Bannweber hatten die Erde gespalten, sodass ein Abgrund sich im Boden auftat.

Gemeinsam mit einigen Novizinnen schlugen wir unsere Zelte auf, denn unser Handwerk mochte einige Nächte in Anspruch nehmen. Dann begannen wir, die Lebenden von den Verwundeten zu unterscheiden und während einige die Leichen begruben, machte ich mich mit meinen Vertrauten daran, Blutungen zu Stillen und Verbrennungen zu kühlen.

Als der Abend dämmerte, legten wir eine Rast ein, denn auch unsere Kräfte schwanden nach Stunden harter Arbeit. Zu jener Zeit hielt ich Nachtwache. Ich kann immer noch kaum glauben, dass es unseren Leuten gelungen war, die Dunkelelfen aus dem Norden unseres Reiches zu vertreiben. Hätten unsere Ahnen uns doch nicht mit diesem Schicksal gestraft!

Bereits schliefen alle, sowohl die Heiler, als auch unsere Patienten, denen wir Tränke für Erholung und Ruhe verabreicht hatten, da erblickten meine Augen einen Schatten über dem Abgrund. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich einen Drachen. Während der Kämpfe hatte ich so viele Drachen gesehen, dass sie mich nicht mehr verwundern sollten, doch dieser tat es. Langsam näherte ich mich so dem Abgrund, um zu sehen, was dort vor sich ging. Ein seltsames Gefühl überkam mich, als ich das edle Wesen vor mir sah. Mit Gesten versuchte das Weibchen mir etwas mitzuteilen, und anfangs fiel es mir auch schwer, ihr Handeln zu deuten, doch letztlich verstand ich: Etwas musste auf dem Grunde des Erdrisses sein, das für sie von großer Wichtigkeit war. Ich fragte, was dort denn läge, doch sie sah mich nur verwirrt an. Schließlich besorgte ich mir ein Seil von unserem Lagerplatz und stieg die Klippen hinab. Dort fand ich, nachdem ich eine Weile des Kletterns auf mich genommen hatte, reglos auf einem Vorsprung liegend eine Elfe. Es bedurfte keinen Seher, um zu wissen, dass es sich bei dieser Frau um die Reiterin des Weibchens handelte. Wieder über Tage ward es mir auch möglich, das Gesicht der Reiterin zu erkennen. Ein Schock durchfuhr mich, da mir klar wurde, dass ich Caileen vor mir hatte. Seid Meleborns Tod hatte ich die nicht mehr gesehen. Zu meiner Erleichterung war sie lediglich bewusstlos. Hier aber konnte sie nicht bleiben. So gab ich Arsinoe, denn dies war der Name von Caileens Gefährtin, mit Gesten zu verstehen, dass sie das Mädchen fort bringen müsse. Und sie verstand. Ehe Arsinoe jedoch die Prinzessin in Sicherheit vor dem, was ihr am liebsten erspart bliebe, bringen konnte, gab ich ihr eine Phiole mit einem Trank, den sie beide zu ihrem eigenen Schutze und zu dem aller anderen trinken mussten. Dann sah ich sie durch die Nacht dahin gleiten, während ich ins Lager zurückkehrte. Ich sagte meinen Kameraden nichts.“

Der Hauptmann ließ das Notizbuch dumpf zuklappen. Er brauchte nicht weiter zu lesen, um zu ahnen, was für ein Trank das gewesen sein mochte, den Elodris den beiden eingeflößt hatte. So hatten sich des Königs Ahnungen als richtig erwiesen. Caileen und Kazary… spätestens bei dem Namen Arsinoe hätte es ihm doch klar gewesen sein müssen!

Inzwischen hatte ihn ein Feuer gepackt, das er nicht bändigen konnte. Nun, wo er eine Antwort auf alle Fragen hatte, nun, da er sie gefunden hatte, war ihm, als hätte er eine Erleuchtung gehabt. Ohne weiter zu überlegen meldete er bei einem der Bibliothekare, dass er dieses Buch für einige Tage entleihen würde, beauftragte einen Boten damit, es zum König zu bringen, damit auch er wisse, was er selbst soeben erfahren hatte, und machte sich dann selbst auf. Trotz all der Antworten, die er erhalten hatte, tat sich ihm eine neue, eine letzte Frage auf: Warum hatte Elodris das getan? Er selbst hatte sich keinen Grund nennen können, weshalb Elodris hätte versuchen sollen, die Prinzessin zu beseitigen, doch genau aus diesem Anlass hatte er noch etwas zu erledigen.

Voller Tatendrang verließ er die Bibliothek und machte dich auf die Suche nach den Häusern der Heilung. So kurz nach den Kämpfen fand er dort große Geschäftigkeit und Unruhen vor, sodass er glaubte, keiner würde Notiz von ihm nehmen. Da kam ein junges Mädchen auf ihn zu. Sie trug die schlichte weiße Tracht der Heilernovizen.

„Kann ich Euch behilflich sein, mein Herr?“

„Ja…“, fuhr Daeron herum, der das Menschenmädchen unter all den Leuten zuerst nicht bemerkt hatte, „Ich suche Elodris, die Heilerin.“

Das Mädchen zögerte für einen Augenblick.

„Meisterin Elodris empfängt nur selten Besuch, doch vielleicht können wir Schwester Aedale fragen, ob sich nicht etwas ausrichten ließe, schließlich ist sie der Meisterin engste Vertraute.“

Geschickt drängte sich die Novizin durch die Menge und hieß den Hauptmann mit einer freundlichen Bestimmtheit an, ihm zu folgen. Diesem kam die ganze Sache noch seltsamer vor, als sie es ohnehin bereits war. Welchen Grund könnte eine Heilerin der hohen Schule haben, sich der Welt zu verbergen? Die verschiedensten Gedanken über Elodris mögliche Gründe kamen ihm auf, während er von der Novizin geführt das Innere der Häuser der Heilung betrat.

Diese Anlage war in einem viereckigen Ring im inneren Stadtkreis errichtet. Von einem inneren Rundgang, der über Terrassen mit einem schönen lichten Innenhof verbunden war, führten Zahllose Türen zu den Räumen der Patienten. An einem Ende jedoch war dieser Bereich verbreitert worden und man hatte eine zweite Etage errichtet. Dies waren die Gemächer und Studienzimmer der Schwestern und Brüder, die stets in unmittelbarer Nähe der zu behandelnden sein wollten. Das Mädchen geleitete ihn die Treppe zu den oberen Zimmern hinauf und bat ihn, kurz auf ihn zu warten, ehe sie durch eine der Türen schritt.

Wenige Augenblicke später kehrte sie mit einer weiteren Heilerin wieder.

„… ja, Schwester, das weiß ich wohl, aber es schien mir, als habe er außerordentlich wichtige Gründe…“

„Da bin ich ja gespannt, welch wichtige Gründe das sind, Gwynneth!“, entgegnete die Frau gegenüber dem Kind, während sie das Zimmer verließen und zu Daeron auf den Gang traten.

Der Hauptmann betrachtete die streng wirkende Heilerin. Genau wie die Novizin Gwynneth trug auch Aedale ein schlichtes Kleid aus weißem Stoff, zusätzlich trug sie jedoch, wie alle ausgebildeten Heilerinnen eine weiße Kopfbedeckung, die mit goldenen Schnüren auf ihrem Haupt befestigt war, sodass ihre Haare komplett von dem Stoff verhüllt wurden. Hinter ihrem harten Blick schien sie ein freundliches Wesen zu verbergen.

„Ah, Euch hat man hier schon lange nicht mehr gesehen!“, sprach die Frau etwas verwundert, als sie Daeron erkannte, „Dann kann es sich in der Tat nur um wichtige Angelegenheiten handeln, Hauptmann.“

„ In der Tat“, erwiderte der Elf, „Ich habe wichtige Dinge mit der Frau Elodris zu bereden…“

„Es tut mir Leid, aber wie euch die kleine Gwynneth hier Euch sicher bereits gesagt haben wird, möchte Meisterin Elodris sich niemandem zeigen…“

„Bitte, Schwester“, unterbrach er Aedale, „Wenn es der Meisterin nicht gut geht, verstehe ich das wohl, aber zum Einen ist es ihre ehrwürdige Pflicht, allzeit sich den Hilfe suchenden zuzuwenden, und zum Anderen geht es hier um Prinzessin Caileen, ich habe nämlich…“

„Prinzessin Caileen?!“, rief die Heilkundige entsetzt.

Sie benötigte einen Augenblick, ehe sie sich wieder gefasst hatte. Ein wenig zittrig und mit immer noch leicht erblasstem Gesicht nestelte sie an den Ärmeln ihres Gewandes herum. Schließlich gelang es ihr, zu antworten: „Ich… nun ja…das ist… in der Tat ein dringender…Umstand…ich… bitte folgt mir Hauptmann! Und du, Gwynneth… du nimmst die Schriften aus meinem Zimmer und… und bringst sie hinunter zu Bruder Namin… er… er soll nach diesen Rezepturen einige Medikamente herstellen…“

„Ja, Schwester!“, nahm eine nicht weniger verwirrt dreinschauende Gwynneth den Auftrag entgegen und hastete davon.

Derweil geleitete Aedale den Hauptmann weiter den Gang entlang.

Daeron wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass die Heilkundige ihm etwas zu verschweigen versuchte. Was wusste sie nur?

„Ich… werde mit Meisterin Elodris sprechen… und sehen… was ich für Euch tun kann, Hauptmann“, erklärte Aedale, als sie vor einer der Türen, die ebenso unscheinbar wie all die anderen da lag, Halt machte.

Ohne erst die Antwort des Hauptmanns abzuwarten, klopfte sie leise an der Tür und trat dann ein, schloss sie jedoch gleich wieder hinter sich, sodass Daeron nicht mitbekam, was sich dahinter abspielte.

Einige Minuten verstrichen, in denen auf dem Gang absolute Stille herrschte, selbst die Klänge von drunten in Hofe schienen erloschen zu sein. Daeron strengte sich an, zu lauschen, was die Heilerin mit ihrer Meisterin besprach, musste jedoch feststellen, dass auch aus dem Gemach der Elodris kein Laut erklang. Gerade schien die drückende Stille unerträglich zu werden, als Aedale leise durch die Tür erschien und den Hauptmann ansprach: „Ich… habe der Meisterin den Grund Eures Besuches und Euer Anliegen vorgetragen…wenn sie Euer Wort hat, dass ihr Schweigen bewahren könnt, so wäre sie bereit, mit Euch über die Umstände zu reden…“

„ In Ordnung, ich werde über das, was hier zu Worte kommt, schweigen“, willigte Daeron nach einem kurzen zögern ein und wurde dann von Aedale in das Zimmer geführt.

Dort fand er eine Gestalt vor, die auf einem Stuhl am Fenster des Raumes saß und gedankenverloren durch die Vorhänge nach draußen spähte. Aedale bot ihm einen Stuhl gegenüber der Gestalt an und nahm dann selbst in einer dunklen Ecke des Raumes Platz.

„Wieso glaubt Ihr, ich habe mit dem Tod der Prinzessin zu tun?“, sprach die Frau ihm gegenüber nun an ihn gewandt, in ihrer tiefen sinnlichen Stimme lagen Trauer und Tadel.

Dank der wenigen Lichtstrahlen, die durch das Fenster fielen, konnte er trotz des sonst eher düstren Raumes einen Blick auf die Meisterin erhaschen. Elodris trug, wie alle anderen auch, ein schlichtes weißes Kleid und die Kopfbedeckung der ausgebildeten Heilerinnen. Zusätzlich jedoch hatte sie ein Obergewand aus dunkelgrünem, beinahe schwarzem Stoff angelegt und vor Nase und Mund ein weißes Tuch als Schleier gebunden, sodass alles, was man von ihrem Gesicht erkennen konnte, ihr Augen waren. Doch das genügte, um den Hauptmann vor Überraschung aufschrecken zu lassen. Die Augen der Heilkundigen waren von einem seltsamen, leuchtenden Dunkelblau und ihre Pupillen waren lange, schmale Schlitze wie die einer Katze. Ganz im Gegensatz dazu war die Haut der Frau schneeweiß. Damit, dass die oberste Heilerin von Tirganach ein Halbblut war hatte er nicht gerechnet. Die Heilkunst war eine der Fertigkeiten, zu denen nur die wenigsten Dunkelelfen im Stande waren. Das hatte Shalawyn ihm sogar bestätigt, denn Valema, ihre jüngere Schwester, war seit langem die erste ihrer Familie, die ein Talent für die hohe Schule er Heilung besaß.

„Ich habe Eure Aufzeichnungen gefunden, die von damals aus dem großen Krieg…“, setzte der Hauptmann an, nachdem er sich wieder gefasst hatte, und begann, der Meisterin ausführlich zu erzählen, wie er an ihre Schriften gelangt war.

„Es tut mir Leid… aber was ich tat, war nur zu aller Wohle…“, murmelte Elodris, als Daeron schließlich geendet hatte, und sah Schuldbewusst zu Boden.

„Aber wieso?“, wollte er wissen.

Die Heilkundige wandte sich von ihm ab. Wie zuvor, als er das Zimmer betreten hatte, blickte sie traurig aus dem Fenster. Was mochte nur in ihren Gedanken vor sich gehen? Diese Elodris erschien dem Hauptmann so schleierhaft wie zu jenem Zeitpunkt, da er ihr Buch gelesen hatte. Was wollte sie nur verbergen?

„Um sie zu schützen“, sprach die Elfe, das Gesicht immer noch abgewandt.

„Wie meint ihr das?“

„Die Herren von Xu werden nicht eher von Dorien ablassen, als dass das Könighaus vernichtet ist. Die Prinzessin musste fort, in Sicherheit vor all den Intrigen und Morden, damit sie nicht auch Opfer des Racheaktes werden konnte.“

„Also ist es wahr… ‚sie’ ist es…“, für einen Augenblick verharrte Daeron in Gedanken, dann fuhr er fort, „Ihr habt der Prinzessin ein Mittel gegeben, dass ihre Erinnerung trübt, zumindest habe ich es so in Euren Schriften gelesen. Wäre es möglich, jemanden von diesem Vergessen zu heilen?“

Die Heilerin blickte ihn verwundert in die Augen.

„Ich verstehe nicht recht…“

„Wenn dass, was Ihr hier schildert, Meisterin, wahr ist, dann wird Caileen bald schon in der Stadt eintreffen. Ich habe einen Kameraden auf Bitten König Meleanders geschickt, eine Elfe zu holen, die an eben diesem Vergessen leidet.“

Angst leuchtete in Elodris´ seltsamen Katzenaugen auf, als Daeron so sprach. Voller Entsetzen öffnete sie leicht den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber im selben Moment wieder. Ein Wechselspiel der Gefühle war ihr anzusehen.
 

Lange noch beobachtete Alyssa, wie die Drachen am Himmel davonflogen. Anfangs waren sie noch größer, klarer, dann wurden sie immer kleiner, ihre Konturen wurden verwischt, bis sie schließlich ihren Augen entglitten. Noch immer hielt sie das Jagdmesser in den Händen, dass Kazary ihr zuvor gegeben hatte, um ihr zu zeigen, wie sie sich verteidigen konnte, falls sie jemals in eine Situation geraten sollte, in der es notwendig war.

Für einen Augenblick sogar hatte sie daran gedacht, das Messer durch das Herz dieses Mannes zu bohren, der gekommen war, um ihre Freundin zu holen. Sie wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund war sie wütend geworden, wollte nicht, dass Kazary fort ging, wollte nicht, dass ihr diese Leute zu nahe kamen. Vielleicht, weil sie Angst hatte, die Elfe würde nie wieder kehren? Sie kannten einander doch so lange… welchen Grund sollte Kazary haben, sie und ihre Familie für immer zu verlassen? Bei diesem Gedanken schämte sie sich dafür, dass sie an ihrer Freundschaft gezweifelt hatte. Selbst wenn, dann wäre es allein Kazarys Entscheidung, aber so, wie sie Alyssa angesehen hatte, als sie schließlich mit diesem Kalenth davon geflogen war, musste es ihr schwer gefallen sein…

Aber was konnte sie tun? Das Leben musste ja weiter gehen. Und vielleicht würde sie sich ja nicht für immer von ihrer Freundin verabschieden müssen, vielleicht konnte sie sie ja sogar in der Hauptstadt besuchen, vielleicht konnte sie Händlerin werden und im Sommer in der Stadt leben oder umherziehen und im Winter bei ihrer Familie bleiben, so könnte sie etwas von beidem haben!

Sie lächelte bei dem Gedanken an all die Möglichkeiten, die sie hatte. Sie wollte ja nicht ewig nur daheim sitzen und auf ihre Brüder aufpassen, sondern Abenteuer erleben und die Welt sehen!

Vielleicht brachten all die Veränderungen etwas Gutes mit sich…
 

Mit Schreck geweiteten Augen erfuhr Meleander zuerst durch den Boten und dann durch eine verzweifelte Elodris, gefolgt von einem nicht weniger verfassungslosen Daeron, welche beide den ganzen Weg von den Häusern der Heilung zum Thronsaal im Schloss gelaufen waren und nun etwas außer Atem wirkten, was ein jeder soeben erfahren hatte.

„Wenn all das stimmt“, sagte er zum Hauptmann gewandt, „Dann müsst Ihr mit Eurer Vermutung die ganze Zeit über Recht gehabt haben. Doch eins ist mir immer noch unklar: Warum meine Schwester? Bin ich denn nicht der rechtmäßige König? Sollten sie nicht eher versuchen, mich zu töten?“

„Vielleicht um Euch zu schwächen, mein König?“, antwortete Daeron, da Elodris nur schweigend und schuldbewusst auf ihre Füße sah, Ihr seid in der Tat der König Doriens, doch alle, wahrlich alle haben Caileen geliebt! Sie war immer das Herz unseres Reiches…“

„Und so wollen sie uns alle treffen, indem sie uns das Herz herausreißen“, bestätigte er, als er verstand, was Daeron meinte.

Eine Runde des Schweigens trat ein, in der ein jeder in dem Saal völlig in Gedanken versunken zu sein schien. Für Meleander war das alles zu viel auf einmal. All die Jahre hatte er geglaubt, seine Schwester wäre tot, und nun sollte sie es nicht mehr sein? Dazu sollte sie noch geradewegs hierher, auf dem Weg nach Tirganach sein? Was würde er ihr sagen, wie würde sie reagieren? Oder wäre es vielleicht besser, wenn er Elodris´ Rat befolgen und ihr nichts sagen würde? Wie würde ein weiser König in dieser Lage entscheiden?

Eine Weile schritt er den Saal auf und ab und überlegte, was zu tun sei. Als er aber zu keinem Entschluss gelangen konnte, sank er auf dem Thron nieder und stützte die Stirn auf die Hand.

„Mein Herr!“, wandte sich die Heilerin an ihn, die an seinen Thron herangetreten war, um sich zu vergewissern, dass ihr König bei Gesundheit war.

Meleander jedoch schüttelte den Kopf: „Es mag Euch zwar nicht gefallen, Elodris, und vielleicht ist es nicht weise, so zu handeln, doch wenn Eure Worte der Wahrheit entsprechen, dann hat sie ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie ist. Ich kenne meine Schwester gut; gut genug um zu wissen, dass sie nicht wollen würde, dass man ihr die Wahrheit vorenthielte, und dass sie stark genug wäre, sich dem zu stellen, was ihr bevorstünde…“

Eine Weile lang sah er den Hauptmann an, der genau zu wissen schien, was Meleander meinte.

„Ihr habt sie kennen gelernt, mein König“, gab dieser zur Antwort, „Es ist, als hätte sie sich in all der Zeit nicht im Geringsten verändert. Und dennoch…“

„Ist sie, trotz all der Vertrautheit, eine Fremde“, beendete Meleander den Satz.

Für einen kurzen Augenblick sahen sich die beiden Elfenmänner ernst und schweigend an, bis Daeron schließlich, wie von einem stummen Befehl gelenkt, sich gegenüber dem König verneigte und den Thronsaal verließ. Verwirrt stürmte er in Richtung Stadttor. Wieder und wieder kam ihm ein und dasselbe Bild vor Augen, jener Moment, da er geglaubt hatte, zu sterben. All die Jahre lang hatte er versucht es zu verdrängen, doch nun sah er sie wieder, Caileen, wie sie sich vergeblich bemühte, an dem Abgrund zu halten. Auch jetzt noch ließ ihm ein Schauer bei dem Gedanken daran, dass sie seine Hilfe abgelehnt und freiwillig den Tod gewählt hatte, über den Rücken. Jener Tag, ihr Todestag, war auch der Tod seines Herzens gewesen. Er hatte damals gewusst, dass sie nichts weiter für ihn empfand, als wie für einen guten Freund aus Kindertagen, doch hatte er sich, als sie ihn zu ihrem engsten Vertrauten ernannt hatte, geschworen, sein ganzes Leben ihren Wohlergehen zu widmen, und auch nach ihrem Tod hatte er keiner Verbindung mit einer Frau, sei sie noch so schön, zugestimmt. Doch was empfand er nun für sie? Nun, da ihm allmählich klar wurde, was während des vergangenen Jahres geschehen war, nun, da er begriff, dass er es zwar mit Caileen, die er aufrichtig geliebt hatte, und dennoch mit einer Fremden, einer vollkommen anderen Frau zu tun hatte, wusste er nicht mehr, was er noch für sie empfand. Auf der einen Seite wollte sein Herz aus seiner Brust springen vor Freude, sie endlich wieder gefunden zu haben, zugleich aber hatte er sie als eine andere Elfe kennen gelernt, die er zwar wertschätzte und mochte, aber nicht die Frau war, an die er sein Herz verloren hatte.
 

Schweigend ließen sie und Arsinoe sich neben Kalenth und Lyenn nahe dem See vor der Stadt nieder. Kazary verstand nicht, was all das sollte. Kalenth hatte so ungeheuer ernst gewirkt, als er sie gebeten hatte, mit nach Tirganach zu kommen. Was mochte sich wohl während des Winters zugetragen haben? Forschend schaute sie sich um. Dieser Ort hier wirkte voller als sonst, viele Leute mussten hierher gezogen sein. Aber wieso?

Immer mehr bekam sie das Gefühl, aus diesem Leben ausgeschlossen zu sein, nicht hierhin zu gehören. Vielleicht war es wirklich die bessere Entscheidung, im Dorf bei ihrer Familie zu bleiben, so schwer es ihr auch fiel.

Unter ernsten Blicken führte Kalenth die Elfe zum äußeren Stadttor. Aus der Ferne konnten die beiden dort eine Gestalt erblicken, die eindeutig keiner der Torwächter war. Anscheinend wurden sie bereits erwartet.

„Danke, Kalenth, das du sie so schnell zu uns gebracht hast!“, sprach der Hauptmann Kazarys Geleiter an, ohne sich, wie er es sonst tat, nach der Art ihrer Gilde zu verneigen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich derselbe Ernst ab, den sie auch bereits auf dem des Halbelfen festgestellt hatte.

Dieser jedoch legte die zur Faust geschlossene Schwerthand auf die Brust, neigte leicht das Haupt, dass ihm das Haar ins Gesicht fiel, und kehrte mit einem „Stets zu Diensten“ zu Lyenn zurück.

Eine Weile beobachteten Kazary und Daeron die beiden, bis sie am Horizont verschwanden, dann wandte sich der Hauptmann an die Elfe: „Bitte folgt mir, König Meleander möchte Euch sehen!“

Überrascht über Daerons Förmlichkeit, die er sich normalerweise in ihrer und Lavinias Gegenwart abzugewöhnen versuchte, nun aber unweigerlich und ernsthafter denn je zu Tage kam, folgte sie ihm in Richtung innerer Stadtring, warf jedoch noch einen kurzen, verwirrten Blick zu Arsinoe zurück, die ebenfalls wunderlich das geschehen betrachtete, und sprach in Gedanken zu ihr: „Weißt du denn nicht, was hier vor sich geht?“

„Leider nein…ich wünschte, ich würde… aber das alles ist mir ebenso ein Rätsel, wie es dir eines ist“, erhielt sie zur Antwort.

„Nun gut“, erwiderte sie und wandte sich wieder zum Gehen um, „Warte bitte hier auf mich! Ich will sehen, was ich erfahren kann.“

Mit gezielten Schritten führte Daeron sie durch die Straßen auf dem direkten Weg durch das innere Tor und in den zweiten Stadtkreis, wobei ihr auffiel, dass er des Öfteren den Mund öffnete, als wollte er etwas sagen, ihn dann aber wieder schloss, sie für einen Augenblick mitleidig und etwas traurig ansah, ehe er dann wieder die ernste Miene auflegte und weiterging. Kazary hätte ihn zu gerne gefragt, was er denn habe, doch hielt sie es vorerst für besser, ihn nicht anzusprechen. Wer wusste, wie er reagieren würde?

Mit einem weitläufigen Schwung öffnete man ihren die Tore ins Schloss und geräuschvoll klangen ihre Stiefel auf dem Boden wider, während sie sich ihren Weg in den Thronsaal suchten. Zu Kazarys Verwunderung fanden sie diesen vollkommen leer vor, bis auf eine mit weißen Stoffen verschleierte Frau, die abwesend und in sich gekehrt an einem Ende des Raumes saß und kaum von ihnen Notiz zu nehmen schien. Daeron jedoch führte sie geradewegs an ihr vorbei, hinter den Vorhang zu der Tür neben König Meleanders Thron, die der Elfe schon damals bei dem Ball aufgefallen war, als die Zwerge sie nutzen. Nun aber konnte sie ihre Verwirrtheit und ihren Unmut nicht länger verbergen und sprach den Hauptmann direkt an: „So sagt mir doch endlich, was hier vor sich geht! Was soll ich hier, wer ist diese Frau, und wo ist König Meleander?“

„König Meleander erwartet Euch hinter dieser Tür… was Eure anderen Fragen anbelangt… ich wünschte, ich könnte sie euch beantworten, aber ich habe versprochen, Eurem Bruder den Vorrang zu überlassen und Euch die Verhältnisse zu erklären… vielleicht werdet Ihr ja dann von selbst verstehen…“, gab er zur Antwort, wobei er die Hände hob, als wollte er sie an der Schulter berühren, jedoch ließ er sie sofort wieder sinken, trat etwas zurück und schaute sie mit einem Blick an, den die Elfe nicht zu deuten vermochte. So widersprüchig in seinen Gebarden hatte sie den Hauptmann noch nie erlebt. Auch wusste sie nicht, was er mit „Bruder“ meinte, sie hatte doch keine Brüder, zumindest soweit sie es wusste. Dennoch folgte sie seiner Aufforderung und trat durch die verborgene Tür, durch die sie einst die Zwerge gehen gesehen hatte. Mit einem leisen Knarren schloss Daeron sie hinter der Elfe. Anscheinend sollte sie von hier an alleine weitergehen.

Vor ihr lag ein Treppengang aus weißem Kalkstein, der sich stetig nach oben wand. Eine Reihe silberner Laternen erhellte den Weg. Ohne weiter zu überlegen, was sie am anderen Ende des Ganges erwarten würde, setzte sie einen Fuß auf die Stufen. Der Kalkstein fühlte sich weich und staubig unter ihren Stiefeln an. Dann setzte sie den anderen Fuß auf die nächste Stufe und arbeitete sich so langsam, aber zielstrebig den Weg hinauf. Als sie schon glaubte, die Treppen würden gar kein Ende mehr nehmen, fand sie sich auf einem kleinen Absatz wieder, der von einem blassblauen Vorhand umgeben war. Vorsichtig schob die Elfe diesen zur Seite. Dahinter lag ein weitläufiger Balkon, ebenfalls in weiß gehalten, etliche Meter über dem Erdboden.

Jemand sprach sie an: „Komm bitte näher!“

König Meleander stand mit auf die Brüstung gelehnten Armen da und schaute in die Ferne. Wie ihr geheißen, gesellte sich Kazary zu ihm. Sie verbeugte sich tief, ehe sie ihn fragend ansah.

„Was wünscht Ihr mein König, was habe ich mir zu schulden kommen lassen, dass man mich hierher führt, als wäre ich eine Mörderin oder Verräterin?“

„Wer bist du?“, wandte sich der König an sie und blickte sie mit denselben grünen Augen an, wie es die ihren selbst waren. Die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen ihr und Meleander verblüfften sie jedes Mal aufs Neue.

„Ich weiß nicht, was Ihr mein, Herr“, entgegnete sie und schüttelte den Kopf, „Ich bin eine Elfe, mein Name ist Kazary, ich stehe hier… mehr weiß ich selbst nicht…“

„Bist du denn nie auf die Idee gekommen, dass du nicht die bist, für die du dich hältst?“

Kazary war verwirrt; was wollte alle nur von ihr?

„Mein Herr, ich verstehe nicht…“

„Erinnerst du dich denn wirklich nicht?“, sprach Meleander leise, wobei sich seine Augen mit Trauer füllten, „Nicht an Mutter, nicht an Vater, nicht an mich, an rein gar nichts? Ich bitte dich, schaue tief in dich hinein, lausche deinem Herzen, und dann sag mir, wer du bist!“

Immer noch von des Königs Worten durcheinander gebracht und auch mit zwiespältigen Gefühlen tat sie, worum er sie bat, schloss ihre Augen und horchte in sich hinein. Wer war sie?
 

Betrübt wandte sich Daeron von der geheimen Tür ab. Er konnte Kazarys Reaktion nur zu gut verstehen, sicher würde er sich in ihrer Situation nicht anders verhalten. Trotzdem machte ihn der Gedanke daran, dass sie sich, nun da er sie endlich wieder gefunden hatte, an nichts mehr zu erinnern schien, traurig. Dieser elendige Zwiespalt… all diese Perphidität und Ironie kamen ihm vor wie ein schlechter Witz an einem Morgen nach zu viel Alkohol.

„Die Prinzessin steht Euch nahe“, bemerkte die Heilerin von ihrem Sitzplatz am ende des Saales herüber.

Daeron lächelte gequält: „Ist das denn so offensichtlich?“

Elodris nickte verständnisvoll und führ fort: „Und wie ist es mit Kazary? Wie steht es um sie?“

Ernst und nachdenklich verschränkte er die Arme vor der Brust. Er wusste nicht, was sie all das anging, doch auf irgendeine seltsame Art machte sie einen unglaublich weisen und erfahrenen Eindruck auf ihn. Sie gab einem das Gefühl, dass man ihr, trotz ihrer heimtückischen Katzenaugen, vertrauen konnte. Vielleicht lag es daran, dass sie stets so wirkte, als habe sie selbst schon die unerträglichsten Trauer und Leiden erlebt, als habe man ihr alles genommen, dass ihr einst im Leben lieb war.

„Ich weiß es nicht…“, antwortete er letztendlich.

„Vielleicht solltet Ihr lernen, die als Eins zu sehen, nicht als die beiden verschiedenen Frauen, als die Ihr sie kenne gelernt habt. Es mag sein, dass sie nie die sein wird, die sie einst war.“

„Ich habe Euch doch gefragt, Meisterin, welches Heilmittel es gegen das Vergessen gäbe. Ihr habt auf diese Frage geschwiegen, weshalb? Weil ihr glaubt, dass Caileen nimmer zurückkehren wird, dass es sie nicht mehr gibt, sondern nur noch Kazary?“

„Nein, nicht deshalb, auch wenn diese Vermutung nahe liegt und vielleicht sogar wahr ist“, entgegnete die Heilerin plötzlich tot ernst, „Nein, ich habe geschwiegen, weil der Schlüssel in ihr selbst liegt, in ihr und dem Drachenweibchen. Sie können ihre Erinnerungen nur in sich selbst finden, denn kein Zaubertrank vermag zu enthüllen, was ohnehin schon in einem selbst ist.“
 

Langsam begann sie zu erzählen: „Ich heiße Kazary, dies ist der Name, den man mir gab, als man mich vor über dreißig Jahren fand. Ich lebe in den Hochlanden, in einer Siedlung der Menschen jenseits der Narbe. Seit jenem tag, da ich aus einer Ohnmacht, in der ich gefangen war, erwachte, steht mir das Drachenweibchen Arsinoe zur Seite, und vor etwa zwanzig Jahren lernte ich die Elfe Lavinia kennen, welche eine junge Drachenreiterin in Euren Diensten war. Durch ihre Bemühungen und ihre Bitten wurde mir die Ehre gewährt, mich dieser edlen Gilde anzuschließen. Was danach geschah, wisst Ihr ja selbst…“

Unverwandt blickte Meleander die Elfe an. Er schien eine ganz bestimmte Antwort erwartet zu haben, und so, wie es Kazary nun erschien, war es nicht diese, die sie ihm gegeben hatte.

„Und was war davor… vor all dem, was du erzählt hast… deine Kindheit, dein Geburtsort, oder vielleicht sogar deine Eltern?“

Kazary schüttelte den Kopf: „Da gibt es nichts, an das ich mich zu erinnern vermag. Mein Gedächtnis reicht nicht weiter zurück als bis zu jenem Tag, da ich aus dem Koma erwachte. Was weiter zurück liegt erscheint mir nur als unendliche Schwärze. Deshalb habe ich angefangen, die Menschen, bei denen ich lebe, als meine Familie anzusehen. Dennoch habe ich manchmal das Verlangen, herauszufinden, wer oder was ich bin. Das war auch letztendlich der Grund, weshalb ich mich auf die Drachenreiter einließ. Doch mittlerweile glaube ich, es war ein dummer Fehler. Es wird schon seinen Grund und seine Richtigkeit haben, wenn ich mich nicht erinnern darf.“

„Es ist so, wie Daeron sagte“, entgegnete der König mit einem melancholischen Lächeln, „Äußerlich bist du noch die selbe, doch in deinem Herzen bist du eine Fremde. Es muss so sein, denn früher hättest du nicht so gesprochen.“

„Mein Herr, ich verstehe nicht!“, sprach Kazary diesmal etwas lauter vor Verwirrung.

Das Gefühl, dass alle hier etwas über sie wussten, was man ihr verschweigen wollte, nahm immer mehr zu. Was war hier nur los? Alles, was sie wollte, war doch nur in Frieden leben, bei ihren Freunden, ihrer Familie, so wie es war, bevor sie dieses Leben hier in den Städten entdeckt hatte! Sie hatte doch nichts verbrochen, oder doch?

Behutsam nahm Meleander sie bei der Hand und führte sie fort von dem Balkon in das weitläufige Gemach, das sich dahinter befand. Vor einem mannshohen Gemälde machte er Halt.

„Vielleicht ist dir das eine Hilfe!“

Nachdenklich betrachtete Kazary das Bild. Da war eine Familie zu sehen, Mutter, Vater und zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter. Sie alle schienen sich recht ähnlich, bis auf die Frau, die die Mutter zu sein schien. Anders als ihr Mann mit seinem rotbraunem und ihre Kinder mit dem feuerroten Haar war ihres schwarz wie die Nacht. Auch ihre Augen waren von seltsamer Natur, waren sie von einem dunklen Blau mit Pupillen wie die einer Katze. Das einzige, was sie vererbt hatte, war ihre blasse Haut, denn trotz der leichten Sommersprossen um den Nasen der Kinder war ihre Haut um einiges heller als die ihres Vaters, ganz besonders die des Mädchen. Ihr Blick fiel nun auf die Geschwister. Der ältere, der Bruder, schien seinem Vater an Körpergröße und Statur nahe zu kommen, doch sah man deutlich in seinen Augen, dass er noch ein junger Mann war. Sein Gesicht sprach von Güte und Zufriedenheit. Ein Blick zum König verriet ihr, dass dieser Elfenprinz der junge Meleander war. Etwas aber stimmte nicht an dem Bild, fand sie, auch wenn es noch so viel Schönheit ausstrahlte. Es lag an dem Mädchen neben Meleander. Sie war knapp einen Kopf kleiner als ihr Bruder, gewiss war sie zwar kein Kind mehr, aber eine erwachsene Frau war sie auch noch nicht. Ihr flammendes Haar war kunstvoll geflochten und mit den eher knabenhaften Kleidern, wie sie ein Prinz tragen würde, machte sie einen selbstbewussten und starken Eindruck. Sie lächelte etwas, doch war da etwas in ihren Augen, dass nicht zur Gesamtheit des Bildes passen wollte. Ihre Augen waren tiefgründig, ganz so, als wäre sie in einem Traum gefangen, als wünschte sie sich, woanders zu sein und nicht in ihrer Rolle sein zu wollen, und zugleich waren sie eine grüne Flamme des Tatendrangs. Auf eine seltsame Art und Weise kam ihr diese Elfe vertraut vor.

„Wer ist sie?“, wandte sie sich fragend zum König um.

„Das ist Caileen, meine Schwester“, antwortete dieser mit einem nostalgischen Lächeln, „Sie starb damals bei dem großen Krieg gegen die Dunkelelfen. Sie stürzte in den Abgrund, den der Krieg in die Landschaft geschlagen hatte…“

Dunkel dämmerte es ihr. Das, wovon Meleander soeben sprach, kam ihr bekannt vor, sie glaubte, so etwas schon einmal erlebt zu haben, aber wo nur?

Dann fiel es ihr plötzlich ein. Es war alles so, wie in ihrem Traum, dem Traum, den sie Nacht für Nacht hatte, seit sie aus der Dunkelheit erwacht war. Die junge Frau, das Schlachtfeld, der Abgrund… alles war wie in ihrem Traum.

„… Wir haben ihr damals gesagt, dass es zu gefährlich für sie sei, doch sie wollte nicht hören. So war es immer gewesen. Caileen hatte es als ihre Pflicht als Prinzessin angesehen, für ihr Volk zu kämpfen, wie all die tapferen Soldaten kämpften. ‚Der Ruf hat mich ereilt, Bruder, ich wurde zur Drachenreiterin geboren, und deshalb muss ich auch meinem Schicksal ins Gesicht blicken!’ sagte sie mir damals, ehe sie sich mit Arsinoe aufmachte und in den Krieg zog.“

„A-Arsinoe…“, wiederholte Kazary ungläubig.

War das möglich? Hatte sie sich nicht etwa verhört? Hatte König Meleander wirklich soeben gesagt, Arsinoe sei Prinzessin Caileens Gefährtin im Bund der Drachenreiter gewesen? Aber, wie konnte das sein? Sie war doch im Bunde mit Arsinoe! Konnte es sein, dass es sich um ein anderes Drachenweibchen, jedoch mit demselben Namen, handelte, oder war es sogar möglich, dass sie sich nach dem Tode ihrer einstigen Schwester eine neue gesucht hat?

„Ich…Ich… besteht denn nicht die Möglichkeit, mein Herr, dass jemand, sei es Reiter oder Drache, nach dem Tod seines Partners einen neuen Bund schließen kann?“, fragte sie leise.

Doch Meleander schüttelte kaum merklich den Kopf: „Ich fürchte nicht. Soweit es mir durch meine Schwester und den Hauptmann Daeron bekannt ist, ist ein solcher Bund einmalig und ist er einmal zerbrochen, so gibt es keinen Weg zurück.“

„Aber dann…!“

Entsetzt und überrascht zugleich wich die Elfe einen Schritt zurück. Nun endlich war ihr klar geworden, was Meleander die ganze Zeit über versuchte zu erklären.

„Ja, Kazary, oder soll ich lieber sagen ‚Caileen’, du bist die Prinzessin von Dorien, die Tochter von Meleborn und Nephele, meine Schwester.“

Hilflos blickte Kazary umher. Jetzt, da die Tatsachen so offen auf der Hand lagen, war es unmöglich zu leugnen, es ging nicht anders, es musste einfach so sein, wie Meleander erzählt hatte. Aber warum ausgerechnet jetzt?

„Was hast du?“, fragte Meleander besorgt, als er den Gesichtsausdruck der Elfe bemerkte.

Kazary schüttelte den Kopf und wandte sich beschämt zur Seite: „Es tu mir Leid, aber… ich… wieso… erzählt Ihr mir all das?“

„Weil es dein Recht ist zu wissen, wer du bist, und weil du mich einmal darum gebeten hast, dich auf die Suche nach deiner Vergangenheit zu machen.“

„Aber ich kann nicht! Ich gehöre nicht hierher! Mein Zuhause ist in den Hochlanden, bei den Menschen! Damals, als ich hierher kam, war ich naiv und verwirrt, aber jetzt bin ich mir dessen sicher…“

„Elodris hat vorhergesagt, dass du so reagieren würdest“, sprach der König und legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter, „Deshalb wollte ich, dass du zuerst davon erfährst. Mein Volk, unser Volk, das Volk von Dorien, hält ihre geliebte Prinzessin Caileen immer noch für tot. Es steht dir also frei, dich zu entscheiden, wo dein Platz ist. Egal wie du dich auch entscheidest, ich werde es akzeptieren. Wenn du wünschst, wieder zu den Menschen zurückzukehren, so werde ich dich ziehen lassen und ich werde tun, als ob du immer noch tot wärest. Solltest du jedoch hier bleiben wollen, so werden wir alle dich mit Freuden hier aufnehmen.“

Kazary überlegte. War es denn nicht das gewesen, was sie sich gewünscht hatte? Zu erfahren, wer sie war? Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie nicht in dieses Leben gehörte. Aber, wenn sie wirklich die Prinzessin war, hatte sie denn nicht die Pflicht, ihren Platz in der Welt einzunehmen?

„Es wird seinen Grund haben, dass man mir meine Erinnerungen genommen hat“, erklärte sie schließlich, „Ich bin nun Kazary und nicht mehr Caileen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mitsuki11
2008-03-13T22:38:27+00:00 13.03.2008 23:38
Super Geschichte!! Bin gespannt wie es weiter geht!

LG
Suki


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