Tod und der Engel
Der (alltägliche) Wahnsinn des Todes
Ein verzweifelter Schrei ließ mich aufblicken. Dabei wollte ich es doch gar nicht sehen, das Leid und den Schmerz, den er zu ertragen hatte. Die Seelenpein, die seinen Körper verstümmeln ließ, in einer Weise, die ich mir nicht vorzustellen wagte.
Er schrie wieder. Ein Außenstehender hätte nicht gewusst, wieso er sich auf dem Boden krümmte und immer wieder die zu erleidenden Schmerzen auskeuchte. Aber Außenstehende wussten ohnehin nichts. Gar nichts. Ihnen war meine Welt unbekannt und verdammt. Sie wollten sich nie mehr damit abgeben, als unbedingt notwendig war. Und das war nicht gerade viel.
Ich wand meinen Blick wieder ab und stattdessen der Arbeit zu, die er gewagt hatte mit seinen Rufen zu unterbrechen. Es war eigentlich nur ein Blatt Papier. Schwarz wie die Nacht. Daneben lag eine große, schöne Feder, ebenfalls schwarz, allerdings leicht bläulich schimmernd. Die Tinte in dem kleinen Glas vor mir war rot. Blutrot.
Ich ergriff die Feder, tauchte sie mit präziser Gewohnheit in die Tinte und setzte schließlich meinen Namen auf das Papier. Die Farbe glühte kurz auf, brannte sich dann leuchtend in die Fasern ein und zurück blieb ein giftig strahlender Schriftzug.
Bevor ich mich wieder zu dem Opfer umdrehte, vergewisserte ich mich noch kurz, dass die Folter fürs Erste beendet war. Hinter mir konnte ich nur seinem angestrengten Schnaufen lauschen und so sah ich ihn dann schließlich an.
Sein mittellanges, schwarzes Haar klebte ihm im schweißnassen Gesicht, das sich immer noch vor Schmerzen verzog, doch damit konnte ich leben. Leben, ha, welche Ironie dieses Wortspiel doch bot!
„Der Vertrag“, sagte ich laut und deutlich, um mich zu vergewissern, dass er auch jedes Wort verstand. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter und reichte ihm die schwarze Feder, so wie das schwarze Papier. Mit zitternden Fingern nahm er es entgegen und starrte dann aus außergewöhnlich blauen Augen das Schreibutensil an. Gott, wie erbärmlich!
„Jetzt setz endlich deine verdammte Unterschrift unter diesen vermaledeiten Vertrag, dann haben wir es hinter uns!“, knurrte ich gereizt. Das war ja nicht zum Aushalten!
„Ich dachte immer…“, murmelte er und sein Blick, der auf mir ruhte, wurde auf einmal beängstigend scharf. „Ich dachte immer, der Tod wäre männlich.“
Zu diesem Thema war ich schon häufiger angesprochen worden. Aber noch nie von einem Opfer.
Ich runzelte also die Stirn, verdrehte dann aber genervt die Augen. Diese Typen ließen sich so leicht blenden!
„Es heißt ja auch schließlich der Tod, nicht wahr?“ Er lachte leise. Selbst in dieser Situation konnte er noch Witze reißen, dabei hatte er Minuten zuvor noch Höllenqualen erlitten. Naiv.
„Der äußere Schein trügt oft. Bringt man euch da oben eigentlich gar nichts mehr bei?“, seufzte ich genervt.
Wieder lachte er. „Hab wohl nicht aufgepasst.“
Ich schüttelte mein langes Haar, von dem nicht einmal ich sagen konnte, welche Farbe es hatte. Es war undefinierbar, wie so einiges an mir.
„Der Tod ist Neutrum“, meinte ich nur noch, bevor ich ihn mit meiner Stiefelspitze anstieß. „Und jetzt mach endlich!“
Aber er machte noch immer keine Anstalten, endlich seinen bescheuerten Namen unter den Vertrag zu setzen. .
„Für Neutrum siehst du aber ziemlich feminin aus“, gluckste er. Dieser Kerl brachte mich noch um meinen, nicht zu verachtenden, Verstand. Und dabei hatte er auch noch Recht!
Ich sah, um es mit seinen Worten auszudrücken, feminin aus. Langes Haar bis zur Hüfte, stechend goldene Augen, von langen, schwarzen Wimpern umrahmt. Mein Gesicht ist tatsächlich recht weiblich, doch zum Glück wurde mein Körper seit jeher von einem weiten, schwarzen Mantel umhüllt. Sonst hätte der Mann den Schock seines nicht mehr vorhandenen Lebens bekommen. Da war es fast schade, dass er schon tot war.
Ich musste ihn ziemlich eigenartig angesehen haben, denn plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus. Was war denn nun schon wieder los?
„Ich hab nur gerade gedacht, dass dieser Blick tödlich sein könnte. Verstanden? Tödlich!“, lachte er.
Hatte der nicht mehr alle Tassen im Schrank?
„Ihr gefallenen Engel werdet auch von Jahrhundert zu Jahrhundert schlimmer“, seufzte ich verdrießlich. Was bildete er sich eigentlich ein, wer und vor allem wo er war? Verdammt, das hier war mein Reich! Das Reich des Todes! Dieser Kerl sollte vor Angst in die Hosen machen und sich nicht einen ablachen! Aber ich musste zugeben, dass Engel schon immer recht gewöhnungsbedürftig gewesen waren. Vor allem diejenigen, die von ihrer tollen Wolke heruntergeschubst worden und ziemlich unsanft bei mir unten angekommen waren. Dass der Typ vor mir ein Gefallener war, brauchte mich also eigentlich nicht zu wundern. Vermutlich hatte er sich beim Aufprall den Kopf gestoßen.
„Jetzt ist mir klar, wieso sie dich verbannt haben! Dein Humor ist echt zum Totlachen“, sagte ich. Dummerweise hatte ich nicht auf meine Wortwahl geachtet und schon kicherte der Engel wieder los.
Was hatte ich mir da nur eingebrockt?
Noch einmal stieß ich ihn mit meinem Fuß an. Diesmal etwas heftiger, damit er endlich mit diesem dämlichen Gegrinse aufhörte.
„Ich mach ja schon, ich mach ja schon“, brummte er unwillig. Dem hatte ich die Suppe jetzt aber kräftig versalzen. Aber über Tod macht man sich nun mal nicht ungestraft lustig!
Er nahm das schwarze Papier und setzte sich auf. Der hatte doch jetzt nicht ernsthaft vor, den Vertrag auch noch zu lesen? Also wirklich. Engel!
„Jetzt zerbrich dir nicht den Kopf über das, was da steht!“, fuhr ich ihn an. „Der Tod ist das einzig Gerechte auf dieser Welt. Ohne Schlupflöcher und ohne Hinterlistigkeiten. Im Tod sind alle Menschen gleich!“ Ich zitierte meinen Standartspruch so wie immer, wenn sich einer dieser eingebildeten Politiker auf dieser Erde wieder versuchte rauszureden. Ich hab doch gar nichts Schlimmes gemacht! Ich bin noch nicht bereit zum Sterben! Ich war immer ein guter Mensch! Gott, wie ich das hasste!
Allerdings hatte ich dabei eine entscheidende Tatsache übersehen: Der verrückte Schnösel vor mir war nun mal kein Mensch, sondern ein Engel. Wenn auch einer, der ziemliche Scheiße gebaut hatte, wenn er jetzt vor mir sitzen musste. Aber eben ein Engel.
Dementsprechend seltsam sah er mich dann auch an.
„Ja, okay!“, gab ich zu. Diese Flügelträger hatten vielleicht einen Blick drauf! Nervig! „Du bist ein Engel, also lies meinetwegen das Kleingedruckte! Wenn’s dich glücklich macht!“
Er grinste mich unverhohlen an und begann dann zu lesen.
Hier sollte ich vielleicht hinzufügen, dass Engel schnell sind. In allem, was sie tun. Auch im Lesen. Und selbst, wenn man vor Tod sitzt. Engel wollen schließlich auch noch ein klitzekleines bisschen Würde bewahren. Und außerdem mussten sie immer alles besser wissen!
„Also, hier steht“, fing er dann auch schon an.
„Egal, was da steht, es stimmt und etliche vor dir waren schon glücklich damit!“, unterbrach ich ihn unwirsch.
Er hob nur eine Augenbraue uns sah mich wieder aus diesen unergründlich blauen Augen an. Vollkommen egal, was ein Engel so anstellt, seine Augen bleiben immer blau. Unschuldig und wissend blau. Das unterschied sie in weiterer Hinsicht von Menschen und von Unterweltlern. Deren Augenfarbe ändert sich im Tod, je nachdem, was sie so verbrochen haben. Blaue Augen hatte ich schon eine Weile nicht mehr, wenn man mal von den tausenden von Kinderseelen absieht, aber das ist noch mal eine Kategorie für sich.
„Da steht“, begann er noch einmal und jetzt musste ich mir wohl oder übel einen endlos langen Vortrag über das anhören, was in dem Vertrag unmöglich stimmen konnte. Sagte ich nicht schon, dass Engel besserwisserisch sind?
Ich schweifte mit meinen Gedanken ab. Vermutlich reihten sich bei mir schon wieder die toten Seelen. Aller Wahrscheinlichkeit nach Türken, die konnten mit ihren Kriegsspielchen auch nie ein Ende finden. Dazu kamen noch die ganzen Kinder, die irgendwo auf der Welt verhungert waren. Bei denen musste ich immer besondere Vorsicht walten lassen, die waren immer komisch drauf. Kinder eben. Auch, wenn sie zu bemitleiden waren.
Irgendwann schnappte ich wieder ein paar Wortfetzen auf, die der besserwisserische Vogel da von sich gab.
„… und Tod hat die Pflicht, sich um Gefallener Engel Nr. 19 persönlich zu kümmern und…“ Ja ja, bla bla bla. Und so weiter. Tod hat die Pflicht. Ja, und so…
Stopp! Hatte ich irgendetwas verpasst?
Ich riss dem Engel den Vertrag aus der Hand und überflog die Zeilen.
Tod hat die Pflicht, sich um Gefallener Engel Nr. 19 persönlich zu kümmern und ihn als würdiges Mitglied der Toten Seelsorge, Himmel Erde Hölle GmbH auszubilden. Zudem wurde festgelegt…
Ich las nicht weiter. So etwas war mir seit Anbeginn der Menschheit nicht unter die Augen gekommen. Tod aus Ausbilder für einen übergeschnappten gefallenen Vogel, der zudem eine zu große Klappe hatte und einen äußerst makaberen Sinn für Humor.
„Jetzt brauch ich erst mal nen Schnaps!“, stöhnte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen, der aus dem Nichts erschienen – und ziemlich unbequem – war und füllte ein gerade erst materialisiertes Glas mit einer klaren Flüssigkeit aus einer Flasche, die plötzlich erschienen war. In einem Zug war das Zeug auch schon weg und ich atmete befreit auf.
Der Engel sah mich komisch an.
„So langsam glaube ich wirklich, dass du Neutrum bist!“, murmelte er. „Nur n Kerl säuft während des Jobs!“
Ich verdrehte die Augen, der hatte auch von nichts eine Ahnung!
„Wenn dein Job ewig anhält, kannst du nur währenddessen trinken!“, klärte ich ihn auf.
„Dann war das wohl n ganz schöner Schock für dich, was?“, fragte er mitleidig.
„Krieg ja nicht jeden Tag einen Azubi vorgesetzt“, knurre ich. Natürlich war das ein Schock!
Und dann hat dieser Flügelfutzi doch ernsthaft den Nerv gehabt, mich anzugrinsen.
Misstrauisch sah ich ihn an.
„Was guckst du so komisch?“
„Du hattest dir den Vertrag vorher echt nicht durchgelesen, oder?“
Nein, hatte ich nicht, aber das würde ich dir garantiert nicht auf die Nase binden. Die trägst du sowieso schon viel zu hoch.
„Tse“, machte ich deshalb nur und sah demonstrativ in eine andere Richtung. Als er aber wieder anfing zu glucken, funkelte ich ihn doch noch mal direkt an.
„Ich hatte seit hunderten von Jahren keinen Engel mehr hier unten! Und der letzte ist einfach zu Luzifer nach unten abgedampft! Wenn ich das noch so genau weiß, denkst du, da mach ich mir die Mühe und lese diesen blöden Vertrag noch mal durch?!“, schnauzte ich ihn an.
So, wie er mich ansah, dachte er anscheinend wirklich, dass ich das getan hätte.
„Na ja, jetzt ist es sowieso zu spät“, murmelte ich. „Ich hab ja schon unterschrieben!“
„Und jetzt?“
„Wie ‚Und jetzt’?“
„Was passiert, wenn ich auch unterschreibe?“
„Ich schätze mal, du musst erstmal diese komischen Federdinger auf deinem Rücken loswerden“, erklärte ich stirnrunzelnd und betrachtete die zerzausten, schwarzen Flügel. Sahen irgendwie seltsam geknickt aus. „Sind ja anscheinend sowieso nicht mehr zu gebrauchen. Vermutlich gebrochen, so wie du geschrieen hast, als du hier runter gefallen bist.“
Er warf einen kurzen Blick auf seinen Rücken und seufzte. „Vermutlich hast du Recht.“
Natürlich hatte ich Recht! Ich war Tod, verdammt noch mal!
„Und wenn du die Flügel los bist, fangen wir mit deiner Ausbildung an“, gab ich ihm zu verstehen. „Kinderbetreuung, Begleitung ins Licht zum Himmel, Verkündigung der Strafen, und so weiter.“
Er bekam große Augen, bei meiner Aufzählung. „Du hast aber ganz schön zu tun!“
Hörte ich da Bewunderung in seiner Stimme?
„Tja, es ist gar nicht so einfach, Tod zu sein“, meinte ich, nicht ohne Stolz.
„Dann wäre es gar nicht so schlecht, wenn ich dir helfe, was?“, grinste er.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Vermutlich nicht“, dachte ich laut nach. Ja, vermutlich wäre es gar nicht so schlecht.
Ehe ich mich versah, tauchte er die Feder in die blutrote Tinte. „Na, dann wollen wir mal!“, rief er und setzte schwungvoll seine Unterschrift auf das schwarze Papier.
Im gleichen Moment, als die Schrift erglühte, fielen auch schon seine schwarzen Flügel ab und zurück blieb nur noch ein Haufen Federn. Stattdessen legte sich noch ein Mantel um seine Schultern, ähnlich dem meinen, aber doch nicht ganz so eindrucksvoll.
„Dann mal los!“, rief er enthusiastisch und sprang leichtfüßig auf. „Ich hab dich doch sicher schon lange genug aufgehalten!“
Seufzend nickte ich. Hatte er ja wirklich.
„Komm mal mit!“, wies ich ihn an und er folgte mir zu einer großen, dunklen Tür. Dahinter warteten etliche Seelen, die ins Jenseits begleitet werden wollten.
Bevor ich die Tür allerdings öffnete, wollte ich noch etwas von ihm wissen.
„Was hast du eigentlich verbrochen, dass du zu mir gekommen bist?“, fragte ich meinen neuen Lehrling.
Er grinste wieder – daran würde ich mich erst gewöhnen müssen.
„Alkohol im Dienst“, sagte er und lachte.
Ich seufzte auf.
Gott, was hast du mir da eingebrockt?