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Der Wald und das Mädchen

von

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„Verdammt“ fluchte ich, nachdem ich gestolpert war und auf dem Boden lag, „Ich hätte mich nie auf diese blöde Mutprobe einlassen sollen“. Ich stand auf und klopfte mir den Dreck vom guten Kleid, dass ich nur für besondere Anlässe, wie diesen Geburtstag, tragen durfte.

„Jetzt hab ich mich ganz schmutzig gemacht!“ Verärgert darüber stampfte ich auf und lief weiter in den Wald. Es erstaunte mich, wie weit ich gegangen war und begann mich zu fragen, ob ich tiefer hineinlief oder hinaus.

„Wenn du mit uns spielen willst, musst du uns deinen Mut beweisen und in den Wald laufen. Oder fürchtest du dich im Dunkeln?“, erinnerte ich mich an das dumme Spiel, weswegen ich in dieser misslichen Lage steckte.

„Angst? Ich? Dass ich nicht lache! Ich werde weiter als ihr alle gehen, ihr Hasenfüße!“ Wahrscheinlich hatte ich den Mund zu voll genommen. Die Kinderstimmen waren jäh verstummt. Hier und da erklang das Schreien einer Eule oder das Rascheln der Zweige im Wind.

Kein Zeichen eines Kindergeburtstags mehr.

„Und wenn ich nun nie mehr zurück finde?“ Sobald mir dieser Gedanke kam, stieg Panik in mir auf und ich versuchte schneller durch den Wald zu eilen, was schier unmöglich war. Lediglich das fahle Licht des Mondes, das durch die Baumkronen schien, erhellte leicht den Waldboden. Es war fast Vollmond und doch so dunkel, kaum auszumalen wie aufgeschmissen ich wäre, wäre es Neumond.

Trotz der Strickjacke, die ich kurz vor meiner dämlichen Waldaktion übergezogen hatte, fröstelte es mich. Es war zwar Anfang Juni, doch die Nächte waren noch immer furchtbar kalt.

Als ich an einer kleinen Holzhütte ankam, war ich völlig verdutzt. Nicht nur, dass mitten im Wald eine Hütte stand, es brannte sogar Licht!

Auch wenn es unhöflich war, klopfte ich an die Tür.

„Herein“, erklang eine melodische Frauenstimme. Zaghaft trat ich in den kleinen Raum. Ich wunderte mich, wie ordentlich und schön die Hütte von innen war. Vor dem Kamin saß eine Frau in einem Schaukelstuhl.

„Komm doch her,“ bat sie mich. Ich folgte ihrer Bitte. Es erstaunte mich als ich die Frau erblickte. Sie war wunderschön. Ihre langen, dunklen Haare gingen bis zur Taille, die Lippen voll und rot, die Hände über dem Bauch gefaltet. Erst da sah ich, dass sie schwanger war.

„Setz dich doch,“ sprach sie mich abermals an. Sofort setzte ich mich vor den Kamin und genoss die Wärme des Feuers.

„Hast du dich verlaufen?“, fragte sie und sah mich mitleidig an. Ich nickte.

„Aber jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben. Ich bin ja da. Mein Name ist Mary“, sie lächelte, sehr warm und freundlich. Sofort fühlte ich mich geborgen und genoss es, als sie mir den Kopf streichelte. Ich bettete ihn auf ihren Schoß und hörte ihr eine Weile zu, als sie ihrem ungeborenen Kind Schlaflieder vorsummte.

„Es tritt. Willst du es spüren?“ Ohne eine Antwort zu erwarten ergriff sie meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Doch es fühlte sich zu weich an. Vorsichtig versuchte ich fester den Bauch zu ertasten, kam jedoch nicht von dem Gedanken los, dass sie ein Kissen unter dem grauen Kleid versteckte. Verwirrt schaute ich zu Mary auf, die mich noch immer anstrahlte. „Aber, das ist doch nur ein Kissen?“

„Ich weiß“, seufzte sie. „Doch jetzt bist du da, jetzt kann ich endlich mein Kind haben.“ Erst da erkannte ich die Sehnsucht in ihren Augen, im strahlenden Lächeln.

„Ich würde dir jeden Tag Erdbeerkuchen backen und ihn dir mit Kakao servieren. Ich würde dir Geschichten erzählen und dir immer schöne Kleider nähen. Ja, das wäre wunderbar.“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich los zumachen, doch sie hatte meinen Arm fest ergriffen.

„Fräulein Mary, bitte lassen sie mich los!“ flehte ich sie an und Tränen schossen mir in die Augen.

„Aber wieso willst du denn gehen? Wieso mein Kind? Jetzt wo du endlich zu mir gefunden hast?“ Sie streichelte meine Wange, doch ich schubste sie mit einer Kraft weg, die ich mir selbst nicht vorgestellt hätte.

„Sie sind verrückt!“ schrie ich unter Tränen.

Sie streckte ihre Hand nach mir aus und begann zu Wimmern.

„Alles was ich mir je gewünscht habe war ein Kind. Doch es ist bei der Geburt gestorben und seit jeher kann ich keine mehr bekommen. Mein Mann hat mich verstoßen und nun verstößt auch du mich?“ Dann kullerten ihr die Tränen über die Wangen. Ihr wunderschönes, schmerzerfülltes Gesicht zerriss mich innerlich, ich wollte zu ihr gehen und sie trösten, gleichzeitig befürchtete ich, von ihr gefangen genommen zu werden. Also schluckte ich, drehte mich um und lief aus dem Zimmer. Sie stieß einen verzweifelten, markerschütternden Schrei aus und ich ran so schnell ich konnte.

Ich ran, weiter in den Wald. Völlig aufgelöst und noch immer erschrocken über das soeben Vorgefallene. Sie war bestimmt keine schlechte Frau, doch ihr Verständnis von Liebe war völlig verzerrt.

Tiefer und tiefer lief ich in den Wald.

Dann machte ich vor einer Grube halt. Leise konnte ich das Tippen einer Schreibmaschine wahrnehmen.

Ich beugte mich rüber und fragte vorsichtig: „Hallo? Ist da jemand?“

Stille. Kein Schreibmaschinengeräusch mehr.

„Wer da?“

Es war die krächzige Stimme eines Mannes.

„Mein Name ist Lily. Ich habe mich verirrt. Darf ich zu ihnen hinabsteigen?“

„Aber gewiss doch junge Dame.“ Dann murmelte er noch etwas unverständliches und ich kletterte die Grube hinunter.

Der Mann saß auf einem spärlichem Bett, seine schwarze, antike Schreibmaschine auf dem Schoß. Um ihn herum unzählige lose Zettel verstreut. Ihm waren nicht mehr viele Haare geblieben, nur einige dünne, aber lange Strähnen. Tiefe Falten durchzogen sein schmales Gesicht. Er sah so zerbrechlich aus. Er wirkte wie aus Papier.

Ein Gitterfenster diente als Eingang in die Grube.

„Was tun sie denn hier?“ Ich versuchte höflich und nicht zu neugierig zu klingen.

„Nach was sieht es denn aus?“ antwortete er ohne von seiner Schreibmaschine aufzublicken. Das Tippen hatte er wieder aufgenommen, „Ich schreibe eine Geschichte. Seit zwölf Jahren.“

„Zwölf Jahre? So lange?“ fragte ich verdutzt. Er reagierte nicht. Ich bückte mich um einen der Zettel zu aufzuheben.

„The cat sat on the mat. The cat sat on the mat...“ Derselbe Satz füllte das gesamte Blatt. Ich hob noch einige auf, doch auf jedem stand dasselbe.

„Aber Herr...“, begann ich „was ist das denn für eine Geschichte?“

„Zweifelst du etwa an mir?“ Er funkelte mich wütend an, „Siehst du das Kuchenmesser dort?“

Ich drehte mich in die Richtung in die er zeigte. Dort lag tatsächlich ein schmutziges Messer. Ich ging hin um es genauer zu betrachten.

„Was klebt an diesem Messer?“ fragte ich verdutzt und fasste über die verkrustete, dunkelrote bis schwarze Schicht.

„Grace hatte auch an mir gezweifelt. Willst du, dass dir dasselbe wie ihr passiert?“

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ich ließ das Messer fallen und wich einige Schritte zurück.

„Verzeihen sie, aber ich glaube ich muss weiter.“

Ich wand mich ab, sprang zum Gitterfenster empor und verließ den Alten schnellen Schrittes. Noch immer konnte ich ihn schnaufen und tippen hören.

Dann realisierte ich in was für eine Gefahr ich mich begeben hatte und begann wieder zu rennen.

Mein Herz pochte wie verrückt. Die Zweige der Bäume streiften und verletzten mich. Die schwarzen Baumstämme sahen aus wie Gestalten mit bösen Fratzen, die Äste, wie Arme die nach mir griffen. Ich schrie und ran weiter, bis ich an einen Bach kam und anhielt.

Erst da erblickte ich den Mann der am Ufer kauerte. Mutter warnte mich immer davor, mit Fremden zu sprechen. Nun verstand ich ihre Warnung endlich. Aber was blieb mir übrig, so verzweifelt meine Lage doch war? Also schritt ich vorsichtig zu der Gestalt und kniete neben ihr.

„Ähm... Entschuldigen sie. Ich glaube ich habe mich verlaufen, können sie mir helfen?“ Ich wartete einen Augenblick, bekam jedoch keine Antwort. Dann sah ich das schmerzverzerrte, abwesende Gesicht.

„Fehlt ihnen etwas?“ Doch wieder bekam ich keine Antwort. Es war als bemerkte er mich nicht einmal. Ich seufzte und stand auf um wieder zu gehen.

„...Verloren...Ich habe sie verloren.“ Vernahm ich leise und drehte mich wieder zu dem Mann.

„Verloren? Wen verloren?“

„Die Liebste. Sie haben sie mir geraubt. Wie grausam sie doch sind. In der Blüte ihrer Jahre.“ Noch immer wand er das Gesicht nicht vom Wasser ab.

„Aber wer hat sie geraubt? Können sie ihre Geliebte denn nicht finden? Wo ist sie?“ Wieder dauerte es bis er antwortete.

„Tot... Sie ist tot. Sie haben sie getötet.“ Schockiert riss ich die Augen auf. Was ging in diesem Wald bloß vor? Da blickte er mich an. Sein Gesicht war wie versteinert, doch auf einmal schien auch er erschrocken. Er riss den Mund und die Augen weit auf und in seinen toten Augen flackerte auf einmal ein Feuer.

„Du! Du hast sie getötet! Das wirst du mir büßen!“ Er versuchte meinen Hals zu umklammern, doch im entscheidenden Moment wich ich zurück. Um mein Leben bangend lief ich abermals weiter, überschritt den Bach und rannte ohne Ziel und ohne Rast. Doch dann übersah ich einen Abgrund und fiel hinunter.
 

Wer weiß wie lang ich dort bewusstlos lag? Wer weiß wie tief ich gefallen war? Mein Leib schmerzte und mir war schrecklich kalt. Ich wimmerte und wollte, dass es endlich vorbei war. Ich hatte schreckliche Angst und konnte nicht glauben was mir widerfahren war.

„Bitte...“ wimmerte ich. „Bitte, ich bin doch nur ein kleines Mädchen. Ich verspreche auch nie wieder Dummheiten zu machen. Aber bitte lasst mich zurück zu meiner Mama...“

Kaum hatte ich dies ausgesprochen spürte ich etwas kaltes an meiner Wange. Ich vernahm ein Schnuppern. „Wölfe“, dachte ich sofort. Nun konnte ich nicht mehr fliehen. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich würde nicht wieder zurückfinden. So lag ich da und rührte mich nicht, zu schwach um aufzustehen, zu schwach wegzulaufen. Es wäre doch vergebens.

Aber ich wurde nicht gefressen. Nein, der Wolf stupste mich an, als wollte er mich umdrehen. Immer wieder. Doch ich blieb liegen. Nach einiger Zeit knurrte er und ich fragte mich ob er will, dass ich aufstehe? Also stand ich wider willens mit letzter Kraft auf und sah die Bestie an. War das wirklich ein Wolf? Er sah eher aus wie ein Golden Retriever. Nein, auch das schien er nicht zu sein. Sein Fell war lang und glänzend. Es war nicht golden, es schien kupferfarben. Er war groß, eher gesagt riesig. Doch das Tier sah sehr sanft aus, kein bisschen hatte es was von einer Bestie. Außer seiner Größe und seinem Gebiss vielleicht.

Drehte ich nun endgültig durch? War das eine Halluzination? Doch was könnte mich in diesem Wald noch überraschen? Der Wolf drehte sich weg und ging einige Schritte. Dann stand er still, drehte den Kopf zu mir und verharrte.

Wartet er auf mich? Was war das für ein Tier, das wollte, dass ich ihm folge? Was ging in diesem Wald nur vor sich? Ich schüttelte den Kopf und folgte dem Riesenhund. Es war schwer mit ihm Schritt zu halten. Sobald er merkte, dass er zu schnell war, verminderte er seine Geschwindigkeit.

Irgendwann vernahm ich Stimmen. Mir war als hörte ich meinen Namen. Dann sah ich Lichter und ich merkte, dass wir wieder am Waldesrand angekommen waren. So weit nur war ich gelaufen? Es war mir wie etliche Stunden vorgekommen, doch der merkwürdige Hund brachte mich binnen wenigen Minuten wieder hinaus. War ich etwa die ganze Zeit im Kreis umhergeirrt?

Er hatte mich tatsächlich gerettet. Woher wusste er bloß, wo ich hin musste? Woher wusste er, dass ich mich verirrt hatte?

Noch einige Stunden in diesem verrückten Wald und ich wäre selber so verrückt wie seine Bewohner geworden. „Lily? Lily, bist du das?“

Das war die vertraute, panische Stimme meiner Mutter, wenn ich zu nah am Straßenrand entlanglief oder mich zu weit aus dem Fenster beugte. Ich war so erleichtert sie zu hören.

„Mama!“ Als ich mich bei dem Wolf bedanken wollte, war er weg. Einen Moment wunderte ich mich noch weiter über den seltsamen Wald, dann rannte ich meiner Mutter entgegen.

„Oh, Lily! Wo hast du bloß gesteckt? Ich hab mir Sorgen gemacht.“

„Ich hatte solche Angst Mama!“ Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Kleid und fing an zu weinen. Die anderen hatten sich auch um uns versammelt. Die Jungen, die mich provoziert hatten, standen selbst um ihre Mütter und beteuerten ihre Unschuld.

Dann beruhigte ich mich wieder und machte mich los. Ich entschied, die Geschichte für mich zu behalten, sie würden mir nicht glauben sondern mich nur auslachen und für verrückt erklären.

Meine Mutter nahm mich bei der Hand und wir gingen wieder zurück ins Haus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2008-03-27T14:37:23+00:00 27.03.2008 15:37
Ich finde es toll! Komme auch vom Zirkel!XD
Mir gefällt dein Schreibstil sehr!

Alles Liebe,
Omi
Von: abgemeldet
2008-02-24T13:23:24+00:00 24.02.2008 14:23
Hallo,
kam vom zirkel zu dieser Story.
Ich persönlich finde es sehr gut. Es klingt echt nach was. ^^
Gute Arbeit, ehrlich. ^^

LG Dana


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