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Die verblichene Muschel

von

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Als er seinen Blick auf die kleinen Sanddünen richtete, die sich vor ihm erhoben, wusste er, dass heute der letzte Tag war, an dem er am Strand sitzen und die Meeresluft riechen konnte. Seine ferne Zukunft war ihm noch ungewiss, doch zumindest war er sicher, daß seine näheren Aussichten alles andere als rosig sein würden.
 

Nun war es bereits später Nachmittag. Er hatte den Tag damit verbracht, im Sand zu sitzen und gedankenverloren den Wellen zuzusehen, die beinahe unmittelbar vor ihm brandeten und Gischt um seine nackten Füße wogen ließen.
 

Sollte das alles gewesen sein? Alles, was er in seinem zwanzigjährigen Leben erfahren haben sollte? Den ganzen Tag hatten melancholische Gedanken seinen Kopf beherrscht und ihn beinahe gezwungen, an nichts anderes zu denken, und so war er letztendlich auch verblieben: Zerrissen von Traurigkeit, die in seinem Herzen wütete, und von Angst, die sein Gehirn befehligte und ihn nahezu anflehte, irgendeine Fluchtmöglichkeit zu finden.

Jener rationale Teil wusste allerdings auch, dass es für ihn kein Entkommen mehr gab. Er hatte es verspielt.
 

Sein Blick fiel zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Körper zu seinen Füßen, der reglos auf dem weichen Untergrund lag. Es war ein Mädchen, kaum volljährig, noch Züge von Kindheit in ihrem Gesicht, und er allein trug die Schuld daran, dass diese kaum vollendete Kindheit nun der Verrottung zum Opfer fiel; seine Vorstellungskraft überschlug sich bei dem Gedanken an die Maden, die ihr auch jetzt noch so hübsches Gesicht zerfressen, und an die Erde, in die ihr fahler Körper gebettet würde. Seinetwegen.
 

Doch er wusste: Er hatte kein Recht, sich vom Kummer verschlingen zu lassen, wenn ihr dies – wortwörtlich, so bizarr es ihm auch erschien – makabererweise mit Insekten passierte. Passieren würde. Dank ihm.
 

Ächzend stand er auf und blickte sich um; er hatte sein Vorhaben, seine Tat zu verwischen, längst verworfen. Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, denn allein der Anblick ihrer leblosen Augen verursachte eine Übelkeit, die immer wieder und wieder in ihm aufwallte, egal, wie sehr er sie zu unterdrücken versuchte.
 

Mit einer Hand klopfte er den feinen Sand von seiner Kleidung, während er weiterhin aufmerksam seine Umgebung im Auge behielt. Und ja, jetzt war es soweit: Er hörte den schrillen Klang des näherkommenden Martinshorns.
 

Müde warf er die Schaufel, die er immer noch in der Hand gehalten hatte, neben das starre Mädchen. Er machte keine Anstalten, davonzulaufen, als er die uniformierten Männer auf sich zustürmen sah; er hob nicht die Hand, als sie ihre Waffen auf ihn richteten. Er hörte nicht auf ihre drohenden Worte, die ihm Befehle zubrüllten, er hörte nichts.
 

Er sah nur die kleine Gestalt, die auf dem Boden lag und von den vielen Sandkörnchen, die der Wind verwehte, halb bedeckt war - wie eine Muschel im Sand, deren Schale von Sonnenstrahlen verblichen war. Nur, stieg der bittere Gedanke in ihm auf, dass sie die Sonne nie wieder sehen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Corvin-Phelan
2007-11-12T20:22:25+00:00 12.11.2007 21:22
Wow... ich habe eine Gänsehaut bekommen.
Deine Geschichte ist auf ihre Art wunderschön. Vielleicht sollte ich das wegen des Themas nicht sagen, aber es stimmt. Die Art wie Bilder und Stimmung heraufbeschwörst, hat etwas wunderschönes an sich.
Wie du aus dem Kommentar herauslesen kannst bin ich begeistert, selbst wenn ich wollte, könnte ich nichts kritisieren.

Corvin, die immer noch ganz gefangen ist


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