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Shake The Disease

von

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Im Nachhinein gab Ray den Pandabären die Schuld. Hätte Mariah nicht in der Morgenzeitung gelesen, dass die Wärter im tokioter Zoo ihren Bambusfressern zwecks Zuchtprogramm Pandapornos vorspielten, hätte sie sich die Tiere nie ansehen wollen. Oder vielleicht doch, aber zumindest nicht an besagtem Samstag… Folgerichtig hätte sie auch nicht Ray mitgeschleift und er hätte den Rest des Tages gemütlich zuhause auf der Couch verbringen können, statt sich vom plötzlich einsetzenden Sommerregen bis auf die Haut durchnässen zu lassen. Doch die Dinge waren nun mal so wie sie waren und nun lag Ray mit einer Grippe flach.

„Hey, wie geht’s dir?“, vorsichtig stellte Max ein Tablett mit einem dampfenden Teller auf dem Nachttisch ab, „Ich hab dir Hühnersuppe gekocht. Altes Familienrezept, davon wirst du garantiert im Nu wieder gesund.“

„Das ist lieb von dir.“, Rays Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen; seine Kehle fühlte sich an, als hätte jemand sie drei Tage und drei Nächte lang mit Sandpapier bearbeitet. Wirklich wohl war ihm nicht dabei, seinen Freunden so viel Mühe zu machen. Die Sorge um ihn, die liegengebliebenen Arbeiten im Haushalt, der Rückstand in Rays Training… Das alles war unnötiger Aufwand, den die Bladebreakers noch zusätzlich zu ihrem ohnehin schon anstrengenden Alltag eigentlich nicht gebrauchen konnten.

Max grinste ihn mit einem Blick an, welcher einem das Gefühl gab, der Blonde könne Gedanken lesen: „Mach dir mal nicht so einen Kopf; wir sind deine Freunde, wir helfen dir gerne! Ruh dich erst mal aus, ich mach dir derweil eine heiße Milch mit Honig, um deine Stimmbänder zu beruhigen.“

Gehorsam ließ sich Ray auf seine Kissen zurücksinken; er hatte den Anstand, erst dann frustriert zu seufzen, als er Max ganz sicher außer Hörweite wusste. Ausruhen, das machte Ray bereits seit geschlagenen drei Tagen. Drei Tage, das waren 72 Stunden, 4.320 Minuten, 259.200 Sekunden – he, und wie verzweifelt musste er in seiner Langeweile schon sein, wenn er diese Zahlen tatsächlich im Kopf ausrechnete… Der Reiz daran, einfach mal nur herumzuliegen und nichts zu tun, war spätestens nach den ersten zwei Stunden verflogen gewesen, präzise dann als er aus dem Fenster gesehen und festgestellt hatte, dass seine Freunde draußen im Hof trainierten.

In diesem Moment hatte einfach alles in Ray sich danach gesehnt, auch die warme Morgensonne auf dem Gesicht zu fühlen, jene tiefe Zufriedenheit zu empfinden, die für ihn mit dem Umherwirbeln seines Blades einherging. Teil des Teams sein, sich mit ihnen über Fortschritte freuen, seien sie auch noch so klein. Mit ihnen frustriert sein, wenn es mal schien, als würden sie trotz aller Mühe keinen Millimeter vorankommen. Am Ende des Tages so oder so vollkommen fertig sein und dann mit den Anderen ein wissendes Lächeln teilen, weil man genau wusste, dass es das alles wert war.

Ein zaghaftes Klopfen riss Ray aus seinen Überlegungen. Vorsichtig schob Tyson zuerst nur seinen Kopf, dann seinen ganzen Rest durch die Tür: „Hi, wollte mal sehen, wie’s dir geht… Na ja, und was vorbeibringen. Mir ist immer total langweilig, wenn ich krank bin und nicht raus darf und da dachte ich, ich leih dir ein paar Mangas.“ Er legte eine Plastiktüte voller Comicbände neben dem Bett ab. „Ich weiß, ist normalerweise nicht so dein Ding, aber…“

„Danke, Ablenkung kann ich momentan wirklich gut gebrauchen.“, mit einem bis dato nie gekannten Enthusiasmus begann Ray, sich durch den Inhalt der Tüte zu wühlen, „He, du hast ja auch Bände von Doraemon! Als Kind habe ich diese Serie geliebt…“

Erstaunt ließ sich Tyson auf das Fußende des Bettes sinken: „Bei euch in den Bergen gab’s Mangas?“

„Nicht viele.“, Ray versuchte das Schwanken seiner Stimme zu überspielen, indem er sich in einer verschwörerischen Geste nach vorne beugte und zu flüstern begann; er wollte jetzt nicht allein sein und selbst der sonst so unaufmerksame Tyson würde verschwinden, wenn er den Eindruck haben sollte, dass ihr Gespräch den Patienten zu sehr anstrengte. Außerdem… Diese Erinnerungen waren kostbar, zerbrechlich; etwas, was in der lauten Erwachsenenwelt seine Magie verloren hätte.

„Irgendwann sind zwei, drei Bände im Gemischtwarenladen unseres Dorfes aufgetaucht; die gesamte Dorfjugend hat ihr Taschengeld zusammengelegt, um sie sich leisten zu können. Wir saßen dann immer zu fünft, sechst darum herum, haben uns die Bilder angeschaut und versucht, mit ihrer Hilfe irgendeinen Sinn aus den fremden Schriftzeichen zu schließen; ich glaub, auf die Art und Weise habe ich die ersten paar Wörter Japanisch gelernt.“

Grinsend schüttelte Tyson den Kopf. Sein Blick fiel auf den Teller: „Oh, Max hat dir was von seiner Hühnersuppe gekocht…“

Ray gab einen unverbindlichen Laut der Zustimmung von sich. Er konnte sehen, wie hinter Tysons Stirn zwei Instinkte miteinander rangen.

Schließlich entspannte sich der Japaner: „Genau das Richtige für dich; dein Körper braucht momentan viel Flüssigkeit. Iss sie solange sie noch warm ist, dann schmeckt sie am besten.“ Mit einem Ruck stand Tyson auf: „Ich mach mich dann auch mal wieder auf den Weg… Werd schnell wieder gesund, ohne dich ist Kai beim Training noch unausstehlicher.“

„Mach ich.“, lächelnd winkte Ray zum Abschied. So recht wusste er ja nicht, was er von Tysons Worten halten sollte; warum sollte seine An- oder Abwesenheit Kais Laune beeinflussen? Wahrscheinlich handelte es sich einfach nur um einen persönlichen Eindruck…

„So, hier kommt die versprochene heiße Milch.“, einen bis zum Rand mit warmer Milch gefüllten Becher balancierend, tastete sich Max Schritt für Schritt ins Zimmer vor, „Entschuldige, dass es ein wenig länger gedauert hat, aber den hier soll ich dir von Kenny geben…“ Nachdem er die Tasse ohne größere Mengen Flüssigkeit zu verschütten auf dem Nachttisch abgestellt hatte, kramte er ein kleines, schwarz-silbernes Gerät aus der Hosentasche hervor. Kennys Mp3-Player – neben Dizzy der wertvollste Besitz ihres technikverrückten Freundes…

Behutsam entwirrte Ray die Kopfhörer des Gerätes. Das war wirklich nett vom Chef… Wenn man mal von Ming Ming absah, hatte Kenny eigentlich einen ganz guten Musikgeschmack; Pop, Rock, Rythm & Blues, ein klein wenig Jazz. Vor allem die ruhigeren Lieder auf dem Stick hatten es Ray angetan. Nichts war so gut zum Entspannen geeignet wie verträumte Gitarrenklänge, das leise Geklimper eines Klaviers und eine leicht rauchige Frauenstimme, welche Textzeilen einer Beschwörung gleich ins Mikro hauchte.

Doch bevor Ray die Welt um sich herum zugunsten der in seinem Kopf ausblenden konnte, galt es noch, seine Neugier zu befriedigen und das Mysterium zu ergründen, das mit Tysons beiläufigem Kommentar in sein Leben getreten war: „Sag mal Max, ist Kai wirklich schlecht drauf wegen meiner Abwesenheit?“

Falls Max Rays Frage seltsam fand, ließ er sich nichts davon anmerken. Offen sah er dem Kranken in die Augen: „Er macht sich Sorgen um dich, wie wir alle. Es passiert schließlich nicht jeden Tag, dass ein Teamkollege mitten im Training zusammenbricht.“

Oh ja… Ray erinnerte sich nur zu gut daran, wie seine Beine plötzlich einfach so unter ihm weggeknickt waren, wabbelig wie Wackelpudding. Sein Herz war gerast als wolle es jeden Augenblick bersten und die Atemnot hatte ihm die Kehle zugedrückt. Kein schönes Gefühl, besonders nicht für jemanden, der sonst an unbedingte Kontrolle über den eigenen Körper gewöhnt war…

„Als wir dich aufgehoben und in dein Zimmer getragen haben, hast du geglüht wie ein Kohlenofen.“, falls das überhaupt möglich war, wurde Max‘ Gesichtsausdruck noch ernster, „Mit einer Grippe ist nicht zu spaßen, Ray. Wusstest du eigentlich, dass trotz all der modernen Behandlungsmethoden, die es heutzutage gibt, allein in den USA jedes Jahr etwa 36.000 Menschen an der Grippe sterben?“

Wortlos schüttelte Ray den Kopf, bereute es gleich darauf schon wieder, als der Raum um ihn herum sich vor seinen Augen zu drehen begann. Besorgt musterte Max ihn: „Übelkeit?“

Zu mehr als einem ausgestreckten Daumen war Ray nicht in der Lage. Doch das reichte offenbar, denn hastig stand Max auf: „Leg dich ruhig hin und entspann dich soweit das geht! Ich hol dir einen Eimer, zur Sicherheit.“

Langsam unter die warme Behaglichkeit seiner Decke zurückgleitend kam Ray der Aufforderung des Blonden nach. Sein Kopf fühlte sich unglaublich schwer an, als er in das Kissen einsank, schwer und benebelt. Eigentlich wollte er noch auf Max‘ erneute Rückkehr warten, doch auch das allgegenwärtige Summen hinter Rays Stirn konnte nicht verhindern, dass die Augenlider des Chinesen von Sekunde zu Sekunde immer mehr das Gewicht von Blei zu haben schienen…
 

Die ganze Welt war in ein grausames rotes Licht getaucht, ein Grollen lief durch die Erde. Der Große Berg spuckte zischend seine Eingeweide aus flüssiger Lava aus, verdunkelte den Himmel mit einem Regen aus Asche.

Er wollte zurückweichen, so schnell wie möglich verschwinden, doch sie packten unbarmherzig seine Handgelenke, schleiften ihn hinter sich her. Mit jedem Schritt, den er näher an den Abgrund kam, schlug ihm die Hitze drückender entgegen, trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Dieselben Hände, die ihn zuvor noch in ihrem schraubstockartigen Griff gehalten hatten, versetzten ihm nun einen kräftigen Stoß und er fiel und fiel und fiel…

„NEIN!“, nassgeschwitzt schreckte Ray aus seinem Traum empor, sah sich desorientiert um.

„Ssh…“, beruhigend legte sich eine Hand auf seinen Brustkorb, hinderte ihn daran, sich aufzusetzen, „Nur ein Fiebertraum; schlaf weiter.“ In der Dunkelheit konnte Ray nicht genau erkennen, wer da bei ihm am Bett saß; trotzdem wirkten die wenigen Worte des Anderen tröstlich, irgendwie vertrauenerweckend. Der Tonfall der Stimme forderte Gehorsam ein, versprach aber gleichzeitig auch, im Gegenzug für einen da zu sein. Es war eine reine Instinkthandlung, dass Ray die Hand seines Gegenübers ergriff und ihre Finger miteinander verschränkte, ehe er sich langsam wieder in Morpheus‘ Reich zurückgleiten ließ.
 

Das nächste Mal wachte Ray von dem klammen Gefühl auf, dass sich auf seiner Stirn und an seinen Schienbeinen breit machte. Jemand hatte ihm kalte Wickel gemacht, um das Fieber in den Keller zu treiben…

„Morgen, du Schlafmütze!“, sichtlich gut gelaunt kam Tyson ins Zimmer, trug dabei ein Holztablett mit einem Glas Orangensanft und einem Teller Müsli vor sich her, „Dein Frühstück, extra für dich ans Krankenlager geliefert!“ Wie auch schon die Tage zuvor…

Ray fühlte sich wie ein undankbarer Bastard, weil er das dachte, aber andererseits ging es ihm auch auf die Nerven, die ganze Zeit über ans Bett gefesselt zu sein. Er wollte raus, Zeit mit seinen Freunden verbringen, und sei es auch nur für die Viertelstunde, die eine Mahlzeit dauerte. Einfach nur Teil der Gruppe sein.

Dieselben Gedanken wie auch schon am Tag zuvor, genau genommen an jedem Tag, den seine Grippe jetzt schon dauerte. Unrealistisch und unverantwortlich in Anbetracht der Tatsache, wie es ihm momentan ging – gerade in Anbetracht letzter Nacht -, aber dennoch fraß sich die Sehnsucht als kaltes Feuer durch seine Eingeweide.

Eine Hand im Bettlaken vergrabend entschloss sich Ray, es dabei zu belassen. Offenbar war Tyson seine melancholische Laune aufgefallen, denn der Andere legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter: „He, ich weiß, ans Bett gefesselt zu sein nervt! Kann man dir sonst noch irgendwie was Gutes tun? Alkohol, Drogen, SM-Spielchen, Gummibärchen¹…“

Gegen seinen Willen musste Ray grinsen: „Du schaust eindeutig zu viele schlechte Filmparodien.“

„Damit, mein Freund, könntest du durchaus recht haben.“, Tysons Lächeln nahm Ausmaße an, die unwillkürlich an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland denken ließen, „Aber sieh’s mal so: Solange ich mir nicht eine graue Kutte überstreife, mich mitten in der Nacht vor dein Bett stelle und vor mich hinnuschle, ich sei ‚der Dirt Devil‘², ist noch alles im grünen Bereich.“

„Glaub mir, wenn du das machen würdest, hättest du bald ganz andere Probleme als nur deinen Geisteszustand…“, spielerisch schlug Ray Tyson auf den Arm, „Und jetzt sag mir, was heute auf dem Trainingsprogramm steht.“ Wenn er schon nicht daran teilnehmen konnte, wollte er wenigstens wissen, was die Anderen so machten.

„Kein Training. Kenny, Max und ich fahren in die Stadt, um uns im Laden von Max‘ Vater die neuesten Upgrades für unsere Blades zusammenzusuchen. Falls irgendwas ist, solange wir nicht da sind… Kai bleibt hier.“, Tyson warf zuerst Ray, dann dessen Hals einen mitfühlenden Blick zu, „Normalerweise würde ich ja jetzt sagen, du kannst nach ihm rufen, aber so, wie deine Stimme momentan drauf ist… Klingel im Notfall lieber mein Handy an, ich werd es Kai geben und ihm einschärfen, es ständig bei sich zu tragen.“

„Und du glaubst, er nimmt auf einmal einfach so Befehle von dir entgegen?“

Tyson lächelte schief: „Ganz ehrlich? Nein. Aber egal, wie sehr Kai auch manchmal das unausstehliche Arschloch markieren mag, ihm liegt was an dir, an uns allen. Es geht um das Wohl eines Teamkollegen, also wird er einmal seinen gottverdammten Stolz hinunterschlucken und machen, was ich ihm sage. Vermutlich wird es anschließend unter Todesdrohung verboten sein, über diesen Vorfall zu reden, aber he, solange ich mein Ziel erreiche…“

In gespielter Empörung verdrehte Ray die Augen, musste dann ebenfalls lächeln: „Such mir ein paar gute Teile für Driger raus.“ „Mach ich.“, mit ein paar letzten Handgriffen stellte Tyson das Tablett auf Rays Schoß ab, „Und du schaust zu, dass du dir noch ein wenig Ruhe gönnst.“

„He, noch ruhiger und die Totenstarre setzt ein.“, Ray schnappte sich die neben seinem Bett stehende Plastiktüte voll Mangas, schwenkte sie demonstrativ in der Luft umher, „Aber mach dir keine Gedanken, ich werde schön hier bleiben und lesen.“
 

Während Ray den ganzen Vormittag über tatsächlich die von Tyson geliehenen Comicbände verschlang, bekam er immer wieder aus dem Augenwinkel mit, wie Kai an seiner nur angelehnten Tür vorbeilief, dabei ins Zimmer zu schielen versuchte. Nicht so diskret, wie man das von ihrem Teamleader unbedingt erwarten würde, aber irgendwie war es auch ganz nett einen faktischen Beweis zu haben, dass er sich Gedanken machte…

Schließlich – Ray bemühte sich gerade, mit vor dem Mund geballter Faust einen Hustenanfall zu unterdrücken – hielt Kai es wohl nicht mehr aus, denn er stand plötzlich mit verschränkten Armen vor Rays Bett: „Schnapp dir deine Decke und dann komm mit!“

Verwirrt und nach der erneuten Hustenattacke immer noch außer Atem gehorchte Ray, tapste unbeholfen hinter Kai her ins Wohnzimmer; seine Füße fühlten sich fremd und viel zu groß für ihn an, und so fiel er mehr durch die Gegend als dass er lief. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kamen sie an der Couch an und Ray war mehr als dankbar, sich hinsetzen zu können. Die wenigen Meter hatten schon gereicht, um ein schmerzhaftes Ziehen im Bereich zwischen Waden und Oberschenkeln bei ihm auszulösen…

Offenbar hatte Ray unbewusst einen Schmerzenslaut von sich gegeben, denn Kai sah ihn irritiert an. Dann setzte er sich neben Ray, zog dessen Füße auf seinen Schoß und bedeckte die Beine des Kranken mit der mitgebrachten Decke: „Ist ja egal, wo genau du herumliegst…“ Gegrummelt, aber leise, so als sei es ihm selbst fast peinlich…

Das verunsicherte Schweigen, das daraufhin eintrat, übertönte Kai indem er den Fernseher einschaltete. Das Bild einer von der untergehenden Sonne in flüssiges Gold verwandelten Wüstenlandschaft entfaltete sich auf dem Monitor und eine sonore Männerstimme erzählte von den zahlreichen Truckern, welche die Handelsstraßen dieses arabischen Landes Jahr für Jahr frequentierten. Von der Anstrengung für die Augen der Fahrer, die aus der ewig gleichen Landschaft resultierten. Szenenwechsel auf einen mit Stroh und Palmblättern verkleideten Kokosnussstand, geleitet von einem indischen Händler. Im Oman gäbe es viele dieser Stände, an denen einheimische Hilfskräfte die Inder unterstützten, um so deren Beruf zu erlernen und sie irgendwann einmal aus ihrem angestammten Geschäft vertreiben würden.

Mit schläfrigem Interesse verfolgte Ray den Dokumentarfilm; das alles hatte etwas zutiefst beruhigendes an sich. Besonders die Landschaftsaufnahmen gefielen ihm. Auf den ersten Blick wie ausgestorben und dabei doch von Leben beseelt, offenbarte die Umgebung eine stille, zurückhaltende Schönheit. Beiläufig schaute Ray zu Kai hinüber; neben sich hatte er auch so eine stille Schönheit sitzen…

Ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden, begann Kai mit einer Hand die verspannte Muskulatur in Rays Waden zu massieren: „Ich bin froh, dass die Wickel bei dir so gut angeschlagen haben; deine Temperatur gestern Nacht war ziemlich hoch, ein paar mal sah es wirklich nicht gut aus.“ Es dauerte einen Moment bis Ray, der ohnehin schon durch Kais plötzliche Nähe verwirrt war, die Implikationen dieser Aussage aufgearbeitet hatte: „ Du warst derjenige, der sich gestern Nacht um mich gekümmert hat?“

„Na ja, die Anderen haben alle an den vorherigen Tagen schon ihren jeweiligen Beitrag geleistet… Da wurde es Zeit für mich, auch mal was zu machen.“, unter Kais Fingern zerfloss ein besonders intensiv ausstrahlender Schmerzknoten wie Butter in der Sonne, „Außerdem wusste ich noch aus meinen Abteizeiten wie das geht. Die Mönche waren chronisch überlastet, also fiel es uns Jungen zu, die Kranken zu versorgen.“

„Tja, dann danke…“, Ray wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Was er denken sollte. War Kais Verhaltensweise für ihren Teamleader wirklich so selbstverständlich, wie der es gerade hinzustellen versuchte? Normalerweise hielt er zu anderen Menschen doch eher Abstand. Und dann erinnerte Ray sich wieder daran, wie er schon im Halbschlaf Kais Hand ergriffen hatte. „Tut mir leid, wenn ich im Fieberwahn zu weit in deinen persönlichen Raum eingedrungen sein sollte…“

Kai warf ihm einen belustigten Blick zu: „Schon okay, ich hab gelesen, dass Menschen in Situationen großen physischen oder psychischen Stresses die Nähe von Anderen suchen. Dein Verhalten war also vollkommen natürlich.“

„Du hast es gelesen.“, Ray kam sich nun endgültig wie der letzte Idiot vor.

„Ja, in einem Psychologiebuch. Ich dachte, auf diese Weise lerne ich vielleicht etwas mehr über das menschliche Sozialverhalten und verstehe euch dadurch besser.“

Für einen Moment wusste Ray nicht, ob er über diese Aussage eher lachen oder weinen sollte. Zwischenmenschliche Beziehungen als etwas, was sich theoretisch erschließen ließ… Das war nichts, was man mal einfach so in zwei oder zwölf Kapiteln abhandeln konnte. Sowas musste man doch erfahren, erleben! Und doch, irgendwie hatte Kais Verhalten auch etwas Rührendes an sich… Ob ihm eigentlich klar war, dass er das, was er da zu erlernen versuchte, schon längst ausübte indem er einfach nur Zeit mit Ray verbrachte?

„Hör auf darüber nachzudenken, was für eine seltsame Einstellung ich bezüglich sozialen Interaktionen habe und entspann dich lieber endlich.“, das irritierte Zusammenzucken, das Ray auf diesen Kommentar hin an den Tag legte, entlockte Kai ein Grinsen, „Ich bin vielleicht nicht gut in dem Zeug, aber um zu Sehen wie sich die Zahnräder in deinem Kopf drehen reicht es noch.“

Unwillkürlich musste auch Ray grinsen: „So offensichtlich, hm?“

Kai verdrehte die Augen: „Du hast ja gar keine Ahnung…“

Eine angenehme Stille legte sich zwischen sie. Ray lehnte sich gegen die Sofalehne, schloss die Augen: „Danke, Kai.“

„Wofür?“

„Dafür, dass du dich bemühst, offener zu sein. Vor zwei Jahren hätten wir noch nicht so angeregt über nichts reden können…“

„Du findest es also wichtig, über nichts reden zu können?“

„Bei den richtigen Personen schon, ja. Wenn du es schaffst, mit jemanden stundenlange Konversation über vollkommen belanglose Themen zu führen, ohne dass einer von Beiden sich dämlich vorkommt oder es sich nach gezwungener Höflichkeit anfühlt, dann weißt du, du hast jemand ganz besonderen gefunden.“

„Ich bin also jemand besonderes für dich…“, Kai klang nachdenklich. Dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben, denn Ray konnte fühlen, wie der Russe sich über ihn beugte, immer näher kam. Sanft berührten leicht spröde Lippen die seinigen, verharrten dort für einige Sekunden.

Überrascht schlug Ray die Augen auf, musterte Kai mit unergründlichen Blick: „Du weißt, dass das das Dümmste ist, was du hast machen können?“

Sofort rutschte Kai wieder einige Zentimeter weg: „Ich hab unser Gespräch wohl falsch interpretiert… In Zukunft werde ich dich nicht mehr belästigen.“ Die altbekannte Maske aus Gleichgültigkeit legte sich wieder über seine Gesichtszüge, verdeckte, was er wirklich fühlte.

Ray packte sein Handgelenk, verhinderte dadurch, dass Kai aufstehen und ganz verschwinden konnte: „Ganz richtig, du hast mich falsch verstanden! Mich zu küssen war wirklich das Dümmste, was du hast machen können – weil meine Grippe hochgradig ansteckend ist. Gegen deine Avancen mir gegenüber habe ich rein gar nichts einzuwenden, im Gegenteil.“

„Oh.“ Ein Wort, zwei Buchstaben nur, und doch schwang so unendlich viel Erleichterung in ihnen mit. Dann zuckte Kai grinsend mit den Schultern: „He, wenn ich mir wahrscheinlich ohnehin schon deine Bazillen eingefangen habe, dann kann ich wenigstens dafür sorgen, dass es sich auch so richtig lohnt, oder?“ Ohne noch großartig zu zögern lehnte er sich nach vorne, küsste Ray erneut, diesmal leidenschaftlicher, fordernder.

Schwer atmend trennten sie sich voneinander, sahen sich tief in die Augen. Alles hätte so schön sein können, hätte die Atmosphäre nicht durch einen erneuten Hustenanfall Rays einen kräftigen Dämpfer erfahren. Besorgt sah Kai ihn an: „Sehr schlimm?“

Ray konnte nur wortlos nicken.

„Warte, hier…“, eilig machte sich Kai an seinem eigenen Hals zu schaffen, wickelte dann seinen Schal um Rays Kehle. Sprachlos sah der die Bahnen weißen Stoffes an; so lange er denken konnte, kannte er Kai nur mit diesem Kleidungsstück…

„Besser?“, vorsichtig streichelte Kai mit seinem Handrücken Rays Wange.

„Ja.“, vorsichtig ergriff Ray die ihn liebkosende Hand, hauchte kleine Küsse auf ihre Knöchel. In diesem Moment wurde ihm klar, dass man nicht immer alles aussprechen musste. Manchmal ging es nicht um große Worte oder dramatische Gesten, sondern um Schals und Mp3-Player und Mangas, um Hühnersuppe und Frühstück ans Bett. Nicht als Dinge an sich, sondern als Zeichen dafür, dass man an den Anderen dachte, für ihn da war…

Kai sah ihm einfach nur in die Augen, gab dann ein Schnauben von sich, das „Und du dachtest, ich sei bei sowas schwer von Begriff“ zu sagen schien. Dann legte er kurzentschlossen seinen Kopf auf Rays Brust ab, zog die Decke über sie beide. Das war dann wohl der offizielle Befehl ihres Teamleaders, endlich zu schlafen…
 

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¹ ungefähres Zitat aus „Lord of the Weed – Sinnlos in Mittelerde“

² siehe „Sinnlos in Hogwarts“



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von: abgemeldet
2008-11-01T20:08:08+00:00 01.11.2008 21:08
Schöne OS ^___^
Ich mag's besonders wie du die einzelnen Teammitglieder dargestellt hast~ Wie eine wirklich tolle Familie. Auch Takao ist mal richtig erwchsen...und doch sehr autentisch gelungen. Da wird man glatt neidisch auf diese Freundschaft ^^;
Die Art wie Kai über seinen eigenen Charakter spricht mag ich auch :3~ Ist aber nah an der Grenze zum "zu selbstreflektierend". Aber so wie es ist - super ^^ *fav*
Von:  Flaire
2008-07-22T18:50:42+00:00 22.07.2008 20:50
Nur vier Kommis?
Bin gerade bei meinem Yami (BlackSilverLady) im Urlaub. Sie hat mir dann gleich mal deine FF auf's Auge gedrückt.

Es ist zwar schon was her, dass ich eine BB FF gelesen habe, aber KaRe gefällt mir immer noch gut.

Die FF war wirklich sehr süß geschrieben. Einige Kommentare haben mich zum schmunzeln gebracht, wie z.B. wenn Ray sich noch weiter entspannt die Totenstarre einsetzt. ^.^
Auch wie sich seine Freunde so liebevoll um ihn gekümmert haben, war sehr süß. Es sind doch wirklich Kleinigkeiten, die einem zeigen das man gemocht wird.

Kai kam wirklich toll rüber. Wie er so an seinem Zimmer vorbei 'geschlichen' ist und dann auf seine ganz persönliche Art und Weise aufgepasst hat. Er ist eben der Typ - harte Schale, weicher Kern und das hast du ganz toll dargestellt.

Richtig knuffig wurde es dann aber auf dem Sofa. Nicht nur Rays Waden schienen unter Kais Händen wieder butterweich zu werden. ^.^
Die Aussprache nach dem Kuss war so herrlich. ^///^

Arg... mein Kommi ist so doof...
Was will die Frau eigentlich sagen, ohne ein Quietschkommi zu produzieren?
- eine sehe süße FF,
- ein sehr schöner, ansehnlicher Schreibstil,
- eine perfekte Unterhaltung für zwischendurch,
passt demnach super in meinen bitternötigen Entspannungsurlaub!!!

Liebe Grüße
Taja-chan
Von:  Tayuya
2007-12-30T01:58:24+00:00 30.12.2007 02:58
Das war echt knuffig,und das ende war zwar kurz
hat mir aber denoch gut gefallen.
Von:  Vergangenheit
2007-09-20T18:44:19+00:00 20.09.2007 20:44
Das war sehr niedlich und auch irgendwie rührend. Auch wenn ich normalerweise nur Shounen-Ai lese und mich daran erfreue, so hatte ich hier doch das Gefühl, dass andere Dinge viel Wichtiger waren.

Eben diese Gesten, in ihrer Art doch immer irgendwie hilflos, weil so wirklich kann man ja eh nichts gegen Krankheiten machen, aber trotzdem einfach Mitgefühl ausdrückend. Ob es nun Max' Kochkünste oder Takaos Mangas, Kyoujyus MP3-Player oder gar Kais Schal war. Es war einfach schön. Du schaffst es in deinen FFs immer wieder, dieses eher unspektakuläre und doch so wichtige und schöne Gefühl der Geborgenheit rüberzubringen. Auch hier.

Es gab so einige schöne Szenen, etwa die Rückblende auf Reis Zusammenbruch beim Training, irgendwie sehr klassisch und doch immer wieder schön. *Kitschfan ist und bleibt* Oder auch der Fiebertraum bzw. Kai Worte und Reis Gefühle danach. Es war einfach wunderschön. Oder auch Kais ständiges Vorbeischleichen an Reis Zimmer und die letzendliche Entscheidung ihn nach unten ins Wohnzimmer zu holen, was ihm natürlich den Weg erspart und es einfacher macht, Rei "unauffällig" im Auge zu behalten. Und generell der Weg ins Wohnzimmer, der war wunderbar beschrieben. Irgendwie hatte ich da eine Kleinkindversion von Rei vor meinem inneren Auge, denn nach unbeholfenem Kleinkind klang die Beschreibung seiner Fortbewegung.

Ich mochte auch Takaos Auftritte hier sehr gern, er war so vernünftig, aber nicht ohne seine Spitzbübigkeit. Wie bei der Sache mit dem Handy. Da habe ich enorm breit gegrinst und gedacht, wie gut sie sich doch schon alle kennen. Da ich mir gut vorstellen kann, dass die Sache mit dem Handy letzendlich so ausgegangen ist, wie er es prophezeit hat. Aber ich mochte auch diese Sprüche, die er da gebracht hat, aus diesen Filparodien. Auch wenn ich zu meiner Schande gestehen muss, keine davon zu kennen. ^^

Wo ich es gerade bei Ta-chan sehe, die Sache mit dem Kuss, ich fand diese Szene schön, besonders den Dialog danach, als Rei meinte, dass das das Dümmste gewesen sei, was Kai hätte tun können und Kai sich daraufhin zurückzog. Da habe ich gedacht, na so ganz kann er Reis Gedanken wohl doch noch nicht lesen.

Apropos Gedankenlesen, irgendwie schienen alle Reis Gedanken lesen zu können, Max hat am Anfang sofort gewusst, was Rei denkt und Kai später in der Szene mit dem Psychologiebuch ebenfalls. Ich glaube, daran sollte Rei arbeiten, es muss nicht immer gut sein, wenn jeder dir deine Gedanken auf der Stirn ablesen kann.

Ja, die Sache mit dem Psychologiebuch fand ich rührend. Ich meine, Kai liest extra so ein Teil, nur um zu versuchen, sie zu verstehen. Das ist anbetungswürdig, irgendwie so hilflos und verzweifelt. Dabei gehört allein der Gedanke, andere verstehen zu wollen, schon zu den wichtigen Verhaltensweisen. Mah, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, im Prinzip hatte er sich das menschliche Verhalten, Freundschaft und Nähe schon mit dem Wunsch, die anderen verstehen zu wollen, erschlossen. Da hätte er dieses Buch gar nicht lesen brauchen. Dann kommt eben noch die Tatsache dazu, dass er sogar nachts bei Rei Händchen hält, ihm Wadenwickel macht und ihm sogar letztgenannte massiert. Kai ist zu putzig in seiner unbeholfenen Art sich den anderen zu nähern.

Ich mag Hurt/Comfort Geschichten einfach zu gerne. ^^ Sie sind klassisch und doch immer wieder schön und du hast es hinbekommen, dieses Thema auf deine eigene Art, mit deinem Humor und ohne jedes Klischee mitzunehmen zu erzählen. Und die Tatsache, dass auch Max und Takao große wichtige Rollen hatten, war mal was erfrischend anderes.

ByeBye
BlackSilverLady
Von:  _-Amaya-_
2007-09-19T20:37:25+00:00 19.09.2007 22:37
isch ärger disch ma korrekt
wie süß~~~~~~~~
XD
du weißt ja ich liebe deine ff's und das beime rsten kommentar erwähnte zitat aus der ff hat mir auchs ehr gut gefallen und die sache mit dem schal sowieso XD
*knuff*
danke für die widmung ich finds totla toll ^_^
Von:  Takara_Phoenix
2007-09-19T16:38:19+00:00 19.09.2007 18:38
Oh man, du hättest mich beinahe umgebracht x___X
Als ich gelesen hab, dass Kai einen Psychologieschmöker gelesen hat, um sich menschliches Verhalten zu erschließen habe ich mich extrem an meinem Trinken verschluckt... Hab sogar schon mein Leben an mir vorbeiziehen sehen *nod nod* >_<
>Manchmal ging es nicht um große Worte oder dramatische Gesten, sondern um Schals und Mp3-Player und Mangas, um Hühnersuppe und Frühstück ans Bett.<
Ich denke, dass mir genau dieser Satz am allerbesten an der FF gefallen hat. Ich weiß nicht, der hat einfach sowas... Er drückt die Situation, die Freundschaft und das Beisammensein der Bladebreakers so schön aus.
Allgemein finde ich es sehr süß, wie sie sich alle um Ray kümmern, während er krank ist. Sie sind alle so unglaublich lieb, das finde ich süß.
Ich kann Ray auch verstehen, tagelang krank im Bett zu liegen ist einfach etwas schreckliches. Da kann er froh sein, so gute Freunde zu haben. ^^
Rays Reaktion auf Kais Kuss war aber auch wunderbar, da musste ich auch sehr lachen. Was ich allgemein bei deinen Geschichten oft muss, also eigentlich sollte ich wissen, dass ich nichts trinken sollte, wenn ich deine FFs lese >__< Na ja, es wäre ein schöner Tod geworden XD
Das war wiedermal eine richtig niedliche Geschichte~ ^^
Zai jian, Ta-chan

PS: Yeha! Erste <3


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