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Die Tränen des Meeres

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Die Tränen des Meeres

Schallendes Gelächter erhellte den Raum der kleinen Kneipe namens „zum Polaris Meer“. „Verschwinde lieber aus meinem Laden du alter Sack und erzähl deine kleinen Lügengeschichten jemand anderem,“ warnte der Barkeeper, trat vor einen alten Mann und stieß ihn unsanft zur Tür hinaus. Der arme Herr stolperte über die Türschwelle und fiel zu Boden. „Und lass dich hier ja nie wieder blicken!“ schimpfte der Besitzer der Kneipe und schlug die Tür zu.

Ein Seufzen kam über die Lippen des Landstreichers und langsam rappelte er sich wieder auf. Er sah hoch und blickte in das Gesicht eines Jungen, der ihm gegenüberstand. Der alte Mann schüttelte leicht den Kopf, wickelte sich seinen alten, zerfetzten Mantel um den Körper und humpelte davon

Der Junge von 16 Jahren sah dem Landstreicher noch eine Zeitlang hinterher. Sein Name war Leon. Er hatte einen zierlichen Körperbau. Seine Haare waren pechschwarz und seine Augen hatte die wunderschöne Farbe blau. Er war erst vor kurzem hergezogen. Der junge Mann kannte noch niemanden bis auf den Barkeeper Bill, der vorher diesen zerbrechlichen Herrn auf die Straße warf.

Leon trat in den kleinen Pub, sah sich suchend nach dem Inhaber um, den er hinter der Theke fand und setzte sich auf einen der Barhocker. Er ließ seinen Blick kurz durch den kleinen, gemütlichen Raum gleiten.

In einer Ecke saß ein betrunkener Mann, der kurz vor dem Einschlafen war. Aber sonst war nicht viel los. In Bills Laden kamen nie viele Leute. Nur seine Stammkunden besuchten die Bar noch. Vielleicht lag es auch an Bill. Er war nicht gerade der freundlichste Mann den Leon kannte. Aber zu ihm war er immer nett.

„Hey Leon! Was willst du denn, Kleiner?“ fragte der ältere Herr und putzte nebenbei eines der vielen Biergläser. Bill war um die vierzig. Seine Haare hatte er schon mit neunundzwanzig verloren, was bestimmt an dem ganzen Stress lag, dem er immer ausgesetzt war.

„Heute war noch nicht viel los, was?“ fragte der Junge und grinste den Mann, der ihm gegenüber stand, frech an. Bill schüttelte leicht seinen Kopf und erwiderte: „Was erwartest du an einem Freitag? Hm? Außerdem sitzt da doch jemand…“. Er deutete auf den Betrunkenen der sich nur manchmal, mit einem Rülpser, bemerkbar machte.

Leon begann laut zu lachen. Seine Augen waren geschlossen und er hielt sich die Hand vor seinen, weit geöffneten, Mund.

„Lach nur“, meinte Bill, „Du brauchst dir ja keine Sorgen zu machen. Dein Vater ist ja reich genug. Und jetzt will er auch noch Strom aus dem Polaris Meer gewinnen. Kluger Schachzug. Muss ich schon sagen.“ Leons Miene veränderte sich schlagartig als Bill über seinen Vater sprach. Er hatte recht Leons Papa war reich und ein sehr schlauer Mann. Doch er hatte alles falsch gemacht was man als Vater nur falsch machen konnte.

„Apropos Polaris Meer. Dieser alte Sack von vorhin. Er meinte, dass wir alle in großer Gefahr wären. 'Das Meer wird sich wehren', das waren seine Worte. Dass ich nicht lache. Seit Jahren ist hier nichts mehr passiert.“, erzählte Bill und stellte ein Glas in den Schrank.

„Gefahr?“ murmelte Leon. Besorgt trommelte er mit seinen Fingern nervös auf der Theke. Der Barkeeper aber lachte nur, machte eine gelangweilte Handbewegung und sagte: „Keine Angst. Der ist ein Spinner. Ein Verrückter. Denen darf man nicht glauben“.

Er klopfte dem Jungen gelassen auf die Schulter. „Aber jetzt solltest du lieber gehen. Du weißt ganz genau, dass du nicht hier herkommen darfst“. Leon nickte ihm zu, sprang von dem Hocker und sagte, beim Hinausgehen, „Ja! Ich weiß. Sonst bekommst du wieder Ärger“. Mit einem breiten Grinsen verließ er den Pub. Bill ließ er, lachend zurück. Der Junge war auf dem Weg zu einer Villa, wo er und seine Familie wohnten.

Seine Mutter wurde immer stinksauer wenn Leon so spät nach Hause kam, seine Schwester würde ihn wieder auslachen und sein Vater? Ihm war es egal was sein Sohn anstellte. Es sei denn der Junge störte ihn bei der Arbeit.

Bei diesem Gedanken blieb Leon stehen. Er hob den Kopf und konnte den Strand des Polaris Meeres sehen. Das Rauschen des Meeres drang an sein Ohr und schon setzte sich Leon in Bewegung. Kurze Zeit später spürte er schon den Sand unter seinen Füßen. Er schloss seine Augen und genoss die frische Luft und den Geruch des Salzes.

Als er seine Augen wieder aufschlug blickte er, lächelnd über den Strand. Doch sein Blick blieb an einer Gestalt hängen, die auf einem Felsen saß. Es war dieser alte Penner, den Bill hinausgeworfen hatte. Was tut der hier?, fragte sich Leon und ging auf ihn zu. Als er vor ihm stand zuckte der Alte zusammen und sah Leon erschrocken in die Augen. Der Junge hob seine Hände und sagte schnell: „Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich will nur mit Ihnen reden.“

Der alte Herr musterte ihn lange bevor er dem Jungen zunickte. Leon lächelte darüber und fragte freundlich: „Was wollten sie in dieser Bar?“. Der Penner schwieg sehr lange und Leon wusste nicht was mit ihm los war. Doch dann öffnete der Alte seinen Mund, „Dieses Meer. Es ist böse. Es wird uns alle umbringen. Jeder Einzelne wird sterben“ erzählte er und starrte auf das Meer hinaus.

Leon wusste nicht wieso dieser Verrückte das alles erzählte. Aber es machte ihm höllische Angst. Er wollte etwas sagen doch der Mann sprach weiter. „Sie glauben mir nicht“, er lachte, „Das wird ihr Untergang sein“. Leon machte zwei Schritte zurück und sah diesen seltsamen, alten Mann voller Angst an. Dann drehte er um und lief davon. Der Penner blickte weiter starr aufs Meer.

Der Knabe rannte so schnell er konnte. Erst als er den Strand verlassen hatte blieb er stehen, keuchte vor Anstrengung und schloss seine Augen. Er konnte einfach nicht glauben was dieser Mann gesagt hat. Er lügt doch. Aber wenn doch etwas Wahres dran ist? Immerhin weiß niemand etwas über dieses Meer. Er drehte sich noch mal um. Dieser Mann saß wie zuvor auf dem Felsen und bewegte sich nicht. Leon fuhr auf dem Absatz herum und eilte davon.

Den ganzen Weg nach Hause musste der Junge über die Worte des alten Penners nachdenken. Er war um die 80 Jahre alt. Sein Haar war lang und schneeweiß. Er hat bestimmt den Einschlag des Kometen miterlebt, überlegte Leon, wahrscheinlich ist er dadurch so verwirrt. Ein alter Spinner eben. Oder etwa nicht?

Leon kam bei dem großen Haus an, wo er lebte und öffnete die Tür. Er trat ein und einen Augenblick später stand seine Mutter vor ihm mit einem strengen Blick. Leon konnte sich schon denken was sie gleich sagen würde. „Wieso kommst du erst so spät? Weißt du eigentlich was für Sorgen ich mir gemacht habe?“ sagte die Frau aufgeregt und machte nervöse Handbewegungen.

Leon seufzte und senkte seinen Kopf. Er murmelte ein leises „Tut mir leid“ und ging bei ihr vorbei. Der Junge blickte in das Wohnzimmer, wo sein Vater auf einer großen braunen Couch saß und telefonierte. Sein Papa sah noch sehr jung aus. Er war neununddreißig Jahre, hatte volles braunes Haar, hellgrüne Augen und eine schlanke Figur. Leon war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

Der Junge rief: „Hallo!“ und winkte seinem Vater leicht zu. Doch der Mann nahm keine Notiz von ihm. Seufzend verließ Leon den Raum und stieg die Treppen hoch zu seinem Zimmer. Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte an die Decke. Wieso ignoriert er mich nur so sehr? fragte er sich und schloss seine Augen.

Leon fand keine Antwort. Er wollte doch nur eine richtige Beziehung zwischen ihm und seinem Vater. Plötzlich klopfte es an die Tür und Leon schreckte hoch. Ein junges zierliches Mädchen betrat das Zimmer und grinste den Jungen schelmisch an. „Wo warst du denn schon wieder, Bruderherz?“ fragte sie und setzte sich neben ihn.

„Das geht dich gar nichts an“, nuschelte er genervt und sah sie nicht an. Dieses Mädchen hieß Alison. Sie war Leons kleine Schwester. Sie strich sich ihr langes, braunes Haar hinter ihr Ohr und meinte: „Du warst schon wieder in dieser Bar. Hab ich Recht? Du weißt genau, dass Mama es dir verboten hat und dieser Barkeeper ist auch seltsam wenn du mich fragst“. „Du kennst Bill doch gar nicht! Also rede nicht so über ihn!“ zischte er grob und sah seine Schwester wütend an. Alisons Augen weiteten sich und sie fuhr ihn ebenfalls böse an: „Red nicht so mit mir! Ich wollte dir nur einen Rat geben!“.

Leon schüttelte seinen Kopf und murmelte leise: „Es tut mir leid. Es ist nur so, dass ich heute wirklich verwirrt bin.“ Alison war im Begriff das Zimmer zu verlassen als sie seine Worte hörte und stehen blieb. Das Mädchen wusste, dass ihr Bruder sich nie mit ihr streiten wollte, aber manchmal passierte es doch.

„Wieso? Was ist passiert?“ wollte sie wissen und setzte sich wieder neben ihn. Leon schwieg kurz. Dann blickte er zu seiner Schwester und begann zu erzählen: „Ich war nicht nur bei Bill. Aus irgendeinem Grund zog es mich zum Polaris Meer und da saß so ein alter Mann. Er war vielleicht nur verrückt. Aber er erzählte dass wir alle sterben werden“. Alison begann zu lachen: „ Du glaubst doch so einem nicht. Die erzählen viel wenn der Tag lang ist“. „Ich weiß, aber seine Augen. Er war so fest davon überzeugt“ überlegte der Junge. Doch Alison sagte nur: „Vergiss den einfach!“.

Leon dachte nach. Er hob seinen Kopf, blickte in Alisons Gesicht und fragte mit ernster Stimme: „Was würdest du tun wenn du weißt, dass du am nächsten Tag sterben könntest?“ Das junge Mädchen war überrascht über seinen ernsten Ton und antwortete zögerlich: „Na ja. Ich weiß nicht so genau. Das habe ich mir noch nie überlegt….“

Der Junge schüttelte seinen Kopf und murmelte: „Schon OK. Das musst du nicht beantworten“. Alison lächelte ihn aufmunternd an und erwiderte: „Aber ich kann dir sagen, dass nichts passieren wird. Wir werden alle morgen noch leben und den Tag darauf auch“. Leon nickte nur leicht, legte sich hin und bat Alison das Zimmer zu verlassen. Das Mädchen tat dies natürlich sofort nachdem sie ihm noch einige aufmunternde Worte sagte. Es war zwar lieb von Alison ihn aufzumuntern aber Leon wusste, dass Alison noch sehr jung war und noch nicht so viel Erfahrung im Leben gemacht hatte. Aber er hatte sie sehr gern. Der Junge blieb den ganzen Abend im Bett. Er kam auch nicht zum Abendessen, was seine Mutter wieder sauer machte. Aber Alison erklärte ihr, was mit ihm los war. Sein Vater arbeitete weiter an dem Bau des Kraftwerkes mit dem er Elektrizität aus dem Polaris Meer gewinnen wollte. Er merkte gar nicht, dass sein Sohn nicht beim Essen war.

Um Mitternacht überkam Leon die Müdigkeit und er schlief ein.

Als er seine Augen wieder öffnete blickte er ins Leere. Alles war dunkel, kalt und er war ganz alleine. Kein einziges Geräusch war zu vernehmen. Moment! Doch! Da war etwas. Das Tropfen des Wassers. Aber woher kam es.

Leon wusste nicht wie ihm geschah. Der Junge ging langsam rückwärts. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Leon richtete sich auf und er war klitschnass. „Was ist hier los?!“ schrie er in die Dunkelheit. Er stand langsam auf und schüttelte sich das kalte Wasser aus den Haaren. Doch als er seinen Kopf wieder hob, sank er automatisch wieder zu Boden.

Seine Augen weiteten sich und sein ganzer Körper zitterte. Vor ihm türmte sich eine riesige Welle. Sie wurde größer und größer. Leon war starr vor Angst. Er konnte sich einfach nicht rühren. So als ob ein Dutzend Hände ihn zu Boden drückten. Die Welle verlor ihr Gleichgewicht und raste mit einer unglaublichen Wucht auf den Jungen zu. Leon riss seinen Mund auf und wollte schreien. Doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Kein Ton kam heraus. Der Junge wurde von der Welle begraben.

Leon riss seine Augen auf und fuhr hoch. Er griff schnell um sich und seufzte erleichtert. Er lag wieder in seinem Bett. Der Junge ließ sich zurück in sein Kissen sinken und starrte an die Decke. Was war das nur für ein Traum? fragte er sich und schloss leicht seine Augen. Langsam krabbelte er aus seinem Bett und schlenderte in das Badezimmer. Leon drehte zögerlich den Wasserhahn auf und das Wasser schoss aus den kleinen Öffnungen. Eine Zeit lang beobachtete er das fließende Wasser. Seine Augen waren leer.

„Bist du dann bald fertig?“ ertönte eine Stimmte hinter ihm und Leon zuckte zusammen. Er konnte in der Reflektion des Spiegels seine Schwester sehen. Der Junge nickte schnell und antwortete: „Äh… Ja! Ich bin schon weg“. Er schlich leise aus dem Zimmer. Das junge Mädchen sah ihm noch einen Augenblick hinterher und begann sich dann zu waschen. Nach dem Frühstück machte sich Leon auf den Weg zur Schule. Er hat nicht viel gegessen und stocherte nur in seinem Essen herum.

Plötzlich blieb er einfach stehen und ein älterer Mann konnte nicht mehr stoppen und rempelte Leon an. Der Gesichtsausdruck des Mannes zeigte seine Wut und er schrie: „Hey Junge! Hast du keine Augen im Kopf. Pass lieber auf!“

Leon sah den Mann emotionslos an und schwieg, was den alten Herr nur noch aggressiver machte. „Ich rede mit dir Junge!“ fuhr er ihn an und griff nach seiner Schulter. Doch im nächsten Moment duckte sich Leon und rannte davon. Er lief durch eine enge Gasse und scheuchte einige Ratten aus ihren Verstecken, die Leon hinterher fauchten. Leon kam keuchend vor dem Polaris Strand zum Stillstand. Sein Blick war ernst. Er wollte zu dem verrückten alten Mann, der ihn so verwirrte und Leon konnte fühlen, dass er ihn hier finden würde.

Der Junge stapfte durch den Sand und sah sich aufmerksam um. Er blieb abrupt stehen und sah, regungslos, geradeaus. Der Penner saß genau wie gestern auf dem Felsen so wie Leon vermutet hatte.

„Ich will mit dir reden, alter Mann!“ rief der Junge, ließ seinen Rucksack zu Boden sinken und rannte auf ihn zu. Der Alte blieb ruhig sitzen und sah den, auf sich zukommenden, Jungen freundlich an. Schnell atmend stand Leon vor ihm und schrie: „Deine Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf! Ich kann nicht mehr klar denken! Erklär…“. Der Junge verstummte als der Mann seinen Finger auf Leons Mund legte und einfach weiter lächelte. „Hörst du es denn nicht?“ fragte er und sein Lächeln verschwand. Der Junge verstand nicht ganz und begann der Umgebung zu lauschen.

Aber das Einzige was er hörte war das leise Rauschen des Meeres. Der Obdachlose nahm den Finger wieder von dem Mund des Jungen und zeigte mit ihm über das Meer. „Du kannst es wirklich nicht hören?“ fragte er wieder und seufzte leise. Er starrte auf das Meer und meinte abwesend: „ Diese Schreie der Sirenen. Sie sind so deutlich. Sie rufen nach Hilfe. Doch niemand kann ihnen helfen. Und mit dem Bau dieses Kraftwerkes wird ihr Leiden nur noch schlimmer“.

Der weißhaarige Mann deutete auf die Maschinen, die einige Meter weiter stillstanden. Man konnte nur ein paar Männer erkennen die an den Plänen herumwerkten und in ein paar Stunden würden die großen Kräne in Betrieb gesetzt werden. Leon konnte nicht fassen was er da hörte Aber irgendetwas in ihm sagte, dass dieser senile Mann die Wahrheit sprach.

„Wie heißt du eigentlich?“ fragte Leon nachdenklich und musterte ihn wieder von oben bis unten. Der Junge wollte ihn nicht Penner oder so nennen müssen. Doch der Alte schüttelte nur den Kopf und antwortete: „Mein Name? Den habe ich schon lange nicht mehr gehört und so habe ich ihn mit der Zeit vergessen“. Vergessen? Wie konnte ein Mensch nur seinen eigenen Namen vergessen. Das war doch unmöglich. Oder doch nicht?

Wie nenn ich ihn dann? fragte sich Leon und begann zu überlegen. Der Obdachlose seufzte leise und meinte: „Nenn mich doch auch Penner, so wie es jeder andere auch tut. Das wird wohl mein neuer Name sein“.

Leon schwieg sehr lange. Dann blickte er in das Gesicht des alten Mannes, klopfte ihm sanft auf den Rücken und sagte: „Dann werde ich dir einen neuen Namen geben. Und den wirst du bestimmt nicht vergessen“. Der Alte konnte nicht glauben was er da hörte. Doch er begann zu schmunzeln. „Und ab diesem Tag wirst du Arthur heißen“ entschied Leon und lächelte zufrieden. Ja. Der Name passte perfekt zu ihm. Das war nicht sein einziger Gedanke. Er drehte sich zu den gigantischen Kränen um. Dann seufzte er und dachte: Ich muss meinen Vater davon abhalten dieses Kraftwerk zu bauen. Koste es was wolle. Aber das war nicht so leicht wie er annahm.

Sein Papa war ein ehrgeiziger Mensch und was er angefangen hatte würde er auch zu Ende bringen. Aber Leon musste es versuchen bevor ein Unheil passierte so wie es dieser Mann prophezeit hatte. „Arthur, ich muss in die Schule. Sonst verpasse ich die anderen Stunden auch noch. Aber ich verspreche dir, dass ich etwas tun werde. Ich werde den schreienden Sirenen helfen“ sagte er ernst, drehte sich um und rannte davon. Der alte Penner sah dem Jungen hinterher und murmelte leise sich hin: „Arthur…“.

Der Schultag kam Leon vor wie eine Ewigkeit und als die Schulklingel ertönte, stürmte er sofort aus dem Klassenzimmer. Er rannte durch einige Gänge, rempelte ein paar Mitschüler an und schaffte es schließlich in die Freiheit.

Doch er blieb nicht stehen und rannte weiter. Sein Weg führte ihn am Polaris Meer vorbei. Aber er wollte nur noch nach Hause. Er musste unbedingt mit seinem Vater sprechen falls er ihm überhaupt zuhören würde. Der Junge öffnete die große, doppelte Eingangstür der Villa und betrat das Wohnzimmer.

Im nächsten Moment hörte er das Geklapper einer Computertastatur, der er auch gleich folgte. In der Küche angekommen sah er seinen Vater, der wie ein Verrückter in die Tasten hämmerte. Wieder war Leon nur Luft für ihn. Der Blick des Jungen wurde ernst und er stampfte rüber zu dem Tisch. Er schlug mit seinen Handflächen auf die Holplatte und sein Vater schreckte hoch.

„Leon! Was soll das? Ich bin beschäftigt!“ sagte der junge Mann und schüttelte verwirrt den Kopf. Leon war überrascht dass dieser Mann, den er Vater nannte seinen Namen überhaupt noch kannte. „Du musst den Bau stoppen. Das Wasserkraftwerk darf nicht gebaut werden“ sagte der Junge mit verdammt ernster Stimme. Der Blick seines Vaters wurde ebenfalls ernst. Wenn es um seine Arbeit ging verstand er keinen Spaß. „Das Kraftwerk wird gebaut und du wirst mich nicht aufhalten können!“ erwiderte er in einem Ton der keine Widerrede zuließ. Leon wollte das nicht glauben, was er da hörte und sagte: „Aber sonst wird etwas Schlimmes passieren!“.

Sein Vater begann zu lachen: „Was soll den schon passieren? Wer hat dir nur solche Flausen in den Kopf gesetzt?“. Leon wusste nicht was er sagen soll. Er konnte seinem Vater nicht sagen dass so ein alter, verrückter Penner es ihm erzählte. Das würde er dem Jungen nie glauben und so schwieg Leon weiter.

Der Mann nickte und sagte siegessicher: „Na bitte! Du weißt es selber nicht. Los! Verschwinde in dein Zimmer und lass mich weiter arbeiten“. Leon sah seinen Papa wütend an. Er drehte sich um und wollte gehen. Doch bevor er das Zimmer verließ meinte er ernst: „Ich habe dich gewarnt. Du wirst schon sehen was passiert. Wenn du unter deinem verdammten Kraftwerk begraben wirst!“. Bei diesen Worten wurden Leons Augen ganz leer. Aber sein Vater war schon wieder in seiner Arbeit vertieft und hörte gar nichts mehr. Kopfschüttelnd ging er die Treppen hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Seine Schwester Alison hatte alles mit angehört und stand geschockt im Vorzimmer.

Nach ein paar Stunden klopfte es an seine Tür. Doch Leon rührte sich nicht. Aber dann betrat Alison das Zimmer und er bewegte sich und sah in ihr zierliches Gesicht. Das Mädchen trug ein Tablett, auf dem etwas zum Essen darauflag und lächelte freundlich. Leon schüttelte leicht den Kopf und murmelte: „Du musst mir doch nichts zu essen machen“. „Doch! Ich wollte es. Du hast doch schon gestern nichts gegessen“, sagte sie ernst und stellte ihm das Stück Blech auf den Schoß.

Der Junge sah überrascht zu ihr auf, aber nur ein kleiner Seufzer kam über seine Lippen. Auch seine Schwester seufzte: „Ich mach mir große Sorgen um dich. Seit gestern bist du so seltsam. Und das…, was du heute zu Vater gesagt hast. Da warst du doch nicht du selbst!“. Leon riss seine Augen auf und schrie erzürnt: „Was soll das heißen!? Ich versuche nur unsere Familie zu retten und das Leben der anderen Einwohner!“. „Was meinst du damit? Was wird denn passieren?“ wollte das Mädchen wissen und beugte sich näher zu ihrem Bruder. Leon grummelte leise: „Ich weiß es doch auch nicht! Aber Alison, du musst es mir einfach glauben! Ich will nicht, dass dir etwas zu stößt…“. Das junge Mädchen lächelte ihn vorsichtig an. „Ja. Ich vertraue dir, aber versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr bringst“, erwiderte sie und berührte seine Schulter.

Die Zwei unterhielten sich den ganzen Abend lang und als die Nacht hereinbrach fragte Leon etwas, was er sonst nie sagen würde: „Alison, würdest du heute bei mir übernachten. So wie früher?“. Seine Schwester war zuerst sehr verwirrt. Aber dann nickte sie und legte die Arme um ihn, „Ja. Wenn du das willst Bruderherz“.

Um Mitternacht schliefen die Beiden endlich ein. So gut hatte Leon schon lange nicht mehr geschlafen. Bei Alison fühlte er sich so wohl und diesmal hoffte er, nicht von unheimlichen Alpträumen heimgesucht zu werden. Aber so war es nicht.

Als der Junge seine Augen wieder aufschlug stand er in der bekannten Dunkelheit. „Nicht schon wieder“, flüsterte er leise und ging los. Er wollte keine Angst zeigen, egal was auch passieren würde. Plötzlich verlor er den Halt unter den Füßen und fiel. Leon versuchte sich irgendwo fes zuhalten, vergebens. Im nächsten Augenblick stürzte er in ein tiefes, schwarzes Meer.

Sein Gewand war durchnässt so wie sein dunkles Haar, das er sich aus seinem Gesicht strich. „Was ist hier los?“ fragte er sich und sah sich hastig um. Auf einmal drang eine helle Frauenstimme an sein Ohr: „Wir haben auf dich gewartet“. Aber als sich Leon umdrehte war niemand zu sehen. „Wer ist da!“ schrie er und sah sich hastig um. Wieder hörte er die Stimme, die sagte: „Du bist der Einzige, der uns retten kann. Du musst mich und meine Geschwister retten und wir werden euch schützen“.

Überraschend tauchte eine wunderschöne Frau aus dem Wasser. Ihr Haar hatte eine hellblaue Farbe so wie ihr Gesicht. An ihren Wangen waren kleine Schlitze. Kiemen? Ihre Augen glichen denen von Fischen. Leon konnte es nicht fassen. Sie ging auf der Oberfläche des Wassers als wäre es ein ganz normaler Boden. Aber der Junge schwamm immer noch etwas hilflos im Wasser.

Die junge Frau kniete sich zu ihm und lächelte ihn verliebt an. Sie griff nach seinen Händen und zog ihn aus dem Wasser und plötzlich konnte auch Leon stehen. Er stand auf diesem schwarzen Meer. Aber das war doch unmöglich.

Das blaue Wesen strich langsam über seine Wange und zog ihn näher zu sich. „Du wirst uns retten“, flüsterte sie und drückte ihre Lippen auf seine. Leons Augen weiteten sich. Ihre Lippen waren eiskalt, aber weich. Einfach unbeschreiblich.

Der Junge schloss seine Augen und genoss dieses Gefühl. Im nächsten Augenblick riss er seine Augen auf.

Doch die wunderschöne Frau war verschwunden und nur seine Schwester lag neben ihm im Bett. Langsam richtete er sich auf und versteckte sein Gesicht hinter seinen Händen. Was war das nur für ein seltsamer Traum?, dachte er sich und griff an seine Lippen, aber er war so real.

Er strich sich sein Haar nach hinten und sah zu seiner Schwester, die friedlich neben ihm lag. Leon konnte sich das einfach nicht erklären. Zuvor hatte er noch nie solche Träume. Da braut sich irgendwas zusammen, war Leons einziger Gedanke. Leise stieg er aus dem Bett, da er Alison nicht wecken wollte.

Er schlich auf dem kleinen Gang in das Badezimmer, wo er sich einsperrte. Leon stellte sich vor den Spiegel und betätigte den Wasserhahn. Der Junge beugte sich hinunter und wusch sich sein Gesicht. Er griff nach einem Handtuch und trocknete seine Stirn. Als er sich wieder aufrichtete und in den Spiegel blickte weiteten sich seine Augen. Diese Frau. Die blaue Frau in seinem Traum stand direkt hinter ihm. Sie kam immer näher. Aber Leon rührte sich nicht. Er wurde jede Sekunde nervöser.

Die Frau kam seinem Ohr sehr nah. Ihr langes, seidiges Haar fiel über ihre Schulter und Leon spürte es an seinem Oberarm. Es war einfach wunderschön. Sie öffnete ihren Mund und hauchte leise: „Rette uns“. Im nächsten Augenblick war sie so schnell verschwunden wie sie aufgetaucht ist. Leon drehte sich einmal im Kreis. Doch es war niemand mehr zu sehen. „Ich werde noch wahnsinnig“, murmelte er und sank in die Knie. Eine Weile saß er so in dem Zimmer und dachte über einiges nach. Ich muss Vater aufhalten. Er darf dieses Gebäude nicht fertig stellen, redete er sich immer wieder ein. Dann stand er auf, verließ das Badezimmer und ging runter in die Küche, wo seine Mutter das Frühstück vorbereitete. „Leon? Du bist schon wach? Du musst doch erst in einer Stunde aufstehen“, sagte seine Mama überrascht und werkte weiter. Der Junge überlegte sich schnell eine Ausrede und antwortete, mit gespielter verschlafener Stimme: „Ich konnte nicht mehr schlafen. Außerdem wollte ich heute früh in die Schule.“ Die Frau nickte und begann einige Lebensmittel auf den Tisch zu stellen. „Dann kannst du ja gleich mit mir frühstücken!“, erwiderte sie erfreut, setzte sich auf ihren Stuhl und deutete neben sich.

Leon zögerte einen Moment. Doch er begann zu lächeln und nahm neben ihr Platz. Aber er aß nicht viel. Der Junge wollte so schnell wie möglich aus diesem Haus. Seine Mutter faselte ihn mit Geschichten voll, die ihn überhaupt nicht interessierten. Sein Essen hatte er so schnell es ging verzehrt und er erhob sich vom Esstisch. Ohne ein Wort zu sagen eilte er ins Vorzimmer, schlüpfte in seine Schuhe, rannte aus dem Haus und ließ eine verwirrte Frau hinter sich.

Leon rannte zu der Baustelle, wo das Wasserkraftwerk gebaut wurde, die nur ein paar Minuten von seiner Villa entfernt war. Die Bauarbeiten waren schon im vollen Gange mit dem Fundament waren die Arbeiter bereits fertig. War Leon bereits zu spät um das Meer zu retten? Oder kam er gerade im richtigen Moment?

Er stand regungslos vor dem Bau und wusste nicht was er tun sollte. Plötzlich drangen viele verschiedene Stimmen von Frauen an sein Ohr und immer sagten sie dieselben Worte: „Rette uns“, und, „Du bist der Einzige der sie aufhalten kann. Befreie uns!“

Leon kniff die Augen zusammen, hielt sich seine Ohren zu und schrie laut: „HALTET ENDLICH EURE KLAPPEN!“. Die Stimmen verstummten. Der Junge starrte auf den Boden und dachte angestrengt nach. Einige der Bauarbeiter erschraken durch Leons Schrei. Ein paar ließen reflexartig die Werkzeuge fallen und begannen herumzutuscheln. Der aufgeregte Junge drehte sich um und schlich davon.

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter und schreckte hoch. Als der Junge nach hinten blickte sah er Arthur und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Vielleicht konnte er ihm erklären was hier los war. „Arthur!“, rief er als er sich zu dem alten Mann umdrehte, der ernst aussah. „Du hörst diese Stimmen doch auch! Hab ich Recht!? Was hat das zu bedeuten? Bitte erklär es mir“ flehte er, „Diese Schreie ich halt das nicht mehr aus“.

„Ich habe dir gesagt was du tun musst“, antwortete Arthur murmelnd und deutete auf das Kraftwerk, das immer mehr an Körper gewann. Seit dem Jahr 2078 war das Errichten von Bauwerken, durch neue und viel schnellere Maschinen, eine einfache Sache. In ein paar Stunden würde auch dieses monströse Gebäude, das den Menschen Elektrizität schenken sollte, fertig sein und Leon konnte nichts dagegen tun. „Arthur du musst mir helfen. Wir müssen den Bau stoppen!“ sagte der Junge wütend.

Der Obdachlose musste sich noch an seinen neuen Namen gewöhnen. Doch sein Herz machte einen Sprung als er Arthur hörte. Aber der Alte begann seinen Kopf zu schütteln und erklärte, mit gedämpfter Stimme: „Nein. Es ist zu spät. Sobald das Kraftwerk vollendet ist. Werden die Sirenen zurückschlagen und alles vernichten, was sich ihnen in den Weg stellt. Wir werden alle sterben“.

Leon konnte nicht fassen was er da hörte. „Nein! Das ist nicht wahr! Wir werden nicht sterben. Wir müssen alle Einwohner warnen. Die Stadt muss evakuiert werden!“ schrie er den Penner wütend an und hielt ihn an seinem Arm fest, „Du musst mir helfen, Arthur!“. Der Mann lächelte den Jungen langsam an und erwiderte: „Wieso sollte ich den Menschen hier helfen? Sie haben mich wie ein Monster behandelt. Sie verjagten mich, bewarfen mich und jetzt soll ich ihnen zu Seite stehen?“.

Leon seufzte. Der Mann hatte Recht. Selbst Bill, der Barkeeper, warf ihn aus seinem Laden und das, obwohl Arthur ihn nur warnen wollte. „Du hast recht alter Mann“, antwortete der Junge, „Es liegt wohl an mir die Leute zu retten.“

Der alte Mann schwieg, drehte sich zurück zu dem Meer und starrte in die Ferne. Ich muss mich beeilen. Ich habe nur noch 5 Stunden, überlegte Leon und rannte davon. Wo sollte er nur anfangen? Sein erster Besuch war die Kneipe in der Bill arbeitete. Doch ohne Erfolg. Der Mann lachte ihn nur aus.

Leon verließ die Bar und lief weiter durch die Stadt. Aber niemand wollte ihm glauben. Jeder machte sich lustig über ihn. So musste sich auch der alte, arme Mann gefühlt haben. Es war einfach sinnlos.

Sollen sie doch alle zur Hölle fahren! Wenn sie mir nicht glauben wollen. Kann ich auch nichts machen, war Leons Gedanke, den er im selben Moment schon wieder bereute. Und immer wieder drangen die Worte der Sirenen an sein Ohr, „Bald ist es soweit. Es ist zu spät um zu fliehen“. Leon presste seine Hände an seine Ohren und murmelte leise: „Hört auf! Haltet euren Mund. Ich will davon nichts hören“. Einige Passanten wurden auf den Jungen aufmerksam und begannen untereinander zu tuscheln.

Die Stimmen, in seinem Kopf, wurden immer lauter und lauter. Leon hielt es nicht mehr aus und schrie- Er wollte die Sirenen zum Schweigen bringen. Aber ohne Erfolg. Die Menschen, die ihn zuvor interessiert beobachtet hatten, wichen erschrocken zurück und machten einen großen Bogen um ihn.

Leon blickte wütend um sich und raste davon. Er lief über den Polaris Strand zu der Stelle an der er Arthur zurückließ. Plötzlich blieb ein Fuß von ihm im Sand stecken und der Junge fiel zu Boden. Aber ohne mit der Wimper zu zucken stand er wieder auf den Beinen und rannte weiter. Dass er sich den Kopf gestoßen hatte war Leon in diesem Moment egal. Dunkelrotes Blut rann über seine Schläfe bis hinunter zu seiner Wange. Er strich sich nur schnell durch sein Haar und verwischte die rote Flüssigkeit über sein Gesicht. Als er endlich bei dem alten Mann ankam war er total erschöpft und keuchte leise.

„Du hattest recht“, murmelte er leise, „ Die ganze Zeit wusstest du davon und niemand glaubte dir“. Auf dem Gesicht des Penners bildete sich ein Lächeln und er sagte mit sanfter Stimme: „Du hast mir geglaubt Leon. Du warst der Einzige, der mir vertraut hat“. Leon sah ihn verzweifelt an und erwiderte: „Ja vielleicht. Aber wieso glaubt uns niemand? Wir wollen ihnen doch nur helfen“.

Arthur drehte sich zu dem riesigen, blauen Ozean und antwortete: „Das Leben hat sie blind gemacht. Sie wissen nicht mehr was sie glauben sollen. Auch wenn es um ihr Leben geht. Sie sehen einfach weg“. Der Blick des Alten wurde immer nachdenklicher und langsam setzte er sich in Bewegung. Seine nackten Füße berührten das kalte Wasser. Doch er blieb nicht stehen. Leon war verwirrt und rannte ihm hinterher. „Arthur! Was hast du vor!? Du erkältest dich noch!“ rief er ihm besorgt zu und stoppte als das Nass ihn berührte.

Der alte Mann war nun schon bis zur Hüfte im Wasser verschwunden als er sich halb zu Leon drehte. Ein Lächeln! Er lächelte! Aber wieso? „Ich danke dir, dass du mir vertraut hast“, sagte er und sah nun zu dem, gleich vollendeten Bauwerk, „Doch es ist zu spät. Aber keine Angst, ich werde dich beschützen, mein kleiner Freund“. Der Junge war verwirrt. Was wollte er ihm damit sagen? Leon überwand seine Angst vor dem Wasser und eilte zu Arthur in die Tiefe. Er packte ihn an den Schultern, rüttelte ihn einen Moment und fragte ernst: „Was meinst du damit?! Sprich nicht in Rätseln!“. Arthur bewegte sich nicht vom Fleck. Die Kleidung der beiden war schon vollkommen durchnässt und Leon spürte wie sein Körper zitterte. Plötzlich begann das Meer laut zu rauschen. Doch der Junge hörte kein Rauschen. Er vernahm nur die schmerzverzerrten Schreie von hunderten von Frauen, die aber nirgends zu sehen waren. Im nächsten Moment stiegen Millionen von Luftblasen aus dem Wasser und es sah so aus als würde es kochen.

Aber es war immer noch eiskalt. Leon drehte sich einmal hektisch im Kreis. „W-Was ist hier los?!“, fragte er verwirrt und drückte sich an den alten Mann neben sich. Doch dieser lächelte glücklich und seine Augen wurden so blau wie die Tiefe des Meeres. „Endlich sehe ich euch“, flüsterte er leise, „Ich kann euch sehen. Ihr seid so wunderschön“. Wovon sprach der alte Mann? Der Junge blickte in die Richtung, in die auch Arthur sah und riss seine Augen auf. Das konnte einfach nicht wahr sein. Vor ihnen erhob sich eine riesige Ansammlung von Wasser. Eine monströse Welle türmte sich in einer rasenden Geschwindigkeit auf. Sie wuchs und wuchs und Leon stand starr vor Schreck. Auch die Bauarbeiter, die an dem Kraftwerk werkten, hielten inne und blickten ängstlich auf zu der Umweltkatastrophe. Einige blieben einfach regungslos stehen und die anderen flehten um Hilfe und rannten davon so schnell sie konnten.

Leon hörte die Schreie und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er sah Arthur ernst an und sagte mit ernster Stimme: „Wir müssen von hier weg!“. Aber der ältere Mann rührte sich nicht. Der Junge war mit seinem Latein am Ende. Er wollte diesem armen Obdachlosen doch nur helfen. Die gigantische Flutwelle setzte sich in Bewegung und raste auf Leon und den Penner zu. Es war genauso wie in dem Traum des Jungen. Er wollte noch ein letztes Mal versuchen Arthur in Sicherheit zu bringen und rüttelte ihn mit aller Kraft. „Bitte! Du musst fliehen! Ich will nicht, dass dir etwas passiert!“ schrie er ihn besorgt an und verpasste ihm eine Ohrfeige. Ohne Erfolg. Doch dann öffnete der Mann den Mund und murmelte: „Mach dir keine Sorgen um mich. Das habe ich mir immer gewünscht. Mein Leben ist schon lange vorbei. Aber du wirst noch dein ganzes Leben vor dir haben“. Leon war erstaunt und gleichzeitig verwirrt. Im nächsten Moment blickte er hoch zu der Welle, die im Begriff war zu stürzen. Plötzlich packte ihn Arthur an der Schulter und stieß ihn zurück in Richtung Strand. Leon taumelte rückwärts, sah den Alten traurig an und lief davon.

Bevor er den Strand verließ drehte er sich ein letztes Mal um. Im traten Tränen in die Augen als er sah wie die riesige Flutwelle Arthur unter sich begrub. „ARTHUR!“ schrie der Junge voller Trauer und salziges Wasser rann über seine Wangen. Wieso weinte er? Wegen einem Obdachlosen? Oder wegen einem Freund?

Der Junge wurde aus seinen Gedanken gerissen als er die gigantische Wasseransammlung auf sich zurasen sah und rannte davon so schnell er nur konnte. Doch das Wasser erfasste Leon und er verlor den Halt unter den Füßen. Das Gewicht, das den Jungen zu Boden drückte war unbeschreiblich. Es ist vorbei, war Leons einziger Gedanke und er verlor das Bewusstsein.

Die Welle überflutete die ganze Stadt. Sie erfasste tausende Menschen, die in dem Wasser ihr Leben ließen. Auch Leons Familie wurde Opfer der Riesenwelle. Das war nicht das Einzige was das Wasser anrichtete. Als es das Wasserkraftwerk erreichte zerstörte es die Pfosten, auf dem das Gebäude stand und zwang es so in die Knie. Es war zerstört. Die Sirenen hatten es geschafft. Sie verteidigten ihr Zuhause. Aber zu welchem Preis?

Das Wasser zog sich wieder zurück in den Krater und nun konnte man die Zerstörung genau sehen. Einige Häuser standen zwar noch aber die meisten waren vernichtet. Von dem einst so großen, unfertigen Kraftwerk waren nur noch Ruinen zu sehen, die von dem Meer umschmeichelt wurden. Leon öffnete nach einigen Stunden langsam seine Augen und versuchte sich aufzurichten, was ihm sehr schwer fiel. Doch obwohl er direkt von der Welle erfasst worden war, hatte er sich, außer seiner Platzwunde, die er sich zuvor zugezogen hatte, nicht weiter verletzt. Aber nicht alle Einwohner hatten so viel Glück wie er. Er schritt durch die Trümmer und sah viele, leblose Körper auf dem Boden liegen. Darunter auch kleine, unschuldige Kinder. Leon traten Tränen in die Augen.

Gekicher drang an sein Ohr und der Junge sah sich hastig um. „Wo seid ihr! Zeigt euch! Wieso habt ihr das getan! Wieso musstet ihr all diese Menschen töten! Sie waren doch unschuldig!“ schrie er laut und legte seine Hände wieder auf seine Ohren. Er wollte, dass diese Stimmen aufhörten. Sie sollten endlich aus seinem Kopf. Aber sie würden ihn noch lange verfolgen. Bis an sein Lebensende. Leons Augen wurden leer und er starrte emotionslos auf den Horizont. Sein nächstes Ziel war die einst so große Villa, in der er wohnte. Auch sie wurde zerstört und nur ein paar Mauern hatte die Welle hinterlassen. Leon konnte nicht glauben, dass seine Familie ihn alleine ließ. Er stapfte durch die Trümmer und sah sich langsam um. Plötzlich hörte er ein leises Geräusch und folgte diesem. Der Junge konnte seinen Augen nicht trauen. Er erblickte eine Hand, die aus einem Steinhaufen ragte und stürmte auf sie zu. Leon befreite den verschütteten Körper. Es war Alison, seine geliebte Schwester. „Alison! Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung!? Bitte sag doch etwas!“, flehte er und drückte sie enger an sich. Das Mädchen hustete leise und flüsterte: „Leon… Ich bin so froh dass es dir gut geht“. Leider konnte er das von dem kleinen Mädchen nicht behaupten. Ihr Gesicht war voller Blut und eine riesige Fleischwunde zog sich über ihren Körper. „Du musst deine Kräfte schonen. Du wirst durchhalten!“, sagte er ernst und strich ihr verklebtes Haar aus dem Gesicht. Doch Alison schüttelte langsam ihren Kopf und hauchte: „Es tut mir so leid, Leon. Ich habe dir nicht geglaubt. Ich wollte nicht glauben, dass uns allen etwas Schreckliches passieren wird. Aber ich habe mich geirrt.“

„Hey! Sag doch so etwas nicht. Kannst du dich noch erinnern als du mich damals aufgemuntert hast? Du hast mir sehr geholfen, Schwesterherz!“ murmelte er traurig und Tränen strömten über seine Wangen. Das Mädchen strich ihm zögerlich das Wasser aus dem Gesicht, lächelte ihn verzweifelt an und schloss für immer die Augen. „Alison! Alison!“ rief er voller Schmerz, packte sie an den Schultern und wollte sie wachrütteln. Doch Alison würde nie wieder aufwachen. Kein Wort kam mehr über ihre Lippen. Leon begann zu schreien und drückte den leblosen Körper an sich.

50 Jahre vergingen und das, was die Umweltkatastrophe zerstörte, wurde wieder aufgebaut. Die Stadt erblühte wieder und es war fast so als hätte es diese Welle nie gegeben. Aber jemand konnte sich genau daran erinnern. Es hatte sich richtig in sein Hirn gebrannt. Ein alter Mann, der auf einem Felsen saß und auf das klare Meer blickte. Ein kleiner Junge, gerade mal neun Jahre alt, saß neben ihm zupfte an seiner zerfetzten Kleidung und fragte neugierig: „Leon, du wolltest mir doch eine Geschichte erzählen“.

Auf den Lippen des Alten zeichnete sich ein Lächeln ab. „Hörst du das?“, fragte er freundlich, „Hörst du die Sirenen singen? Es ist so wunderschön…“. Der kleine Junge sah sich verwirrt um und meinte: „Ich höre gar nichts. Was ist denn da?!“. Leon schloss seine Augen und lauschte zufrieden den Klängen und flüsterte: „Ich nenne das Lied, das sie singen 'Die Tränen des Meeres'. Zu schade, dass du es nicht hören kannst.“.

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen und sah zu der Stelle, an der vor 50 Jahren das Kraftwerk gebaut worden war. Kräne wurden blitzartig aufgestellt und hunderte von Arbeitern tummelten sich auf dem Strand. Leons Blick verfinsterte sich. „Ein neues Kraftwerk?“ fragte er ernst und sah zu dem kleinen Buben hinunter. Dieser nickte freundlich und antwortete: „Ja? Hast du davon noch nichts gehört?“. Der alte Mann verstummte. Im nächsten Moment drangen Schreie an sein Ohr und Leon krallte seine Finger in seine letzten Haare. „Nein… Das darf nicht sein. Es darf nicht wieder geschehen. Nie wieder.“



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