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Blind

Eine Kurzgeschichte
von

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Vor Jahren, als ich noch sehr jung war, kam ein Mann auf unsere Insel. Er landete mit seinem Segelboot am Strand. Das Meer tobte und der Himmel trug schwere Sturmwolken. Der Mann hatte nichts bei sich außer seinem Segelboot und dem Kompass. Ich wunderte mich damals, wie er bei diesem Unwetter mit so einer kleinen Nussschale über den weiten, weiten Ozean gekommen war.

Ohne eine Decke oder ein Zelt ließ er sich unter den Bäumen nieder. Die Bewohner meiner Siedlung waren von Anfang an misstrauisch gewesen. Sie befürchteten, dass er sie bitten könnte, irgendwo einen Unterschlupf zu bekommen, wenn sie mit ihm sprachen.

Jeden Abend zündete er sich ein Lagerfeuer an, saß dort und schaute aufs Meer. Ich beobachtete ihn oft aus sicherer Entfernung, doch ich glaube, er hat immer gewusst, dass ich da war. Und eines Abends überwand ich mich und trat aus meinem Versteck. Er bemühte sich, überrascht auszusehen, doch über alledem lag sein Lächeln, welches jede andere Regung seines Gesichtes überlagerte, gar verdeckte. Er fragte mich, was ein Knabe wie ich nachts hier draußen zu suchen hätte. Ich antwortete, nichts, denn hier auf diesem kleinen Eiland gäbe es nichts, das man finden könnte. Hier gab es überhaupt nichts, nur Langeweile und den öde Alltag. Und er lachte nur.

Von diesem Tag an kam ich jeden Abend zu ihm ans Lagerfeuer und er erzählte mir Geschichten von mutigen Abenteurern, Seefahrern und fernen Ländern. Und jedes Mal, wenn er vom Meer sprach, dann leuchteten seine Augen auf, als wären zwei neue Sterne geboren.

Doch die Geschichten erzählten auch von Verlust und Trauer. Eines hatte er mir immer wieder klargemacht: Nichts war vollkommen, keine Sehnsucht perfekt.

Geh und suche das Abenteuer, sagte er mir, doch dann darfst du nichts anderes mehr lieben. Wenn du das Abenteuer liebst, dann hast du dir eine eifersüchtige Geliebte gesucht, die keine Nebenbuhlerin zulässt und auch nicht davor zurückschreckt, dich eigenhändig niederzustrecken. Das ist der Preis, den du zahlst, um die Freiheit zu erhalten, alles tun zu können, wonach dein Herz sich sehnt. Und ohne, dass du es bemerkst bist du wieder gefangen, verstrickt in deinen eigenen Sehnsüchten. Es gibt keine Vollkommenheit. Du wirst niemals bedingungslos glücklich sein.

An dem Tag, als ich ihn zum letzten Mal sah, lächelte er nur...und ich weinte. Ich hatte ihn um Hilfe angefleht, doch er schien dies als unzumutbar anzusehen. Dann sprang er in sein Segelboot, welches sofort von dem Wind erfasst und fort getragen wurde.

Meine Siedlung wurde niedergebrannt, geplünderten, ausgeraubt, die Siedler wurden getötet. Einige verschleppten sie auf ihr Schiff, das unter schwarzer Flagge segelte. Mörder, schrie es in mir. Allesamt verfluchte ich sie! Überall waren lautes Geschrei und wilde Rufe zu hören. Ich war wieder zurück zu der Siedlung gerannt. Auch mich beherrschte die Angst und sie zwang mich, das Messer eines Toten zu ergreifen und mich von hinten auf einen der Piraten zu stürzen um ihn niederzustechen. Dann musste ich fliehen, weil zwei weitere auf mich aufmerksam geworden waren. Sie jagten mich in den Dschungel, was jedoch nur zu meinem Vorteil war. Hier gelang es mir, ihnen zu entkommen und mich zu verstecken. Den Rest des Abends verbrachte ich in einer Höhle aus Fels, nicht sehr groß, aber dafür nahezu unsichtbar. Ununterbrochen weinte ich, hielt mir die Ohren zu, sodass ich die Schreie meiner Freunde und Familie nicht hörte, doch in meinen Gedanken setzten sie sich fort und ließen mich fast wahnsinnig vor Angst und Entsetzen werden.

Später, als der letzte Schrei verklungen und erschreckende Stille über der kleinen Insel lag, traute ich mich erstmals wieder aus meinem Versteck. Ich lief durch den Dschungel zurück zum Strand wo unsere Siedlung lag, doch als ich ankam, fand ich nur ein Schlachtfeld vor. Überall lagen die Leichen von mir bekannten und lieb gewonnenen Menschen. Es war ein entsetzlicher Anblick und die Übelkeit stieg in mir hoch, sodass ich mich übergegeben musste. Mit beißendem Gewissen wurde mir klar, dass ich meinen kleinen Bruder und meine geliebte Schwester nicht unter den Toten finden konnte. Wie im Traum durchsuchte ich nochmals den gesamten Platz, doch ihre Körper fand ich nicht. Entführt hatten die Mistkerle sie und sie mochten wer weiß was mit ihnen anstellen!

Wie benommen taumelte ich weiter vorwärts in die Finsternis, die nur vom Flammenschein der entzündeten Hütten aufgehellt wurde. Ich wankte wieder zu dem Lager des Mannes, der mir so viel von der Welt hinter dem endlosen Ozean erzählt hatte, doch er war nicht zurückgekehrt. Feige hatte er sich mit seinem Segelboot davongemacht, mein Flehen nach Hilfe belächelt. Meine Beine gaben nach und ich kniete in den Sand. Furcht erfüllte mein Herz. Ich war allein; vollkommen allein. Erneut kamen Tränen, doch ich versuchte sie zu unterdrücken. Ein weiteres Gefühl breitete sich in mir aus: Wut. Sie wuchs an und wurde zu Hass. Hass auf das verfluchte Seeräuberpack, auf den Fremden, auf alle, die mich alleingelassen hatten. Und endlose Verzweiflung über das Schicksal meiner beiden Geschwister. Hätte ich sie doch nur tot aufgefunden, so hätte ich wenigstens meine Trauer gehabt. Und ein Gedanke keimte in mir auf. Er fasste tiefe Wurzeln, umschlang mein Herz und presste es zusammen. Rache! Ich schwor Rache und wenn ich den gesamten Ozean durchkämmen müsste, jedes gottverdammte Schiff plündern müsste. Ich würde sie bis zu ihrem Tode verfolgen. Oder bis zu meinem. Das schwor ich bei Gott.

Nun, da schon über zehn Jahre vergangen waren, seit ich diesen Schwur in den Himmel geschrien hatte, war mein Dürsten nach Genugtuung noch immer nicht gestillt worden und auch Wut und Hass waren geblieben. Ich wurde von einem Händler mitgenommen, welcher mit seinem Schiff zufällig an der Insel vorbeikam und durch den Rauch der brennenden Hütten aufmerksam wurde. Meine Familie hatte für alle möglichen Fälle eine recht stattliche Menge Geld zusammen gespart und abseits der Siedlung unter einem Steinhaufen und Sand vergraben. Dank dieser Ersparnisse konnte ich bei dem Händler als Lehrling anheuern und war fortan Leichtmatrose. Durch harte Arbeit, welche ich oft Tag und Nacht nicht unterbrach, und meinem nie schwindenden Eifer stieg ich schon bald auf und durfte nun auch vom Navigator, Steuermann und sogar vom Kapitän selbst lernen. Ich wurde als überaus talentiert bezeichnet und gerne in die verschiedensten Bereiche und Fähigkeiten eingewiesen. Ich baute immer bessere Kontakte auf und erhielt so schon nach wenigen Jahren ein eigenes kleines Schiff samt Mannschaft vom Händler geschenkt, mit welchem ich nun unter seinen Anweisungen kleinere Aufträge erfüllen durfte.

Nur wenige Jahre später hatte ich schon eine ansehnliche Menge Geld verdient und konnte mir ein größeres Schiff leisten. Bald sagte ich mich von dem Händler, der mich ausgebildet hatte, los, um meine eigenen Ziele zu verfolgen und unabhängig übers Meer zu kreuzen. Meine Mannschaft unterstützte das. Sie vertrauten mir nahezu blind und als ich ihnen großen Reichtum versprach, konnte ich sie sicher auf meiner Seite wissen.

In der nächsten Zeit rüstete ich mein neues Schiff – es war ein wendiger Schoner, wie ihn oft Piraten benutzten - zu einem kampffähigen Schiff um. Wir überfielen auf meinen Befehl hin zahlreiche Schiffe, hauptsächlich die von Seeräubern, doch später – auf Drängen meiner Mannschaft – auch Handelsschiffe und kleinere Konvois. Bald segelte ein weiteres Schiff unter meinem Befehl und auch meine Mannschaft vergrößerte sich. Doch selbst nach zahlreichen Schlachten, fand ich noch immer nicht, was ich suchte. Ich fühlte mich leer, trotz meines Reichtums und Ansehens, das ich erlangt hatte. Wut und Hass waren all die Jahre geblieben und wenn ich noch etwas in meinem Herzen finden konnte, dann waren es diese beiden mörderischen Mächte, die stets drohten, unkontrolliert auszubrechen, wenn ich des Nachts in meiner Kapitänskajüte saß und mit meinen Gedanken allein war.

In den folgenden Jahren gelangen mir noch viele Beutezüge. Schiff um Schiff plünderte ich mit meiner Mannschaft, reicher und reicher wurde ich und berüchtigter. Ich hörte von den seltsamsten Gerüchten über mich. Mein Geist sei mitsamt meiner Mannschaft wieder auferstanden, ruhelos und voller Rachezorn, in der Absicht, jedes Schiff, das auf den Meeren kreuzte, auszuplündern und zu versenken. Was für Seemannsgarn sich die Leute doch ausdachten. Ich würde meine Seele nicht mit der Lust am Töten beflecken. Nur meine Männer bei Laune halten musste ich, ihnen geben, was sie verlangten, sonst würden sie meutern…

Und wie alles im Leben, so kam auch der so lang erwartete Moment vollkommen unverhofft. Und zahlreiche Dinge, die ich hätte wissen müssen - ich erfuhr sie viel zu spät. Mitten im Seegefecht gegen ein spanisches Schiff kam mit wildem Geschrei ein junger Matrose auf mich zugerannt. Ich holte zum Gegenangriff aus, zielte, da stoppte er plötzlich und sah mich an, als wäre ich ein wahrhaftiger Geist. Ich nutzte meine Chance und stach zu. Er ging auf die Knie, vor Schmerz gekrümmt, sah mich jedoch weiterhin aus aufgerissenen Augen an und würgte im Sterben einige unverständliche Worte hervor. Irgendetwas war in diesen Augen, dass ich kannte. Doch zum Nachdenken war keine Zeit. Ich stach ein weiteres Mal mit meinem Entermesser zu und er regte sich nicht mehr. Tot. Hätte ich zu der Zeit gewusst, dass ich gerade meinen eigenen Bruder umgebracht hatte, wäre mir der Galgen erspart geblieben, denn ich hätte mich augenblicklich in die nächste Klinge gestürzt. Doch stattdessen bedrohte ich nun mit meinem Messer eine junge Frau, die auf den Toten zugerannt war. Eine Frau an Bord! Wie verächtlich! Auch sie starrte mich an und ebenso in ihren Augen meinte ich, etwas zu kennen. Ich hätte einige letzte Worte an sie gerichtet, eine Erklärung, eine Entschuldigung für all die verlorene Zeit, hätte sie nur meinen Namen gesagt. Meine Schwester! Wortlos starrte sie mich nur an und sah zu, wie ich von hinten angefallen und bewusstlos geschlagen wurde. Ihr Blick verfolgte mich die ganze Zeit, während ich ohne Besinnung war, und ließ mir keine Ruhe. Zwei Kinder hatte sie, so erfuhr ich später, und glücklich vermählt mit einem Offizier hatte sie auf dem Festland Spaniens gelebt, denn die Piraten von damals hatten vorgehabt, sie als Sklaven zu verkaufen, doch waren sie vorher von der spanischen Armada zerschlagen worden und alle Gefangenen waren befreit worden. Dies alles schrieb sie in einem Brief an mich, denn sehen durfte sie mich im Gefängnis nicht.

Und der Fremde, welcher damals in meinen Augen so feige von der Insel geflohen war? Niemand wusste, wie er es mit seiner Nussschale geschafft hatte, doch er hatte den Angriff der spanischen Armada gemeldet, welche die Gefangenen befreit hatte. Ich hätte es besser wissen müssen. Ob durch Zufall oder geplant war niemandem bekannt.

Doch hätte ich das alles gewusst, wäre ich damals doch nicht so ungestüm und voller Zorn gewesen, wäre ich dem Händler treu geblieben und hätte mehr mit offenen Augen gesucht, anstatt blind durch vor Wut verklebten Lidern dutzende Schiffe auszurauben und zu versenken, so hätte ich bestimmt gefunden, wonach mein Herz in Wahrheit strebte. Nicht etwa Rache oder Genugtuung, sondern meine Familie und das Gefühl von Geborgenheit. Doch es war zu spät, um Reue zu zeigen. Ich hatte mein Leben und – was noch viel schlimmer war - das meines Bruders sinnlos vertan durch nichts als blinden Hass.

Und ich erkannte viel zu spät, nämlich in den letzten Sekunden meines Lebens, dass man Feuer nicht mit Feuer bekämpfen durfte, denn so war ich nun am Galgen gelandet und hatte nichts von alledem mehr, wofür ich einst gekämpft hatte. Piraten - was ich anfangs so verachtet hatte, ich war es letztendlich selbst geworden und gottverdammt - stolz war ich nicht darauf.



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