Wer ist Donald Tanner?
Rally sass in ihrem Cobra, und fluchte innerlich. Da sass sie nun:
Eine der bekanntesten Prämienjägerinnen, und eine hervorragende
Fahrerin. Kein Auftrag zu gefährlich, kein Gegner zu schnell. Alles,
was sie tun sollte, war, zum Polizeipräsidium zu fahren. Und jetzt
drohte dieser simple Auftrag daran zu scheitern, dass sie keinen
Parkplatz fand. Aber das war nicht der wirkliche Grund für ihre
schlechte Stimmung.
Es war nun einige Wochen her seit ihrer Auseinandersetzung mit
Stevenson. In der Folge hatte es einen unglaublichen Wirbel gegeben.
Die Zeitungen berichteten auf den Frontseiten davon. Mittlerweile
waren die Berichte auf die 'letzte Seite' gewandert, aber das Thema
war immer noch präsent. Die Tatsache, dass die Polizei sich
hartnäckig weigerte, den Fall für abgeschlossen zu erklären, war mit
ein Grund dafür. Genau das machte Rally Sorgen. Bisher wusste die
Polizei nicht um ihre Rolle in der ganzen Geschichte. Aber wenn es
herauskommen sollte, wartete eine Staffel von Anklagen auf Rally, an
die sie lieber noch nicht einmal denken wollte. Ihre Waffenlizenzen
und den Laden könnte sie wohl vergessen. Womit sie dann ihren
Lebensunterhalt verdienen sollte, war ihr selbst nicht klar.
Verständlicherweise war sie nicht gerade davon erbaut, dass Roy sie
aufs Präsidium bat.
Nach einer langen Irrfahrt hatte sie endlich einen Abstellplatz
gefunden. Von hier aus hatte sie zwar knapp eine Viertelstunde zu
gehen, aber was besseres würde sie so schnell nicht finden. Während
sie die Strasse hinunter ging, überlegte sie sich, was die Polizei
gegen Sie in der Hand haben könnte. Sie und May waren vorsichtig
genug gewesen, möglichst keine Spuren wie Fingerabdrücke zu
hinterlassen. Damit blieben eigentlich nur Zeugenaussagen als
belastendes Material. Da sie verkleidet war, eine Spezialperücke
trug, und sogar die Haut überpudert hatte, glaubte sie nicht, das
jemand von Stevensons Leuten sie hätte erkennen können. Blieben noch
Cogan und Vector. Da Cogan von Rally geschnappt und abgeliefert
wurde, war er als Belastungszeuge unglaubwürdig. Schwieriger wäre da
schon Vector. Aber warum sollte er das tun?
Rally seufzte, und schüttelte den Kopf. "Hat keinen Sinn, im Trüben
zu fischen", sagte sie sich.
Im Präsidium herrschte die übliche Geschäftigkeit. Auch sonst schien
nichts besonders. Dieselben Leute wie üblich arbeiteten, dieselben
Leute wie üblich lungerten herum, und dieselben Männer wie üblich
versuchten, Rally anzumachen. Normalerweise gingen ihr letztere eher
auf die Nerven. Diesmal war sie fast froh darüber, denn es war ihr
ein Indiz, dass noch niemand auf ihrer Spur war. Oder zumindest war
es noch nicht allgemein bekannt. Rally bahnte sich den Weg zu Roys
Büro, als ihr Kate, seine Assistentin, mit einer Akte unter dem Arm
entgegenkam.
"Hallo Rally!", rief sie.
"Oh, Hallo Kate. Wie gehts?", antwortete Rally.
"Ganz gut, danke. Nur etwas überarbeitet. Der ganze Stevenson-Fall
hat ne Menge Arbeit verursacht. Aber jetzt ist der grosse Haufen
durch. Und Stevenson wurde heute früh abgeurteilt."
"Habs gelesen. Ging ganz schön schnell, was? Was hat er den gekriegt?"
"Lebenslänglich."
"Oha."
Rally war erstaunt. Sie wusste zwar, das Stevenson ein Anfänger war,
aber sie dachte doch, dass er sich zumindest einen guten Anwalt
leisten könnte.
"Ist schon seltsam, was?", fragte Kate.
"Was meinst du?", fragte Rally zurück.
"Naja, dass alles so schnell ging, dass es so viele Beweise gegen ihn
gab, dass der Staatsanwalt so viele Zeugen fand, dann der öffentliche
Druck auf den Prozess... Irgendwie schien sich alles gegen Stevenson
verschworen zu haben. Ausserdem wäre da noch die Sache mit dem
Computer: Als wir den Tipp mit dem Drogenlabor erhielten, waren in
unserem System jede Menge Informationen über Stevenson gespeichert,
von denen die zuständigen Ermittler schworen, sie hätten sie noch nie
gesehen. Und schau mal hier:"
Kate öffnete die Akte, und suchte ein einzelnes Stück Papier heraus,
welches sie Rally zeigte. Es war ein Bericht der Spurensicherung.
Daraus ging hervor, dass eine Bombe Stevensons Drogenvorräte zunichte
gemacht hatte. Auch Typ und die vermutete Funktionsweise waren
haarklein verzeichnet.
"Ja", sagte Rally, "das habe ich auch in der Zeitung gelesen. Aber
was ist daran besonders? Ich dachte, es sei durchaus üblich, die
Vorräte zu vernichten, bevor sie der Polizei in die Hände fallen."
"Schon", meinte Kate. "Aber schau dir mal den Typ an. Das war eine
Aerosolbombe. Die 'Atombombe des kleinen Mannes'. Für einen solchen
Zweck ist die, milde gesagt, etwas unüblich."
"Hmmm... Und was schliesst Miss Marple daraus?"
"Keine Ahnung. Ich für meinen Teil vermute, das es ein Konkurrent
war, der ihn aus dem Weg haben wollte. Falls ich richtig liege, war
das alles sehr sauber geplant und durchgeführt."
"Mm-hm"
Rally studierte weiterhin den Bericht. Zu ihrer Erleichterung fand
sie darin nichts, was auf sie hin deutete.
"Ach Rally?", fragte Kate ernst.
"Ja?"
"Die Akte habe ich dir nie gezeigt."
Rally grinste, und gab Kate das Papier zurück.
"Welche Akte?", fragte sie.
Kate grinste zurück. Sie nahm das Papier, und legte es in die Akte
zurück.
"Vorläufig bleibt die noch unter Verschluss", erklärte sie. "Die
Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen."
"Ich weiss", sagte Rally. "Naja, ich muss zu Roy. Bis später."
Sie ging zur Tür von Roys Büro, und wollte sie gerade öffnen, als
Kate noch etwas einfiel:
"Du, warte Rally. Ich glaube, Roy hat Besuch."
"Ach? Wer denn?", wollte Rally fragen. Doch die Frage klärte sich von
selbst, als unmittelbar vor ihr die Tür aufschwang.
Der Mann, der in der Tür stand, machte einen etwas seltsamen
Eindruck. Er war jung. Höchstens ein paar Jahre älter als Rally. Er
trug schwarze Jeans, und eine offene, schwarze Lederjacke. Darunter
war ein weisses T-Shirt zu sehen. Alles in allem sah er eigentlich
wie ein junger Motorradfreak aus, aber irgendwie passte etwas nicht
ins Bild.
"Entschuldigung", sagte er, und machte einen Schritt zur Seite.
Langsam ging er zum Ausgang. Rally sah ihm nach.
"Oh Rally, komm doch rein!", rief Roy.
Rally betrat das Büro, und schloss die Tür.
"Hallo Roy", sagte sie. "Wer war das denn?"
"Der? Ist ein komischer Typ, nicht war? Sein Name ist Tanner. Er ist
ein Kollege von dir."
"Ein Büchsenmacher?"
"Ein Prämienjäger."
"Ein Prämienjäger? Im Ernst? Den Beruf hätt ich jetzt als letztes
vermutet."
"Ich glaube, da geht es den meisten Leuten bei dir nicht anders. Aber
kommen wir zum Thema. Setz dich doch."
Rally setzte sich auf den Stuhl vor Roys Pult.
"Also? Worum gehts?", fragte sie.
"Eine heikle Sache Rally. Es geht um den Fall Stevenson."
"Aha?", sagte Rally scheinbar unbefangen, doch in Wirklichkeit schoss
ihr Puls gerade raketenartig in die Höhe.
"Genauer gesagt geht es um Stevensons Leibwächter Thomas Martin.
Kennst du ihn?"
Rally zuckte mit den Schultern. "Ich glaube nicht, nein. Wieso?"
"Naja. Eigentlich sollte er ja nächste Woche ebenfalls abgeurteilt
werden. Dummerweise ist er abgehauen."
"Ach so. Ein Fall für Prämienjäger also?"
"Darum hab ich dich nicht herkommen lassen", erklärte Roy. "Es geht
um das hier." Er schob Rally einen Zettel zu. "Das hat er
zurückgelassen."
Rally nahm den Zettel, und las: "An Rally Vincent: Du bist tot! Tom."
Sie gab den Zettel an Roy zurück. "Kapier ich nicht."
Rally war tatsächlich verwundert. Natürlich kannte sie Tom. Immerhin
hatte sie sich beim Zweikampf mit ihm die Hand übel angestaucht. Was
sie nicht verstand, war, woher Tom sie kannte, denn zu jenem
Zeitpunkt war sie verkleidet gewesen.
"Nun... Ich bin mir nicht absolut sicher, aber ich glaube, dass dein
letzter 'Kunde' dahintersteckt."
"Cogan meinst du?"
"Genau der. Unmittelbar bevor Tom verschwand, hatte er Besuch von
Cogan bekommen. Was sie genau besprochen haben, ist nicht bekannt,
aber es ist schon ein verdächtiger Zufall."
Rally atmete hörbar aus. Sie wusste nicht, was ärgerlicher war: Das
Tom hinter ihr her war, oder das sie sich unnötig Sorgen wegen der
Polizei gemacht hatte.
"Alles klar", sagte sie schliesslich. Dann stutzte sie. "Moment.
Nichts ist klar. Wieso konnte Cogan... Wieso konnte er diesen Martin
besuchen? Er sollte doch noch in U-Haft schmoren."
"Er ist freigekommen", sagte Roy. "Wusstest du das nicht?"
"Wie bitte?!"
"Man hat ihm Straffreiheit geboten, wenn er als Kronzeuge aussagt. Er
hat angenommen."
"Wie grosszügig", brummte Rally.
Sie hatte seit jeher etwas Mühe mit der Kronzeugenregelung, auch wenn
ihr der Sinn natürlich klar war.
"Ach egal", meinte sie nach einer Weile. "Martin ist doch ein Fall
für Prämienjäger, oder? Ich schnapp ihn mir halt, so wie jeden
anderen Häftling auch."
"Du kannst ja bei seinem Anwalt vorsprechen", sagte Roy. "Aber ich
fürchte, da kommst du zu spät."
Eine Stunde später war Rally wieder im Laden. May stand hinter dem
Tresen.
"Hallo Rally", sagte sie. "Was soll den dieser düstere Blick? Ist dir
Roy etwa auf die Schliche gekommen?"
"Mal den Teufel nicht an die Wand", erwiderte Rally fast erschrocken.
"Dann ist ja gut. Allerdings hab ich noch eine gefunden."
May nahm etwas kleines vom Tresen auf, und warf es Rally zu. Sie fing
es auf. Es war eine 'Wanze'. Eine sehr kleine. Derjenige, der sie
gebaut hatte, war wohl recht geschickt darin. Rally kannte den Typ
mittlerweile. Nach dem Fall Stevenson hatten sie und May jede Menge
davon gefunden. Sie gehörten vermutlich Vector. Rally drehte die
Wanze zwischen den Fingern hin und her.
"Oh Mann", sagte sie. "Die wievielte ist das eigentlich?"
May überlegte kurz. "Naja, das wären mit dieser hier fünf im Laden.
Dazu kommen die fünf im Haus, die..."
"Schon gut, schon gut. So genau wollte ich es gar nicht wissen."
"Mann, du bist mir vielleicht ne Stimmungskanone. Was ist los, hm?
Raus mit der Sprache!"
Rally seufzte. "Tom ist abgehauen."
"Tom? Stevensons Muskelmann?"
"Jepp."
"Hm. Na und?"
"Es ist ein Fall für Prämienjäger, aber..."
"Ist dir die Belohnung zu klein, oder was?"
"Das ist es ja gerade. Die Belohnung ist recht hoch für einen Typen
seines Kalibers. Aber so ein Trottel namens Tanner hat ihn mir
weggeschnappt."
"Ach so", sagte May, und schaute betont desinteressiert in eine Ecke
des Verkaufslokals.
Es vergingen einige Sekunden der Stille.
"Weisst du, dass du Becky immer ähnlicher wirst?", fragte May, ohne
Rally anzusehen.
"Halt den Mund", brummte Rally. "Darum gehts doch gar nicht."
Wieder war es für einige Sekunden still.
"Kennst du diesen Tanner?", fragte May, wiederum ohne den Kopf zu
drehen.
"Kennen ist zuviel gesagt. Ich bin vorhin auf dem Präsidium fast mit
ihm zusammengestossen."
"Ach was", sagte May, und begann zu grinsen.
"Ja. Ist ein komischer Kerl. Sieht aus wie... wie ein Motorradfreak,
der zu lebenslangem Mopedfahren verurteilt wurde. Hoffentlich löst er
seine Fälle etwas schneller, als er durch die Gegend marschiert."
May dreht sich wieder nach Rally um. Sie grinste immer noch. Und zwar
auf eine Art und Weise, die Rally gar nicht gefiel.
"Er ist also mit dir zusammengestossen", sagte May. "War er hübsch?"
"Was!?"
"Oh du hast mich schon verstanden."
"Lass den Unsinn, May. Ich bin nur fast mit ihm zusammengestossen.
Und ganz sicher nicht absichtlich."
"Wirklich?"
"Wirklich!"
"Och, das ist aber schade. Weisst du, wenn du dich Männern gegenüber
weiterhin so verschliesst, wirst du nie..."
"Das reicht May! Ich habe..."
Rally wurde vom Geräusch eines parkierenden Autos unterbrochen. Sie
schaute nach draussen. Es war ein blauer Corsa. Der Fahrer stieg
gerade aus.
"Na toll", brummte Rally.
"Was ist?", fragte May.
"Das ist er."
"Wer? Der Kopfgeldjäger, der dir den Fall weggeschnappt hat?"
Rally nickte nur.
"Dann solltest du nicht so verbiestert in die Gegend gucken, Rally.
Du solltest lächeln. Sonst wird er sich nie für dich interessieren."
Der Blick, den Rally May zuwarf, hätte einen Leoparden in die Flucht
geschlagen. May hingegen liess sich davon nicht beeindrucken.
Tanner kam herein. In weniger als einer Sekunde hatte Rally ihr
'Verkäufergesicht' aufgesetzt, und sagte: "Guten Tag, mein Herr."
May war davon so überrascht, das ein kurzes "Ga" alles war, was sie
herausbrachte.
Tanner sah zu Rally herüber. "Guten Tag. Miss Vincent nehme ich an?",
fragte er, ohne das geringste Anzeichen von Erstaunen.
"Ja, das bin ich."
"Ah. Mein Name ist Donald Tanner. Ich bin Prämienjäger." Tanner
zeigte seine Lizenz. "Ich bin hinter einem Mann namens Thomas Martin
her."
"Ich weiss. Die Polizei hat mich bereits informiert."
"Sehr gut. Da Martin hinter Ihnen her zu sein scheint, dachte ich, es
sei eine gute Idee, sich hier mal umzusehen. Und als ich hörte, das
sie eine Büchsenmacherin seien, wollte ich ohnehin mal
vorbeischauen."
"Ich bitte Sie, die privaten Räume nicht zu betreten. Aber sie können
sich im Verkaufsraum umschauen, so lange sie möchten. Für Fragen..."
Rally schaute sich um, und entdeckte May bei der Tür zum Nebenraum.
"Ich überlasse das dir", sagte May. "Ich muss noch die Bücher prüfen,
und bis jetzt bin ich noch nicht dazugekommen." Das war natürlich
eine blanke Lüge.
"Für Fragen können Sie sich an mich wenden", vervollständigte Rally.
"Herzloses Biest!" dachte sie, als May die Tür schloss. "Ich wette,
du beobachtest uns mit der Überwachungskamera".
Wenn das ganze irgendeinen Eindruck auf Tanner machte, so liess er es
sich nicht anmerken. Er nickte nur kurz, und begann, die Auslage zu
begutachten.
Nach einer Weile fragte Rally: "Entschuldigen Sie. Sie sagten, Sie
wollten hier ohnehin vorbeischauen, als Sie hörten, das ich
Büchsenmacherin bin. Darf ich fragen, warum?"
"Selbstverständlich", sagte Tanner, der gerade vor einem Schaukasten
mit Pistolen kniete. Er stand auf, so dass er Rally sehen konnte.
"Wissen Sie, ich bin erst vor ein paar Wochen angekommen. Daher bin
ich auf der Suche nach einem guten Waffenladen. Und dieser hier ist
für mich besonders interessant."
"Aha?"
"Nun ja, soweit ich weiss sind Sie doch ebenfalls Prämienjägerin.
Somit sollten Sie über einige Kenntnisse über das Verhalten von
Waffen unter Kampfbedingungen verfügen."
"Ah ja. Das stimmt schon."
Das war eher überraschend für Rally. Die meisten ihrer Kunden
kümmerte es nicht, was sie sonst noch tat. Der Grossteil wusste es
noch nicht einmal.
Tanner holte sie wieder aus Ihren Gedanken: "Da fällt mir ein: Sie
sind doch sauer auf mich, weil ich Ihnen den Fall weggeschnappt habe,
nicht wahr?"
"Öh... Nun..." Rally fühlte sich ertappt.
"Ich habe persönliche Gründe, diesen Auftrag anzunehmen. Bitte haben
Sie Verständnis dafür."
"Ja, natürlich", sagte Rally, obwohl sie sich fragte, was denn das
für persönliche Gründe sein könnten. "Ich werde Ihnen nicht in die
Quere kommen. Aber wenn ich angegriffen werde, werde ich mich
verteidigen."
"Selbstverständlich." Tanner kniete wieder vor die Pistolen. Eine
schien es im besonders angetan zu haben.
"Sagen Sie", fragte er, "ist dieser 'Peacemaker' hier echt?"
"Ja. Ein echtes Western-Original. Ein schönes Stück, nicht wahr?"
"Ein schönes Stück. Ja, allerdings. Aber das kann ich mir unmöglich
leisten." Er lächelte. "Naja. Ich bin ja eigentlich sowieso kein
Sammler." Dann stand er auf, und kam zur Theke. Das Lächeln war
bereits wieder verflogen. "Wie steht es um Munition?"
"Wir haben alle üblichen Kaliber, und viele weniger gebrauchte. Alle
anderen kann ich bestellen."
"Ich benötige .223 Gewehrmunition. Vollummantelt. Europäische, wenns
geht."
"Kein Problem. Wie viele?"
Nachdem Tanner zwei Pack à 50 Schuss gekauft hatte, ging er wieder.
May kam in den Verkaufsraum. "Ist schon ein seltsamer Typ", sagte
sie. "Nicht unfreundlich, aber..."
"Hast du uns beobachtet?" fragte Rally.
"Ehehe... Ja, hab ich."
"Dann sag mir: Ist das der Mann, der auf Cogan geschossen hat?"
"Was?"
"Du weisst schon... Als wir Cogan geschnappt haben, hat doch jemand
auf ihn geschossen."
May erinnerte sich. Cogan wurde an der Schulter gestreift. May
entdeckte den Schützen zwar mit ihrem Feldstecher, aber wegen der
untergehenden Sonne konnte sie nicht viel sehen. Trotzdem... "Kann
schon sein", sagte sie. "Die Statur stimmt überein. Warum
verdächtigst du ihn denn?"
"Der Schütze verwendete ein Gewehr. Ein SIG SG551. Erinnerst du dich?"
"M-Hm."
"Nun, Tanner versteckt ein Gewehr unter seiner Jacke. Von der Grösse
her könnte es ein SG551 sein. Und die Munition, die er gerade gekauft
hat, würde ebenfalls passen."
"Du meinst, er ist einer von Stevensons Killern?"
Rally schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Wie ich
damals schon sagte, ist das ein äusserst präzises Gewehr. Cogan wurde
vermutlich absichtlich 'verfehlt'. Ausserdem glaube ich, das es
Tanner war, der Toms Uzi zerschoss, als er uns vor Stevensons
Hauptquartier abgefangen hatte."
"Wie kommst du darauf?"
"Ganz einfach." Rally holte eine leere Patronenhülse unter der Theke
hervor. "Diese Hülse fand ich dort auf dem Boden. Es ist ebenfalls
eine .223. Und jetzt schau dir das an:" Sie drehte die Hülse in ihrer
Hand, so das eine kleine Delle in der Seite sichtbar wurde. "Die
Gewehre der SG55x-er Serie werfen die leeren Hülsen nach vorne aus",
erklärte sie. "Dabei entsteht diese Delle. Bei keiner anderen Waffe
ist das der Fall."
May dachte darüber nach. "Das ergibt doch keinen Sinn", sagte sie
schliesslich. "Das würde bedeuten, dass Tanner uns zweimal aus einer
etwas brenzligen Situation geholfen hat."
"Genau das bedeutet es", erwiderte Rally ernst. "Und ich will wissen,
warum."
Das Telefon läutete und läutete. "Komm schon, Becky", murmelte Rally.
"Du bist doch zu Hause." Das Telefon gab sich unbeeindruckt, und
läutete munter weiter. "Warum schaltest du den Anrufbeantworter nicht
ein, wenn du nicht da bist?"
Endlich, Rally wollte bereits auflegen, wurde der Anruf
entgegengenommen. "Hallo?" meldete sich Becky reichlich verschlafen.
Rally schaute auf die Wanduhr. Es war Viertel nach Zehn. "Hab ich
dich etwa geweckt?" fragte sie ungläubig.
"Sieht so aus. Hab die ganze Nacht durchgearbeitet. Muss vorm
Computer eingeschlafen sein."
Rally hörte, wie Becky eine Tasse aufhob, und daraus trank... und
sofort wieder ausspuckte.
"Baaa. Der ist ja kalt!"
"Der was?"
"Kaffee."
"Na, was hast du denn erwartet? Der bleibt nicht heiss."
"Einen Moment."
"Becky!" rief Rally, aber es war bereits zu spät. Becky war nicht
mehr am Telefon. Nach einer Weile konnte Rally Wasser kochen hören.
"So, da bin ich wieder. Was isn?" fragte Becky.
"Ich werde dir die Telefonkosten in Rechnung stellen!"
"Lass das, Rally. Ich bin nicht..." Becky gähnte. "Ich bin nicht in
der Stimmung für solche Scherze. Also?"
"Ich hab einen Auftrag für dich."
"M-Hm." Becky klang nicht gerade begeistert.
"Das gibts doch nicht. Hast du etwa immer noch keine Zeit?"
"Eigentlich bin ich ja noch am selben Job, wie letztes Mal, als du
mich angerufen hast. Aber ich komme einfach nicht weiter. Wenns also
ein Routinejob ist, nehm ich ihn vielleicht an. Worum gehts denn?"
"Ich brauch lediglich ein paar Informationen über einen anderen
Prämienjäger."
"Hm? Willst du dich etwa unliebsamer Konkurrenz entledigen? Ah, es
ist heiss."
Das Kochen hörte auf.
"Unsinn. Es ist nur so, das er solch eine seltsame Person ist. Ich
will nicht in seine Schusslinie geraten... Becky?... Bist du noch
drann?..."
"Ja, ja, da bin ich. Hab nur gerade den Krug geholt. Ich brauch jetzt
etwas Kaffee. Wie heisst die Zielperson?"
"Tanner. Donald Tanner."
"Autsch!" Becky fluchte laut.
"Äh, Becky?"
"Mmm. Ich habe mir gerade den heissen Kaffee über die Hand
geschüttet. Ah, so ein Mist! Äh, du Rally. Ich bin in einer halben
Stunde bei dir, okay?"
"Alles klar. Bis später."
Rally hängte den Hörer ein. "Seltsam", dachte sie sich. "Wieso kommt
sie extra hierher? Da steckt doch mal wieder mehr dahinter."