Part 7
„Kaito?“
Dieser schaute sie an, als ob er sie in diesem Moment zum ersten Mal sehen würde.
„Was ist mit >dann<?“, flüsterte Aoko ungeduldig.
„Äh…“, machte Kaito. „Öh…“
„Kommt’s noch heute zum Ergebnis?“ Seine Freundin blickte ihn vorwurfsvoll an. Was konnte Kaito doch schwer von Begriff sein! Wo war er nur wieder mit seinen Gedanken?
Als Aoko ihn prüfend musterte, bemerkte sie, wie sein Blick auf ihre Handtasche glitt. Stirnrunzelnd zog sie ihre Tasche hinter ihren Rücken, sagte jedoch nichts.
Kaitos Blick wandte auch sofort wieder ab und wanderte ordnungsgemäß zurück zur Bühne. Aoko konnte es schon fast in seinem Kopf rattern hören, sie kannte ihn nur zu gut.
Allerdings wollte sie sich den Abend mit ihm nicht selbst kaputt machen.
Also lauschte sie weiter den Klaviertönen.
Plötzlich spürte sie einen Luftzug neben sich und schaute sich zu Kaito um.
„Kaito?“ Doch Kaitos Platz war leer.
„Aoko“, zischte es von irgendwoher.
Die Gerufene wandte suchend den Kopf um. Das musste Kaito sein. Was sollte das schon wieder?
„Hier unten“, zischte es wieder.
Jetzt konnte sie Kaito erkennen. Er hockte unten auf dem Boden unter seinem Stuhl.
„Was machst du denn da?“, flüsterte Aoko genervt.
„Mir ist was runtergefallen!“
„Was denn?“
„Ein Knopf von meiner Jacke!“
„Und deshalb kriechst du da rum?“
Die ersten „Shhhhhs!“ waren zu hören. Aoko wurde unruhig.
Kaito wandte seinen Blick bittend seiner Sandkastenfreundin zu. „Hilfst du mir suchen, Aoko?“
Diese schnappte empört nach Luft. „Wir sind hier doch nicht im Zirkus, Kaito! Lass den Knopf doch Knopf sein und setz dich wieder hin!“
„Aber der war ein Geschenk von meinem Vater!“
Aoko seufzte leise. Was sollte sie denn da noch entgegenbringen? Sie wusste ja selbst, wie wichtig Kaito sein Vater gewesen war. Und sie wollte nicht herzlos erscheinen.
„Na, okay.“
Nachdem sie sich noch einmal kurz umgeblickt hatte, dass niemand auf sie achtete, rutschte sie langsam und bedacht leise von ihrem Stuhl.
Mein tolles Abendkleid, dachte sie wehleidig, als das Kleid den schmutzigen Boden berührte. Aber sie wollte Kaito helfen.
„Auaaaaa …“
„PSCHT!“
„Mist… !“
„Was ist los?“, wisperte Aoko genervt. So ein Heidenkrach.
Wie hatte sie denken können, dass Kaito sich wenigstens an einem so besonderen Abend einmal benehmen konnte? Kaito war kindisch und würde nie erwachsen werden, das musste sie wohl oder übel einsehen. Und sie fand es schade.
„Hab mir den Kopf gestoßen“, murmelte Kaito und rieb sich die Stelle, an der er sich am Stuhl seines Vordermanns gestoßen hatte.
„Was soll denn dieses Theater?“, herrschte dieser die beiden auch direkt an.
Seine Nachbarin flüsterte mit strafendem Blick: „Teenager gehören nicht in ein Konzert für die gehobene Gesellschaft!“
Aoko konnte sehen, dass Kaito die Dame wütend anfunkelte, doch sie schnappte sich schnell seine Hand, woraufhin sowohl sie selbst als auch Kaito kurz erstarrte.
„W-Wir wollten doch den Knopf suchen“, murmelte sie und drehte sich schnell wieder weg, damit er nicht sah, dass auf ihren Wangen ein leichter Rotschimmer lag.
Kaito nickte nur kurz und senkte den Blick schnell wieder auf den Boden.
Die Melodie des Klaviers nahm eine dramatische Entwicklung an, wurde lauter und schneller.
Aokos Angst, die anderen Zuschauer zu stören, schrumpfte auf ein Minimum.
Sie widmete sich nun ganz dem Knopf.
Der Knopf sollte ein Geschenk von Kaitos Vater sein? Wer auf dieser Welt verschenkte denn schon Knöpfe? Höchst seltsam. Aber Kaitos Vater war auch höchst seltsam gewesen. Höchst seltsam, aber Aoko hatte ihn immer sehr gemocht. Er hatte Kaito und sie mit seinen tollen Zaubertricks in Erstaunen versetzt. Aoko konnte Kaito schon verstehen, wenn er in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte.
Aber sie ahnte ja nicht, dass Kaito nicht nur als Zauberer in die Fußstapfen seines Vaters getreten war.
„Wie sieht der Knopf eigentlich aus?“, fiel ihr da ein.
„Äh … blau.“
„Blau … Puh.“
„IGITT!“
„Nicht so laut, Kaito!“
„Hier ist eine … Kakerlake. Oder sowas in der Art!“
„Eine … Kakerlake?!“ Aoko musste sich zusammenreißen, nicht aufzuspringen und laut zu schreien. Kakerlaken waren wirklich das Ekligste, was es an Insekten gab. Wie kam denn so ein Viech in den Saal?
„Guck mal, Aoko! Hier ist sie!“
Als Aoko erschrocken aufschaute, wedelte Kaito mit irgendetwas vor ihrer Nase herum …
„Kaito, nimm das weg! Nimm das weg, nimm das weg, nimm das weg! SOFORT!“
„Es reicht“, zischte Aokos Sitznachbarin.
Dann erkannte Aoko, was der unverschämt grinsende Kaito vor ihr Gesicht hielt – eine seiner verdammten Gummi-Spinnen.
Sie revanchierte sich mit einem Faustschlag in seine Seite. Er war so ein Vollidiot!
„Du bist voll drauf reingefallen!“, grinste Kaito schadenfroh.
„Halt die Klappe! Du wolltest doch suchen, stimmt’s?“
Kaito nickte und wandte sich ab.
Plötzlich stockte er. „Hier ist er ja!“
„Hast du ihn gefunden?“
„Er war die ganze Zeit in meiner Jackentasche…“, erwiderte Kaito kleinlaut.
Aoko konnte es nicht fassen. Jetzt war sie hier die ganze Zeit herumgekrabbelt, hatte die anderen Zuschauer verärgert, und da war das alles umsonst?
Das wollte sie sich nicht gefallen lassen! Aoko sprang auf.
„JETZT REICHT ES, KAITO! ICH HAB KEINEN BOCK MEHR AUF DEINE MÄTZCHEN!“
In ihrer Wut hatte sie gar nicht bemerkt, dass sich das dramatische Spiel zur leisen, lieblichen Melodie gewandelt hatte.
Noch nie in ihrem ganzen Leben war ihr etwas so peinlich gewesen.
Sie stand aufrecht im Saal, wurde von allen Seiten angestarrt und allgemeines Gemurmel kam auf. Ein Albtraum!
Eine schwere Hand legte sich auf Aokos Schulter. Sie blickte den passenden Mann dazu erschrocken an. Schwarzer Anzug, Knopf im Ohr.
Ein anderer Mann vom gleichen Format packte Kaito im Nacken und zerrte ihn auf die Beine.
„Bitte mitkommen“, murmelte der Anzugträger in Aokos Ohr. Von Mitkommen konnte allerdings keine Rede sein, Aoko und Kaito wurden aus ihrer Reihe gezerrt, die Treppen hinunter und zum Ausgang.
Aoko hätte heulen können. Warum musste der Abend bloß so enden?
Sie hatte sich zum Gespött der Leute gemacht. Aber noch viel schlimmer – Miss Crofort musste auch alles mitbekommen haben! Da vertraute ihr diese wichtige Frau ihr kostbarstes Stück an und Aoko wurde aus dem Saal geschmissen.
Als die beiden vor der geschlossenen Saaltür standen, konnte Aoko sich nicht mehr zusammenreißen. Sie holte aus und verpasste Kaito eine schallende Ohrfeige.
Dieser reagierte zuerst kaum. Dann betastete er erstaunt seine Wange, die sich augenblicklich rot färbte. Da sollte er noch einmal behaupten, Mädchen hätten keine Kraft!
Wenn es darauf ankam, hatte Aoko eine Kraft, von der sie nicht einmal etwas wusste.
Wütend drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand mit festen Schritten auf der Toilette.
Unter keinen Umständen würde sie je wieder mit diesem Baka reden!
Kaito hatte sich immer noch keinen Zentimeter gerührt.
Er konnte verstehen, dass sie sauer auf ihn war, aber musste sie es denn gleich übertreiben? So schlimm war es nun wieder auch nicht gewesen!
Typisch Aoko!
Eigentlich hätte er sich jetzt Vorwürfe gemacht, hätte sich wieder mit Aoko vertragen wollen. Aber er hatte leider Anderes zu tun. Sein Plan war gelungen. Sogar noch besser, als er gedacht hätte.
Im Suchfieber nach dem angeblich verlorenen Knopf hatte er ganz unbemerkt die Träne des Äges aus Aokos Handtasche genommen. Es war im peinlich gewesen, in ihrer Handtasche zu wühlen, doch gleichzeitig war er stolz gewesen, dass sich sein Verdacht, dass Aoko die Perle in ihrer Tasche aufbewahrt hatte, bestätigt hatte.
Wirklich nicht dumm von Miss Crofort, doch Kaito Kid war immer ein bisschen klüger.
Ein triumphierendes Lächeln glitt über sein Gesicht.
Er zauberte Kids Zylinder hervor, setzte ihn sich auf, warf sich das Cape über die Schultern und fühlte zur Sicherheit noch einmal nach, ob die Perle auch wirklich an Ort und Stelle war.
Jetzt musste er nur noch auf das Dach. Er hoffte, dass das Geheimnis um den Mann im lila Smoking bald gelüftete werden würde. Kaito wurde nicht gerne an der Nase herum geführt.
Dieser Mann konnte doch nicht sein Vater sein! … Oder?
Ein Geist vielleicht. Und Kaito konnte nicht wissen, wie Geister sich verhielten.
Aber Kaito glaubte nicht an Geister.
