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Flüsse der Hoffnung und Meere des Leids

Azraels Tagebuch
von

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Schmerzhaftes Erwachen

Prolog

Kurz nach meiner Geburt machte ich die erste Bekanntschaft mit einer Mülltonne. Nur durch einen unglückseligen Zufall überlebte ich überhaupt soweit, dass ich eigenständig denken konnte. Einen Namen hatte ich nicht, alle riefen mich nur „Junge“, ich selbst hingegen gab mir den Namen „Azrael“ Azrael, wie der Racheengel. Denn ohne dieses verlangen auf Rache hätte ich kaum bis zum heutigen Tage überlebt. Dies hier soll meine Geschichte sein, meine Vergangenheit. Es hat mehrere Gründe, dass ich dieses Buch aus der Erzählperspektive schreibe…. Doch vor allem schreibe ich es als Erzähler, weil es mir oft so vorkam, als ob ich mein Leben nur beobachten würde…

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Schmerzhaftes Erwachen
 

Es war tiefe Nacht, der Wind peitschte durch die wenigen Bäume am Straßenrand, die schon ihre Blätter hängen ließen. Die letzten Wochen waren trocken gewesen und die Leute freuten sich über dieses Unwetter. Die Straße war, bis auf ein paar umgeschmissene Mülltonnen, die im Wind klapperten, vollkommen leer. Kein Mensch war auf der Straße, doch im flackernden Schein einer einsamen Laterne konnte man eine Frau mit einem Bündel in der Hand beobachten. Ein Babyschreien ertönte und wurde dann vom Wind wieder verschluckt. Sie ging ein kurzes Stück, werkelte an einer Mülltonne herum und verließ die Straße wieder… ohne das Bündel in ihrem Arm. Unbarmherzig peitschte der Wind weiter durch die Straßen, verschluckte die Schreie des kleinen Bündels, das in der Mülltonne lag. Erstickende Dämpfe stiegen vom Müll zu ihm hoch und ließen es langsam in die schwärze der Bewusstlosigkeit gleiten. Der Tod schien ihm gewiss.

Ein paar Stunden später... Der Sturm hatte sich gelegt und die brennende Sonne schien abermals am Himmel, warf ihre heißen Strahlen auf die Erde nieder und brachte die giftigen Dämpfe dazu schneller aufzusteigen. Ganz ruhig lag das kleine Bündel in der Mülltonne, keine Regung zuckte durch den kleinen Leib in seinem inneren. Hin und wieder ein kleines Zucken, ein Röcheln. Nicht mehr. Die Müllabfuhr rollte träge über die Straße, Männer sprangen ab. Sie sammelten die umgefallenen Mülltonnen auf, leerten sie aus. Es dauerte nicht lange, da hatten sie auch die Tonne mit dem Bündel erreicht und brachten sie zum Müllauto. „Hey Gustav, schau mal nach was für ‘n Giftzeug der alte Meyer diesmal versucht bei uns abzuladen!“ meinte einer der Müllmänner grinsend. „Sicher, dass du das wissen willst? Der Typ ist mir unheimlich… und ja… ich weiß es ist unsere Pflicht…“ grummelte der angesprochene und klappte die Tonne widerwillig auf. Ein kurzes Schweigen herrschte während Gustav ungläubig in die Mülltonne sah. „Alter, alles okay? Oder haben dich die Sachen da drinnen schon sprachlos gemacht?“ Gustav schluckte schwer und griff in die Tonne. Zitternd holte er den leblosen kleinen Körper aus dem Müll. „Ein Kind! Verdammt Harald, der hat hier ein Baby rein geworfen! Schnell! Fahr zum Krankenhaus!“
 

Acht Jahre später…
 

Wie durch ein Wunder hatte das Baby überlebt, im Krankenhaus hatte man festgestellt, dass der Junge erst am Vorabend geboren worden war. Es war offensichtlich, dass er ein ungewolltes Kind war, dessen man sich entledigen wollte. Als er wieder gesund gewesen war, hatte man ihn ins nahe gelegene Kinderheim gebracht.

Nun saß er alleine auf einem kleinen Hügel in der Nähe des Heimes, seine Augen sahen leicht verträumt und auch traurig auf den kleinen Wald in der Ferne. Warum hatte er keine Familie? Warum durfte er nicht dahinten spielen? Warum musste er hier sein? Was hatte er eigentlich getan? All diese Gedanken gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Wie sollte ein Kind auch verstehen, dass die Welt nun mal so ist?

Hinter ihm tauchten drei ältere Jungen auf. „Hey Junge, was macht ein Haufen Dreck wie du auf unserem Platz?“ langsam dreht der Kleine seinen Kopf und sah die Älteren an.

„Jemand der nicht mal einen Namen hat, darf auch nicht auf unseren Platz!“ grinste einer der drei hämisch und schlug dem Kleinen mit der Faust ins Gesicht. Mit Nasenbluten richtete sich dieser wieder auf.

„Ich… ich hab euch gar nichts getan. Lasst mich in Ruhe!“ sagte er fest, doch mit Tränen in den Augen. „Klappe Dreckhaufen!“ meinte der Zweite und schon kassierte der Kleine die nächste Faust. Was als nächstes folgte war ein schreckliches Bild. Der Kleine versuchte sich verzweifelt gegen die drei zur Wehr zu setzen. Erst als er schließlich bewusstlos war, ließen sie von ihm ab.

Eine Frau kam angelaufen. Sie hatte schwarzes, langes Haar, ihr Gesicht strahlte Besorgnis und Wärme aus. Vorsichtig hob sie den zusammengeschlagenen Jungen auf und trug ihn ins Haus. „Hey, Junge… wach auf…“ leicht tätschelte sie sein Gesicht, bis müde Augen sie anschauten. „Lilith… warum tun sie das? Ich habe doch einen Namen…“ ein qualvolles Husten war von dem Jungen zu hören. „Und wie lautet er?“, fragte Lilith leicht lächelnd. „Mein Name ist… Azrael.“ Träge schaute er zu ihr hoch, er hatte schon vor langer Zeit entschieden, dass er so heißen wollte. Seit er von dem Racheengel gelesen hatte, denn irgendwann würde er ihnen alles heimzahlen. Doch bis jetzt hatte er sich nicht getraut es wem zu erzählen, wie er hieß.

„Warum habe ich keine Eltern? Warum wollten sie mich nicht? Was hab ich getan? Warum weiß keiner wer sie sind?“, fuhr er fort, während sich abermals Tränen in seinen Augen sammelten.

„Azrael… hör mir zu... wahrscheinlich hatten sie einen Grund für das was sie getan haben… eines Tages wirst du erfahren wer sie sind… gedulde dich“, sagte sie und stand auf um für alle etwas zum Abendessen zu machen. Azrael nickte. Ein kleiner Funken Hoffnung entflammte in ihm. Er hatte einen Namen! Lilith hatte ihn bei seinem Namen genannt, vielleicht würden ihn die anderen jetzt nicht mehr hänseln.

Verträumt blickte er aus dem Fenster, sah wie die anderen Kinder draußen spielten… und wenn er es doch noch einmal versuchte? Vielleicht ließen sie ihn ja doch mitspielen, jetzt wo er einen Namen hatte! Er würde so gern sein wie sie. Sie alle hatten ihre Eltern zumindest kennen gelernt, hatten von ihnen einen Namen bekommen. Er war der Einzige, der seine Eltern nicht durch einen Unfall verloren hatte.

„Ich geh noch mal raus, Lilith“, sagte er leise. Langsam ging er zu Tür und schob sie vorsichtig auf. Man sah deutlich die Spuren, die die drei Jungen vorhin an ihm hinterlassen hatten, Schrammen, blaue Flecke, Beulen, ein blaues Auge… doch das kümmerte ihn nicht, die anderen würden jetzt sicher aufhören ihn zu schlagen, vielleicht durfte er sogar mitspielen.

Er stand kurz vor fünf Jungen die miteinander ein Ballspiel spielten und beobachtete ihr Spiel. Sie nannten es „Schweinchen in der Mitte“, während vier von ihnen sich den Ball zuwarfen, rollten oder schossen musste der in der Mitte versuchen, den Ball zu bekommen. Azrael schaute ihnen mehrere Minuten zu, bis er all seinen Mut zusammen fasste und ängstlich fragte: „Darf ich mitspielen? Ich gebe mir auch ganz viel Mühe!“

Der Älteste der Gruppe fing den Ball auf und sah ihn spöttisch an. „Der Junge, der nicht mal einen Namen hat, will mitspielen. Was hält man denn davon?“ schallend fing er an zu lachen. Vorsichtig sah Azrael zu ihm hoch. „Aber ich hab doch jetzt einen Namen! Ich heiße Azrael!“, sagte er stolz.

Schweigend blickten sich die Fünf an, bis der Älteste meinte, dass sie sich kurz beraten müssten. Schnell bildeten die fünf einen Kreis und leises Getuschel und Gelache war zu hören, bis sie sich wieder zu Azrael umdrehten. „Okay, du darfst mitspielen! Aber du bist das Schweinchen!“ sagte einer der Jungen grinsend. Glücklich stellte sich Azrael in ihre Mitte. „Okay! Wir können anfangen!“ er lächelte. Es war einer dieser seltenen Momente in denen er glücklich war… er durfte tatsächlich mitspielen! Sie hatten ihn als Spielkamerad akzeptiert. Der Funken wuchs zu einem Feuer an und Glück durchströmte seit langem wieder seinen Körper.

Der erste warf den Ball und Azrael fing an, hinter ihm her zu rennen. Zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten. Er gab nicht auf, er wollte öfter mitspielen dürfen. Azrael hatte nicht bemerkt, dass sie sich extra weit auseinander gestellt hatten. Er musste diesen Ball unbedingt bekommen! Plötzlich bekam er ihn an den Hinterkopf. Fast viel er zu Boden doch er konnte sich noch abfangen.

„Hey pass doch auf! Du musst schneller sein!“ meinte einer der Jungen höhnisch. Azrael wusste, dass er Konstantin hieß. Er hatte ihn schon oft geärgert doch jetzt durfte er sogar mit ihm spielen! Jetzt gehörte er dazu und wurde bestimmt nicht mehr geärgert. Kindliche Naivität sagte ihm, dass es gar nicht anders sein konnte. Er rappelte sich wieder auf, lief weiter dem Ball hinterher. Immer öfter bekam er ihn ab, ohne dass er ihn fangen konnte. Immer wieder wurde er zu Boden geworfen, doch er stand auf. Nach und nach stiegen die anderen in das neue Spiel ‚Schweinchen abwerfen’ ein. Azrael bemerkte es nicht und gab sich selber die Schuld. >>Du musst schneller sein<<, dachte er bei sich, als er sich zum zwanzigsten Mal aufrappelte. Weiter prasselten die Bälle auf ihn herab und dann endlich fing er den Ball. Halb auf den Knien hielt er ihn fest in der Hand.

„Ich hab ihn! Du bist dran!“ rief er etwas schwächlich, aber glücklich zu Konstantin und stand schwankend auf. Konstantin ging auf ihn zu. Azrael wollte sich auf seinen Platz stellen, als Konstantin ihn plötzlich schlug. Er fiel zu Boden, hatte leichtes Nasenbluten.

„Du wirst nie zu uns gehören! Auch mit Namen nicht!“ rief Konstantin, nahm den Ball und zog lachend mit den Anderen ab. Die Tränen stiegen in Azrael hoch. Was hatte er nur getan?! Er hatte doch jetzt einen Namen… sie hatten doch gesagt das er mitspielen darf… Leise fing er an zu weinen und blieb liegen. Warum taten sie so etwas? Warum war er immer alleine? Warum hörte ihm keiner zu? Warum hassten ihn alle? Warum war er hier nicht willkommen? Er hatte doch keinem etwas getan! Das Feuer in seinem Herzen war erloschen und ein tiefer Sumpf der Trauer und Verzweiflung hatte seinen Platz eingenommen…

Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, irgendwann stemmte er sich in die Höhe und wischte die Tränen aus dem Gesicht. Er würde nie eine Antwort erhalten. Mit geschwollenen Augen ging er ins Haus hinein und wurde von einer besorgten Lilith begrüßt. „Azrael, was ist denn passiert? Waren das wieder die Anderen?“ besorgt sah sie ihm in die verschleierten Augen. Er schüttelte nur den Kopf. „Hingefallen“, murmelte er. Es würde nur noch mehr Ärger geben, wenn er sagte was passiert war. Einmal hatte er Lilith gesagt was passiert war und sie hatte den Anderen die Leviten gelesen. Die Tage darauf waren noch schlimmer gewesen als sein Leben ohnehin schon war. Er wurde pausenlos geärgert und hatte keine ruhige Minute mehr. Noch einmal würde er das nicht durchstehen. Schlurfend ging er in sein Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.

Sein Zimmer war kahl eingerichtet. In der Ecke stand sein Bett, wenn man es als solches bezeichnen konnte. Eigentlich waren es nur ein paar Metallstangen auf denen eine völlig unzureichende Schaumstoffmatte lag. Das Kissen selber bestand ebenfalls nur aus einem Schaumstoffblock. Die Decke hingegen war aus ein paar dünnen zusammengenähten Decken. Den Bettbezug stellten dünne weiße Tücher da. Stofftiere hatte er keine, genauso wenig wie Spielzeuge. Vor seinem Bett lag eine Matte die das Zimmer eigentlich etwas wärmer wirken lassen sollte, doch sie war schon lange ausgeblichen und ausgefranst. Ein leeres Regal befand sich an der sonst kahlen Wand. Das Zimmer hatte keine Tapete, nur schlichten Putz und die Glühbirne an der Decke keinen Schirm, oder etwas Vergleichbares. Sie hing einfach nur runter und spendete kaltes, flackerndes Licht.

Ganz am Ende des spartanischen Zimmers stand noch eine Heizung, vergilbt und teilweise rostig. Direkt daneben war ein kleines Waschbecken. Der Wasserhahn tropfte und war verkalkt und das Becken sah aus, als würde es jeden Moment von der Wand fallen. Ein Spiegel war darüber angebracht und eine abgenutzte Zahnbürste lag davor. Ein Fenster gab es hier nicht. Langsam bewegte sich Azrael aufs Bett zu und setzte sich hin. Das Bett gab einen quietschenden laut von sich. Offensichtlich waren auch die Federn des Metallgestells lange nicht mehr geölt wurden. Leicht fröstelnd griff er nach der Decke und schlang sie um sich. Die Kälte nahm etwas ab, doch verschwand nicht ganz. Sie schien sich in ihm erbarmungslos festgebissen zu haben. >>Bald ist wieder Weihnachten<<, dachte er niedergeschlagen.

Er hasste die Weihnachtszeit ganz besonders. Viele der Kinder die nur hier waren, weil ihre Eltern nicht mehr für sie sorgen konnten bekamen Besuch, durften für ein paar Wochen weg… und eigentlich alle Kinder bekamen irgendwelche Geschenke. Außer er. Er tauchte in keiner der Listen von irgendwelchen Hilfsorganisationen auf, warum wusste er selber nicht… und er hatte auch keine Verwandte die das letzte bisschen zusammen sparten um ihn was zu schenken. Er bekam nicht mal irgendwas Besonderes wie einen Schokoladen-Weihnachtsmann zu essen. Um genau zu sein, wusste er nicht mal, wie Schokolade schmeckte. Er sah immer nur zu wie die anderen Kinder ihre Schokolade glücklich verspeisten. Er war nur zum Zuschauen da, wenn es um etwas ging das lecker war oder Spaß machte.

Es wurde Abend und er fing erbärmlich zu frieren an. Seine ‚Decke’ nützte da auch nicht viel. Sie war schlichtweg viel zu dünn in einem Zimmer, in dem die Heizung nicht einmal vernünftig funktionierte. Einmal war er deswegen zu Lilith gegangen, weil er gehofft hatte dass er wenigsten eine Decke bekommen könnte, bei der er nicht frieren würde, oder eine neue Heizung. Allerdings hatte sie nur zu einer maßlosen Erklärung angesetzt, warum das nun mal nicht möglich sei und er die Zähne zusammenbeißen müsse. Zitternd stand er auf, hatte seine Decke noch um sich geschlungen und öffnete leise die Tür. Auf Zehenspitzen und die Decke hinter sich herschleifend machte er sich auf den Weg zur Küche, denn da war es wenigstens warm. Er war schon oft mitten in der Nacht in die Küche gegangen um sich zu wärmen. Manchmal hatte es Ärger gegeben, wenn er in der Küche eingeschlafen war oder jemand ihn entdeckt hatte, doch das war ihm egal. Er wollte einfach nur diese Kälte aus seinen Gliedern vertreiben.

Azrael schlich sich an den Zimmertüren der anderen vorbei, die meisten schliefen eh schon. Danach folgte das Wohnzimmer von Lilith. Hier musste er immer besonders vorsichtig sein, da sie oft noch wach war und Fernsehen schaute. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und stoppte plötzlich, als er seinen Namen hörte. Reglos blieb er stehen und fing an zu lauschen. „Solange das mit Azrael nicht auffällt, kann es so weiter laufen. Du darfst nur nicht mit ihm ins Krankenhaus“, hörte er eine fremde Stimme sagen. „Ich weiß, der Junge wird dauernd zusammen geschlagen und kommt hier verletzt und heulend an. Letztens lag er sogar draußen bewusstlos herum. Wenn die Nachbarn das mitbekommen sind wir geliefert… Es ist echt ein Kreuz mit dem Jungen, ich weiß einfach nicht was ich noch mit ihm machen soll“, antwortete Lilith' fast weinerliche Stimme.

„Du weißt selber, dass er nicht normal ist! Der Junge ist das reinste Monster, wenn man den Büchern über diese Bestien glauben darf. Er ist nicht mal ein Mensch! Du musst dafür sorgen, dass er nie erfährt, dass er ein Salander ist. Er könnte das Wissen benutzen und uns allen noch mehr Schaden zufügen. Das wir ihn durchfüttern reicht ja schon!“ hörte er wieder die Fremde sagen. Er war wie gelähmt, zu keinem Gedanken fähig. Das Einzige was er konnte, war weiter zu lauschen. „Ich weiß… genauso wie er nie herausfinden darf, dass Claudius Nuriana und Caliana De Vantil seine Eltern sind“, ihre Stimme klang etwas traurig. „Pass auf, dass du dein Herz nicht an dieses Monster verlierst!“, sagte die fremde Stimme streng. Es folgte eine kurze Stille. „Ich glaub, dass ist schon passiert“, murmelte Lilith kaum vernehmbar. Azrael stand einfach nur da, darauf bedacht keinen laut von sich zu geben.

Tränen stiegen in ihm hoch, er hatte das Gefühl einfach schreien zu müssen, doch er blieb ganz still, drehte sich herum und ging wieder in sein Zimmer. Wie eine Maschine bewegte er sich auf den Spiegel zu und starrte hinein. Blaue, unecht wirkende Augen schauten ihm entgegen. Er wusste, dass seine Augenfarbe falsch war – er spürte es. Manchmal schien es als würden seine Augen flackern und eine andere Farbe zum Vorschein kommen, doch wenn er dann genauer hinsah war alles wieder gleich. Auch die anderen spürten, dass er anders war, dass er nie einer von ihnen werden würde und jetzt wusste er auch warum.

>>Darum wollen sie nicht mit mir spielen… deswegen schließen sie mich immer aus… Ich bin ein Monster! Ich bin kein Mensch! Immer schädige ich sie.<< Ein wirrwahr aus Gedanken schoss ihm durch den Kopf, als sich Tränen der Verzweiflung und Wut in seinen Augen sammelten. Er holte aus und schlug mit aller Kraft in den Spiegel, genau an die Stelle wo seine Augen ihm entgegen geblickt hatten. Er zerbrach augenblicklich. Blut ran an seinem Arm hinab und Schmerz fuhr durch seinen Leib. Doch diesmal störte dieser Schmerz nicht, er war irgendwie willkommen und zeigte, dass er noch am Leben war. Azrael schlurfte zum Bett und sank darauf nieder. Langsam fing er an sich die Glassplitter aus der Hand zu ziehen. Jeden einzelnen, ganz langsam und ohne ein Anzeichen von physischen Schmerzen.

Es war ein grauenhafter Anblick zu sehen, wie dieser kleine Junge sich selber bestrafte und quälte.

Er begann bitterlich zu weinen, was er gehört hatte tat so weh und hatte auch den letzten Rest Zuversicht aus seinem Leben getilgt. Oft hatte er geweint, doch nie so wie jetzt. >>Sie wissen wer meine Eltern sind, sie wussten es die ganze Zeit… Caliana De Vantil und Claudius Nuriana… wahrscheinlich hassen sie mich, weil ich kein Mensch bin. Vielleicht haben sie es direkt nach meiner Geburt gesehen und mich gleich weggeschmissen damit ich ihnen nicht Schade… oder sie wollten mich einfach nicht und ich bin deshalb ein Monster geworden…<< dachte er. Diese und andere Gedanken setzten sich in ihm fest und fingen an sich in seinem Herzen als Wahrheit zu manifestieren.

Azrael verstand die Welt nicht mehr. Er hatte sich doch bemüht immer brav zu sein. Warum hassten ihn dann alle so? Seine Eltern, die Kinder im Heim, die Frauenstimme die mit Lilith über ihn gesprochen hat? Warum zählte es für sie nicht was er tat, sondern nur was er war? Hatte er überhaupt keine Berechtigung wie ein normaler Junge zu leben? Hatte seine Existenz keinen anderen Sinn, als den anderen und sich weh zu tun? Die Frau hatte gesagt, dass er ihnen schon die ganze Zeit zur Last fällt und man darauf achten müsse das er nicht erfährt, was er jetzt weiß, sonst würde er ihnen noch mehr Schaden zufügen. War es ihm verboten glücklich zu sein, weil er kein Mensch war?

Sein Herz schrie und wurde wie immer nicht erhört. Er weinte und weinte die ganze Nacht und als Lilith am Morgen rein kam, lag er erschöpft auf seiner Matratze. Die Augen zu geschwollen von den vielen Tränen, die er die ganze Nacht hindurch vergossen hatte.

Er wollte nur noch eins. Eine Familie. Er wollte wissen wer seine Eltern waren, wollte einfach nur irgendwo dazu gehören. Er gehörte doch auch irgendwo dazu, oder?! Leise ging Lilith auf ihn zu und hob den kleinen, viel zu dünnen, Körper hoch um ihn richtig hin zu legen. Ihre Augen waren voller Mitleid und ruhten auf ihm, als ihr Blick auf seine hand viel erschrak sie doch sie tat nichts. Die Blutung hatte aufgehört und sie wollte Azrael nicht mehr wecken. Wie gern hätte sie ihm das gegeben, was er brauchte, doch ihr waren die Hände gebunden. Sanfte deckte sie ihn mit der viel zu dünnen Decke zu und ging aus dem Zimmer.
 

Ein paar Wochen später...
 

Azrael konnte nicht mehr. Er wusste zwar wie seine Eltern hießen, aber nicht wer sie waren. Er hatte Lilith und die komische Frau noch einmal belauschen können und wieder zerbrach seine Welt ein Stück mehr. Sie hatten von ihm gesprochen wie von einem Kriminellen. War er vielleicht deshalb so bei ihnen gefürchtet? Hatten sie deshalb Angst vor ihm? Schlugen sie ihn etwa zuerst, damit er es nicht tat? Hassten sie ihn deshalb so sehr?

Er wollte endlich wissen WER seine Eltern waren, sein ganzes Herz schrie danach und dann passierte es. Er hatte ein eigenartiges Gefühl, seine ganze Verzweiflung schien sich auf einmal in seinem Herzen zu sammeln und zu konzentrieren und dann schien sich etwas zu entladen. Eine Art Macht die er nie zuvor gespürt hatte streifte ihn, schien direkt seinem Herzen entsprungen zu sein. Es war ein Gefühl von Glück, Macht und der Trieb sich selber zu erhalten.

Langsam formten sich Bilder von einem Mann und einer Frau in seinem Kopf, während sein Körper paralysiert zu sein schien. Er konnte ihn nicht bewegen, da waren nur noch diese Bilder und Stimmen. Er sah IHN, Claudius, und er sah SIE, Caliana. Ihr gesamtes Leben lief vor seinem geistigen Auge ab. Er erfuhr wer sie waren und was sie getan hatten. All ihre Verbrechen wurden in seinem Kopf erneut zum Leben erweckt. Er zitterte und der Schweiß ran ihm an seinen Körper hinab. Seine Augen waren vor Schrecken geweitet und Tränen liefen langsam aus ihnen heraus, benetzten sein Gesicht und vielen lautlos zu Boden. Er gab keinen Ton von sich, konnte es einfach nicht. Grausam fraßen sich die Bilder in seine Seele, wie seine Eltern Befehle von Zwielichten Gestalten annahmen und einfach Menschen zu Tode folterten, ja dabei sogar lachten! Er konnte es nicht glauben und fühlte, was sie dabei empfunden hatten. Triumph, Freude, Überlegenheit und nicht den Hauch von Reue oder gar Mitleid. Starr saß er da, konnte das Geschehen nur verfolgen. Irgendwann war es zuviel für ihn. Bewusstlos kippte er zur Seite und warme, gnädige Bewusstlosigkeit umhüllte ihn.
 

Als er wieder aufwachte, wusste er nicht wie viel Zeit vergangen war. Die Bilder wie seine Eltern Leute umbrachten waren ihm in die Erinnerung gebrannt, sie hatten sich in sein Herz gefressen und verdrängten alles andere. Er hatte es endgültig als Wahrheit akzeptiert, dass er nur Abschaum und ein Abkömmling von bestialischen Mördern war. Er war nur noch von Schrecken und Leere erfüllt. Nichts weiter, in ihm schien kein Leben mehr zu sein. Nur im Nachthemd ging er hinaus. Es hatte angefangen zu schneien und mit nackten Füßchen stand er im Schnee. Sein Blick irrte übers Gelände, hing kurz an den anderen spielenden Kindern fest. Dann drehte er sich um und lief in Richtung des Waldes. Azrael ging an anderen Kindern vorbei und sie sahen ihn, sahen, dass er nichts weiter anhatte als ein Hemdchen und sich den Tod holen würde, doch sie beachteten ihn nicht.

Seine Füße trugen ihn immer weiter in Richtung Wald. Sie schienen sich wie von selber zu bewegen, er selbst hatte jede Macht über seinen Körper verloren. Seine Gedanken bewegten sich nur träge und eigentlich war es ihm auch egal was um ihn herum passierte. Es war besser wenn er starb. Die Frau hatte gesagt, dass er nur Schaden zufügen würde und zufügte, wieso sollte er also weiter leben? Die einzige die vielleicht ein bisschen um ihn trauern würde wäre Lilith. Und während diese Gedanken ihn umfingen drang er tiefer in den Wald ein. Ging bis zu einer Höhle und setzte sich. Wieder war er allein. Seine Spuren würden schon irgendwen hierher führen wenn sie ihn suchen sollten. Wenn sie ihn finden wollten, dann konnten sie es auch... Lilith hatte ihm mal beigebracht, wie man ein Feuer entzündete, es dauerte zwar eine Weile, bis er es schaffte eines in Gang zu bekommen, doch es ging.

Er wartete. Der Tag zog an ihm vorüber und Azrael tat nichts anderes als da zu sitzen. Er fror die ganze Zeit, aber er war ja eh nichts anderes gewöhnt. Seine Finger waren schon teilweise blau geworden, als er sie dem Feuer entgegen reckte. Es dauerte eine Weile, bis wieder wohlige Wärme in sie hinein kroch.

Langsam wurde es Abend und die Kälte beißend, er kroch so dicht wie er konnte ans Feuer heran und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er verstand es nicht. Warum kam nicht wenigstens Lilith? Hatte er auch sie schon so sehr verärgert? War er es ihr nicht wert? Hasste sie ihn auch so sehr für das was er war? Das einzige was er wollte, war doch nur mal in den Arm genommen zu werden. Er wollte ein bisschen von dem was die anderen Kinder hatten. eine Familie und vor allem jemanden der ihn liebte. Warum konnte er so was nicht haben? Immer wieder dachte er an Lilith... wenn sie ihn wieder aufpäppelte, oder ihn ausschimpfte, weil er wieder 'hingefallen' war. Azrael war sich nicht sicher, aber tief in seinem Herzen machte sich der verdacht breit, dass Lilith sehr wohl wusste was immer passierte. Hatte sie das nicht auch zu der komischen Frau gesagt? Er wusste es nicht mehr… wollte es wohl nicht mehr wissen, doch sie musste es einfach wissen... so oft konnte keiner hinfallen. Es traf ihn wie ein Schlag, doch er verdrängte es. Lilith durfte so was nicht wissen. Sie war doch die einzige die ihn wenigstens etwas mochte. Vielleicht liebte sie ihn sogar ein ganz ganz kleines bisschen, sie würde es bestimmt nicht wissen.

Auch die Nacht verstrich irgendwann – ohne dass jemand kam. Azrael blickte müde in das fast erloschene Feuer. Also war er auch Lilith egal, wahrscheinlich hatte er ihr schon zu viel Schaden zugefügt, wie die Fremde gesagt hatte. Wahrscheinlich war es besser so. Hustend stand er auf, er würde zurückgehen und abhauen. Er hatte hier nie was verloren gehabt, man hätte ihn gar nicht erst retten sollen. Langsam tapste er zurück, seine Füße waren taub und schienen fast wegzuknicken, doch es war ihm egal.

Das Waisenhaus kam näher und schon von weitem hörte er die Kinder lachen und spielen. Trauer und Wut überkamen ihn und er verbannte jedes Gefühl von seinem Gesicht. Sie sollten nicht auch noch sehen wie sie ihm wehtaten. Er ging einfach weiter, näherte sich den spielenden Kinder, ignorierte sie. In der Nacht hatte er einen Endschluss gefasst. Nie wieder würde er sich von den Jungen hier verprügeln oder ärgern lassen. Er wollte ihnen diesen billigen Triumph nicht mehr gönnen. Sie hatten ihn lang genug gequält. Als er schon fast am Haus war, sah er IHN auf sich zukommen. Konstantin. Sauer erinnerte er sich, wie er ‚mitspielen’ hatte dürfen. Er würde es dem Kerl heimzahlen, alles würde er ihm heimzahlen. Er war doch eh nur ein Haufen Dreck, ein Arschloch, das Kind von Mördern. Warum sollte er sich also nicht auch so benehmen? Sie behandelten ihn ja schließlich auch alle nicht anders. Was für einen Grund hatte er also nicht so zu sein? Er hatte ihnen acht Jahre nichts getan und sie hatten ihn immer wie ein Haufen Dreck behandelt… jetzt konnte er sich auch wie einer benehmen.

„Na Heulsuse bist du wieder da?“ hörte er Konstantins Stimme höhnisch erklingen, „konntest es wohl nicht ertragen, dass sich keiner um einen Haufen Dreck wie dich schert und dich keiner suchen gegangen ist!“ Ein fieses Grinsen machte sich auf Konstantins Gesicht breit. „Nein, eigentlich bin ich zurück gekommen um dir das hier zu geben“, meinte Azrael nur und schlug mit der Faust in Konstantins Magen. Das nächste was man hörte war ein Körper der zu Boden krachte und ein nach Luft schnappen. >>Volltreffer!<< dachte sich Azrael und er spürte sogar etwas wie Befriedigung, obwohl sein Gewissen ihm sagte, dass das was er eben getan hatte falsch war. Doch sein Gefühl sagte ihm etwas anderes. Er hatte Jahrelang unter ihnen gelitten, wieso sollte er sie jetzt nicht leiden lassen?

Niemand stellte sich ihm mehr in den Weg. Die Anderen hatten sich alle um den am Boden liegenden Konstantin versammelt und ließen ihn gehen. Was er in ihren Augen las war Angst, fast Panik. Vor ihm? Vielleicht… wahrscheinlich wussten sie, dass der den sie all die Jahre gefürchtet hatten, dass DAS was sie all die Jahre gefürchtet hatten, nun in ihm erwacht war. War es schon immer in ihm gewesen, oder hatten sie es mit ihrer Tyrannei geschafft ihn so zu machen, wie sie ihn beschuldigt hatten zu sein?! Wurde ein Mensch mit einem bestimmten Wesen geboren, oder wurde er dazu gemacht? Diese Frage hätte vielleicht einen Wert gehabt, wenn sie früher gestellt worden wäre… doch jetzt war die Antwort egal. Es war nur noch wichtig was er nun war, wie er war. Er hatte seinen Widerstand endgültig aufgegeben, hatte schlichtweg resigniert. Was nutze es gegen etwas zu kämpfen gegen das er nicht gewinnen konnte?

Er kam dem Haus näher und eine Gleichgültigkeit legte sich über den Schmerz. Wieso hatte er überhaupt erwartet, dass Lilith ihn suchen würde? Hatte er dazu irgendeinen Grund? Wenn er es recht bedachte, dann hatte er keinen. Es war schon immer so gewesen, dass er am wenigsten Kleidung, kein Spielzeug und zu dünne Decken gehabt hatte, während die anderen Kinder wenigstens vernünftige Sachen hatten. Sie lebten ja schließlich nicht mehr im tiefsten Mittelalter. Es war auch schon immer so gewesen, dass auf ihm herum gehackt wurde und niemand was unternahm… wieso hätte Lilith also dieses Mal kommen sollen um ihm zu helfen?!

Er hustete qualvoll, aber auch das war ihm irgendwie einfach egal. Er wollte… ja was wollte er eigentlich? Er war gerade acht fünf Jahre alt… na ja, genauso genommen war er noch genau einen Tag acht Jahre alt, aber was sollte auch ein Neunjähriger schon tun? Er wusste es nicht, er wusste nur eins und zwar, dass er hier weg wollte.

Die kleine Holztreppe zum Haus ächzte als er sie betrat, als würde der Stein in seinem Herzen auch sie zum zerbrechen bringen. Mutlos, kraftlos und von dem letzten Tag gezeichnet ging er auf die Tür zu. Er legte seine kleine Hand auf die Klinke um sie herunter zu drücken, doch er zögerte. Nur einen ganz kleinen Moment lang. Irgendwas kam ihm falsch vor, doch das mulmige Gefühl was er kurze Zeit gehabt hatte, verschwand so schnell wie es gekommen war und hinterließ wieder diese dumpfe Leere.

Entschlossen drückte er die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Im ersten Moment schien das Haus sonderbar still darzulegen, alle Kinder schienen draußen zu sein. Er hatte es nicht gemerkt, doch jetzt viel es ihm auf. Es waren wirklich alle Kinder gewesen, selbst die, die eigentlich krank waren. Er spitzte die Ohren, sein Gehör und sein Geruch waren schon immer irgendwie schärfer gewesen, als bei anderen Kindern. Früher wusste er nicht woran es lag, doch inzwischen schob er es darauf ab, dass er ein Monster war. Erst hörte er nur seinen eigenen Herzschlag, doch dann hörte er gedämpfte Stimmen. Leise schlich er in die Richtung aus der sie zu kommen schienen.

Seine Sinne waren bis zum zerreißen gespannt, als er merkte woher diese Stimmen kamen. Unendlich langsam bewegte er sich auf die Stube zu, in der er auch schon Lilith und die Fremde belauscht hatte und erstarrte. Er roch etwas. Er konnte schwer beschreiben was es war, dieser Geruch war ihm Fremd. Er konzentrierte sich, suchte etwas was den gleichen Geruch trug… und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er war es, der so ähnlich roch. Nur dass da noch andere Gerüche waren, Gerüche die er nie zuvor wahrgenommen hatte. Er presste sich mit dem Rücken an die Wand und lauschte, versuchte Sprachfetzen zu verstehen, doch es schien ihm unmöglich zu sein und nun verstand er auch warum. Es war nicht Lilith die sprach, es waren ausnahmslos Fremde und sie redeten auf einer Sprache, die er nicht verstand. Sie erschien ihm vertraut und doch so schrecklich fremd, ja fast abstoßend. Sie hörte sich unvorstellbar alt an.

Seit er hier im Heim war, hatte Lilith ihnen jeden Abend aus der Bibel vorgelesen und sie hatte sich nicht damit begnügt ihnen die übersetzte Ausgabe vorzulesen, sondern die Lateinische. Täglich hatten sie von ihr Lateinunterricht bekommen und inzwischen war er sich sicher, dass er diese längst ausgestorbene Sprache sogar einwandfrei und flüssig sprechen könnte. Doch die Sprache die er jetzt hörte, schien um so vieles Älter zu sein, er wusste nicht woher er diese Gewissheit nahm, doch er spürte es einfach. Ab und an schien ein lateinisches Wort zu fallen, aber der Rest der Sprache war ihm unverständlich. Kurz hörte er Lilith Stimme wie sie etwas sagte, zu schnell als das er es verstehen konnte.

Schließlich siegte seine Neugier über die Vernunft, er wagte sich etwas zu weit vor und die Tür wurde aufgerissen. „Azrael! Da bist du ja! Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!“ rief Lilith geschockt. Azrael erstarrte, als er ihr Gesicht sah. Es spiegelte Erschrecken wieder, Sorge und sogar Panik? Verstört blickte er sich um und sah in die Gesichter von drei Männern. Sie hatten harte Gesichtszüge, allesamt langes Haar und eine Sonnenbrille auf. Er betrachtete sie eingehender, wenn auch nur so lange, dass sie sich nicht angestarrt fühlten. Sie hatten Anzüge an, doch sie wirkten darin so falsch wie es nur ging. Es sah aus, als wären sie mindestens drei Nummern zu klein und sie schienen aus dem vorigen Jahrhundert zu kommen.

Wieder sah Azrael Lilith an und las nun Verzweiflung auf ihrem Gesicht. Was war hier nur los? Er hustete qualvoll. „Ich hab mich verlaufen“ meinte er mit einem Blick in ihre Richtung. Jeder der die Gegend kannte wusste, dass das eine Lüge sein musste. Doch Lilith beließ es dabei. Seit er eingetreten war, hatten die drei Männer noch nichts gesagt, doch er spürte einfach, dass ihre Blicke auf ihn gerichtet waren, unangenehme Blicke.

„Wer sind denn diese Männer?“ frage er unumwunden und deutete auf den der direkt hinter Lilith stand und seine Hand auf die Couchlehne gelegt hatte. „Nun… gut, dass du fragst. Weißt du, dass sind Verwandte von dir und sie wollen dich mitnehmen.“ Azrael klappte der Mundwinkel runter. „Aber ich dachte…“ Lilith schnitt ihm das Wort mit einer knappen Geste ab. „Sie haben hier einen Schrieb vom Krankenhaus und den Behörden, der bestätigt, dass sie deine Verwandte sind und sie das Recht haben dich mitzunehmen.“ Kurz wedelte sie mit dem Blatt und gab es Azrael. Er starrte das Blatt ein zwei Sekunden einfach nur an, starrte den Stempel an der sich auf dem Blatt befand. Selbst ein Kind konnte erkennen, dass er falsch war. Er war bloß aufgemalt, doch Lilith schien das nicht zu stören, anscheinend hatte sie endlich einen Vorwand gefunden, ihn los zu werden.

Deshalb hatte sie ihn nicht suchen lassen, damit sie ihn los war… und für den Fall, dass er doch zurück kam, hatte sie sich gleich ein Schmierentheater einfallen lassen. Hass flammte in ihm auf. Wieso auch sie? Tief in seinem innersten hatte er gewusst, dass Lilith ihn nicht mochte… doch er hatte es einfach nicht wahrhaben wollen. Wieso musste sie ihm jetzt so deutlich zeigen, wie sehr sie ihn hasste, dass sie ihn nicht mal mehr in ihrer Nähe haben wollte?! Tränen der Wut wollten ihm in die Augen steigen, doch er unterdrückte sie. „Heißt das… ich muss hier weg?“ fragte er mit einem Zittern in der Stimme, dass man auch irrtümlicherweise für Trauer statt Wut hätte halten können.

„Ja, aber wieso denn so traurig? Du hast endlich eine Familie gefunden! Das hast du dir doch immer schon gewünscht! Pack deine Koffer, deine Verwandten wollen los.“ meinte Lilith mit einem aufgesetztem Lächeln. Die drei Männer, seine Verwandten, hatten bis jetzt kein Wort gesprochen. Auch jetzt schienen sie nicht die geringste Anstalt zu machen, ein Gespräch mit ihm anzufangen.

Wütend drehte er sich um und stürmte in sein Zimmer. Lilith hatte ihn verraten, sie wollte ihn nun endlich loswerden und hatte es geschafft. Er zerrte einen alten, zerschlissenen Koffer unter dem Bett hervor und öffnete ihn. In seinem inneren befand sich nichts, außer einem alten Schuhkarton, doch er beachtete ihn nicht und schmiss einfach seine Sachen drüber. Viel war es nicht, nur ein paar zu Große und viel zu kalte Kleider. Die zu dünne Decke verstaute er auch noch ihn ihm. Wieso auch nicht? Er hatte nicht das Gefühl irgendeinen Diebstahl zu begehen. Wahrscheinlich hätten sie sie eh in den Müll geworfen.

Insgesamt hatte das Packen nicht mal fünf Minuten gedauert, als er mit dem Koffer zur Tür zurückkehrte. Die Männer standen immer noch an ihren Plätzen. „Fertig. Wir können“, sagte Azrael gepresst. „Leb Wohl, Azrael. Vergiss uns nicht“, sagte Lilith mit einem traurigen Lächeln. Sie machte sich nicht mal die Mühe aufzustehen und Azrael warf trotzig den Kopf in den Nacken. Er hatte ja eh gehen wollen, also konnte ihm doch egal sein, wie es passierte - umso schneller, umso besser… Er wandte sich von Lilith ab ohne etwas zu erwidern. Die dünne Blutspur in Lilith Nacken, war ihm verborgen geblieben…
 

Sie stiegen in ein schon vor der Tür wartendes Taxi. Der Fahrer verstaute schnell seinen Koffer im Gepäckraum und startete den Motor, als Azrael auffiel wie nervös seine Verwandten waren. Fast als würde das Auto ihnen unangenehm sein, sogar Angst machen. Azrael runzelte die Stirn, doch er sagte nichts. Trotzig starrte er aus dem Fenster und sah wie das Waisenhaus, sein Gefängnis, seine Folterkammer, allmählich hinter ihnen zurück blieb. Er sollte glücklich sein, doch ihm war kalt. Es schien, als hätte er auch das letzte bisschen Wärme die ihm geblieben war zurück gelassen. Es schmerzte ihn, wie Lilith ihn verabschiedet hatte und diese fremden Männer waren ihm mehr als unheimlich. Sie hatten nach wie vor kein Wort mit ihm gesprochen und er hatte immer noch das Gefühl, dass sie und Lilith ihm das letzte genommen hatten was er besaß. Seine vertraute Umgebung und die Illusion wenigstens von einem Menschen gemocht worden zu sein. „Wohin bringt ihr mich?“ fragte Azrael mit unsicherer Stimme. „Wir bringen dich in dein neues zu Hause“ meinte einer der Männer, nachdem kurze Zeit niemand etwas gesagt hatte. Er hatte einen schweren, Azrael unbekannten, Akzent. Vermutlich hatte die Antwort deswegen so lange gedauert, weil er erst nachdenken musste, was er sagen sollte. Azrael konnte es nicht fassen, er sollte nicht nur in eine ihm unbekannte Familie, sondern sie konnte anscheinend nicht einmal richtig seine Sprache sprechen! Und sprachen selber eine Muttersprache, die anscheinend aus dem letzten Jahrtausend kam, wenn nicht sogar aus dem vorletzten?! Er konnte es einfach nicht fassen. Er würde ihre Sprache zwar schnell erlernt haben, wie alles was mit Sprache zu tun hatte, aber wie konnte Lilith das zulassen, dass er wohin gebracht wurde, wo er sich noch nicht mal richtig verständigen konnte? Sein Blick verdüsterte sich. Ganz einfach konnte man das zulassen. Schließlich war sie ihn jetzt endlich los. Dreck war egal, Hauptsache man selber muss sich nicht damit rumplagen. Azrael stellte keine weiteren Fragen, ein Gespräch wäre eh nicht zu Stande gekommen. Es gab einiges was er wissen wollte, doch er würde sich wohl gedulden müssen. Mit dem Gedanken, dass hoffentlich der Rest seiner Verwandten vernünftiges Englisch sprechen konnten fiel er in einen tiefen Schlaf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Madakind
2006-08-15T18:20:15+00:00 15.08.2006 20:20
schön..ich mag deinen schreibstil und die story ^^ echt schön! ps: guck ma bei mir XD


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