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Lincolns Geheimprojekt

von

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Planänderungen

„Und deshalb steckte Lenis Hand im Abfluss fest“, beendete Lincoln seine Geschichte. Das bezaubernde Lachen von Ronnie Anne wurde durch den Audi-Ausgang seines Laptops wiedergegeben. Der Bildschirm zeigte, wie sich seine Freundin vor Lachen auf ihrem Bett von einer Seite zu anderen und wieder zurück wälzte. Verträumt beobachtete Lincoln sie dabei.

„Deine Schwestern sind wirklich immer für einen Lacher gut“, antwortete ihm Ronnie Anne, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. Mit ihrer Rechten wischte sie sich eine Lachträne aus ihrem Gesicht.

Schnell bemühte Lincoln sich, wieder einen weniger verräterischen Gesichtsausdruck zu zeigen. Schon eine Weile lang beherrschte seine ehemalige Schulfreundin überwiegend seine Gedanken. Wohl oder übel musste er sich eingestehen, dass er sich ein wenig in sie verliebt hatte. Bestimmte Umstände hatten dazu geführt, dass sie sich schon das eine oder andere Mal geküsst hatten, in erster Linie aber, waren er und Ronnie Anne dennoch nur gute Freunde gewesen. Und bisweilen war er damit zufrieden. Auch deshalb, weil sie immer dann komisch wurde, wenn er vorschlug, mal wieder etwas zusammen zu unternehmen. Nur sie beide alleine versteht sich.
 

In den letzten Monaten hatte er das schon öfters versucht. Doch immer schien Ronnie Anne gerade dann wichtige Pläne mit ihrer Freundin Sid zu haben, wenn er Zeit und Geld dazu hätte, doch mal den Bus oder den Zug nach Great Lake City zu nehmen. Da er sich jedoch nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlen wollte, verwarf er seine Pläne dann meistens, um etwas mit seinen Schwestern oder Clyde zu unternehmen.

Allmählich kam ihm der Gedanke, Ronnie Anne wüsste was in ihm vorging, und versucht darum, alles ihr Mögliche, ihre komplizierte Beziehung beim Status Quo zu belassen. Natürlich kam er deshalb nicht darum herum, zu denken, dass sie seinen Gedanken, vielleicht mehr aus ihre Beziehung zu machen, wenig abgewinnen konnte. Und das kränkte ihn dann doch etwas.

„Das kannst du laut sagen“, antwortete Lincoln möglichst gelassen. Er war tunlichst darauf bedacht, nichts von seiner Gefühlswelt durchblicken zu lassen.

„Zum Glück ging alles gut. Nach einer Weile haben ich und Lana es schließlich geschafft, Lenis Hand freizubekommen und auch ihr Ohrring wurde nicht, auf nimmer Wiedersehen, in die stätische Kanalisation gespült.“

„Schön zu hören. Und was ist seit unseren letzten Chat noch so alles passiert?“, wollte Ronnie Anne sichtbar gespannt von ihm wissen. Bestimmt hatte er noch die eine oder andere unterhaltsame Geschichte auf Lager.

„Nun ja… Clyde hatte neulich so eine verrückte Idee, Loris Herz doch noch für sich zu gewinnen…“

„Ist er immer noch nicht über seine verschmähte Liebe hinweg“, fiel ihm Ronnie Anne gut gelaunt ins Wort. Das könnte wirklich witzig werden.

„Naja… Was soll ich sagen. Clyde bleibt eben Clyde. Als sein bester Freund habe ich ihm natürlich dabei geholfen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, auch wenn ich wusste, am Ende würde er hoffnungslos scheitern. Und dabei ist folgendes passiert…“
 

Noch eine gute Stunde lang unterhielten sich die beiden lebhaft miteinander und erzählten sich die unterschiedlichsten Geschichten aus ihrem Alltag. Seitdem Ronnie Anne vor drei Jahren in die Stadt gezogen war, konnten sie sich nur noch selten persönlich treffen. Meistens nur dann, wenn seine Mutter etwas in der Stadt zu erledigen hatte, oder wenn Lori einige Tage von College freigestellt war, zufällig zuhause anwesend und Lust darauf hatte, Bobby zu besuchen.

Immerhin benötigten sie selbst mit den Auto mehrere Stunden von Royal Woods bis Great Lake City. Regelmäßige Besuche bei dem anderen, wie es für gute Freunde üblich war, waren darum keine Option. Aber in Zeiten von Globalisierung und Internet gab es, neben langen Telefongesprächen und Briefwechsel zum Glück auch andere Möglichkeiten. Schnell haben darum sowohl Ronnie Anne, als auch Lincoln den Videochat für sich entdeckt. Natürlich war es nicht dasselbe, wie wenn man wahrhaftig neben dem anderen stand, doch es war nahe dran. Und so kamen sie schließlich zu der Übereinkunft, mindestens einmal pro Woche ein virtuelles Treffen zu vereinbaren. Meistens dann, wenn das Wochenende in greifbarer Nähe war und sie etwas Zeit für sich hatten.

Sowohl Ronnie Anne als auch Lincoln lebten in Großfamilien. Lincoln hatte das vergnügen sich mit zehn Schwestern ein Haus zu teilen und Ronnie Anne lebte unter einem Dach mit ihren Großeltern, ihrer Mutter, ihren Bruder, sowie mit Tante und Onkel, als auch mit ihren drei Cousins und ihrer Cousine. Zeit für sich alleine war also durchaus Mangelware, aber dennoch nicht zu schade, um sie füreinander zu nutzen.
 

„Ronalda, Diner ist fertig“, hörte Lincoln plötzlich die Stimme von Ronnie Annes Großmutter, nachdem er mit seiner Erzählung über eine Tierrettungsaktion zu einem Ende gekommen war, die er mit seiner jüngeren Schwester Lana zusammen unternommen hatte.

„Ich komme gleich“, antwortete seine Freundin, bevor sie sich wieder an ihn wandte:

„Tut mir Leid, Lincoln. Aber ich muss Schluss machen.“

„Kein Thema, Ronnie Anne… Doch bevor du gehst.“ Lincoln kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Jetzt oder nie. Er hatte so viel Spaß mit seiner Freundin, dass er den eigentlichen Grund für seinen Chat beinahe vergessen hatte. Doch kaum hatte er das gesagt, erstarb ihr unbeschwertes Lächeln schlagartig. Von jetzt auf gleich wirkte es gequält, beinahe erzwungen. Lincoln bemerkte den Umschwung ihrer Laune, doch jetzt wo er damit angefangen hatte, wollte er es auch durchziehen.

„Um was geht es?“, wollte sie sichtbar nervös von ihm wissen. Genau die Bestätigung, die er gebraucht hatte.

„Ich habe zwei Karten für eine Zaubershow in Great Lake City. Ein Geschenk von Clyde zu meinem vierzehnten Geburtstag. Also, falls du morgen Abend Zeit hättest, hättest du Lust, mit mir dort hinzugehen?“
 

Mit jedem Wort war der Gesichtsausdruck seiner langjährigen Freundin nervöser geworden. In den letzten Monaten hatte er das schon so oft gesehen, dass er bereits wusste, was bald folgen würde. Doch er verstand es einfach nicht. Wie konnte sich ihre Laune nur von einen Moment auf dem anderen so verändern? Vor kurzem noch, war alles super. Ein unbeschwerter Chat zwischen guten Freunden. Und nun? Wie sollte er das nennen? Invasion der Seltsamkeit? Ja, das war gut. So oder so ähnlich. Es war ja nicht so, dass er Ronnie Anne zu einem Date eingeladen hätte. Am Ende wollte er nur etwas Zeit gemeinsam mit ihr verbringen, doch es sollte wohl nicht sein.

„Das ist wirklich cool“, begann Ronnie Anne furchtbar nervöse. Verlegen strich sie sich eine lose Strähne ihres rabenschwarzen Haares aus ihrem Gesicht.

„Aber ich kann nicht. Sid hat Karten für ein Wrestling Match am selben Abend… In der Arena von Great Lake City, du verstehst? Und das kann ich mir nicht entgehen lassen… Tut mir ehrlich Leid.“

Von Sekunde zu Sekunde wurde Ronnie Annes Verhalten wieder etwas normaler. Bald war sie wieder ganz die Alte. Es war beinahe so, als ob ihr ihre Lügengeschichte – es konnte nur eine gewesen sein – dabei helfen würde, ihre Nervosität zu überspielen. Und ihn sollte es recht sein, selbst dann, wenn es ihn verletzte.

„Oh… Verstehe.“ Obwohl er sein Bestes gab, nicht gekränkt zu wirken, gelang es ihm nicht ganz. Traurig wandte er seinen Blick vom Bildschirm ab, hinunter zu seiner Bettdecke. Doch bevor Ronnie Anne etwas sagen konnte, mahnte ihre Großmutter sie erneut.

„Ich muss jetzt wirklich los... Hat Spaß gemacht“, sagte sie noch, bevor sie ihren Laptop eiligst schloss und so den Chat beendete. Nur das Zeichen für die unterbrochene Verbindung zu seinem Gesprächspartner, das auf seinem Bildschirm aufleuchtete, erinnerte noch an seine Unterhaltung mit Ronnie Anne. Selbst seine gute Laune war plötzlich verschwunden.
 

„Immer dasselbe. Vielleicht sollte ich es aufgeben“, sprach Lincoln zu sich selbst. Traurig schloss er seinen Laptop und ließ sich rücklings auf sein Bett fallen.

„Was mache ich jetzt mit der zweiten Karte?“, fragte er sich in Gedanken, bevor er sich zur Seite rollte und sein Gesicht in seinem Kissen vergrub. Doch kaum hatte er seine Augen geschlossen, um in Selbstmitleid zu baden, klopfte es an seiner Tür.

„Nur zu. Es ist offen“, bat er den unbekannten Gast herein. Viellicht war es Lynn. Immerhin wollte er später an diesem Tag mit ihr zusammen eine Runde durch die Stadt drehen. Obwohl. Lynn klopfte nie.

„Und, Lincoln… Wie ist es zwischen dir und Ronnie Anne gelaufen?“, hörte er zu seiner allgemeinen Überraschung Lori fragen. Inzwischen war seine älteste Schwester schon das dritte Jahr an ihrem Traumcollege, doch der zweite Montag im Oktober stand vor der Tür und somit der Kolumbus-Tag, weshalb Lori ein langes Wochenende vor sich hatte. Lincoln wusste, sie würde heute nachhause kommen, hätte sie aber deutlich später erwartete.

„Lori, du bist schon zuhause? Doch viel wichtiger: Woher wusstest du, dass ich mit Ronnie Anne gechattet habe?“

„Nun ja. Ich habe Lana und Lola unten getroffen und sie gefragt, ob du zuhause bist. Denn ich wollte mich gerne mit meinen Lieblingsbruder unterhalten, den ich ewig nicht mehr gesehen habe.“

„Ich bin dein einziger Bruder“, antwortete Lincoln ihr gut gelaunt. Sein Gemüht hatte sich etwas gebessert. Selbst wenn er nicht immer gut mit ihr ausgekommen war, freute er sich doch darüber, Lori nach mehreren Wochen wieder zu sehen.

„Haarspalterei… Was ich aber sagen wollte: Lola und Lana meinten, du bist oben in deinem Zimmer, hättest aber keine Zeit. Weder für die beiden, noch für mich, weil du mit deiner Liebsten chattest. Da habe ich einfach eins und eins zusammengezählt.“

Natürlich hatten Lola und Lana nichts dergleichen gesagt, doch sie wollte ihren kleinen Bruder etwas aufziehen. Seit Lincoln Ronnie Anne das erste Mal über den Weg gelaufen war, wurde er nicht müde, darauf zu bestehen, dass sie eben nicht seine feste Freundin war, wenn auch immer er darauf angesprochen wurde. Völlig egal, ob es nun seine Schwestern oder seine Schulfreunde waren, die das Gegenteil behaupteten. Keine Reaktion dergleichen von ihm zu erhalten war darum äußerst untypisch. War etwas zwischen den beiden vorgefallen?
 

„Ach ja… Haben sie das“, ergriff Lincoln das Wort. Sein vor kurzem noch fröhliches Gesicht, wurde eine Spur trauriger. Hatte Lori etwa richtig vermutet?

„Ganz ehrlich? Nicht besonders“, beantwortete er schließlich auch ihre Frage von vorhin. Ein betrübtes Lächeln legte sich über seine Lippen.

„Ich mache bestimmt irgendetwas falsch?“ Schneller als er denken konnte hatte er diese Worte schon ausgesprochen, doch bereits wenig später wurden ihm die Konsequenzen bewusst.

„Oh Mist… Das hast du jetzt nicht gehört. Vergiss das ganz schnell wieder. Okay?“ Jahre lang hatte er vehement geleugnet, etwas für Ronnie Anne übrig zu haben. Und jetzt bestätigte er Loris Verdacht einfach so aus heiteren Himmel. Heute war offensichtlich nicht sein Tag.

„Du magst sie also doch?“ Ein fröhliches Lächeln umspielte Loris Mundwinkel. Sie hatte es gewusst. Schon die ganze Zeit.

„Was habe ich gerade gesagt?“

„Ach komm schon, Bruderherz, dass muss dir doch nicht peinlich sein. So rückt die Doppelhochzeit von der ich immer geträumt habe doch noch in greifbare Nähe“, quietschte Lori, wie ein kleines Mädchen an Weihnachten vor sich hin, das gerade einen Berg an Geschenken erblickt hatte.

„Hör endlich auf mit diesem Quatsch!“, rief Lincoln ihr ungehalten entgegen, doch bevor sie etwas sagen konnte fügte er hinzu:

„Darum rede ich mit keiner von euch über meine Gefühle. Jede von euch übertreibt immer maßlos, sobald es um mein persönliches Liebesleben geht… Hochzeit? Das ich nicht lache. Ich schaffe es kaum, sie davon zu überzeugen, etwas gemeinsam mit mir alleine zu unternehmen. Ich hab es wirklich versucht, mehr als nur einmal. Aber immer wenn ich sie zu etwas einladen möchte, kommt sie mir mit irgendeiner Ausrede. Anfangs habe ich ihr ja noch geglaubt. Aber sobald Zufälle sich häufen werde ich stutzig. Ich weiß, sie hat die Vermutung, dass ich mich etwas in sie verknallt haben könnte. Aber warum kann sie nicht einfach sagen: He, Stinker… Tut mir leid, aber lass uns besser einfach nur Freunde bleiben… Ich würde es verstehen, wirklich. Ich hab mich längst damit abgefunden, aber ihre Art mir scharmlos ins Gesicht zu lügen, nur um nichts mit mir unternehmen zu müssen, trifft mich wirklich hart. Wenn wir miteinander chatten ist doch auch alles in Ordnung. Sie lacht über meine Witze, erzählt gerne über ihren Alltag und beschwert sich über ihre Familie. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie flirtet mir mit. Doch wenn ich dann das Pech habe, dass sie ihr eigenes, doppeldeutiges Verhalten bemerkt, zieht sie den Schwanz ein. Ganz ehrlich Lori, ich versteh sie nicht… Wirklich nicht.“
 

„Wow, Lincoln… Das war überraschend ehrlich von dir“, ergriff Lori das Wort, als ihr Bruder schließlich zu einem Ende gekommen war. Das er ausgerechnet ihr seine Beziehungsprobleme anvertrauen würde, hätte sie bis vor wenigen Minuten kaum für möglich gehalten. Doch jetzt witterte sie ihre Chance, um mit ihm persönlich ins Gespräch zu kommen. Genauso, wie sie es ursprünglich auch geplant hatte.

„Hast du heute schon etwas vor?“

„Ich wollte mit Lynn eine Runde durch die Stadt laufen… Wieso?“, erkundigte sich Lincoln. Die Verwirrung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Bestimmt hatte er eine andere Antwort erwartet.

Normalerweise konnte Lori es unmöglich lassen, sich in sein Privatleben einzumischen. Das sie Nichts hatte, was sie ihm zu seinem Problem mit Ronnie Anne sagen wollte, erleichterte und enttäuschte ihn zugleich. Ausgerechnet heute hätte er jeden Rat, selbst wenn er noch so albern und unnütz sein sollte, mit Freuden entgegengenommen.

„Du und Sport? Ist das eine Art Scherz, oder hat dich Lynn dazu gezwungen?“, erkundigte sich Lori erstaunt. Sie erkannte ihren Bruder kaum wieder.

„Naja gewissermaßen. Vor einigen Wochen fand in Royal Woods ein Junior Marathon statt, bei dem Lynn unbedingt mitmachen wollte. Doch weil ihr die Motivation dazu fehlte, alleine zu laufen, hat sie mich darum gebeten, ihr Gesellschaft zu leisten. Selbstverständlich erst, nachdem alle unsere anderen Schwestern dankend abgelehnt hatten. Ich wollte ihr einen Gefallen tun, und hab mich darauf eingelassen. Ich dachte mir: Einmal durch die Stadt zu laufen würde mich schon nicht umbringen. Man wie habe ich mich getäuscht. Mit Lynn mitzuhalten war absolut unmöglich und nach unserer Runde war ich so fertig, dass ich, ohne mich vorher zu duschen, hundemüde ins Bett gefallen bin. Doch seltsamerweise hat es mir trotzdem überraschend viel Spaß gemacht, weshalb ich Lynn am nächsten Tag darum gebeten habe, das bei Gelegenheit zu wiederholen. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so darüber freuen würde. Inzwischen rennen wir beinahe täglich einmal durch die Stadt. Immer auf einer anderen Route und immer eine gute Stunde lang. Und das Beste ist, sie hat endlich damit aufgehört, mich ständig dazu zu zwingen, ihr bei ihrem mörderischen Training als Sparringspartner auszuhelfen. Selbst wenn ich doch mal Lust dazu haben sollte, eine Partie Fußball oder Basketball mit ihr zu spielen, ist sie weniger aggressiv. Ich weiß gar nicht mehr, wenn sie mich zuletzt von hinten attackiert hat.“
 

„Du musst noch viel über Mädchen lernen.“ Wieder stahl sich ein fröhliches Lächeln auf ihre Lippen.

„Was soll das den heißen?“, erkundigte sich Lincoln verwirrt. Wie kam Lori jetzt darauf?

„Schau… Lynn ist eine begeisterte Sportlerin. Neben mir die Einzige in unserer Familie. Doch für Golf hat sie nichts übrig. Golf ist kein richtiger Sport, wie sie gerne zu sagen pflegt. Im Gegenzug dazu, kann aber auch ich ihren Lieblingssportarten wenig abgewinnen. Ich falle also, wie auch der Rest unserer Schwestern als ihre Spielpartnerin aus. Und auch du, Lincoln, warst nie ein begeisterter Sportler, sondern lagst lieber gemütlich im Bett, um deine Comics zu lesen. Du als Junge warst aber, nach ihrer verdrehten Logik, immer am ehesten dazu geschaffen, doch noch eine Begeisterung für Sport zu entwickeln. Darum hat sie dich, schon als du noch jünger warst, gerne dazu gezwungen, mit ihr zusammen zu spielen. In der zarten Hoffnung, wenigstens eines ihrer zehn Geschwister für ihre Vorlieben begeistern zu können. Aber gezwungen ist nun mal gezwungen. Ihr muss aufgefallen sein, dass du wenig Spaß daran gefunden hast. Dass du plötzlich aus eigenem Antrieb etwas mit ihr unternehmen möchtest, für das sie sich begeistern kann, und das auch dir Spaß macht. Das hat sie sich sicher bereits dass eine oder andere Mal gewünscht. Völlig klar, dass sie ihre aggressive Art von alleine zurückschraubt, um dich am Ende nicht doch wieder zu verschrecken.“
 

„Hm… Das ergibt irgendwie Sinn. Auf eine verdrehte Art und Weise“, merkte Lincoln an.

„Natürlich tut es das, Dummkopf. Aber denkst du, du könntest Lynn für heute vertrösten? Ich möchte gerne eine Partie Minigolf mit die spielen.“

„Minigolf? Warum ausgerechnet das?“ Wie in den meisten Sportarten war Lincoln auch im Minigolf kein herausragendes Talent. Meistens konnte er sich glücklich schätzen, wenn er den Ball mit drei Schlägen einlochen konnte. Warum sollte Lori also ausgerechnet mit ihm spielen wollen?

„Es hat wohl keinen Sinn es zu verheimlichen. Ich möchte mit dir reden, ganz privat und ohne lästige Zuhörer. Du weißt, wie dünn die Wände in diesem Haus sind. Und der Minigolfplatz bittet sich dazu an... Verstehst du?“

„Also willst du mir doch Tipps zu meinen Beziehungsproblemen geben?“ Natürlich hatte die Sache einen Hacken. Sollte er froh oder verärgert darüber sein?

„Nur wenn du sie auch wirklich hören möchtest. In erste Linie wollte ich allerdings etwas Familienzeit mit dir verbringen. Doch wenn du lieber mit Lynn eine Runde laufen möchtest, dann nur zu…“

Lori unterbrach sich selbst, zog eine Schnute und fügte mit gespielter Trauer hinzu:

„Ich komm damit klar… Ehrlich.“ Wie schon oft zuvor, wenn er etwas anderes vorhatte, versuchte Lori ihn mit ihrer ganz eigenen Art, doch noch für sich zu gewinnen. Ein Trick, der selten sein Ziel verfehlte, und zu dem auch seine anderen Schwestern neigten.

„Ich denke, einmal kann ich sie vertrösten“, antwortete er, sich seinem Schicksal fügende. Ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, ob nun mit Worten oder Taten, hatte sich zu seinem Leidwesen bewährt. Meistens konnte Lincoln dann schwer ablehnen.

„Ausgezeichnet. Das ist ohne Witz genau das, was ich hören wollte“, ergriff sie gut gelaunt das Wort. Wie so viele seiner Schwestern es schafften, von jetzt auf gleich von todtraurig zu super gelaunt zu wechseln, war ihm schon immer ein Rätsel gewesen.

„Lass uns gleich los… Ja? Ich warte unten auf dich“, sagte Lori noch, bevor sie sich bester Laune auf den Weg nach unten machte.
 

Lincoln warf einen Blick aus dem Fester. Obwohl es bereits Herbst war, würde heute ein schöner Tag auf ihn und Lori warten. Schnell ging er hinüber zu seinem Kleiderschrank und kramte eine dünne Jacke daraus hervor. Ob nun ein schöner Tag oder nicht, sommerliche Temperaturen würden ihn sicher nicht erwarten. Zügig zog er sich die Jacke über und schritt sodann aus seinem Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich, und machte sich eiligst auf den Weg zu Lucy und Lynn, um seine Laufpartnerin darüber zu informieren, dass sie ihre gemeinsamen Pläne ändern mussten. Ohne böse Hintergedanken öffnete er die Tür.

„Lynn, kann ich kurz mit dir…“ Lincoln unterbrach sich selbst, als er seine spotbegeisterte Schwester mit ihrer Unterwäsche bekleidet antraf. Scheinbar wollte sie sich gerade umziehen. Ein kurzer Schreckenslaut war von ihr zu hören gewesen, bevor sie nach einem Oberteil fasste, das auf ihren Bett lag, und es Lincoln entgegenwarf. Reflexartig fing er es mit beiden Armen auf, bevor er sein Gesicht abwandte und die Augen schloss.

„Man, Lincoln. Klopf gefälligst an, bevor du das Zimmer eines Mädchens betrittst“, ergriff Lynn das Wort. Obwohl er sie zu einen schlechten Zeitpunkt erwischt hatte, schien sie sich zum Glück wenig daran zu stören. Er fasste wieder etwas Mut, ließ aber seine Augen geschlossen.

„Sagt ausgerechnet die, die sich nie daran stört, ständig unangekündigt in das Zimmer eines Jungen zu platzen“, antwortete er schlagfertig, bevor ihm ein strenger Geruch in die Nase schoss.

„Ist das etwa dein Sporttrikot?“ Angewidert hielt er Lynns Schmutzwäsche weit von seinem Gesicht entfernt, indem er seine Arme schnellstens weg von seinem Körper streckte. Ihr erheitertes Lachen drang keine Sekunde später zu seinen Ohren durch.

„Das ist etwas völlig anderes, du bist mein Bruder“, erwiederte sie bester Laune, ohne dabei auf seine Frage einzugehen, und zog sich sodann eiligst eine Hose über.

„Und du bist meine Schwester, wo ist da bitte der Unterschied?“, wollte er im nächsten Moment von ihr wissen.

„Das verstehst du nicht“, antwortete Lynn, schüttelte kurz erheitert mir ihrem Kopf und fasste nach einem sauberen Oberteil, um es sich überzuziehen.
 

„Alles klar, du kannst wieder gucken“, fügte sie noch hinzu, bevor sie nach ihrer alten Hose fasste, die auf den Boden lag. Vorsichtig öffnete Lincoln seine Augen. Nicht das ihm Lynn eine Falle stellen wollte. Doch entgegen seiner Vermutung war sie wieder angezogen. Nun trug sie eine blaue Jogginghose und ein weißes T-Shirt mit einer eins auf der rechten Seite. Das letzte Kleidungsstück, das Oberteil zu ihrer Jogginghose, lag noch auf ihrem Bett.

„Also, Lincoln. Was ist los?“, fragte sie ihren Bruder und schritt sodann zu ihm hinüber, um sich ihr Sporttrikot von ihm wiederzuholen. Gerne gab er Lynns verschwitzte Kleidung zurück.

„Es geht um unsere Runde heute… Mir ist da etwas dazwischengekommen. Lori hatte die Idee, mich auf eine Partie Minigolf einzuladen. Und wie soll ich sagen? Ich konnte irgendwie nicht ablehnen.“

„Lori sagst du… Ist sie etwa schon zuhause?“ Misstrauisch beäugte sie ihren Bruder. War das einer seiner Pläne um sich vor ihrer gemeinsamen Runde zu drücken. Doch nichts deutete darauf hin, dass er Lügen würde. In der Regel war Lincoln ein schlechter Lügner, und außerdem schien er Spaß daran zu haben, mit ihr durch die Stadt zu laufen. Warum also, sollte er überhaupt lügen wollen?

„Ja, scheinbar ist sie vor kurzem angekommen.“ Kaum hatte er das gesagt, rief Lori auch schon nach ihm:

„Lincoln, was dauert denn da so lange? Sag Lynn schon, dass du etwas anderes vorhast und schwing deinen Hintern hier runter!“

„Offensichtlich“, kommentierte Lynn im Nachhinein trocken Lincolns Antwort von vorhin. Auf den Gesichtern beider Geschwister zeichnete sich ein schmales Lächeln ab.

„Wie lange wird das denn dauern?“, erkundigte Lynn sich dann bei ihrem Bruder.

„Keine Ahnung… Ein paar Stunden vielleicht.“

„Da lässt sich wohl nichts machen. Dann muss ich heute wohl ausnahmsweise alleine laufen. Morgen laufen wir dafür aber die doppelte Strecke. Einverstanden?“

Lincoln Lächeln verschwand schlagartig, das von Lynn hingegen wurde breiter. Obwohl Lincoln Spaß daran hatte, mit ihr zusammen zu laufen, war er doch bei weitem nicht so fit wie sie. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass sie den Großteil ihre Freizeit intensiv trainierte. Ihre tägliche Runde mit Lincoln war nur ein kleiner Teil davon. Aber der Teil, der ihr am meisten Spaß machte.

„Ich kann es ja mal versuchen. Immerhin bin ich schon deutlich fitter auf den Beinen, als noch vor wenigen Wochen.“ Lynns breites Grinsen wich bloßem Staunen. Das hätte sie niemals erwartet.

„Schön zu hören. Aber wenn es dir doch zu viel werden sollte, können wir jederzeit eine Pause einlegen. Das ist dir hoffentlich klar.“

„Natürlich. Danke für dein Verständnis… Ähm. Soll ich deine durchgeschwitzte Sportkleidung gleich mitnehmen. Ich muss sowieso runter. Dann kann ich auch gleich zur Waschmaschine gehen.“

„Du bist der Beste… Hier bitte.“ Ohne lang zu zögern drückte sie ihm ihre Kleidung erneut in die Hände. Dieses Angebot würde sie im jeden Fall annehmen.

„Immer wieder gerne“, antwortete Lincoln gequält. Warum bitte, hatte er ihr diesen Vorschlag gemacht?
 

Mit ihrer Schmutzwäsche in den Händen verabschiedete er sich von seiner Schwester und trat sogleich den Weg nach unten an. Wenig später hatte er ihre Kleidung in den Keller verfrachtet, wo die Waschmaschine mangels Alternativen ihren Platz gefunden hatte, und war zu Lori an die Haustür getreten, die bereits ungeduldig auf ihn wartete. Auch sie hatte sich eine dünne, weiße Jacke übergezogen, welche das Wappen ihres Colleges zierte. Ihre Golftasche hatte sie sich lässig um ihre rechte Schulter geschwungen.

„Und sag schon. Wie hat Lynn es aufgenommen?“, erkundigte sich Lori bei ihren kleinen Bruder, sobald dieser neben ihr stand.

„Ganz gut, denke ich.“ Kaum hatte er das gesagt, stürmte Lynn bereits die Treppe hinunter, hinein ins Wohnzimmer.

Inzwischen hatte sie sich auch ihre Joggingjacke übergezogen, sofern Lincoln dass in der kurzen Zeit indem er sie gesehen hatte, beurteilen konnte.

„He, Lana. Lust auf etwas sportliche Betätigung. Lincoln hat den Schwanz eingezogen und mich auf morgen vertröstet“, hörten Lori und Lincoln sie sagen.

„Überraschend gut“, kommentierte Lori die Situation und öffnete die Tür. Noch bevor sie Lanas Antwort vernehmen konnten, waren sie bereits draußen.
 

Stillschweigend gingen sie hinüber zu Loris Wagen. Ein rotes, gebrauchtes Cabrio, aus den späten Achtzigern, das sie ihren Nachbarn, Mister Grouse vor gut drei Jahren für 500 Dollar abgekauft hatte. In mühevoller Handarbeit hatte es Lana anschließend wieder fit gemacht. Bis heute war sie ihrer jüngeren Schwester unheimlich dankbar dafür gewesen.

„Also dann… Legen wir los“, sagte Lori noch, bevor sie in ihren Wagen stieg. Lincoln folgte ihr wenig später und nahm auf den Beifahrersitz Platz.

Geschwister unter sich

Die Fahrt zum Minigolfplatz dauert etwa fünfzehn Minuten. Während dieser Zeit sprachen Lincoln und Lori vorwiegen über ihren Alltag auf dem College. Zum Beispiel darüber, wie es ihr beim Lernen ging. Was sie in ihrer Freizeit unternahm, und wie ihre Mitstudenten und Professoren so waren.
 

„Der Stoff ist schon schwierig. Mit einer Auszeichnung werde ich das College wohl nicht verlassen können, doch ich versuche mein Bestes, um bei meinen durchschnittlichen Noten zu bleiben“ antwortete Lori auf eine von Lincolns zahlreichen Fragen.

„Aber was ist mit dir. Wie läuft denn dein Geheimprojekt, von dem du mir neulich so stolz erzählt hast?“, wollte sie schließlich von ihren Bruder wissen.

„Ich bin fast fertig damit. Noch ein paar Seiten und ich kann es einreichen. Es wird auch höchste Zeit. Ende des nächsten Monats ist der letzte Abgabetermin. Ich hoffe auf den erst Preis, darum habe ich mir unheimlich viel Mühe gegeben. Mit dem Preisgeld, könnte ich mir das Ding kaufen, das ich schon so lange möchte und die Siegertrophäe würde sich gut in meinem Teil des Trophäenschrankes machen. Dann hätte ich endlich auch etwas, worauf ich stolz sein kann und ich würde mich nicht mehr länger wie das schwarze Schaf unserer Familie fühlen.“

„Ach, Lincoln. Du weißt aber schon, dass es Mom und Dad sowie mir und den Anderen egal ist, ob du nun ein Preis gewinnst oder nicht. Du bleibst trotzdem immer der Beste Bruder der Welt.“

Lori lächelte im aufmunternd entgegen. Interessant, dass er auch weiterhin damit haderte, noch keine echten Priese gewonnen zu haben.

„Das mag schon sein. Aber ich möchte nicht länger in eurem Schatten stehen. Immer wenn ich an diesem Schrank vorbeigehe und die gähnende Leere meines Faches sehe, nagt es an mir. Die beste Bruder der Welt Trophäe, die ihr einst für mich gemacht habt, ist zwar ganz nett, aber eben nichts Offizielles… Du verstehst?“

Schuldbewusst senkte Lincoln seinen Blick. Ob es unfair war, so über die Aufmerksamkeit seiner Schwestern zu denken.

„Dafür musst du dich wirklich nicht schämen, Dummkopf“, antwortete Lori ihm verständnisvoll.

„Aber warum verheimlichst du es dann vor den anderen. Was du mir bisher gezeigt hast, wirkt doch schon sehr professionell. Dein Talent fürs zeichnen hat definitiv erhebliche Vorschritte gemacht.“

„Danke für die Blumen, Lori. Aber ich habe meine Gründe dafür.“

„Deine Gründe? Das wird aber am Ende kein Comic für Erwachsen oder?“ Lincoln hatte ihr bisher nur die Charakterskizzen gezeigt. Eine Menge seiner Charaktere waren offensichtlich an seine Freunde und Familie angelehnt, doch von der Story dahinter hatte sie eigentlich keine Ahnung.

„Wie man es nimmt“, antwortete Lincoln und augenblicklich wurde Lori stutzig.

„Es ist natürlich kein Porno. Aber die Story ist schon etwas düsterere und auf ihre Art und Weise durchaus komplex. Ich denke zwar nicht, dass man Schwierigkeiten haben könnte, ihr zu folgen, aber ich bin noch nicht bereit dazu, mein Projekt den anderen vorzustellen.“
 

„Warum? Clyde und Ronnie Anne wissen doch auch Bescheid, und ich bin mir sicher, ihnen hast du auch von der Story hinter den Charakterskizzen erzählt.

„Das ist etwas anderes. Ronnie Anne und Clyde sind meine besten Freunde. Selbst wenn ihnen die Geschichte nicht gefallen hätte, wären sie ehrlich genug gewesen, mir das zu sagen. Bei euch… Ich weiß auch nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, die eine Hälfte würde mich anlügen und sagen es hätte ihn gefallen, selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, und die andere Hälfte könnte sich über mich lustig machen.“

„Man... Du hast aber echt wenig Vertrauen in uns“, kommentierte Lori seine Antwort trocken. „Und zu welcher Sorte hättest du mich gezählt?“

„Zur letzteren. Darum habe ich dir auch nur die Charakterskizzen gezeigt und dir nichts über die Geschichte erzählt. Die Skizzen alleine konnten dir entweder gefallen oder nicht. Die Story dahinter ist dann schon etwas anderes.“

„Hm… Das mag schon sein. Ich freue mich auf jeden Fall darüber, dass deine Kriminalpolizistin an mich angelehnt ist. Auch den Umstand dass Bobby die Ehre bekommen hat, für das Raubdezernat zu arbeiten finde ich klasse. Noch besser ist natürlich, dass es ihm mein alter Ego angetan hat.“

Lori wusste zwar nichts von der Story, aber seine Charakterskizzen hatten ihr zumindest das schon verraten. Ihrer Beiden alter Ego waren auf derselben Seite gewesen, mit ihrer jeweiligen Uniform bekleidet und hatten sich gegenseitig verträumte Blicke zugeworfen. Offensichtlicher ging es kaum.

„Bist du sicher, dass du mir nichts über die Story erzählen möchtest?“ Vielleicht schaffte sie es mit ernstgemeinten Schmeicheleien, dass Lincoln seine Unsicherheiten vergas.

„Ich denke darüber nach“, antwortete er. Seine Wangen hatten einen zarten Rotschimmer angenommen. Für Komplimente war er also durchaus empfänglich.

„Das ist schon einmal ein Anfang, aber könntest du mit bitte trotzdem verraten, warum du aus Ronnie Anne ausgerechnet eine Diebin gemacht hast. Bobbys und ihr Alter Ego sind doch sicher auch in deinem Comic Geschwister. Ist das eine Art Plot Twist?“

Auch Ronnie Annes Charakterskizze hat viel ausgesagt. Im Hintergrund war ein altes Herrenhaus gewesen. Sie hielt eine Art Visitenkarte zwischen Zeige und Mittelfinger ihrer Rechten und lehnte sich mit einem selbstsichern Lächeln an den Rücken ihrer besten Freundin Sid, während eine schöne Perlenkette über ihren Köpfen schwebte. Bestimmt waren die beiden Komplizen gewesen.
 

„Ich hatte meine Gründe... Okay“, antwortete Lincoln. Die zarte Röte seiner Wangen war dunklere geworden. Sie schien auf einen guten Weg zu sein. Welche Charakterskizze, die er ihr gezeigt hatte, könnte sie wohl noch gegen ihn verwenden? Doch bevor sie Lanas alter Ego erwähnen konnte, war der Minigolfplatz in Sichtweite gekommen.

„Puh... Endlich angekommen“, hörte sie Lincoln murmeln. Ihr war klar, dass er jetzt auf stur schalten würde. Darum vergaß sie ihr derzeitiges Unterfangen fürs Erste. Lori wollte eigentlich nicht über sein Comic reden, sondern über etwas ganz anderes. Bestimmt konnte sie es auf den Rückweg nochmal versuchen. Und wer weiß, vielleicht knackte sie dann seine harte Schale.

„Okay. Bereit für eine Partie Minigolf“, sagte sie und stieg sodann aus dem Wagen.

„So bereit, wie nur irgendwie möglich“, antwortete ihr Lincoln. Wenig später war auch er aus dem Wagen gestiegen. Es war spät am Nachmittag und die Sonne Lächelte ihnen entgegen. Der Himmel war wolkenlos, doch das änderte wenig an den herbstlichen Temperaturen.

„Also dann. Worauf warten wir noch?“, sprach Lori und holte ihre Golftasche aus dem Kofferraum. Als das erledigt war, schritt sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf den Eingang zu, dicht gefolgt von ihren Bruder. Sie begrüßte ein paar Leute und steuerte Zielsicher auf das erste Loch zu. Eine Windmühle stand auf dem Rasen, indem sich drei schmale Löcher für den Ball befanden. Das war also die erste Hürde ihres gemeinsamen Tages.
 

„Nach dir, Lincoln“, gab Lori ihm den Vortritt. Er nahm den Ball entgegen, den sie ihm überreicht hatte, schnappte sich einen Schläger aus ihre Tasche und setzte den Ball an seinem vorgesehen Platz ab. Als er sich anschickte, den ersten Schlag zu machen, holte Lori einen Block aus ihrer Tasche. Sie suchte sich eine freie Seite, teilte diese mit einer Linie in zwei Hälften und schrieb ihren sowie den Namen ihres Bruders darauf. Lincoln holte aus und schaffte es tatsächlich beim ersten Mal den Ball durch die Windmühle zu befördern. Leider hatte er aber zu wenig Kraft aufgewendet, sodass dieser kurz vor dem Loch zum Halten kam.

„Guter Versuch.“ Lori schrieb eine eins auf Lincolns Seite des Blockes und setzte den ersten Strich.

„Danke“ sagte ihr Bruder, der sogleich zum zweiten Versuch ansetzte. Diesmal konnte er den Ball versenken und Lori setzte sogleich dem nächsten Strich.

„Ein Loch zwei Versuche. Nicht übel.“ Lori überreichte Lincoln den Block und machte sich ebenfalls bereit, dazu ihr Spiel zu beginnen.

„Jetzt bin ich an der Reihe“, sagte sie noch und legte sich sodann ihren Ball zu Recht. Konzertierte studierte sie eine Weile die Beschaffenheit des Loches und holte zum Schlag aus. Im Gegensatz zu ihren Bruder benötigte sie nur einen einzigen Schlag um den Ball zu versenken.

„Große Klasse, Lori. Ich kann jetzt schon sagen, wer von uns beiden gewinnen wird“, sprach Lincoln sie an und setzte auch auf Loris Seite des Blockes den ersten Strich.

„Es geht nicht darum, wer von uns beiden gewinnt. Also nimm dir das nicht so zu Herzen.“

Gut gelaunt ging sie auf das Loch zu und angelte ihren Ball aus diesem. Gemütlich schritten die beiden Geschwister dann zur nächsten Hörde ihres gemeinsamen Nachmittages.
 

„Wie geht es den anderen?“, erkundigte sich Lori schließlich bei Lincoln, als sie das nächste Loch erreicht hatten. Diesmal handelte es sich um eine schmale Brück, unter der ein winziger Fluss floss. Das Loch lag auf einen kleinen Hügel, der sich auf einer grünen Insel befand, zu der die Brücke führte. Die Herausforderung hier, war wohl den Ball nicht versehentlich ins Wasser zu schießen.

„Ganz gut. Lilly geht sehr gerne in den Kindergarten. Lisa ist mit ihren Experimenten beschäftigt und hat schon seit Wochen keine ungewollte Explosion mehr verursacht. Lucy ist immer noch gerne für sich selbst, arbeiten an ihren Gedichten und lebt mit stummer Leidenschaft, das Leben eines Gothes. Sie hält regelmäßig ihre Geisterbeschwörungen ab, trifft sich mit ihren Freunden und wird nicht müde, uns ständig zu erschrecken.

„Sie neigt also immer noch dazu, aus heiteren Himmel aus dem dunkelsten Ecken aufzutauchen?“

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Vielleicht machte sie sich zu viele Sorgen um ihre Geschwister, doch als die Älteste von ihnen neigte sie nun mal dazu. Und jetzt wo sich höchstens alle paar Monate einmal zu Hause war umso mehr.

„Ganz genau“, antwortete Lincoln, bevor sie zum nächsten Schlag ausholte. Auch diesmal versenkte sie den Ball auf Anhieb. Lincoln setze einen Strich neben die zwei auf Loris Seite des Blockes.

„Nur zu, du bist an der Reihe“, forderte sie ihren Bruder auf, nachdem sie ihren Ball zurückgeholt hatte. Ohne zu zögern kam er ihrer Bitte nach.
 

Diesmal wollte er es seiner Schwester gleich tun. Dieses Loch wirkte weniger schwierig, als das Erste. Man sah genau wo das Loch sich befand und musste eigentlich nur geradeaus schlagen. Das Problem war seiner Meinung nach nicht die Brücke, sondern der kleine Hügel dahinter. Schwang er den Schläger zu schwach, würde der Ball kaum das Loch erreichen.

Frohen mutest schlug er den Ball, doch war sein Schlag etwas zu fest. Der Ball schoss über das Loch hinweg, prallte an einen schmalen Holzzaun dahinter ab und kam rechts neben dem Loch zum Erliegen. Glück im Unglück. Hätte der Ball nicht den Zaun getroffen, oder wäre der Schlag noch stärker gewesen hätte Lincoln ihn wohl im Fluss versenkt. Doch so recht konnte er sich nicht darüber freuen. Auch hier würde er also einen zweiten Versuch benötigen.

„Scheidenkleister!“, rief er aus und trat hinüber zu seinem Ball. Lori verfolgte die Szene mit einen warmen Lächeln. Lincoln brauchte nur etwas Übung und schon würde er auch das eine oder andere «Hole-In-One» Zustandebringen. Zumindest hier auf dem Minigolfplatz.

„Und wie geht es Lynn?“, nahm sie das Gespräch von vorhin wieder auf.

„Ausgezeichnet. Noch immer ist sie der Star jedes Sportteams ihrer Schule. Auch weiterhin will sie nicht auf ihre Bizarren Glücksrituale verzichten und noch immer gewinnt sie fast jedes Spiel. Auch in der Schule läuft es nicht schlecht für sie. Sie ist natürlich keine Einser Schülerin, aber es ist schon ewig her, dass sie zuletzt eine schlechte Note mitnachhause gebracht hat. Ihr ist wohl klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur ein Ass im Sport zu sein, um Chancen auf ein renommiertes College zu haben, dessen Schwerpunkt auf Sport liegt. Luan hingegen scheint ein kleines Problem mit Bennie zu haben. Ich weiß aber nichts Genaues. Nun ja… Sie erzählt mir aber auch Nichts. Am Ende ist es wohl nur ein kleiner Streit unter Liebenden, doch sie wirkt in letzte Zeit etwas niedergeschlagen.
 

„Ernsthaft?“, fragte Lori besorgt. Ihr Plan ging besser auf, als sie sich erhofft hatte. Kaum zu glauben wie mitteilsam ihr Bruder war. Vielleicht sollte sie nachher mit Luan sprechen.

„Ja. Aber das muss nicht an Bennie liegen. In letzter Zeit erlebt ihr Funny Business eine Flaute. Ich habe sie gestern auf einen neuen Comedy Club aufmerksam gemacht, der vor kurzem hier in Royal Woods eröffnet hat. Heute wollte sie dort Vorstellig werden. Wer weiß, vielleicht hat sie Glück und sie kann den einen oder anderen Liveauftritt abstauben. Wenn sie dann immer noch niedergeschlagen ist, dann ist wohl doch etwas Ernstes zwischen den beiden vorgefallen. Aber wie gesagt. Ich weiß nichts Genaues. Es könnte sein das Luna besser informiert ist. Immerhin ist sie ihre Zimmergenossin. Ich habe es bisher aber versäumt, sie auf Luan anzusprechen. Ihr habt ja oft deutlich gemacht, dass ich mich aus euren Angelegenheiten raushalten soll. Darf ich dich an das Schwesternstreitprotokoll erinnern.“

Als Lincoln seine Erzählung schließlich beendet hatte, holte er zum zweiten Schlag aus. Und diesmal versenkte er den Ball. Lori setze zwei Striche neben die Zwei auf Lincolns Seite des Blockes und sagte:

„Das kannst du uns doch unmöglich noch immer übel nehmen. Das ist Jahre her… Aber da du gerade von Luna sprichst. Wie läuft es bei ihr?“

„Ob nun Jahre oder nicht, es war trotzdem nicht nett von euch, mich einfach aus meinem Zimmer zu werfen. Und es ist ja nicht so, als ob das der einzige Vorfall war. Du magst nur noch selten zu Hause sein, aber Streit gibt es trotzdem noch, das eine oder andere Mal. Und immer wenn ich euch helfen möchte, eure unsinnigen Differenzen beizulegen, bekomme ich dieselbe Antwort: Halt dich da raus.“ Mit Freuden imitierte er den Tonfall seiner Schwestern, was Lori ein Lächeln ist Gesicht zauberte. Lincoln mag dem Schwesternstreitprotokoll wenig abgewinnen können, doch er schien auf keine seiner Schwestern ernsthaft wütend zu sein.

„Verstehe… Aber zurück zu Luna“, ergriff Lori wieder das Wort, nachdem Lincoln seinen Ball an sich genommen hatte. Gemeinsamen machten sie sich sodann auf den Weg zum nächsten Loch.
 

„Nun ja. Was soll ich sagen? Ihre Begeisterung für Musik ist ungebrochen, und zusammen mit ihrer Band ist sie inzwischen eine kleine Berühmtheit. Schon das eine oder andere Mal wurde sie darum gebeten, auch außerhalb von Royal Woods für eine ausgewählte Kundschaft zu spielen. Ihr letzter Auftritt war in Great Lake City, in einem Seriösen Nachtclub nahe der Stadtmitte. Und auch mit Sam scheint es gut zu laufen. Ich habe zumindest nicht den Eindruck, als hätten die beiden irgendwelche Probleme. Sie hat allerdings auch keine Lust, nach ihrem Schulabschluss ein College zu besuchen. Mom und Dad reden ihr zwar gerne ins Gewissen, es sich doch bitte anders zu überlegen. Für den Fall der Fälle, dass aus ihrer Musikerkariere nichts werden könnte, aber stoßen damit bei ihr auf Granit. Insbesondere seitdem Luna sich für eine Fernsehshow qualifiziert hat, dessen Gewinner ein Lukrativer Plattenvertrag in Aussicht gestellt wird. Sie ist fest davon überzeugt, sie und Sam könnten die Show spielend einfach für sich entscheiden.“

„Das kann man ihr eigentlich nicht übel nehmen“, antwortete Lori. Wieder etwas Neues von dem sie bisher nichts wusste. Wie viel sich in ein paar Monaten doch ändern konnte.

„Das denke ich auch, aber Mom und Dad tun mir Leid. Sie meinen es am Ende nur gut. Ich sehe auch nicht, wo das Problem liegt, ein paar Jahre Später mit ihrer Musikerkariere durchzustarten. Aber das muss Luna am Ende für sich selbst entscheiden. Ich zumindest, habe mir fest vorgenommen, mich da raus zu halten. Egal welche Seite ich auch wähle. Am Ende ist bestimmt irgendwer sauer auf mich. Und darauf habe ich ehrlich gesagt keinen Bock.

„Durchaus verständlich“, antwortete Lori.
 

Inzwischen waren die beiden Geschwister beim dritten Loch angekommen. Diesmal handelte es sich um eine kleine Burg, indessen Burghof sich das Loch Befand. Das Fallgitter war geschlossen, doch die Brücke war heruntergelassen. Ähnlich wie beim ersten Loch bestand die Schwierigkeit darin, den Ball durch eine schmale Öffnung zu spielen. Im diesem Fall irgendwie durch das geschlossene Fallgitter.

Erneut würde Lori ihren Schläger als Erstes schwingen. Nach wie vor lag sie in Führung, darum galt dieses Privileg ihr alleine. Diesmal war es durchaus knifflig. In gerader Linie würde sie den Ball niemals durch das Gitter befördern können. Sie musste ihn irgendwo abprallen lassen, um seine Richtung in eine Schräge zu ändern, um ihn durch das Fallgitter befördern zu können. Tatsächlich war sie der Meinung, diesmal mehr als einen Schlag zu benötigen, doch das störte sie wenig. Umso mehr Zeit, sich mit Lincoln zu unterhalten. Lori setzte den Ball auf seinen angestammten Platz und machte sich zum Schwung bereit, doch bevor sie durchzog fragte sie:

„Und wie geht es Leni in ihrem Job?“ Leni war ein Jahr jünger als sie, besuchte allerdings kein College. Bei ihr lag es allerdings nicht an mangelndem Interesse, wie es etwa bei Luna der Fall war, sondern Schlich an ihren schlechten Schulnoten. Kein College hätte Leni mir ihren Noten aufgenommen, doch ihre Ausbildung zur Kleiderverkäuferin nahm sie durchaus ernst. Und soweit Lori wusste, gefiel Leni ihre Arbeit sehr gut. Mal sehen ob Lincoln ihren Verdacht bestätigen konnte.

„Leni verlässt das Haus jeden Tag mit einem Lächeln auf den Lippen und kommt am späten Nachmittag mit eben einem Solchen zurück. Sie wird außerdem nicht müde, über ihre Arbeit zu sprechen und scheint sich super mit ihren Kollegen und ihren Boss zu verstehen. Soweit ich das beurteilen kann, ist sie vollends Begeistert von ihrer Arbeit… Beantwortet das deine Frage?“

Mit jedem Wort ihres Bruders wurde Loris Lächeln breiter. Auch Leni schien es ausgezeichnet zu gehen. Mit Elan schwang sie ihren Schläger. Der Ball prallte an der linken Seite der Zugbrücke ab und rollte geradewegs durch eine der Öffnungen des Fallgitters, doch am Loch vorbei. Der Winkel des Balles war am Ende zu flach gewesen, aber damit hatte sie fast gerechnet.

„Und wie das meine Frage beantwortet“, erwiderte Lori, schritt hinter die Fassette der Burg und lochte den Ball mit ihren zweiten Schlag ein. Mit einen Grinsen, setzte Lincoln zwei Striche hinter die drei. Das Lori diesmal mehr als einen Schlag benötigt hatte steigerte seine Laune.
 

„Du bist an der Reihe, Lincoln“, forderte Lori ihren Bruder auf, dass Spiel fortzusetzen. Sie nahm ihren Ball aus dem Loch und gesellte sich sodann zu ihm. Gut gelaunt schaute sie ihm über die Schulter, doch bevor er seine Golfschläger schwang fragte sie:

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum du nicht über Lana und Lola sprichst?“

Gerade wollte Lincoln abschlagen, da hielt er Mitten in der Bewegung inne. Mit dieser Frage hätte er nicht gerechnet. Sein Verhalten machte Lori durchaus stutzig, doch sie wollte ihm die Zeit lassen, von sich aus zu antworten. Hatten die drei etwa Streit?

„Ich mache mir ehrlich gesagt etwas Sorgen um die beiden.“

Zum ersten Mal am diesen Tag war so etwas wie Schrecken in ihrem Gesicht zu lesen gewesen. Als sie heute auf die Zwillinge getroffen war, hatte sie eigentlich nicht den Eindruck gehabt, sie könnten irgendwelche Probleme haben.

„In letzter Zeit streiten sich die beiden überraschend häufig und durchaus heftig, ohne jedoch einen ersthaften Grund dafür zu haben. Es ist zwar nicht weiter ungewöhnlich, dass die beiden sich in den Haaren liegen, doch manchmal frage ich mich, wieso? Ich meine: Ihr anderen Mädchen habt für eure Streitereien durchaus so etwas wie einen Grund, auch wenn ich eure verdrehte Mädchenlogik nicht verstehe. Warum hatten du und Leni nochmal Zoff, als ihr beide dasselbe Kleid am selben Tag getragen habt? Doch die beiden streiten sich genaugenommen über Nichts. Es ist fast so, als ob sie es genießen miteinander zu streiten. Am Ende des Tages sind sie zwar meistens wieder die besten Freunde, aber ich habe das dumme Gefühl, irgendwann könnte das genaue Gegenteil passieren. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, oder in einem Jahr. Aber ich habe Angst, dass sich die beiden eines Tages richtig verfeinden könnten, und das möchte ich ehrlich gesagt nicht…“

Lincoln unterbrach sich selbst, um zu sehen ob Lori etwas dazu sagen möchte, doch diese deutete ihm mit einem stummen Kopfnicken an, dass er ruhig weitersprechen konnte.
 

„Vor einigen Wochen ist Lola mal wieder in mein Zimmer geschlichen, als ich bei Clyde war. Keine Ahnung, was sie dort gesucht hat, aber irgendwann ist ihr Blick auf eines meiner Modele gefallen, an dem ich schon eine Weile lang gearbeitete habe, das aber noch nicht fertig war. Lana hat sie dabei erwischt, wie sie es in die Hand nahm, um es genauer zu begutachten, und versucht, sie davon abzuhalten. Zuerst mit Worten und als das nichts gebracht hat wollte Lana es ihr offensichtlich aus der Hand nehmen, um es zurückzustelle. Natürlich konnte Lola nicht locker lassen und eine Art Tauziehen war die Folge gewesen. Irgendwann wurde es meinem Modelflugzeug natürlich zu viel und es brach auseinander. Ich war tagelang sauer auf die beiden, als ich davon erfahren habe, doch Lola und Lana hatten sich fast eine Woche lang in den Haaren. Jeder gab den anderen die Schuld dafür, dass ich lange mit keinem der beiden etwas unternehmen wollte. Das ist aber nicht alles: Lola ist sauer, wenn ich etwas mit Lana unternehme möchte und Lana ist sauer wenn ich Lola bei ihren Schönheitswettbewerben aushelfe. Aber nicht etwa auf mich, sondern auf ihre Zwillingsschwester. Verschütteter Tomatensaft auf dem Tisch, keine Milch mehr im Kühlschrank. Die Gründe für ihre Zankereien sind ebenso zahlreich wie nichtsbedeutend. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich beinahe glauben, Lana und Lola buhlen um meine Aufmerksamkeit.“

„Vielleicht ist genau das der Fall“, ergriff Lori schließlich das Wort. Ihr geschockter Gesichtsausdruck war inzwischen zu Gänze verschwunden. Sie maß Lolas und Lanas Streitereien offensichtlich mit einem anderen Maß. Anfangs hatte sie Lincolns Erzählung mit Sorge gelauscht, doch inzwischen sah sie das Ganze mit anderen Augen.

„Das kannst du unmöglich ernst meinen. Warum sollten sie so etwas Dämliches tun?“

„Lolas und Lanas Interessen sind grundverschieden, selbst dann, wenn sie Zwillinge sind. Lilly ist noch etwas zu jung. Lucy meidet nach Möglichkeit die Gesellschaft anderer. Ich bin nur noch selten zuhause, und unsere anderen Schwestern haben genug mit ihren eigenen Interessen zu kämpfen. Du bist der Einzige von uns, der sich regelmäßig Zeit für die beiden nimmt und das auch noch gerne. Durchaus möglich das Lola und Lana um deine Aufmerksamkeit buhlen. Sich zu streiten ist eine gute Möglichkeit dazu. Vielleicht hoffen sie, dass du dich irgendwann auf eine ihrer Seiten schlägst und nicht versuchst den Streit auf andere Art zu schlichten.“

„Das ist doch albern“, kommentierte Lincoln Loris Anmerkungen und schlug sodann nach dem Ball.

„Und wie“, antwortete Lori gut gelaunt und verfolgte gespannt den Ball. Wahrscheinlich war es pures Glück gewesen, doch Lincoln versenkte diesen mit einem einzigen Schlag im Loch.

„Hast du das gesehen“, fragte Lincoln seine Schwester enthusiastisch. Kaum zu glauben, sein erstes «Hole-In-One.» Mit Freuden setze Lori einen Stich hinter die drei ihres Bruders.
 

„Gut gemacht. Aber sag, nachdem Ronnie Anne abgesagt hat. Was möchtest du jetzt eigentlich mit deiner zweiten Karte für diese Zaubershow in Great Lake City machen?“

„Woher weißt du davon?“, erkundigte sich Lincoln skeptisch. Lori hatte ihn doch nicht etwa belauscht?

„Um ehrlich zu sein. Ich habe den Großteil deines Chats mit Ronnie Anne verfolgt. Ich war gerade auf den Weg zu meinem Zimmer, als ich sie lachen hörte. Mich hat die Neugierde gepackt und habe euch darum weiter zugehört. Wie gesagt: Die Wände in unserem Haus sind dünn. Tut mir wirklich leid. Ich konnte einfach nicht anders.“

„Darum warst du also genau im richtigen Moment zu stelle. Das ist echt unter aller Sau, Lori. Ich lausche auch nicht, wenn du mal wieder stundenlang mit Bobby telefonierst.“

„Ich weiß… Ich fühl mich auch wirklich mies, aber immerhin hat mir das dabei geholfen, mit dir ins Gespräch zu kommen. Also willst du mir nun verraten, was du mit der zweiten Karte vorhast. Oder nicht?“

Mit vorwurfsvollen Blick sah Lincoln sie an, antwortete aber dennoch auf ihre Frage:

„Ich denke, ich frage Stella, ob sie mich begleiten möchte.“

„Stella?“ Von jetzt auf gleich wich sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht. Das war nicht gut. Sie konnte unmöglich zulassen, dass sich Lincoln in ein anders Mädchen verknallt. Ihre Doppelhochzeit stand auf dem Spiel. Davon mal abgesehen, war Lori eigentlich der Meinung, auch Ronnie Anne würde etwas für ihren Bruder übrighaben, aber es nicht wahrhaben wollen.

„Ja… Stella. Du weißt schon: Das Mädchen aus dem Bus. Die Neue. Das coole Mädchen von den Philippinen.“

Lincoln wusste nicht recht, was er von Loris Frage halten sollte, oder warum sie sich auf einmal so seltsam verhielt, doch dann fiel ihm plötzlich etwas ein:
 

„Oh Mist… Das habe ich doch glatt vergessen. Stella ist gerade nicht in der Stadt.“

„Wirklich nicht?“, fragte Lori erleichtert. Ein Hoffnungsschimmer am Horizont.

„Ja… Sie besucht zusammen mit ihren Eltern ihre jüngere Cousine. Verdammt was mache ich jetzt. Ich habe es aufgegeben Clyde danach zu fragen, ob er mich begleiten möchte, seitdem ich weiß, dass er Zaubershows nichts abgewinnen kann. Auch meine anderen Freunde haben bestimmt keine Lust darauf. Stella war meine letzte Chance.“

„Wieso fragst du nicht Lilly?“, erkundigte sich Lori beiläufig bei ihrem Bruder. Sie wusste ihre anderen Geschwister hatten ebenso wenig etwas für Zauberei übrig, wie sie selbst. Höchstens Luan könnte noch Lust darauf haben. Doch sie kannte ihren Terminplan nicht, und ob sie Zeit haben würde. Lilly als die Jüngste von ihnen, gerade fünf Jahre alt geworden, bot sich perfekt dazu an.

„Lilly? Ich weiß ja nicht… Die Show ist in Great Lake City. Glaubst du wirklich, Mom um Dad erlauben mir, sie mitzunehmen?“ Lori wusste, dass Lincoln für sein Alter sehr verantwortungsbewusst war, aber sein Einwand ergab durchaus Sinn. Doch bald formte sich eine Idee in ihrem Kopf.

„Ich wollte morgen sowieso Bobby besuchen. Wenn ich euch begleite haben unsere Eltern sicher nichts dagegen. Selbst wenn ich keine Karte für die Show habe, bin ich doch in eurer Nähe. Ich denke so können wir sie überzeugen. Und Lilly würde sich sicher darüber freuen.“

„Hm… Kein schlechter Plan. Okay. So machen wir das“, stimmte Lincoln ihr zu. Sein Samstagabend war gerettete.

„Danke. Ich hab immerhin vom Besten gelernt“, antwortete Lori ihren Bruder, dessen Wangen eine Nuance dunklerer wurden. Das versteckte Kompliment seiner Schwester war ihm nicht entgangen.

„Gut… Da das nun geklärt ist. Wollen wir mit unseren Spiel weitermachen?“

„Jederzeit“, antwortete Lincoln. Alles was Lori von ihren kleinen Bruder in Erfahrung bringen wollte, hatte sie nun erfahren, aber das war kein Grund, den restlichen Nachmitttag sausen zu lassen.
 

Noch über Stunden unterhielten sich die beiden lebhaft miteinander, während sie nebenbei ihr Spiel beendeten. Am frühen Abend war schließlich das letzte Loch gespielt. Am Ende hatte Lori gewonnen, doch das kümmerte keinen von beiden besonders. In erster Linie freuten sich die Geschwister über den gelungenen Nachmittag.

Ungeahnte Talente

Lola langweilte sich. Seit Lana mit Lynn rausgegangen war, um eine Runde mit ihr zu laufen, war eine gute Stunde ins Land gezogen. Bevor Lynn gefragt hatte, waren sie und Lana mit einem Brettspiel beschäftigt gewesen, das Lana bestimmt verloren hätte. Nur darum – so ihre Meinung – hatte Lana sich überhaupt darauf eingelassen. Ihre Zwillingsschwester meinte zwar, sie würde später dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten, doch so recht wollte Lola das nicht glauben.

Für den Fall der Fälle hatte Lola allerdings alles so belassen, wie es schon vor einer Stunde gewesen war, und hatte dann versucht ihren Ärger mit Fernsehen zu vertreiben. Doch es lief irgendwie Nichts was sie interessiert hätte. Ihr Vater war noch in seinem Restaurant und ihre Mutter war mit Lilly ins Einkaufscenter gefahren, um ihr neue Kleidung zu kaufen. Luna, Lisa und Luan waren sonst wo unterwegs. Leni arbeitete noch und Lincoln war mit Lori eine Runde golfen. Einzig und alleine Lucy war noch zuhause, doch die war gerade auf dem Dachboden und machte, weiß der Teufel was. Selbst wenn Lola den Mut dazu gefunden hätte, Lucy zu unterbrechen, und diese sie dafür nicht verflucht hätte oder dergleichen, hätte ihre ältere Schwester sich wohl kaum mit ihr abgegeben.
 

Manchmal war es frustrierend. Man sollte meinen, in einem Haus mit zehn Geschwistern wäre immer wenigstens eines da, mit dem sie spielen konnte. Doch in letzter Zeit war das überraschend häufig nicht der Fall.

Lag es an den Interessen ihrer Geschwister, dass sie kaum für sie Zeit hatten, oder an etwas anderen? In der Regel waren wenigstens Lana und Lincoln dazu bereit, etwas mit ihr zu unternehmen. Aber Lana hatte selten Lust darauf, bei ihrem Mädchenkram mitzumachen, wie sie zu sagen pflegt. Und Lincoln hatte meistens schon etwas mit Lana, ihren anderen Schwestern oder Clyde vor, wenn sie ihn mal darum bat, ihr bei einer ihrer Teepartys Gesellschaft zu leisten, oder sonst etwas mit ihr zu spielen. Nur bei ihren Schönheitswettbewerben stand er ihr immer zu Seite. Was aber sicher daran lag, dass er sich diese in seinem Kalender markierte, um sie nicht zu vergessen. Die wenigen Stunden Training davor und der Wettbewerb selbst waren aber meistens viel zu schnell wieder vorbei. Wenn sie dann zurückdachte, hatte sie mehr das Gefühl, Arbeit geleistet, als Spaß gehabt zu haben. Und bestimmte dachte Lincoln dasselbe. Bei Lana war es dagegen anders.
 

Dann und wann war sie richtig neidisch auf ihre Zwillingsschwester. Immer wenn sie und Lincoln von ihren Aktivitäten zurückkamen, hatten alle beide ein fettes Grinsen im Gesicht und sprachen nicht selten auch noch beim Abendessen mit Freuden über ihren gemeinsamen Tag. Bei seinen Chats mit Ronnie Anne war es dasselbe. Er erwähnte Lynn, Lana, Leni, Lucy, Lisa, Lilly, Luna und Luan. Auch über Lori sprach er ab und zu. Aber ihren Namen hörte sie nie fallen, wenn sie zufällig im richtigen Moment an seiner Tür vorbeikam, Türen und Wände ihren Zweck verfehlten. Vielleicht sollte sie ihn zu seinem Glück zwingen, um sich dann von ihrer besten Seite zu zeigen.

Warum eigentlich nicht? Im Moment war keiner zuhause, Lucy mal ausgenommen, doch die war mit sich selbst beschäftigt. Eine gute Gelegenheit, um sich in Lincolns Zimmer zu schleichen, und nach guten Erpressungsmaterial zu suchen. Sie machte das nicht gerne, aber um ihren Bruder zu zeigen, dass er auch mit ihr Spaß haben konnte, musste sie wohl andere Wege finden. Wie war das noch gleich? Der Zweck heiligt die Mittel, oder etwa nicht?

Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein verschlagendes Lächeln ab, und keine Minute später stand sie auch schon vor der geschlossenen Tür seines Zimmers. War ihr Plan erst erfolgreich, würde sie sich, so oft er wollte, auf Knien und unter Tränen bei Lincoln entschuldigen. Doch irgendwie musste sie ihn zuerst dazu bringen, nicht ständig Lana zu bevorzugen. Vorsichtig warf sie einen Blick nach Links und Rechts, doch Lucy war nirgendwo zu sehen. Bestimmt war sie immer noch auf dem Dachboden. Leise fasste sie nach der Türklinge und drückte sie hinunter, doch nichts passierte.
 

„Echt jetzt, Lincoln. Seit wann schließt du ab?“ fragte Lola sich verärgert. Wie sollte sie jetzt in sein Zimmer kommen? Ob sie das Schloss mit einer Haarspange knacken konnte? Leni war ein Naturtalent darin, doch sie selbst hatte das noch nie versucht.

„Was machst du da?“, hörte sie Lucys monotone Stimme plötzlich von der Seite. Wie von der Tarantel gestochen sprang Lola vor Schreck auf und schrie sich die Seele aus den Leib.

„Verdammt nochmal, Lucy… Musst du mich immer so erschrecken?“, brachte Lola schließlich über die Lippen, als sie die Situation als ungefährlich wahrgenommen hatte.

„Es ist nicht meine Schuld, dass ihr allesamt so schreckhaft seid“, antwortete ihr Lucy auf ihre übliche, emotionslose Art, und dennoch umspielte ein schmales, fast unkenbares Lächeln ihre Mundwinkel. Völlig egal was sie auch sagte. Lucy hatte Spaß daran, andere Herzen zum rasen zu bringen. Aber nicht auf die gute Art und Weise.

„Lincoln ist nicht zuhause. Ich hoffe doch, du hast nicht vor, dich wieder in sein Zimmer zu schleichen. Hast du schon vergessen, was letztes Mal passiert ist?“, setzte Lucy fort. Täuschte Lola sich, oder hörte sie so etwas wie einen Vorwurf in ihrer Stimme?

„Das war nicht meine Schuld, sondern Lanas… Okay? Ich wollte sein dummes Modellflugzeug nicht kaputtmachen, sondern es mir nur genauer ansehen“, erwiderte Lola gereizt. Warum mussten ihre Schwestern sie noch Wochen später ständig daran erinnern? Doch plötzlich wurde Lola wieder bewusst, in was für einer Situation sie sich befand. Lucy war nicht Lana, aber auch sie respektierte Lincolns Privatsphäre. Zumindest dann, wenn er nicht zuhause war. Wie sollte sie sich da rausreden?

„Wenn du das sagst“, antwortete Lucy. Erneut ohne jegliche Emotion dahinter.

„Doch das ändert wenig am Ergebnis. Also warum willst du dich wieder reinschleichen? Stehst du darauf, wenn unser Bruder sauer auf dich ist?“

„Natürlich nicht. Ich wollte nur…“ Lola unterbrach sich selbst. Ihr schlechtes Gewissen hatte sich heftig zurückgemeldet. Aber genau darum wollte sie Lincoln davon überzeugen, dass sie auch ihre guten Seiten hatte. Und ohne Erpressungsmaterial würde das kaum funktionieren.
 

„Nur was?“, wollte ihre Schwester von ihr wissen, als Lola eine Idee hatte.

„Heute Vormittag habe ich Lincoln gefragt, ob er bei einer meiner Teepartys mitmachen möchte. Doch er meinte, er hätte schon etwas mit Lynn vor. Da bin ich wieder gegangen und wollte stattdessen etwas mit Lana unternehmen. Doch dann ist Lori nachhause gekommen und hat Lynn Lincoln vor der Nase weggeschnappt, die mir dann Lana vor der Nase weggeschnappt hat. Da ich jetzt keine Spielpartnerin mehr habe, wollte ich eine Tee Party ohne Lincoln abhalten. Nur mit meinen üblichen Gästen. Du verstehst… Doch Junis ist nirgendwo aufzufinden, und ich dachte mir, ich könnte sie vielleicht in Lincolns Zimmer gelassen haben.“ Lola war stolz auf sich selbst. Eine bessere Geschichte hätte ihr kaum einfallen könne. Hoffentlich zerstreut das Lucys Argwohn.

„Also gut.“ Lucy atmete lautstark aus. Lola tat ihr irgendwie leid. Verflucht sei ihr schwarzes Herz, das dennoch für ihre Familie schlug.

„Ein Ersatzschlüssel liegt im Badezimmerschrank, unter seinen Handtüchern. Aber das hast du nicht von mir… Verstanden?“ Lola konnte ihr Glück kaum fassen, doch Lucy zerstörte ihre Hoffnungen keine Sekunde später von neuem:

„Und damit du auch keine Dummheiten anstellst, werde ich dich begleiten. Leb damit, oder hol dir Junis später zurück, wenn Lincoln wieder zuhause ist.“

Na toll. Jetzt würde Lola zwar in Lincolns Zimmer kommen, doch hatte dafür Lucy am Hals. Sie wusste natürlich, dass Junis keinesfalls im Zimmer ihres Bruders lag. Ihr Plüscheinhorn befand sich zusammen mit ihren anderen Artgenossen in ihrem und Lanas Zimmer. Zur Not konnte Lola sich zwar rausreden, dass es schließlich nur eine Vermutung gewesen war. Doch ihre Suche nach brisanten Informationen konnte sie so natürlich vergessen. Aber heute schien ihr das Glück gewogen zu sein. Gerade als sie sich damit abgefunden hatte, hörten sie und Lucy wie etwas auf dem Dachboden zu Boden fiel.

„Oh... Die Geister antworten“, hörte sie Lucy noch sagen, bevor sie wieder spurlos verschwunden war. Bestimmt war es nur ihre Katze Cliff gewesen, die irgendetwas umgestoßen hatte, aber Lola sollte es recht sein. Lucy war aus dem Weg und sie selbst würde in Lincolns Zimmer kommen. Besser konnte es kaum laufen.

Wieder schlich sich ein verschlagenes Lächeln über ihre Lippen. Gut gelaunt machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer, um sich den Ersatzschlüssel zu besorgen. Er lag genau dort, wo Lucy gesagt hatte. Als Lola dann schließlich zum zweiten Mal vor Lincolns Tür stand, schloss sie diese auf und trat ein. Die erste Phase ihres Planes war erfolgreich gewesen.
 

Das Reich ihres Bruders war nicht besonders ausgefallen. In seinem Zimmer standen ein Bett, ein kleiner Kleiderschrank, eine noch kleinere Kommode und ein schlichter Schreibtisch. Von allen ihren Geschwistern hatte Lincoln das kleinste Zimmer. Obwohl sich immer zwei von ihren Schwestern ein Zimmer teilten, hatten diese in der Regel mehr Platz für sich selbst zu Verfügung, als Lincoln. Bestimmt lag das daran, dass ihre Eltern anfangs nicht so viele Kinder wollten, oder das Haus an sich, von Anfang an für deren Pläne zu klein war. Doch trotz des wenigen Platzes liebten sie und ihre anderen Geschwister es, in diesem Haus zu leben. Sicher, es gab Zank und das nicht zu knapp, doch am Ende war noch immer alles wieder gut geworden. Schnell schloss Lola dir Tür hinter sich und sah sich etwas genauer in seinem Zimmer um.
 

„Also gut, Bruderherz. Was hast du alles für mich?“, sprach sie zu sich selbst und machte sich sodann an die Arbeit. Sie durchsuchte den Kleiderschrank, die Kommode und seinen Schreibtisch, doch sie konnte nichts Interessantes finden. Sie blätterte sogar durch seine Comicbücher, in der Hoffnung, dort hatte er etwas Peinliches versteckt. Doch ihre Mühen blieben erfolglos.

„Ach komm schon. Wo ist dein Tagebuch, wo deine dummen Pläne?“, fragte sie sich selbst, als ihr Blick wie beiläufig auf sein Bett fiel. Ihre Gesichtszüge hellten sich auf:

„Vielleicht dort.“ Mit neuem Elan machte sie sich daran, unter das Bett zu schauen. Tatsächliche hatte sie Erfolg. Ein kleines Papierbündel kam zum Vorschein. Gespannt holte Lola es heraus und warf einen Blick darauf. Es war ein kleiner Comic, etwa fünf Seiten lang, welches davon handelte, dass Lincoln und Ronnie Anne irgendein Theaterstück aufführten.

„Das ist doch was.“ Gespannt begann sie zu lesen, doch die ersten zwei Seiten waren nicht besonders spannend gewesen, wenngleich die Charaktere, das Bühnenbild und die Kostüme überraschen professionell wirkten. Es war ungewöhnlich für Lola, Ronnie Anne in einen Kleid zu sehen, doch Lincoln hatte sich große Mühe damit gegeben, das Kleid nicht aufdringlich zu gestalten und seine Freundin natürlich und gut darin aussehen zu lassen.

Plötzlich empfand sie so etwas wie Respekt vor Lincolns Zeichnerischem Talent, aber sobald sie die dritte Seit aufschlug, konnte sie sich ein Lachen nicht verkneifen. Bisher hatten Lincoln und Ronnie Anne stur den Text aufgesagt, irgendetwas von Shakespier glaubte Lola zu wissen. Lincoln war mit Feuer und Flamme bei der Sache, wenn sie seinen gezeichneten Gesichtsausdruck richtig deutete, doch Ronnie Anne wirkte gelangweilt. Im Nächsten Abschnitt wurde es ihr dann plötzlich zu blöd und sie sagte folgendes:

„Halt die Klappe und Küss mich endlich.“

Im nächsten Bild war Lincolns Gesichtsfarbe einige Nuancen dunklerer geworden und sein Gesicht spielgelt eine Mischung aus blanker Überraschung und Vorfreude wieder. Am besten war aber der Text des Lehrers:

„Ronalda, halt dich bitte an den Text.“

Lola konnte sich schon denken was auf dem nächsten Blatt passieren würde, und sie sollte Recht behalten. Eine gesamte Seite zeigte nur wie Lincoln und Ronnie Anne sich innig küssten. Ihre Hände miteinander verschränkt und ihre Augen geschlossen.

„Das ist zu früh! Haltet euch an das Drehbuch!“, war noch am Rand zu lesen gewesen, doch die Person, die das zu ihnen gesagt hatte, war nicht mehr auf dem Bild.

„Das ist das reinste Gold“, rief Lola enthusiastisch aus. Bestimmte konnte sie Lincoln damit überzeugen, einen Tag nur mit ihr allein zu verbringen. Zumindest dann, wenn er nicht möchte, dass Ronnie Anne diesen Minicomic in absehbarer Zeit in den Händen halten würde.
 

„Was hast du noch für mich?“, sagte Lola zu sich selbst und machte sich nun daran, Lincolns Matratze etwas anzuheben. Ihr Blick fiel sodann auf einen Schnellhefter und ihr Grinsen wurde breiter.

„Oh… Noch mehr peinliche Bilder von dir und deiner Freundin?“ Ohne lange zu überlegen fasste Lola mit ihrer freien Hand nach dem Schnellhefter. Sie zog ihn aus seinem Versteck und las folgendes: «The famous fifteen. By Lincoln Loud.»

„Hm… Ganz schön schwer“, kommentierte sie das Gewicht des Schnellhefters. Zügig ließ sie die Matratze wieder los und setzte sich sodann auf sein Bett. Den Hefter nun in beiden Händen, öffnete sie ihn. Das erste Bild ließ ihr dem Atem stocken.

Scheinbar war es eine Charakterskizze. Und was für eine schöne. Lola glaubte, eine ältere Version von Lucy zu sehen. Diese trug ein schlichtes, schwarzes Kleid. Vor ihr waren der Vollmond und eine altes Schloss in der Ferne zu sehen, das Lucy wehmütig beobachtete. Sie saß auf einen großen Stein und ihr zahme Fledermaus Fangzahn ruhte sanft auf ihrem Kopf. Zu ihrer Rechten war ein knochiger, alter Baum zu sehen gewesen. Ein reichverzierte Rahmen, selbstverständlich per Hand gezeichnet, rundete das Bild ab. »Raven Heartfilia« stand im unteren, rechten Bildabschnitt. Wohl der Name, den Lincoln Lucys alter Ego gegeben hatte.
 

Begeistert blätterte Lola eine Seite weiter. Die nächste Charakterskizze zeigte eine ältere Lana, die mit verschränkten Armen und einem breiten Grinsen an der Seite eines schwarzen Rennwagens lehnte. Sie trug verschmutze Arbeitskleidung und im Hintergrund war eine Autowerkstand zu sehen. Das Rolltor stand offen und ein paar Regale waren schemenhaft zu erkennen gewesen. Wieder rundete ein Rahmen das Bild ab und wieder war unten rechts ein Name zu lesen: »Rosanna Black.«

Lola konnte nicht anders und blätterte weiter. Diesmal war eine ältere Version von Lisa zu sehen. Sie trug einen weißen Kittel, saß an einem Tisch in ihrem eigenem Labor und hielt zwei unterschiedliche Reagenzgläser in ihren Händen, die mit zwei verschiedenen Flüssigkeiten befüllt waren. Ein stolzes Lächeln zierte ihr Gesicht, beinahe so, als ob sie etwas gefunden hatte, was die Welt revolutionieren könnte. Rahmen und Name fehlten auch hier nicht: »Mary Oswin« war zu lesen gewesen.

Hatte Lincoln einfach nur Lisas zweiten Vornamen verwändet? An seiner Kreativität muss er noch arbeiten, aber seine Bilder waren umwerfend und detailreich. Wenn Lola wollte, könnte sie sämtliche Reagenzgläser in Marys Labor zählen, die allesamt willkürlich platziert waren. Geordnetes Chaos, wie Lisa sagen würde. Selbst die Charakterzüge seiner Musen arbeitete er in die Geschichte ein.
 

Wie selbstverständlich blätterte Lola weiter. Zum ersten Mal waren zwei Leute zu sehen, die Rücken an Rücken lehnten und den Betrachter des Bildes anschauten. Lola erkannte eine ältere Lynn, die mit einem schwarzen Ninja-Anzug bekleidet war und in ihrer linken Hand lässig einen Kampfstab hielt. Neben ihr ein junger Mann, gut gebaut mit überwiegend weißen Haaren, dessen Haaransätze aber schwarz waren. Das konnte ja nur Lincoln selbst sein. Im Hintergrund war ein großes Haus zu sehen, bei dessen Gestaltung bestimmt ein Architekt ausgeholfen hatte. »Logan und Lindsey Redmoor« war im unteren, rechten Bildausschnitt zu sehen. Der bekannte Rahmen fehlte auch hier nicht.

Mit unverfälschter Begeisterung widmete Lola sich dem nächsten Bild. Erneut waren zwei Leute zu sehen. Ein altes Herrenhaus befand sich im Hintergrund und eine hübsche Perlenkette schwebte über dessen Köpfen. Ganz klar, hier hatte Lincoln sich an Ronnie Anne und Sid orientierte, selbst wenn die beiden auch hier deutlich älter wirkten.

»Ronalda Santana und Sidney Mason« waren ihre Namen. Wieder zeigte sich Lincolns mangelnde Kreativität, doch das Bild büßte dadurch keinesfalls an Charme ein. Allmählich wurde Lola neugierig auf die Geschichte hinter den Charakterskizzen.
 

„Warum bitte, versteckst du das vor uns?“, fragte Lola sich selbst und nahm das nächste Bild in Angriff. Zum wiederholten Male waren zwei Leute zu sehen. Zwei Polizisten, wie Lola an deren beider Uniformen erkannte. Unwissentlich Model dafür gestanden hatten sicher Bobby und Lori. Schon die Körpersprache der beiden zeigte deutlich, dass sich die zwei zueinander hingezogen fühlten. Äußerlich wirkten sie zwar etwas älter, aber die Ähnlichkeiten waren kaum zu übersehen.

»Rupert Santana und Lorane Goldsmith« hatte Lincoln sie getauft. Im Hintergrund war ein Streifenwagen mit angeschalteten Blaulicht zu sehen, der querstehend die Straße blockierte. Lori und Bobby standen jeweils auf einer anderen Seite dieser, und warfen sich schmachtende Blicke zu, während der Schein der Straßenlampen die Dunkelheit um sie herum erhellte. Kitschiger ging es kaum, doch Lola war begeistert.

Von Bild zu Bild war sie aufgeregter geworden. Alle Schwestern und Freunde von Lincoln schienen eine bestimmte Rolle zu haben. Lola war schon gespannt darauf, was sich ihr Bruder wohl für sie ausgedacht hatte. Vielleicht war sie ja eine Prinzessin in Nöten.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf blätterte sie weiter. Jetzt erkannte sie Luna und Luan, die an einer Bar saßen rücklings gegen die Theke lehnten und mit glücklichen Gesichtern einen leeren Nachtclub begutachteten.

„Endlich haben wir es geschafft.“

„Unsere eigener Nachtclub“, konnte Lola in zwei Sprechblassen lesen, die über den Köpfen ihrer älteren Schwestern schwebten.

Auch hier war Lola von den vielen Details begeistert. Sie erkannte eine kleine Bühne. Bestimmt für Luna gedacht, um ihre Kundschaft mit ihrer Musik einzulullen. Etliche Tische und vieles mehr.

»Sahra und Anna Williams« stand diesmal auf der linken Seite. Wohl weil Lincoln rechts die Theke gezeichnet hatte.

Ungeduldig blätterte sie weiter. Lola wollte endlich ihr Alter Ego kennenlernen. Doch wiedererwarten zeigte das nächstes Bild nicht sie sondern Leni, die an einen Schreibtisch saß und an einem Computer arbeitete. Ein einnehmendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und eine aufgeschlagene Akte lag auf ihren Schreibtisch. »Polizeibericht zu den Vorfall 00786« konnte Lola entziffern.
 

„Leni arbeitet also auch für die Polizei“, zog Lola den einzigen logischen Schluss daraus. Unmittelbar neben dem Bericht, wie könnte es auch anders sein, lag eine geöffnete Modezeitschrift. Ein Kleid der aufgeschlagenen Seite war fett umrandet. Bestimmt hatte Leni das nächste Kleid gefunden, das sie unbedingt haben wollte. Ihr Büro war wieder überraschen Detailverliebt gestaltet. Zu ihrer Rechten eine offene Tür. Gegenüber ihres Schreibtisches ein Aktenschrank, der bis zum Bersten gefüllt war, und leicht angedeutet, ein Fenster zu ihrer Linken. Auf einem kleineren, zweiten Tisch in der Nähe stand eine Vase mit frischen Blumen. Hier konnten wohl ihre Klienten oder ihre Kollegen sitzen, um mit ihr zu plaudern, oder sie für ihre Schusseligkeit zu tadeln, sollte Lincoln auch Lenis Charakterzüge in seinem Comic eingearbeitet haben.

»Antonia Goldsmith« war der Name, den Lincoln sich für sie ausgedacht hatte. Allmählich zeichnete sich ein Muster ab. Scheinbar waren immer zwei von seinen Charakteren miteinander verwandt. Bestimmt waren sie sogar Geschwister.

Voller Hoffnung schlug sie das nächste Blatt auf, doch wieder lächelte ihr ein anderes Gesicht entgegen. Ein erwachsener Clyde hatte seinen Weg in die Charakterskizzen gefunden, Lola hatte sich schon gefragt, wann Lincolns bester Freund auftauchen würde. Voller Vorfreude stützte er sich mit beiden Händen an einem Geländer ab. Vor ihm befand sich ein leerer, reichgeschmückter Ballsaal. Große Kronleuchter hingen an der Decke. Riesige Fenster waren zu beiden Seiten des Saals zu sehen, die mit schweren, edlen Vorhängen ausgestattet, jedoch nicht zugezogen waren. Am anderen Ende fand sich noch eine angedeutete Flügeltür.

»Adrian Fernandes« war sein Name. Gewaltige Herrenhäuser, alte Schlösser, edle Kleidung, Ballsäle und besorgniserregende Präsenz der Polizei. Ob Lincolns Comic wohl in der Welt der Reichen und Mächtigen spielte? Wenn ja, dann war ihre erste Vermutung bestimmt richtig. Sie musste einfach eine Prinzessin in Nöten sein. Wehe ihren talentierten Bruder wenn nicht.
 

Wieder blätterte Lola weiter und wieder wurde sie gnadenlos enttäuscht.

„Das Beste zum Schluss, oder wie?“, fragte sich Lola, als ihr Blick auf eine weitere Charakterskizze fiel. Diesmal handelte es sich um eine ältere Lilly, die ein schönes, weißes Kleid trug und sich eine Blume in ihr schulterlanges Haar gesteckt hatte. Ihr Alter schätzte Lola auf zehn Jahre. Lilly war im Gegensatz zu den anderen das typische Kind. Staunend stand sie in Mitten eines gewaltigen Raumes. Kleiderschränke, ein großes Bett, randvolle Bücherregale, zwei große Fenster und ein gigantischer, runder Teppich auf den Boden, ziemlich genau in der Mitte des Raumes, waren zu sehen gewesen. Was wohl ihre Rolle war? Lillys Charakterskizze war zwar schön anzusehen doch sagte im Grunde genommen wenig, eigentlich nichts über ihre Rolle aus. Ob das Absicht war?

Zum Zerreißen gespannt nahm sie die nächste Seite in Angriff. Und siehe da, endlich erblickte sie ihr Alter Ego. Lincolns Lola trug ein langes, reich verziertes Kleid, hatte ihre Hände gefaltet und ihre Beine Überkreuzt. Vor ihr befand sich ein schmaler, gläserner Tisch, auf dem ein Schachbrett stand. Ihr Lächeln wirkte zuversichtlich und auf ihren hübschen Kopf ruhte ein elegantes Diadem. Der reichverzierte Stuhl, auf dem sie stolz platzgenommen hatte, konnte nur einer Prinzessin gehören. Hinter diesem war ein Mann mit einem schwarzen Anzug zu sehen. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, schaute aber über seine Schulter zu ihr. Mit der Rechten rückte er sich sein Brille zurecht und in seiner Linken hielt er ein leeres, silbernes Tablett. Lola wusste nicht, wie sie sein Lächeln deuten sollte, das er ihrer Doppelgängerin zuwarf. Es wirkte nicht übelwollend aber dennoch wenig vertrauenserweckend. Doch wichtig war nur eins, sie hatte sogar ihren eignen Butler.

»Rosemary Black« hatte Lincoln sie genannt. Ihr Alter Ego war also mit Lanas verwandt. Was für ein Zufall. Der Name ihres Butlers interessierte sie im Moment eher weniger, doch dennoch las sie ihn: »Viktor Brown.«

Neugierig warf sie einen Blick auf die nächste Seite. Kapitel eins war dort zu lesen und das Abbild eines alten Herrenhauses im düsteren Mondlicht war zu sehen. Mit den Charakterskizzen war Schluss, die eigentliche Geschichte startete.
 

Gerade wollte Lola zu lesen beginnen, da hörte sie, wie sich die Haustür lautstark öffnete.

„Man, wie kann Lincoln sich das bloß freiwillig antun und das jeden verdammten Tag“, hörte sie Lanas schwer atmende Stimme von unten. Bald darauf folgte ein dumpfer Aufprall. Offensichtlich hatte Lana sich erschöpft zu Boden fallen lassen.

„Einmal und nie wieder. Hörst du Lynn… Einmal und nie wieder!“, hörte sie ihre Stimme wenig später erneut. Scheinbar war sie wieder zu Atem gekommen. Lynn hatte Lana offensichtlich nicht mit Samthandschuhen angefasst.

„Lola, wo bist du?“, erkundigte sich Lana schließlich auch nach ihrem Verbleib. Kaum hatte sie das gesagt, hörte Lola auch schon die ersten Schritte.

„Hier oben!“, antwortete sie. Lana würde wohl kaum vermuten, dass sie sich gerade in Lincolns Zimmer aufhielt. Schnell legte sie den Schnellhefter zurück an seinen ursprünglichen Platz. Kaum auszumalen, wenn Lana sie damit erwischen würde. Selbst wenn ihre Schwester sie deshalb nicht gleich, wie eine, in die Enge getriebene Ratte, anspringen würde, um es ihr aus der Hand zu reißen, würde es Lincolns Comic dennoch ähnlich wie seinem Modelflugzeug ergehen.

Ihr gesamter Körper schauderte bei diesem Gedanken. Sein Modelflugzeug war eine Sache aber dieses Comic, an dem er schon ewig arbeiten musste, war ein ganz andere. Sollte das zu Bruch gehen und Lincoln würde sie und Lana als die Schuldigen identifizieren? Vehement schüttelte sie mit ihren Kopf. Das würde nicht passieren. Nicht hier und nicht heute oder irgendwann. Dafür würde sie sorgen.

„Schön hiebleiben… Ich kümmere mich später um dich“, flüsterte sie den versteckten Schnellhefter zu. So groß die Furcht auch war, die Spannung auf die Geschichte war größer. Lola würde Lincolns Comic noch lesen. Aber ein anderes Mal. Sie schnappte sich eiligst den kleinen Comic von Lincoln und Ronnie Anne, verbarg dieses hinter ihrem Rücken und schlich sich zügig aus Lincolns Zimmer. Sie hatte gerade noch genug Zeit, um die Tür hinter sich halbherzig zu schließen, bevor Lana schon die letzte Stufe der Treppe hinter sich gelassen hatte und sie erblickte.

„Hallo Lana… Wie war deine Runde mit Lynn?“, erkundigte sich Lola möglichst natürlich bei ihrer Schwester. Doch irgendetwas schien Lana stutzig zu machen. Der verwirrte Blick, den sie ihr zu warf, war Anhaltspunkt genug dafür gewesen.
 

Interessiert beobachtete Lana ihre Schwester eine Weile. Warum wirkte sie so nervös? Sie schaute an Lola vorbei und bemerkte schnell, dass Lincolns Tür einen Spalt weit offen stand. Hatte er vergessen sie ordentlich zuzuziehen?

Ihr Blick wanderte zurück auf ihre Schwester, die scheinbar etwas hinter ihren Rücken verbarg. Eine leise Ahnung machte sich bei ihr breit. Doch diesmal wollte Lana die Sache anders klären. Sie hatte keinen Bock darauf, dass Lincoln erneut tagelang nichts mit ihr unternehmen wollte, weil ihre Zwillingsschwester wieder Mist gebaut hatte. Vielleicht sollte sie Lola einfach ignorieren und Lincoln sagen, dass Lola etwas aus seinem Zimmer geklaut hatte. Dieser Gedanke war genial. So konnte Lincoln sich persönlich darum kümmern und er hatte keinen Grund sauer auf sie zu werden, wenn etwas schieflaufen sollte. Zum ersten Mal würde die Schuld dann nur Lola alleine treffen. Plötzlich wusste Lana, was zu tun war.
 

„Und... Sag schon." Unlängst wirkte Lola furchtbar nervös. Das lange Schweigen Lanas wurde ihr allmählich unangenehm. Hoffentlich hatte sie keinen Verdacht geschöpft.

„Ganz ehrlich… Es war die Hölle“, antwortete Lana schließlich. Lola fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte also wirklich nichts bemerkt.

„Aber ich habe unser Brettspiel natürlich nicht vergessen. Ich will mir nur schnell neue Sachen überziehen und dann können wir dort weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben. Das habe ich dir doch versprochen. Oder etwa nicht?“ Entgegen ihrer Vermutung schien sich Lola nicht darüber zu freuen, denn ihr Blick wirkte plötzlich erschrocken.

„Macht es dir etwas aus, wenn ich zuerst gehe?“ erkundigte sich Lola bei ihrer Schwester. Das begründete Lanas Verdacht ausreichend.

„Unser Zimmer ist nicht das Badezimmer. Willst du etwas vor mir verstecken?“, fragte sie beiläufig. Wie gerne hätte sie jetzt ein Foto von Lola geschossen. Ihr Gesichtsausdruck war einmalig gewesen.

„Natürlich nicht… Wie kommst du darauf?“, brachte Lola geradeso über ihre Lippen. Ihre Nervosität war unmöglich zu übersehen gewesen. Was hatte sie Lincoln wohl geklaut?

„Was denkst du Hopps? Wollen wir zulassen, dass Lola etwas vor uns versteckt?“, fragte Lana ihren kleinen Frosch, der ihr selten von der Seite wich und sich für gewöhnlich unter ihrer roten Mütze verbarg. Auch heute war das nicht anders. Ein unschuldiges Quaken war zu hören gewesen, bevor Lana sagte:

„Nur zu, Lola. Geh nur und mach dein Ding.“

„Ich will nichts von dir verstecken… Ehrlich“, antwortete ihr Lola. Schneller als Lana bis drei zählen konnte, war Lola auch schon in ihrem gemeinsamen Zimmer verschwunden. Natürlich stehst darauf bedacht, dass ihre Schwester keinen Blick hinter ihren Rücken werfen konnte. Ein amüsiertes Lächeln umspielte Lanas Mundwinkel. Lolas Verhalten war schon irgendwie amüsant.

„Ob sie wohl jemals aus ihren Fehlern lernt?“, fragte Lana sich selbst, doch Hopps antwortete ihr mit einen fröhlichen Quaken.

„Du hast ja so Recht, Hopps... Ganz bestimmt nicht.“
 

Brav wartete Lana darauf, bis ihre Schwester ein geeignetes Versteck für Lincolns Hab und Gut gefunden hatte, und wieder aus dem Zimmer gekommen war, bevor sie selbst es betrat, um sich frischgewaschene Klamotten überzuziehen. Lana mochte es zwar, wenn sie schmutzig war, aber ihre durchgeschwitzte Kleidung wollte sie dennoch so schnell wie möglich loswerden. Nicht dass sie sich am Ende noch erkälten würde. Jetzt wo sie nicht mehr in Bewegung war, spürte sie das kalte Nass ihrer Kleidung deutlich auf ihrer Haut.
 

„Wir treffen uns unten“, sagte sie noch zu ihrer Schwester und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Egal wie neugierig Lana auch war, sie nahm sich fest vor, nicht nach Lincolns Sachen zu suchen, auch wenn sie diese bestimmt schnell gefunden hätte. Am Ende würde das Wissen darum, um was es sich handelte, ihren Entschluss ins Wanken bringen. Und das konnte sie unmöglich zulassen. Diesmal wollte Lana die Erwachsene sein

Große Emotionen

Gegen achtzehn Uhr kamen Lincoln und Lori wieder zuhause an. Ihren Wagen parkte Lori schnell hinter den ihres Vaters. Ein steinalter Van, der mindestens vierzig Jahre auf dem Buckel hatte, und von ihrer Familie liebevoll Vanzilla genannt wurde. Verständlicherweise funktionierte er nur noch mangelhaft und blieb mindestens einmal im Monat irgendwo liegen. In der Regel brachte Lana ihn dann irgendwie wieder zum Laufen. Es war schon erstaunlich, was für ein Talent ihre jüngere Schwester für den alten Wagen und generell für alle kaputten Maschinen im Haus hatte. War etwas defekt konnte man sich sicher sein, Lana brachte es wieder in Ordnung. Dementsprechend stolz waren Lori, ihre Geschwister und ihre Eltern auf sie. Ohne Lana wäre es durchaus fraglich, ob ihr Haus überhaupt noch stehen würde, so oft wie die verschiedensten Dinge darin zu Bruch gingen.

„Sowas… Dad ist schon zu Hause?“, bemerkte Lori. Seit er sein Restaurant hatte, war das eher selten der Falle. Meistens nur dann, wenn es geschlossen war. Montags, mittwochs, und zu den Feiertagen natürlich.

„Ja. Heute Vormittag meinte er, er würde früher Schluss machen, um dich gebührend willkommen zu heißen. Bestimmt steht er schon vor dem Herd und kocht dein Lieblingsessen“, meinte Lincoln.

„Denkst du wirklich?“ Ihr kleiner Bruder blieb ihr eine Antwort schuldig, nickte aber mit dem Kopf.
 

Zusammen betraten sie das Haus. Sogleich empfing sie wohlige Wärme, kaum war die Tür hinter ihnen zurück ins Schloss gefallen. Ein betörender Duft lag in der Luft, der seinen Weg aus der Küche ins Wohnzimmer fand. Würzig- scharfes Aroma und der Geruch von gebratenen Fleisch. Eine Wohltat für die Nasse. Lincoln schien recht zu behalten, eindeutig stand heute Chili Gonzales auf dem Speiseplan. Lunas Musik hörte man deutlich von oben herab. In Wohnzimmer diskutierten Lola und Lana angeregt darüber, wer bei Monopoly nun wirklich gewonnen hat, und der typische Gesang ihres Vaters drang aus der Küche. Diese Angewohnheit, beim Zubereiten der Mahlzeiten zu singen war ein klares Zeichen dafür, wie sehr ihr Vater es liebte, für seinen Familie zu kochen. Das harmonische Summen ihrer Mutter zum schiefen Gesang ihres Vaters, die heute ausnahmsweise auch in der Küche zu Gange war, rundete das Bild ab.

Sogleich machten sich Lori und Lincoln auf zu ihren Eltern, um ihre Pläne für Morgen mit ihnen zu besprechen. Die Tür stand offen und die beiden gingen hinein. Ihr Vater rührte gerade mit dem Kochlöffel im Kochtopf und trug Kochmütze und Schürze. Ihre Mutter war unterdessen damit beschäftig, einer großen Schüssel Salat den letzten Schuss zu geben, indem sie etwas Essig und Öl, wie auch ein selbst zubereitetes Salatdressing darüber träufelte.
 

„Hallo, Mom. Hallo, Dad… Schön euch endlich wieder persönlich zu sehen“, begann Lori auf sich aufmerksam zu machen. Beide Elternteile drehten sich zu ihr um und begrüßten sie herzlich.

Rita beließ es bei ein paar Worten, hatte aber ein glückliches Lächeln im Gesicht. Lynn Senior dagegen stürmte auf seine Tochter zu und schloss sie sogleich in die Arme. Der Kochtopf war fürs Erste vergessen. Das Chili Gonzales konnte auch eine Weile lang, ohne Aufsicht vor sich hin köcheln.

„Na endlich. Meine Lori Lou ist wieder zuhause… Wie schön. Ich hab dich so vermisst“, sagte er überglücklich. Sein Vater bestand zwar stur darauf, dass er kein Lieblingskind hatte, doch wenn Lincoln sah, wie er sich Lori gegenüber verhielt, konnte er das nur schwer glauben.

„Ist schon gut, Dad. Ich dich auch“, antwortete Lori und erwiderte seine Umarmung sodann.

„Wie ich sehe kochst du heute mein Lieblingsessen. Das ist ohne Witz voll cool von dir.“

„Sicher doch. Alles für meinen kleinen Liebling“, erwiderte ihre Vater und drückte sie im nächsten Moment noch fester an sich. Zuneigung im Überfluss.

„Dad, bitte. Ich freue mich sehr über deine grenzenlose Zuneigung. Aber ich bin kein kleines Kind mehr.“

„Selbstverständlich. Manchmal vergesse ich das“, antwortete Lynn Senior und gab Lori endlich wieder frei, bevor er sich dann an seinen Sohn wandte:

„Ich habe gehört, du hast mit Lori eine Runde Minigolf gespielt. Hattest du Spaß?“

„Ehrlich gesagt ja, sehr viel Spaß sogar. Aber kann ich euch etwas fragen?“

„Sicher doch. Um was geht es?“, erkundigte sich seine Mutter. Es war schön zu sehen, das Lincoln sich mit Lori so prächtig verstand. In der Vergangenheit war das leider nicht immer der Fall gewesen.

„Wie ihr sicher wisst, hat mir Clyde zu meinem Geburtstag zwei Karten für eine Zaubershow in Great Lake City geschenkt. Eigentlich wollte ich mit Ronnie Anne dort hingehen, doch sie hat abgesagt. Ich wollte fragen, ob ich stattdessen Lilly mitnehmen könnte?“
 

„Lilly?“, fragte sein Vater erstaunt. „Warum ausgerechnet sie?"

„Kommt nicht in Frage, junger Mann. Ich finde dafür ist sie noch zu jung“, meinte seiner Mutter streng. Enttäuscht senkte er seinen Kopf. Ein Umstand, der von Rita selbstverständlich bemerkt wurde. Vielleicht war sie etwas zu Harsch gewesen.

„Es ist nicht so, dass wir dir nicht vertrauen würden, Lincoln, aber mir ist unwohl dabei“, fügte sie darum mit deutlich milderem Ton hinzu. Es wurde wohl Zeit für Plan B.

„Ach kommt schon, Mom und Dad… Erlaubt es ihm doch. Ich werde die beiden auch begleiten. Morgen wollte ich ohnehin Bobby besuchen. Wir bleiben auch in Lillys und Lincolns Nähe, versprochen. Gegenüber des Stadttheaters, wo die Zaubershow stattfinden soll, steht ein Kino. Bobby und ich wollten uns dort einen Film ansehen. Sollte also etwas passieren, bin ich schnell zur Stelle. Aber es wird ohnehin nichts passieren, weil Lincoln bestimmt alles im Griff haben wird“, warf Lori in die versammelte Runde. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihren Bruder den Rücken zu stärken. Theatralisch lag sie ihren rechten Arm über seine Schultern und wuschelte ihm mit ihrer Linken durch die Haare

„Nicht wahr, kleiner Bruder?“, fügte sie noch hinzu, um ihren Worten mehr Gewicht zu geben. Lincoln war so froh über ihren Rückhalt, dass er sogar versäumte, sich zu beschweren.
 

„Na schön. Wenn du die beiden begleitest spricht eigentlich wenig dagegen“, gab Rita am Ende dann doch nach. Dieser Geschwisterzusammenhalt hatte sie überzeugt.

Loris und Lincolns Mundwinkel zogen sich sogleich nach oben. Der Plan, den sie heute Nachmittag gefasst hatten, schien perfekt zu funktionieren. Doch dann meinte ihre Mutter:

„Aber nur unter einer Bedingung: Nach der Show fährt ihr sofort wieder nachhause. Ich mag die Casagrandes sehr, doch Lilly möchte ich lieber nicht bei ihnen übernachten lassen. Tut mir echt Leid, Lincoln. Ich bin mir sicher, du hättest gerne Ronnie Anne besucht, und auch für dich Lori. Aber entweder so oder Lilly bleibt zuhause.“

„Meinetwegen, Mom. Doch dann sind wir trotzdem kaum vor Mitternacht wieder in Royal Woods.“ Lori gab sich mit dieser Bedingung zufrieden und auch Lincoln schien wenig dagegen zu haben.

„Das ist mir natürlich bewusst. Aber mir und eurem Vater ist es so lieber. Vorausgesetzt natürlich, Lilly möchte überhaupt mit in die Stadt.“ Rita war froh darüber, dass Lori und Lincoln so schnell klein bei gegeben hatten. So hatte sie sich unnötige Diskussionen erspart.

„Danke... Ich frage sie gleich“, antwortete Lincoln und stürmte im nächsten Moment aus der Küche.

„Lilly ist im Wohnzimmer, bei Lana und Lola!“, rief Rita ihrem Sohn noch hinterher. Sie hätte es kaum für möglich gehalten, dass sich Lincoln so über ihre Erlaubnis freuen würde.

„Alles klar“, hörte sie seine Stimme von draußen. Rita schüttelte kurz mit ihrem Kopf und wandte sich sodann wieder an ihre Tochter:

„Wie läuft es auf dem College. Immerhin ist das schon dein letztes Jahr. Wie schnell doch die Zeit vergeht.“

„Im Großen und Ganzen eigentlich sehr gut…“ antwortete Lori, bevor sie damit begann, ihren Eltern etwas über ihre Zeit dort zu erzählen.
 

Unterdessen war Lincoln bereits im Wohnzimmer angekommen und hörte sogleich, dass sich Lana und Lola immer noch nicht geeinigt hatten. Offensichtlich war wieder seine Anwesenheit von Nöten, um den unnötigen Zank zu beenden.

„Aber ich habe mehr Geld!“, meinte Lola ungehalten.

„Und ich habe mehr Häuser“, erwiderte Lana unbeeindruckt. Lilly hingegen saß auf der Couch und spielte mit ihren Plüschtieren, ohne sich großartig an ihren beiden Schwestern zu stören.

Verzweifelt schüttelte Lincoln mit seinem Kopf und ging dann auf die Zwillinge zu. So albern Loris Theorie sich auch für ihn anhörte. Vielleicht steckte doch ein Fünkchen Wahrheit dahinter.

„Was ist denn hier schon wieder los?“, erkundigte er sich bei Lana und Lola. Bisher hatte sich Lilly wenig für ihre beiden Geschwister interessiert, als sie aber seine Stimme hörte, wurde sie doch neugierig und wandte sich sodann den dreien zu, um unbemerkt zu lauschen.

„Lana will sich nicht eingestehen, dass sie verloren hat!“, verteidigte sich Lola lautstark.

„Weil ich verdammt noch mal gewonnen habe!“, keifte Lana zurück.

„Lana, hier wird nicht geflucht“, weißte Lincoln seine jüngere Schwester eindringlich zurecht.

„Entschuldigung“, antwortete Lana beschämt. Plötzlich war sie ganz kleinlaut geworden.

Auf Lolas Lippen hingegen, zeichnete sich ein schmales Lächeln ab. Diesmal hatte es Lana alleine erwischt. Resigniert atmete Lincoln aus und sagte dann:
 

„Schon gut… Lasst mich mal sehen, damit dieser unnötige Zank eine Ende findet.“ Zügig ging Lincoln zum Tisch hinüber und studierte das Spielbrett eindringlich.

„Tut mir echt Leid, Lola, aber so wie es aussieht, hat tatsächlich Lana das Spiel gewonnen. Geld alleine reicht nicht um dir den Sieg zu sichern. Das Gesamtkapital ist auschlaggebend, und davon hat Lana nun mal mehr.“ Hoffentlich hatte das Ganze damit ein Ende.

„Na also... Habe ich doch gesagt“, ergriff Lana das Wort. Sie freute sich sehr über Lincolns Rückhalt.

„Wieso stehst du eigentlich immer auf Lanas Seite?“, erkundigte sich Lola leicht gereizt. Jedes Mal war es dasselbe. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und drehte ihrem Kopf zur Seite. Wie sehr sie das doch hasste. Immer Lana hier und Lana da.

„Lola, wie oft denn noch: Ich stehe auf niemandes Seite. So sind nun mal dir Regeln des Spiels.“ Wie oft er sich das schon anhören musste? Hatte er vorhin nicht Lana zurechtgewiesen? Wie kam Lola nur immer darauf? Manchmal tat er sich schwer, sie zu verstehen.

„Dann sind die Regel eben doof“, erwiderte Lola eingeschnappt.

„Wenn du meinst“, antwortete Lincoln, der Diskussion müde geworden, und wandte sich dann an Lilly:

„Sag, Lilly. Hast du Lust, morgen mit mir und Lori in die Stadt zu fahren?“

Lana und Lola wirkten gleichermaßen erstaunt und Lilly grinste über beide Ohren. Fröhlich lief Lilly auf Lincoln zu und legte ihre Arme um seine Beine. Mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihm auf.

„Total gerne“, antwortete sie überglücklich. Endlich hatte sie ihren großen Bruder auch mal für sich alleine, von Lori abgesehen, doch die möchte bestimmt etwas anderes unternehmen, als den lieben langen Tag auf sie und Lincoln aufzupassen.

„Super. Ich habe nämlich zufällig noch eine Karte für eine Zaubershow übrig. Morgen nach dem Mittagessen fahren wir los. Geht das in Ordnung für dich?“
 

„Einen Moment mal, warum fragst du Lilly und nicht mich?“, erkundigte sich Lola bei ihren Bruder. Das wäre ihre Chance gewesen, ihm zu zeigen, dass er auch mit ihr Spaß haben konnte. Und was tat er stattdessen? Er fragte ausgerechnet Lilly.

„Seit wann interessierst du dich für Zaubershows?“, erkundigte sich Lincoln misstrauisch. Was störte Lola denn jetzt wieder? Es war kaum zwei Wochen her, da hatte sie knallhart zu ihm gesagt: Zauberei sei uninteressant und langweilig… Nichts womit sie etwas anfangen konnte.

„Haha… Jetzt hat er dich erwischt“, warf Lana in die Runde. Was auch immer Lolas Absicht gewesen war, Lincoln hatte ihren Plan bereits im Vorfeld vereitelt.

„Ach… Sei doch still“, erwiderte Lola schlecht gelaunt. Erst schlug Lincoln sich auf Lanas Seite und dann bevorzugte er Lilly. Konnte dieser Abend noch schlimmer werden?

„Lana… Bitte“, sagte Lincoln streng. Er wollte nicht schon wieder einen Streit schlichten müssen.

„Was denn? Ich habe doch gar nichts gemacht“, verteidigte sich Lana. Sie hatte nur ausgesprochen, was der Wahrheit entsprach. Warum also, stuzte ihr Bruder sie dann zurecht?

„Nichts“, war seine knappe Antwort. Allmählich war er diese ewige Zankerei leid, doch das hinderte ihn nicht daran, sich erneut mit Lilly zu befassen. Schnell ging er in die Knie, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein und sagte:

„Echt toll, dass du mitkommen möchtest. Das wird dir bestimmt gefallen.“

„Ganz bestimmt sogar. Immerhin habe ich dich dann den ganzen Nachmittag für mich alleine“, antwortete Lilly gut gelaunt. Lolas und Lanas eifersüchtige Blicke gingen unbemerkt an ihr vorbei.

„So kann man es natürlich auch sehen.“ Ein gutmütiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Er legte seine rechte Hand auf ihrem Kopf und wuschelte Lilly liebevoll durch die Haare. Ganz so, wie Lori es keine zehn Minuten zuvor, bei ihm gemacht hatte.

„Lass das“, meinte Lilly gespielt eingeschnappt. Augenblicklich ließ Lincoln von seiner Schwester ab.

„Das darf nur Dad“, fügte sie sodann gut gelaunt hinzu.

„Echt. Nur Dad… Findest du das nicht etwas unfair?“, erkundigte er sich spielerisch bei Lilly.

„Nein… Warum auch“, antwortete sie frech. Erneut zeichnete sich ein Lächeln in seinem Gesicht ab. Lilly schien Loris Schlagfertigkeit für sich entdeckt zu haben.

„Alles klar. Das merke ich mir.“ Sowohl Lincoln als auch Lilly grinsten erheitert vor sich hin, ehe er sich wieder erhob.

„Okay ihr drei. Ich gehe nach oben in mein Zimmer, versucht bitte, wenigstens bis zum Abendessen keinen neuen Streit anzuzetteln.“ Lola und Lana sahen schuldbewusst zu Boden, Lilly hingegen meinte nur:

„Was heißt hier bitte, ihr drei. Ich habe mich den ganzen Tag lang nicht gestritten… Mit niemanden.“

„Freut mich zu hören“, sagte er zum Abschied und steuerte sodann auf die Treppe nach oben zu.
 

Kaum war Lincoln aus ihrem Blickfeld verschwunden, wollte Lana ihm auch schon hinterher, doch Lola hielt sie zurück:

„He warte! Hilf mir gefälligst beim Wegräumen!“

„Bitte, Lola nur kurz. Ich muss ganz dringend auf die Toilette“, log Lana ihrer Zwillingschwester ins Gesicht. Um ihrer Ausrede mehr Gewicht zu geben, drückte sie ihre Oberschenkel fest gegeneinander.

„Meinetwegen… Du hast fünf Minuten. Keine mehr, keine weniger. Verstanden?“, antwortete ihr Lola. Lanas Scharade war ein voller Erfolg gewesen.

„Danke. Ich mache auch so schnell ich kann“, sagte Lana noch, doch Lola winkte mit einer halbherzigen Handbewegung ab. Scheinbar hatte sie sich soeben damit abgefunden.

Unterdessen war Lincoln bereits bei seinem Zimmer angekommen. Das Erste, was er bemerkte war, dass seine Zimmertür einen Spalt weit geöffnet war. Was ihm seltsam vorgekommen war, weil er ganz sicher abgeschlossen hatte. Das Zweite, was er bemerkte, war sein Zweitschlüssel, der noch im Schloss steckte. Allmählich machte sich die Panik in ihm bemerkbar. Jemand war in seinem Zimmer gewesen, doch wer? Hoffentlich war sein Geheimprojekt noch an Ort und Stelle.

„Lincoln“, hörte er plötzlich Lanas Stimme von hinten. Kreidebleich drehte er sich zu ihr.

„Entschuldigung... Ich wollte dich nicht erschrecken“, beteuerte Lana, als sie schließlich sein Gesicht sehen konnte. Was war mit ihrem Bruder los? Sollte sie sich Sorgen machen?

„Ist schon gut… Was gibt es?“, erkundigte sich Lincoln. Fest war er um einen natürlichen Ton bemüht.

„Oh. Na dann… Ich habe vorhin vergessen, dir zu sagen, dass sich Lola heute Nachmittag in dein Zimmer geschlichen und irgendetwas daraus mitgenommen hat. Ich weiß jedoch nicht, was genau.“
 

Mit vielen hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass ihr Bruder im nächsten Moment voller Panik in sein Zimmer rennen würde. Vorsichtig ging Lana ihm nach. Sein Verhalten besorgte sie zunehmend. Als sie sein Reich schließlich betreten hatte, hatte Lincoln bereits seine Matratze angehoben. Lana wusste nicht warum, aber sie sah schemenhaft etwas auf dem Gitterrost liegen, konnte aber schwer sagen, um was genau es sich handeln könnte.

„So ein Glück. Es ist noch da“, hörte sie ihren Bruder sagen. Offensichtlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihm gefolgt war. Jetzt wurde Lana doch ein klein wenig neugierig.

„Was ist noch da?“, wollte sie im nächsten Moment von ihrem Bruder wissen. Schneller als sie blinzeln konnte, ließ Lincoln seine Matratze wieder fallen. Wollte er etwas von ihr verheimlichen?

Leicht errötete Lana. Hoffentlich waren es keine Schmuddel-Heftchen, wie die, die sie neulich in der Garage gefunden hat, als sie nach einem geeigneten Werkzeug zum Räderwechseln gesucht hatte. Da sie alt und abgegriffen wirkten, hatten sie bestimmt ihren Vater gehört, doch eigentlich wollte sie ungern daran zurückdenken. Ihr Bruder durfte nicht auch so sein.

„Nichts Wichtiges.“ Es war schwer zu übersehen, dass er wenig geneigt dazu war, darüber zu reden, und ihr sollte es Recht sein. Lana wollte ihm nicht zu nahe treten. Sie war eben das genau Gegenteil von Lola. Und vielleicht war es besser, dass ihr die Wahrheit unbekannt blieb.

„Wenn es fertig ist, zeige ich es dir… Einverstanden?“

Lana konnte zwar unmöglich sagen, warum Lincoln jetzt doch über sein Geheimnis sprach, aber sie freute sich darüber, und war zudem unheimlich erleichtert. Wenn er mit dem Gedanken spielte, es ihr zeigen zu wollen, dann konnte es sich wohl kaum um Schmuddel-Heftchen handeln. Ihr Bild von ihren Bruder war gerettet.

„Danke im jeden Fall für deine Hilfe, den fiesen Einbrecher zu entlarven. Nach dem Abendessen rede ich mit Lola.“

Wie aufs Stichwort hörten sie sogleich ihren Vater rufen, dass das Essen fertig und bereits auf dem Tisch stand. Er und die anderen sich also beeilen sollten, nach unten zu kommen.
 

Gegen halb acht Uhr abends klopfte Lincoln an Lanas und Lolas Tür. Nachdem Lola ihn hereingebeten hatte, betrat er schließlich das Zimmer der Zwillinge. Bis vor kurzem hatte er Lori und Luan beim Abwasch geholfen. Sein Vater war noch einmal in sein Restaurant gefahren und seine Mutter wollte in ihrem Schlafzimmer weiter an ihrem neuen Roman arbeiten. Damit Luan und Lori schneller fertig wurden, wollte er ihnen also helfen. Dabei war ihm schnell klar geworden, das Lori sich nur deshalb freiwillig zum Abwasch gemeldet hatte, weil sie Luan gerne aushorchen wollte, und diese heute Abend eben zufällig mit dem Abwasch beauftragt war. Ganz subtile und unverdächtig hatte sie sich nach Bennie erkundigt, wie es in der Schule lief, und wie gut es Luan mit ihrem Funny Business ging. Es war schon erstaunlich, wie hinterhältig Lori von Zeit zu Zeit sein konnte.

Als Lincoln den Plan seiner ältesten Schwester durchschaut hatte, wünschte er sich zunächst, seine innere Stimme ignoriert zu haben, und hoffte zudem inständig, nicht unwissend ihren Zorn auf sich geladen zu haben. Wer wusste schon, ob Luan über ihre Beziehungsprobleme sprechen wollte, wenn er dabei war. Ohne es zu wollen hatte er also Loris Plan gefährdet. Bei nicht Erfolg hätte sie ihn sicher zur Verantwortung gezogen. Doch wiedererwarten war Luan selbst in seiner Gegenwart überraschend ehrlich gewesen. So erfuhr er alles über den kleinen Streit, den sie mit Bennie gehabt hatte, und das der neue Comedy Club tatsächlich an ihr interessiert war. Schon morgen Abend würde sie die Chance haben, vor einem Livepublikum aufzutreten. Von Luans Durchhänger war plötzlich nichts mehr zu sehen gewesen. Während des Abwasches folgte ein schlechter Scherz den Anderen. Offensichtlich war Luan am Ende doch nur wegen der vorübergehenden Flaute ihres Herzensprojektes » Funny Business « niedergeschlagen gewesen. Ganz so, wie Lincoln es bereits von Beginn an vermutete hatte. Der Streit mit Bennie schien inzwischen auch geschlichtet zu sein.
 

„Hallo ihr beiden“, begann Lincoln ungezwungen. „Lana, kann ich bitte mit Lola alleine sprechen?“

Unweigerlich schluckte Lola. Was wollte ihr Bruder ausgerechnet von ihr? Hoffentlich war er ihr nicht auf die Schliche gekommen.

„Sicher… Warum nicht. Ich bin unten, wenn ihr mich braucht.“ Sie konnte sich im Gegensatz zu ihrer Schwester sehr wohl denken, was er von Lola möchte. Schnell verließ Lana ihr Zimmer und zog die Tür hinter sich in Schloss. Doch entgegen ihrer Aussage wartete sie stillschweigend vor der Zimmertür, um heimlich zu lauschen. Das war zwar unredlich gewesen, aber sie war neugierig; wollte wissen, was Lincoln ihrer Zwillingschwester alles zu sagen hatte.

„Ähm… Was gibt es, Lincoln?“ erkundigte sich Lola, nachdem Lana verschwunden war. Plötzlich wirkte sie außerordentlich nervös. Normalerweise wäre sie froh, Lincoln für sich allein zu haben. Doch heute, hier und jetzt war es ihr unangenehm.

„Kann es sein, dass du dich heute zufällig in mein Zimmer geschlichen hast?“ kam Lincoln sogleich auf dem Punkt. Er hatte keine Lust, lange um den heißen Brei herumzureden. Mit verschränkten Armen und strengen Blick wartete er auf ihre Antwort.

„Wer hat dir davon erzählt? Lucy, Lana?“ Reumütig sah Lola zu Boden, um den Blickkontakt mit ihren älteren Bruder zu meiden. Ihre Befürchtungen waren wahr geworden.

„Keine von beiden“, log Lincoln ihr mitten ins Gesicht. Hätte er das nicht getan wäre nachher sicher wieder ein Streit zwischen den Zwillingen entbrannt.

„Ich habe nur eins und eins zusammengezählt. Als ich heute Nachmittag das Haus verlassen habe, habe ich mein Zimmer fest abgeschlossen. Als ich dann aber wieder nach Hause gekommen bin, stand die Tür plötzlich offen, und seltsamerweise steckte auch noch der Schlüssel im Schloss, obwohl ich ihn hier in meiner Hosentasche habe.“

Schnell angelte Lincoln den fraglichen Schlüssel aus seiner rechten Hosentasche, um ihn seiner Schwester zu zeigen. Lola verfluchte sich innerlich selbst für ihre Dummheit. Warum nur, hatte sie versäumt, wieder abzuschließen und den Zweitschlüssel zurückzulegen?

„Aber wie kommst du ausgerechnet auf mich?“ Unlängst stand Lola der Angstschweiß im Gesicht. Das alles war so nicht geplant gewesen.

„Du hast es eben doch selbst zugegeben. Ich war fest entschlossen, auch die anderen zu fragen. Doch du hast mir die Sache überraschend einfach gemacht.“

„Verdammt noch mal“, antwortete Lola. Das hätte sie wirklich besser handhaben können. Sie war vorhin so nervös gewesen, dass sie sich selbst verraten hatte.

„Ach, Lola… Warum nur, machst du es mir so verdammt schwer. Ich verlange nur eine einzige Sache von euch: Mein Zimmer bitte nicht zu betreten, wenn ich außer Haus bin. Und erst recht nicht, wenn ich abgeschlossen habe. Kannst du mir nicht einmal diesen einfachen Gefallen tun?“

Schlagartig plagte Lola ein schlechtes Gewissen. Die Vorwurfsvolle Stimme ihres Bruders machte ihr zusätzlich zu schaffen. Das hatte sie gründlich verbockt.

„Kann ich jetzt bitte wieder zurückhaben, was du mitgehen hast lassen?“ folgte sogleich die nächste Frage.

„Du hast es bemerkt?“, erkundigte Lola sich geschockt. Einfach alles war schiefgelaufen.

„Ich habe nur wenig Zeug in meinem Zimmer, für mehr ist es verständlicherweise zu klein.“ Geschickt tänzelte Lincoln um die Wahrheit herum. Tatsächlich wäre ihm nicht aufgefallen, dass etwas fehlen könnte, doch Lana würde ihn wohl kaum anlügen, und Lola hatte es gerade selbst zugegeben.

„Bitte zwing mich nicht dazu“, antwortete Lola flehend. Sie wollte den peinlichen Comic von Lincoln und Ronnie Anne ungerne hergeben. Zumindest solange behalten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

„Lola… Ich versuche wirklich freundlich zu bleiben aber meine Geduld ist langsam am Ende. Also her damit“ erwiderte Lincoln streng. Nur mit großer Mühe konnte er seine Stimme im Zaum halten. Unwillkürlich schreckte Lola zurück. Plötzlich kam sie sich so klein vor.
 

„Okay“, sagte Lola eingeschüchtert. Unter anderen Umständen wäre sie bestimmt mutiger gewesen. Doch im Moment wollte sie nur, dass Lincoln nicht noch wütender wurde, als er ohnehin schon war.

Zögerlich ging sie hinüber zu ihren Kleiderschrank und kramte den kleinen Comic anschließend unter ihrer Unterwäsche hervor. Sie war sich sicher gewesen, dort hätte es niemand gefunden, geschweige denn, überhaupt danach gesucht. Als sie es hatte ging sie zurück zu ihren Bruder und hielt es ihm mit beiden Händen entgegen.

„Hier bitte… Tut mir echt leid“, entschuldigte sich Lola kleinlaut. Lincolns überraschtes Gesicht blieb ihr verborgen, da sie ihren Blick schuldbewusst Richtung Boden gerichtet hatte. Eigentlich war er sich sicher gewesen, dieses peinliche Comic, das er in Wissen über seine neu endeckten Gefühle für Ronnie Anne gezeichnet hatte, in den Papierkorb geworfen und verbrannt zu haben.

„Sei ehrlich… Was um alles in der Welt wolltest du damit?“, erkundigte sich Lincoln, nachdem er sein Eigentum von Lola zurückgenommen hatte.

„Ich wollte dich damit dazu bewegen, etwas mit mir alleine zu unternehmen. Hättest du dich geweigert oder Lana bevorzugt, wollte ich es Ronnie Anne schicken“, erklärte sich Lola reumütig.

„Zum letzten Mal, Lola… Ich bevorzuge niemanden.“

„Tust du wohl!“ Stille Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Lynn, Luna, Luan, Lucy, Lisa, Leni, Lilly und Lori. Mit allen anderen unternimmst du lieber etwas als mit mir. Und bei Lana ist es ganz besonders schlimm.“

Unlängst kullerten die ersten Tränen über ihre Wangen nach unten.

„Mit mir kannst du auch Spaß haben… Ehrlich. Aber du gibst mir nie die Chance dazu… Immer heißt es nur: Entschuldigung Lola, ich kann nicht, ich habe etwas mit Lynn vor. Tut mir echt leid, Leni will mit mir shoppen gehen. Später, Lola, versprochen. Luna will mir ihren neuen Song vorspielen. Jedes verdammte Mal vertröstest du mich, um dann doch nichts mit mir zu unternehmen. Das ist so richtig gemein von dir… Weist du das?“

Lolas verweinte Stimme alarmierte Lincoln. Das alles war viel zu schnell eskaliert. Hatte sie wirklich Recht? Ließ er sie eher hinter sich, als die anderen?

„Es ist total nett von dir, dass du mir bei meinen Wettbewerben hilfst. Doch ich möchte auch mal etwas anderes mit dir unternehmen… Mit dir herumalbern, dir bei deinen lächerlichen Plänen zur Seite stehen, oder einfach nur ein Spiel mit dir spielen.“

Lincoln verschlug es glatt die Sprache. Selten zuvor hatte er Lola so traurig und verletzt gesehen. Inzwischen waren ihre Worte nur noch schwer zu verstehen gewesen. Seine Schwester stand kurz vor einen Heulkrampf. Und er alleine war schuld daran.

„Bist du sehr wütend auf mich?“, fragte Lola undeutlich, während sie verzweifelt versuchte, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Doch es wollte nicht so recht funktionieren.

„Nein… Natürlich nicht“, antwortete Lincoln überraschend sanft.

„Doch es ärgert mich zu tiefst, dass ich dir offensichtlich nicht vertrauen kann.“ Schonungslose Ehrlichkeit war im Moment vielleicht unangebracht, geschweige denn überhaupt die richtige Lösung, doch er wollte sich mit Lola aussprechen. Selbst dann, wenn er sie am Ende noch heftiger verletzen sollte.
 

Lolas gesamter Körper bebte innerlich. Sie schlang ihre Arme um ihre Brust und setzte sich auf ihr Himmelbett. Was Lincoln ihr gerade gesagt hatte, erschütterte sie zu tiefst.

„Die Sache zwischen mir und Ronnie Anne ist schon schwierig genug. Das Letzte, was ich gebrauchen kann ist, das sie das hier zu Gesicht bekommt. Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mit dem Gedanken spielst, mich zu erpressen. Das ist unter aller Sau, Lola. Du hättest einfach mit mir reden können. So wie jetzt gerade. Es tut mir Leid, dass du denn Eindruck hast, ich würde unsere anderen Schwestern bevorzugen, doch kannst du mir das nach dieser Aktion wirklich verübeln.“

Unlängst weinte Lola heftig. Die Enttäuschung, der Schmerz und die Schuld, die sie gerade empfand, hatten sie gnadenlos überrumpelt.

„Bitte, Lincoln.“ Lautstark schniefte Lola.

Besorgt betrachtete Lincoln seine jüngere Schwester. War er am Ende doch zu weit gegangen?

„Es tut mir echt leid.“ Wieder versuchte sie vergeblich, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

„Ich mache es wieder gut… Fest versprochen.“ Krampfhaft fuhr Lola sich mit ihren Händen durchs Gesicht. Sie versuchte alles, doch nichts wollte klappen. Sie konnte unmöglich aufhören zu weinen.

„Nur bitte… Lola unterbrach sich selbst. Die Undeutlichkeit ihrer Worte war ihr aufgefallen.

„Bitte… Gib mir noch eine Chance.“

Bevor es noch schlimmer wurde, kniete sich Lincoln vor Lola auf den Boden. Der Grund für das alles hier, sein Comic, legte er mangels Alternativen neben sich, bevor er seine Handflächen liebevoll auf Lolas Schultern platziert.

„Lola… Bitte beruhige dich. Darf ich dir einen Vorschlag unterbreiten?“

„Einen Vorschlag?“ Erneut schniefte Lola heftig, doch Lincolns sanfte Stimme wirkte positiv auf ihre Verfassung. Sie spürte, wie ein großes Gewicht von ihren Herzen fiel.

„Genau… Einen Vorschlag. Die Sache mit verspielten Vertrauen ist die, man kann es zurückgewinnen.“ Lola wurde hellhörig. Ihre Tränen kamen allmählich zum Erliegen. Wollte ihr Lincoln wirklich noch eine zweite Chance geben?

„Morgen habe ich keine Zeit. Wie du weist fahre ich mit Lilly in die Stadt, und sie freut sich schon so sehr darauf. Doch Sonntags unternehmen wir beide etwas zusammen. Nur du und ich, ganz egal was du auch möchtest.“

Lola konnte ihr Glück kaum fassen. „Fest versprochen?“, fragte sie hoffnungsvoll. Endlich waren ihre Tränen versiegt.

„Fest versprochen… Allerdings nur unter einer Bedingung: Du schleichst dich nie wieder heimlich in mein Zimmer und fasst niemals wieder ungefragt meine Sachen an… Geht das in Ordnung für dich?“

Überglücklich nickte Lola mit ihrem Kopf. Im Moment versagte ihre Stimme grundlegend.

„Gut…“ Langsam nahm Lincoln seine Hände von ihren Schultern. Im nächsten Moment hatte sich Lola bereits in seine Arme geworfen. Fest umarmte sie ihren älteren Bruder, der nicht lange zögerte und es Lola gleichtat. Letztendlich war also alles wieder gut geworden. Genauso, wie immer.
 

Keiner von ihnen bemerkte die geöffnete Tür. Missmutig beobachtete Lana ihre beiden Geschwister. Zunächst hatte sie Lolas Heulkrampf durchaus beunruhigt. Obwohl sie das ganze Gespräch mehr oder weniger deutlich verstanden hatte, und Lincoln ihrer Meinung nach keinerlei Schuld traf, war sie zunächst etwas wütende auf ihn gewesen. Immerhin hatte er ihre Zwillingschwester zum Heulen gebracht, doch nun nagte die Eifersucht an ihr. Es war so unfair. Lola verbockt es gnadenlos und wird am Ende sogar noch dafür belohnt. Das sich Lincoln und Lola plötzlich besser verstanden, als jemals zuvor, hatte sie eigentlich nicht erreichen wollen.

Stadtgeflüster

Am nächsten Tag war es dann soweit. Kurz nach zwei Uhr nachmittags machten sich Lori, Lincoln und Lilly auf den Weg in die Stadt. Nach gut drei Stunden Fahrt waren sie auch schon dort. Die Autofahrt verlief relativ ereignislos. Um Lilly dennoch ein wenig zu unterhalten spielte Lincoln ein paar Spiele mit ihr, wie etwa Straßenbingo und ich sehe was, was du nicht siehst. So einfach gestrickt diese auch waren, Lilly hatte ihren Spaß daran gehabt. Nicht ein einziges Mal hörte Lori sie fragen, wann sie denn endlich da wären. Lincoln hatte seinen Job ganz hervorragend gemacht.
 

„So… Da wären wir endlich“, meinte Lori, als sie ihr Ziel schließlich erreicht hatten.

Vor diesem Kino wollte sie sich mit Bobby treffen. Kurzerhand parkte sie ihren Wagen auf einen freien Parkplatz davor und stieg sodann aus diesen. Hoffnungsvoll sah sie sich um, doch von ihren Freund fehlte noch jede Spur. Offensichtlich verspätete er sich. Der Film, den sie sehen wollten, lief in gut zwanzig Minuten an. Um noch gute Plätze zu erwischen sollten sie sich allmählich beeilen. Gegenüber, auf der anderen Seite des Stadtplatzes, stand das Stadttheater in voller Pracht. Reich vergoldete Wände, eine große Kuppel als Dach und große Türen und Fenster. Dort sollte Lincolns und Lillys Zaubershow stattfinden.

„Ja… Freiheit!“, rief Lilly gut gelaunt aus, kurz nachdem sie aus dem Wagen gestiegen war. Sie hatte zwar nicht genörgelt aber auch sie war froh, dass diese lange Fahrt endlich ein Ende gefunden hatte.

Begeistert sah sie sich um. Das letzte Mal, als sie in der Stadt gewesen war, war sie noch ein kleines Kind. Kaum zwei Jahre alt, wenn sie Lincoln und ihren anderen Schwestern trauen konnte. Entsprechend wenig kam ihr bekannt vor. Alles war so schön aufregend neu für sie. Nie zuvor hatte sie so viele Menschen auf einem Blick gesehen. Die Häuser um sie herum drängten sich dicht an dicht. Das Kino, das Lori besuchen wollte, wirkte von seinen Nachbarn fast schon eingeengt. Das Stadttheater auf der anderen Seite sah da schon deutlich offener und einladender aus.

„Toll... Nicht wahr?“, fragte Lincoln seine jüngere Schwester, die sich nach wie vor mit ungebremster Aufmerksamkeit umsah, als auch er aus dem Wagen gestiegen war. Doch Lilly blieb ihm eine Antwort schuldig. Einzig und alleine ein stummes Nicken war zu erkennen gewesen. Gerade haftete ihr Blick an einem offenen Springbrunnen zu ihrer Linken, der ihr scheinbar die Sprache verschlagen hatte. Kein Wunder so schön, wie das Wasser darin erleuchtete wurde.
 

„Laut Ronnie Anne ist das ein beliebter Platz für Jugendliche aller Altersgruppen. Hier gibt es alles was man sich wünscht an einem Ort.“ Selbst dann, wenn Lilly ihn im Moment nur mit einen halben Ohr zuhören sollte, wollte er ihr das noch sagen.

Überall in der Nähe standen kleine Geschäfte. Eine Bäckerei Rechts von ihnen. Ein Schuladen direkt daneben. Keine zwei Häuser weiter eine kleine Bücherei, und wenig später ein Spielzeugladen. Ein Schmuckgeschäft, ein Lebensmittelmarkt und selbst ein kleines Fitnessstudio konnte man von ihren Parkplatz aus noch gut erkennen. Eine willkommene Abwechslung zu den großen Einkaufszentren außerhalb der Stadt.

„Aber die Zaubershow wird noch besser… Fest versprochen“, fügte er etwas später noch hinzu. Lilly schenkte ihm allerdings auch weiterhin keine Aufmerksamkeit. Zu geblendet war sie von den vielen Eindrücken um sie herum. Unlängst beobachtete sie eine kleine Gruppe Straßenkünstler bei ihrer Vorstellung. Lincoln zuckte mit den Schultern und wandte sich dann an Lori:

„Wie geht es jetzt eigentlich weiter?“

„Genau wie abgemacht. Sollte etwas passieren findest du mich hier zusammen mit Bobby. Du kannst mich aber auch jederzeit anrufen. Ich lasse mein Handy eingeschalten. Unser Film endet allerdings etwas früher als eure Zaubershow. Eine Straße weiter ist ein Restaurant. Dort warten Bobby und ich dann auf euch. Du kannst es kaum verfehlen. Es ist das einzige Italienische Restaurant in der Nähe und ist gut ausgeschildert. Lorenzos Spezialitäten nennt es sich.“

„Danke, Lori. Ich denke, ich werde es finden“, antwortete Lincoln, bevor er unerwartet ein bekanntes Gesicht zu seiner Linken erblickt hatte. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Kannst du bitte kurz auf Lilly achten? Ich denke ich habe Sid gesehen.“

„Sicher doch. Beeil dich aber, Bobby ist bestimmt bald hier“, erwiderte Lori, bevor sie sich zu ihrer kleinen Schwester begab, die weiterhin begeistert die Straßenkünstler beobachtete: Eine Gruppe Breakdancer, die im Moment nicht nur Lillys Aufmerksamkeit fesselten.

„Versprochen“, rief Lincoln seiner Schwester noch hinterher. Zielsicher steuerte er auf Sid zu, die scheinbar das Kino besuchen wollte. Seltsam. Eigentlich dachte er, sie würde sich mit Ronnie Anne zusammen ein Wrestling-Match ansehen. Was machte sie also ausgerechnet hier?
 

Es dauerte nicht lange und Lincoln hatte sie erreicht. Ronnie Annes beste Freundin sah sich gerade ein Filmplakat an. Wie üblich trug sie ihre schulterlangen, braunen Haare offen.

„Hallo, Sid… Was für ein Zufall. Was machst du denn hier?“, sprach Lincoln sie von der Seite an. Überrascht drehte sie sich zu ihm und war erstaunt, Ronnie Annes langjährigen Freund hier zu sehen.

„He, Lincoln. Lange nicht mehr gesehen. Heute läuft ein Filmmarathon in diesem Kino. Die drei Teile meiner Lieblings Horrorparodie an einem Stück. So zu sagen, als Warm-up für Halloween, das wollte ich mir nicht entgehen lassen“, antwortete Sid frei heraus. Lincoln Gesicht erstarrte schlagartig. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten.

„Ist Ronnie Anne auch in der Nähe?“, erkundigte er sich hoffnungsvoll. Er klammerte sich an den letzten Strohhalm, den er hatte greifen können. Vielleicht hatten Sid und Ronnie Anne ihre Pläne für heute Abend ändern müssen, weil irgendetwas passiert war.

„Tut mir echt leid. Ich kann mir vorstellen, dass du sie gerne gesehen hättest, aber leider nein. Ich hab sie gefragt, ob sie mitkommen möchte. Schon vor einer Woche, doch sie hat abgesagt. Heute läuft ein Rerun ihrer Lieblingstelenovela – Anna Ronalda, glaube ich –, den wollte sie sich ansehen.“

Sämtliche Farbe verabschiedete sich aus seinem Gesicht. Hatte Ronnie Anne ihn wirklich angelogen?

„Ich dachte, ihr wolltet euch gemeinsam ein Wrestling-Match ansehen, hattes du nicht Karten dafür?“ Er hoffte inständig, Sids Antwort würde sich irgendwie mit dieser Geschichte decken, doch insgeheim glaubte er längst nicht mehr daran.

„Wie kommst du denn darauf? Nein, wollten wir nicht. Weder hatte ich Karten für ein Wrestling-Match, noch waren wir für heute Abend verabredet.“ Nun war Sid völlig verwirrt.

Eine einzelne Träne kullerte aus seinen Augen. Ronnie Anne hatte ihn also tatsächlich angelogen. Er hatte diesen Verdacht zwar schon lange, doch insgeheim hatte er gehofft, es war nicht mehr als das: Ein alberner Verdacht. Am besten ein unbegründeter. Warum erfand Ronnie Anne bitte diese Geschichte mit Sid, wenn sie einfach sagen hätte können, dass ihr Samstagabend mit einer Serie verplant war?
 

„He, Mann… Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Sid. Lincolns trauriges und zu tiefst verletztes Gesicht besorgte sie sichtlich. Hatte sie irgendetwas Falsches gesagt?

Zügig wischte sich Lincoln die Tränen aus dem Gesicht und antwortete: „Ja… Alles in Ordnung. Ich hatte nur etwas im Auge.“

Skeptisch beobachtete Sid ihn. So recht konnte sie ihm das nicht glauben. Doch ehe sie etwas sagen konnte rief jemand nach ihm: „He, Lincoln! Was dauert denn da solange?“

Wenig später stand Lori neben ihren Bruder und begrüßte Sid herzlich, die den Gruß erwiderte:

„Hallo, Lori… Was machst du denn hier?“ Sie kannte Lori ganz gut, war sie doch die Freundin von Ronnie Annes älteren Bruder. Eigentlich konnte Sid nichts Schlechtes über sie sagen, wenn auch ihres und Bobbys Verhalten manchmal zum fremdschämen war. Verliebt schön und gut, doch diese Beiden hoben das Ganze regelmäßig auf unbekannte Höhen. Die ominöse Wolke sieben hatten Lori und Bobby bestimmt schon vor langer Zeit überflügelt.

„Ich möchte mir mit Bobby einen Film ansehen und Lincoln besucht mit Lilly eine Zaubershow.“

„Verstehe… Darum seid ihr beide in der Stadt. Dann will ich euch nicht länger aufhalten.“

Kaum hatte sie das gesagt, drehte Sid ihnen den Rücken zu. Gerade wollte sie das Kino betreten, da hörte sie Loris besorgte Stimme fragen: „Was ist los, Lincoln? Hast du etwa geweint?“

„Nichts… Es ist nur. Ronnie Anne hat mich gestern angelogen.“

Sid wurde hellhörig, das klang so gar nicht nach ihrer Freundin. Bestimmt hatte Lincoln da etwas falsch verstanden.

„Eigentlich sollte sie mit Sid zusammen in der Arena von Great Lake City sein, doch scheinbar ist sie zuhause. Sie hat wohl doch genug von mir.“

Geschockt über dieser Nachricht, warf Sid einen heimlich Schulterblick in Richtung der beiden Geschwister. Traurig hatte Lincoln den Kopf gesenkt. Alle zwei hatten ihr unlängst den Rücken zugedreht und wussten wohl nicht, dass sie belauscht wurden. Gerade wollte Lori etwas sagen, da kam Bobby mit Lilly im Schlepptau zu ihnen. Lori hatte kurzer Hand ihren Freund darum gebeten, eine Weile auf ihre Schwester zu achten, während sie nach Lincoln sehen wollte. Bereits von Weiten grüßte ihn Lilly liebevoll. Eine Geste die seine Mundwinkel nach oben wandern ließ.
 

„Hör zu, Lincoln… Wenn du darüber reden möchtest…“

„Bitte, Lori. Lass gut sein“, feil ihr Lincolns überraschend ins Wort. Er wusste, was seine Schwester noch sagen wollten, doch war gerade nicht in Stimmung dafür.

„Ich habe Lilly einen schönen Abend versprochen. Und den möchte ich ihr auch geben. Schnell hob Lincoln seinen Kopf, setzte ein Lächeln auf und meinte zu Lilly:

„Na... Bereit für das Abenteuer deines Lebens?“

„Und wie. Ich dachte schon, du lässt mich sitzen“, antwortete Lilly gut gelaunt.

„Das würde ich niemals tun“, erwiderte Lincoln spielerisch. Seine derzeitige Gefühlsverfassung verbarg er meisterhaft vor Lilly. Das war nicht das erst mal, dass Lori das aufgefallen war. Wenn er wollte konnte Lincoln seine Gefühle überraschend gut verbergen. Zumindest vor seinen jüngeren Schwestern. Seine Älteren hatten allerdings mehr Lebenserfahrung, darum funktionierte das bei ihr, Luna, Luan und Lynn weniger gut. Man könnte meinen, Leni war eine Ausnahme, doch auch diese hatte eine überraschend ausgebregt Empathie für ihre Geschwister, hörte allerdings mehr auf deren Wünsche. Wenn sie schweigen wollten, zwang Leni sie nicht zum reden. Keinen einzigen von ihnen.

Frech grinste Lilly ihm entgegen, als sie unerwartet ein Mädchen in Lincolns Alter hinter ihm bemerkte, die an ihren Bruder, ihr selbst und Lori interessiert zu sein schien.

„Hallo…“ ungestüm winkte Lilly mit ihren Armen, um das fremde Mädchen auf sich Aufmerksam zu machen. „Bist du vielleicht eine Freundin von meinem Bruder?“

Schnell drehten sich Lori und Lincoln wieder zu ihr, doch ehe sie etwas sagen konnten, hatte Sid bereits das Weite gesucht. Sie wollte ungern in Erklärungsnot geraten und wählte darum die Flucht.
 

„Oh“, meinte Lilly traurig. „Sie hat mich wohl nicht gehört.“

„Mach dir nichts daraus. Das war nur Sid. Eine Freundin von Ronnie Anne.“ Nur Lori bemerkte den traurigen Unterton in seiner Stimme. Was war nur mit Bobbys Schwester los? Lincoln war sicher nicht perfekt, aber dass sie ihn so behandelte, hatte er wirklich nicht verdient. Fest nahm Lori sich vor, mit Bobby über Ronnie Anne zu sprechen.

„Verstehe… Eine Freundin deiner Freundin also?“, erkundigte sich Lilly unschuldig.

„Ganz genau. Komm wir gehen. Bald beginnt die Show und wir wollen doch Nichts davon verpassen.“

„Nein wollen wir nicht.“ Lilly lief zu ihren Bruder hinüber und verschränkte ihre Linke sogleich mit seiner Rechten, um sodann leicht daran zu ziehen. Sie wollte endlich ins Theater.

„Also dann. Lori, Bobby, viel Spaß bei eurem Date.“ Lilly kicherte leise vor sich hin. „Wir sehen uns später.“

„Danke… Den werden wir habe. Das gleiche gilt aber euch für euch. Viel Spaß bei der Show und pass gut auf Lilly auf, Lincoln“, verabschiedete sich Lori von ihren jüngeren Geschwistern.

„Immer doch“, antwortete Lincoln noch und setzte sich mit Lilly zusammen in Bewegung. Kurz darauf waren sie in der Menschenmenge verschwunden. Scheinbar war die Zaubershow erfolgreicher, als Lori gedacht hätte. Seit ihrer Ankunft hat sich die Menschenmenge um sie herum vervielfacht. Und nicht wenige schienen dasselbe Ziel wie Lincoln zu haben.
 

„Wir sollten auch allmählich los“, ergriff Bobby das Wort und fasste nach Loris Hand. Mit Freuden verschränkte sie ihre Finger mit seinen. „Bist du sicher, dass ihr nicht über Nacht bleiben wollt?“

„Ja… Mom war da sehr deutlich. Entweder wir fahren nach der Show sofort wieder nach Hause oder Lilly bleibt in Royal Woods. Eigentlich hätte ich also unser Abendessen absagen müssen. Doch was meine Mom nicht weiss, macht sie nicht heiß.“

„Schade... Ronnie Anne hätte sich bestimmt darüber gefreut.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Scheinbar will sie Lincoln im Moment nicht um sich haben. Aus welchen Gründen auch immer. Weißt du vielleicht mehr darüber?“

„Was?“, fragte ihr Freund erstaunt. „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Sie freut sich doch jedes Mal so sehr darüber, wenn er sich bei ihr Meldet.“

„Seltsam... Im jeden Fall hat sie Lincoln gestern angelogen. Und wenn ich mich nicht furchtbar irre, war das nicht das erste Mal in den letzten Monaten. Du hättest ihn vorhin sehen sollen. Bestimmt war es nur Lilly zu verdanken, dass er nicht auf der Stelle zu weinen begonnen hat. Manchmal kann er sehr sensibel sein. Ich habe ihn selten so traurig und verletzt gesehen.“

„Echt? Tut mir leid, das zu hören, aber ich weiß nicht, was mit ihr los sein könnte. Es wirkt auch nicht so, als ob Ronnie Anne sauer auf Lincoln wäre. Was auch immer mit ihr los ist. Ich bin mir sicher, dass legt sich wieder. Um lange auf ihn sauer zu sein, mag sie ihn eindeutig zu sehr.“

„Hoffentlich. Ihr Verhalten ist im jeden Fall alles andere als fair, um nicht zusagen, fast schon kindisch. Aber lassen wir das für heute. Wir verpassen noch unseren Film.“

Lori schloss somit, das aktuelle Thema. Egal wie sauer sie im Moment auf Ronnie Anne war, sie wollte diese Diskussion ungern weiter vertiefen, zumindest nicht mit Bobby. Bezüglich seiner kleinen Schwester war er schon immer empfindlich gewesen. Sollte sie zu viel über sie lästern, würden sie sich bestimmt nur wieder streiten.

„Ich werde morgen mal mit ihr reden… Okay?“, antwortete ihr Bobby. Die Überraschung stand Lori ins Gesicht geschrieben. Scheinbar war nicht nur sie erwachsener geworden.

„Das wäre ohne Witz große Klasse von dir.“

Gut gelaunt legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und gemeinsam betraten sie das Kino.

Was sie allerdings nicht wussten war, dass auch noch jemand anderes diesen Entschluss gefasst hatte. Anders als Bobby wollte Sid das allerdings ungern bis morgen aufschieben. Lässig lehnte sie an einer der Kinowände und wählte Ronnie Annes Nummer. Ihr Filmmarathon würde erst in einer halben Stunde starten. Genug Zeit für ein kurzes Gespräch zwischen Freundinnen. Sid wollte wissen, was mit Ronnie Anne los war. Lincoln anzulügen war eine Sache, doch sie ungefragt als Alibi zu nennen, eine ganz andere. Bereits nach wenigen Male läuten hob ihre Freundin ab.
 

„Hallo, Sid... Was geht? Hat dein Filmmarathon schon angefangen?“, meldete sich Ronnie Anne am anderem Ende der Leitung. Mit einen Anruf von Sid hätte sie eigentlich nicht gerechnet.

„Noch nicht. Aber bald… Doch darum rufe ich nicht an. Rate mal, wenn ich vor wenigen Minuten getroffen habe?“ Ein wenig Smalltalk vor der großen Enthüllung würde wohl kaum schaden.

„Woher soll ich das denn wissen? Vielleicht Laird“, antwortete Ronnie Anne gut gelaunt.

„Leider falsch. Lincoln, deinen Freund aus Royal Woods. Ich wusste gar nicht, dass wir beide uns heute Abend ein Wrestling-Match in der Arena von Great Lake City ansehen hätten können.“

Ein paar Schweißperlen bildeten sich auf Ronnie Annes Stirn, doch bevor sie antworten konnte meinte Sid bereits:

„Hör mal, Ronnie Anne: Selbst wenn du immer noch glauben solltest, Lincoln hätte sich in dich verknallt, ist das kein Grund ihn so fies anzulügen.“

„Sid… So ist das nicht“, verteidigte sich ihre Freundin wehement. Diesen negativen Eindruck von ihr wollte Ronnie Anne sofort wiederlegen.

„Wie dann? Als ich ihm gesagt habe, wir beide hätten heute nichts Besonderes gemeinsam vor, fiel er glatt aus allen Wolken. Bestimmt hat er nur wegen seines Stolzes oder seiner kleinen Schwester nicht geheult. Ich kann dir sagen, das war kein schöner Anblick. Wenn du ein Problem mit ihm hast, dann solltest du es ihm auch sagen. Machen Freunde das nicht so? Wie oft hast du ihn in den letzten Monaten eigentlich angelogen? Einmal, zweimal, vielleicht dreimal? Ich kann mir denken warum, aber das ist herbe unter der Gürtellinie, Ronnie Anne…“
 

Sid unterbrach sich selbst, um Ronnie Anne die Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen, doch wiedererwarten blieb sie stumm. Scheinbar hatte ihre schonungslose Ehrlichkeit ihr die Sprache verschlagen.

„Sei wenigsten so ehrlich, und sag ihm, dass du nicht so fühlst wie er“, fügte sie abschließend noch hinzu.

„Du hast keine Ahnung, was du da redest, Sid… Lincoln steht nicht auf mich. Ganz bestimmt nicht.“

Der pure Unglaube spiegelte sich in Sids Augen wieder. Und wie Lincoln auf Ronnie Anne stand. Das sah selbst ein blinder mit einem Krückstock, ansonsten hätte er sich kaum so verhalten.

„Echt jetzt?“, erkundigte sich Sid. Sie hielt es für besser, ihren Verdacht erstmal für sich zu behalten. Wer wusste schon, was sie von Ronnie Anne noch alles erfahren würde. „Und wo liegt dann bitte das Problem?“

„Ursprünglich wollte Lincoln mich einladen, um mit ihm gemeinsam diese Zaubershow im Stadttheater zu sehen. Aber ich konnte nicht. Darum habe ich ihn angelogen.

„Dein Ernst? Wegen deiner Serie?“ Sid konnte kaum fassen, was Ronnie Anne da gerade gesagt hatte.

„Es war nicht wegen meiner Serie. Ich hätte sie mir auch aufnehmen können. Die Wahrheit ist, ich wäre gerne mit ihm dort hingegangen, aber ich hatte Schiss.“

„Schiss? Vor was denn? Du hast gerade gesagt, er steht nicht auf dich. Was hätte also großartig passieren können?“

„Aber ich stehe auf ihn… Okay“, erwiderte Ronnie Anne ungehalten. Sofort verirrte sich ihr Blut in ihre Wangen. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?

„Bitte was? Sag das noch mal… Seit wann denn das?“ Sid zweifelte wahrlich an ihren Höhrvermögen, doch plötzlich ergab alles einen Sinn. Darum ging ihre Freundin Lincoln also aus dem Weg.

„Schon eine Weile“, antwortete Ronnie Anne kleinlaut. Die Wahrheit war ausgesprochen und von jetzt auf gleich wirkten ihre Gefühle realer als je zuvor.

„Darum kann ich nichts mit ihm unternehmen. Was ist, wenn ich irgendeinen Mist baue? Wie ihn zu küssen. Sein alberner Charme macht es mir schon schwer genug, überhaupt mit ihm zu Chatten.“

„Und darum lügst du ihn an?“ erkundigte sich Sid überrascht. Ronnie Anne war eigentlich viel mutiger. Dieses kindische Verhalten passt einfach nicht zu dem Bild, das Sid von ihr hatte.

„Was soll ich denn sonst machen? Unsere Beziehung ist schon kompliziert genug. Ich will doch nur, dass alles so bleibt wie es ist. Kompliziert unkompliziert, wenn du so möchtest. “
 

Genervt rollte Sid mit ihren Augen und sagte sodann: „Du könntest zu deinen Gefühlen stehen und es ihm mitten ins Gesicht sagen… Die Ronnie Anne, die ich kenne, würde das tun. Sei ehrlich: Was ist das schlimmste, was passieren könnte?“

„Keine Ahnung… Vielleicht das ich mich am Ende so albern verhalte wie Bobby. Sollte das passieren, Lincoln würde sofort unsere Freundschaft aufkündigen. Das kann ich unmöglich zulassen.“

„Ach komm schon. Das glaubst du doch selbst nicht. Ich kenne Lincoln zwar nicht so gut wie du, aber dass er eure Freundschaft aufkündigen würde, wird ganz sicher nicht passieren. Mit deinen jetzigen Verhalten erreichst du nur, dass Lincoln genau das von dir denkt. Du hättest ihn heute sehen sollen. Das Mindeste was er verdient, ist eine Antwort auf das warum…“

„Du hast leicht reden, Sid… Dir geht es nicht so wie mir“, antwortete Ronnie Anne, der Diskussion überdrüssig geworden. Sid sagte ihr unverblümt alles, was sie gerade nicht hören wollte.

„Das mag schon sein, aber ganz ehrlich, Ronnie Anne: Mit der Wahrheit kannst du unmöglich noch mehr kaputt machen, als du bereits kaputt gemacht hast. Meine Güte, dann stehst du halt auf ihn. Das ist nicht das Ende der Welt. Und bevor ich es vergesse. Du und Bobby seid grundverschiedene Menschen. Er ist ein verliebter Dummkopf, der pausenlos auf Wolke sieben schwebt, und Lori scheint sich trotzdem kein bisschen an ihm zu stören…“

„Vielleicht, weil sie genauso ist“, fiel ihr Ronnie Anne ins Wort, doch Sid blieb unbeeindruckt. Unbeirrt setzte sie dort fort, wo ihre Freundin sie rüde unterbrochen hatte:

„Du hingegen bist cool, selbstbewusst und mutig. Nie im Leben würdest du so enden wie Bobby. Ganz egal, wie heftig Amors Pfeil dich am Ende auch erwischt haben mag.“

„Wow, Sid… Das war echt nett von dir.“ Erneut errötete Ronnie Anne etwas, diesmal waren aber Sids nett gemeinte Worte der Grund dafür gewesen.

„Immer wieder gerne. Ich muss jetzt aber dennoch Schluss machen, mein Film startet gleich. Denk über das nach, was ich dir heute erzählt habe. Versuch wenigstens zu retten, was noch zu retten ist. Ich leiste dir keinen Beistand, wenn Lincoln zukünftig nichts mehr mit dir zu tun haben möchte, weil du ihn angelogen und versäumt hast, die Dinge richtig zu stellen. Sollte Lincoln aber wiedererwarten nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, nachdem du ihm die Wahrheit erzählst hast, dann natürlich schon. Ich wüsste aber nicht, wo das Problem liegen soll. Solltet ihr ein Paar werden, könnt ihr denselben Quatsch machen wie immer, zuzüglich einiger, feiner Extras… Ciao, Ronnie Anne. Wir sehen uns morgen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten legte Sid auf. Still lächelte sie in sich hinein. Sie konnte sich Ronnie Annes glühend rote Wangen buchstäblich vorstellen. Es war unmöglich, dass sie ihre Anspielung falsch verstanden haben könnte. Genauso, wie es unmöglich war, das Lincoln ihre Freundin am Ende zurückweisen würde. Kaum fünf Minuten später saß Sid bereits auf ihren Platz, um sich einen schönen Abend mit viel Kunstblut, gefälschten Gedärmen und wütenden Kuscheltieren zu machen.
 

Lori und Bobby warteten schon im Restaurant. Ihr Film war vor gut zwanzig Minuten zu Ende gegangen. Gegen halb neun Uhr abends betraten schließlich auch Lincoln und Lilly das Restaurant. Beide hatten ein fettes Grinsen im Gesicht. Scheinbar war die Zaubershow ein voller Erfolg gewesen.
 

„He, ihr beiden. Hier drüben sind wir“, machte Lori auf sich aufmerksam. Sie erhob sich von ihren Platz und winkt sie zu sich. Wenig später saßen ihre Geschwister bereits neben ihr.

„Und, Lilly? Wie war deine erste Zaubershow denn so?“, erkundigte Lori sich anschließend bei ihr.

„Total fantastisch“, antwortete Lilly überschwänglich. Ihre Augen leuchteten, als sie zurückdachte:

„Der Zauberer hat Kaninchen aus seinem Hut gezaubert. Schmetterlinge aus dem Nichts erscheinen lassen, sich unsichtbar gemacht. Seine hübsche Assistentin in zwei Hälften geteilt und wieder zusammengesetzt. Ein ganzes Auto verschwinden lassen und sich gefesselt in einen Behälter, randvoll gefüllt mit Wasser sperren lassen, nur um wenig später klatschnass und ohne Ketten mitten im Publikum wieder aufzutauchen. Gott, ich hatte voll die Angst um ihn. Und das Beste war, ich durfte bei einen seiner Tricks assistieren, nachdem er seine eigentliche Assistentin in eine Box gesperrt und versehentlich wegezaubert hat... Ich hoffe doch, ihr geht es gut. Bis zum Ende der Show habe ich sie nicht mehr gesehen.“

Lilly redete ohne Pause und strahlte dabei über beide Ohren. Ihr letzter Satz zauberte allen Anwesenden ein Lächeln ins Gesicht. Der fraglichen Assistentin war bestimmt nichts passiert.

„Oh… Da ist sie ja“, meinte Lilly, als sie glaubte, die Assistentin in Restaurant gesehen zu haben. Erstaunt sah Lincoln sich um. Und tatsächlich. Einen Tisch weiter saß Chloé gemütlich und wartete auf ihre Bestellung. Lincoln war ihr Name nur deshalb bekannt, weil sie sich zu Beginn der Show vorgestellt hatte.

Unverblümt winkte sie Lilly zu. Chloé hatte das kleine, blonde Mädchen aus dem Publikum wiedererkannt. Sie war auch nur deshalb nicht wieder aufgetaucht, weil die Show länger als geplant geworden war, und sie ihre Reservierung ungern versäumen wollte. Das wussten natürlich nur sie alleine und ihr Boss, mit dem das selbstverständlich abgesprochen war.

Kurz winkte Lilly zurück. Ihre Erleichterung über Chloés Unversehrtheit, entlockte Lincoln und Lori ein weiteres Schmunzeln.

„Aber das war noch nicht alles", begann Lilly wenig später dann von neuem: „Lincoln hat während der Show gemeint, wenn ich möchte, würde er mir ein paar Zaubertricks vorführen.“

Loris glückliches Lächeln wurde eine Spur breite. Neben dem Zeichnen hatte ihr kleiner Bruder noch eine weitere Leidenschaft. Und zwar die Zauberei. Schon lange assistierte er Luan nicht nur bei ihrem Funny Business, sondern war fester Bestanteil ihrer Show geworden. Sofern er Zeit fand, war er gerne bereit dazu, ein kleines, ausgewähltes Publikum prächtig zu unterhalten.
 

„Echt jetzt? Hat er das?“, fragte Lori erstaunt und Lilly nickte begeistert mit ihrem Kopf. Doch ehe Lori noch mehr sagen konnte, trat ein Kellner an ihren Tisch.

„Guten Abend, was darf ich Ihnen bringen?“, erkundigte er sich bei seinen neuen Gästen. Lincoln und Lilly gaben ihre Bestellungen auf und baten den Kellner zusätzlich um einen Satz Spielkarten.

Schnell war Lori klar, dass Lincoln damit versuchen wollte, Lilly die Wartezeit etwas zu versüßen. Den einen oder anderen raffinierten Kartentrick konnte er seiner kleinen Schwester durchaus vorführen.

Am Ende hatte er schließlich fünf verschiedene Kartentricks gezeigt, die nicht nur Lilly begeisterten. Auch Bobby und Lori applaudierten unverfälscht, als Lincoln seine kleine Show schließlich beendete.

„Bitte, Lincoln. Willst du mir das nicht beibringen?“, erkundigte sich Lilly bei ihren Bruder. Obwohl sie schon eine halbe Stunde auf ihr Essen warteten, war Lillys gute Laune unverändert.

„Bist du dir sicher? Wenn man erst einmal weiß, wie es geht, verflüchtigt sich der Zauber schnell.“

„Das macht Nichts. Bringst du es mir bei? Wenn ich gut darin bin, werde ich später bestimmt eine berühmte Magierin.“

Mit großen Augen sah sie ihren Bruder an. Es war schwer zu übersehen, dass Lilly seine Fingerfertigkeit bewunderte. Wie konnte er da bitte nein sagen?

„Na schön… Du hast mich überzeugt. Aber beschwer dich später nicht bei mir.“

Zügig fasste Lincoln nach dem Kartenstapel und fächerte diesen sogleich auf.

„Pass jetzt gut auf, Lilly. So funktionierte mein erster Trick…“
 

Gegen zehn Uhr abends hatten sie das Restaurant schließlich verlassen. Ihre Mägen waren bis zum Bersten gefüllt und Lilly beherrschte immerhin schon einen Kartentrick ganz passabel. Nachdem sie sich von Bobby verabschiedet hatten, stiegen sie in den Wagen, um sich sogleich auf den Heimweg zu machen. Bereits nach wenigen hundert Metern war Lilly auf der Rückbank eingeschlafen. Lincolns Plüschhase Bonbon ruhte dabei sanft in ihren Armen. Als er alt genug war, um seinen langjährigen Freund Lebewohl zu sagen hatte er ihn Lilly überlassen, die sich unheimlich darüber gefreut hatte.

Lori dagegen konzentrierte sich auf die Straße, während Lincoln stur aus dem Beifahrerfenster hinaus in die, von den Neonlichtern der Großstadt erhellte, Dunkelheit starte. Stillschweigend seinen eigenen Gedanken nachhing. Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas, doch bald wurde es Lori zu unangenehm. Auf den Weg in die Stadt hatte sie kaum eine ruhige Minute gehabt, jetzt, auf den Nachhauseweg, war es dagegen fast schon zu still gewesen. Lori hatte das dringende Bedürfnis, das eiserne Schweigen zu brechen:
 

„He, Lincoln... Wegen der Sache mit Ronnie Anne.“

„Ich komme schon damit klar, Lori. Mach dir keinen Kopf“, antwortete Lincoln. Im Moment war er nicht in der Stimmung, ausgerechnet darüber zu sprechen.

„Sie hat bestimmt einen Grund dafür“, erwiderte Lori unbeeindruckt von seinen Worten. Auch wenn es ihrem Bruder unangenehm war. Sie wollte gerne mit ihm sprechen.

„Lori, was habe ich gerade gesagt? Natürlich hat sie einen Grund dafür. Offensichtlich will sie nicht länger mit mir gesehen werden. Das ist alles. Keine große Sache. Ich regle meine Probleme alleine.“

„Oh doch, Lincoln. Ganz große Sache. Ich weiß du willst meine Beziehungstipps im Moment nicht hören, aber mach bitte nichts Unüberlegtes.“

„Was soll das denn jetzt heißen!“, wurde Lincoln etwas lauter. Lilly störte sich zum Glück wenig daran.

„Morgen rede ich mit ihr und verlange eine klare Antwort: Warum, weshalb, wieso? Das ist alles. Wo ist das bitte unüberlegt? Oder geht es dir am Ende nur darum, dass Bobby nicht wieder sauer auf dich wird…“

Lincoln unterbrach sich selbst. Da war also der Hund begraben. Plötzlich ergab ihre Sorge um ihn einen Sinn.

„Keine Panik, ich achte schon darauf, Ronnie Anne nicht wieder zum Heulen zu bringen… Okay?“

„Darum geht es nicht. Hör mal zu, Lincoln. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich selten wie die beste große Schwester der Welt verhalten habe, aber ich versuche trotdem mein Bestes. Du kannst Ronnie Anne gerne so richtig die Meinung geigen. Diesmal halte ich fest zu dir… Versprochen. Selbst dann, wenn Bobby sauer auf mich werden sollte, weil mein kleiner Bruder seiner kleinen Schwester dumm gekommen ist. Ich denke aber, er ist alt genug, um Ronnie Annes Probleme nicht auch zu unseren zu machen. Zumindest hoffe ich das. Alles was ich möchte ist, dass du weißt, dass ich ein offenes Ohr für dich habe."
 

„Lori, dass ist alles total nett von dir... Ehrlich. Aber ich bin kein kleines Kind mehr. Ronnie Anne ist nicht das erste Mädchen, in das ich mich verknallt habe: Christina, Jordan, meine Vertretungslehrerinn Miss D. Martino, Stella. Selbst für dich habe ich mal geschwärmt, damals als ich gerade sechs geworden bin.“

Ein nostalgisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen und Lori errötete etwas.

„Mit keiner von ihnen ist es am Ende etwas geworden, und ich bin noch immer darüber hinweggekommen. Wenn Ronnie Anne ein Problem damit hat, dass ich mich in sie verknallt habe, dann ist das eben so. Ich werde machen was sie will, mich zukünftig nicht mehr mit ihr verabreden und mich nicht länger bei ihr melden… Ich komme damit klar. So wie immer.“

Eine einsame Träne kullerte aus seinen Augen, bevor er sich wieder seiner vorherigen Beschäftigung widmete: Stur aus dem Fester starren und seinen Gedanken nachhängen.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortete Lori besorgt. Sie entschloss sich aber dazu, seinen Wunsch nachzukommen. Vielleicht war es tatsächlich besser, ihn vorerst in Frieden zu lassen. Doch ihr Ärger über Ronnie Anne blieb unverändert.

Riskante Neugierde

Es war spät am Abend und Lola saß nahe des Kamins auf den Boden, bequem auf einem weichen Kissen. Das Feuer des offenen Kamins züngelte gemütlich vor sich hin und erwärmte das Wohnzimmer mit seinen Flammen. Es war einen kalte Oktobernacht und außen regnete es in Strömen, darum hatte ihre Mutter auch ein Feuer gemacht. Bis vor kurzem war Rita es gewesen, die vor dem Kaminfeuer ein Buch gelesen hatte, doch nun hatte sich ihre Mutter ins elterliche Gemach zurückgezogen, wie Lisa sagen würde. Lola konnte nur hoffen, dass das Wetter in Great Lake City besser war, als hier in Royal Woods, ansonsten würden Lincoln und ihre beiden Schwestern wohl wenig Freude an ihren Aufenthalt dort finden. Gerade lass sie Lincolns Comic, zwar hatte sie ihm gestern fest Versprochen, sich nicht mehr heimlich in sein Zimmer zu schleichen oder seine Sachen anzufassen, aber die Neugierde hatte am Ende gesiegt. Sie wollte dort weitermachen, wo sie gestern aufgehört hatte. Wenn sie vorsichtig war, würde er es bestimmt kaum merken. Sie wollte einfach wissen, was Lincoln sich ausgedacht hatte.

Ihr Bruder war noch mit Lilly und Lori in der Stadt und würde erst nach Mitternacht zuhause sein. Lana übernachtete glücklicherweise bei einer guten Freundin und ihre anderen Schwestern waren entweder außer Haus oder befanden sich in ihren Zimmern, und falls sich doch eine von ihnen nach unten verirren sollte, würde sie sich wohl kaum großartig für sie interessieren. Das war die Letzten Wochen und Monate so gewesen und würde sich heute wohl nicht ändern. Gute Voraussetzungen für ihr Vorhaben. Die größten Bedrohungen waren wo anders und kaum jemand würde sie beachten. Es war schlicht unmöglich, dass heute Abend etwas schieflaufen könnte. Gerade als die Uhr zur einundzwanzigsten Stunde schlug, begann sie mit dem ersten Kapitel.
 

Drei Stunden hatte sie am Ende gebraucht um alle zweihundertfünfundvierzig Seiten von Band eins zu lesen. Inzwischen war sie auf der letzten Seite. Logan und sein Team befanden sich gerade in Annas und Sahras Nachtklub, um dort ihre nächsten Schritte zu planen. Ein einziges Stück Papier war alles was sie bei sich hatten. Eine Visitenkarte um genau zu sein.

„He, Lola. Was liest du da gerade?“, hörte sie überraschend Lunas Stimme von hinten. Vor wenigen Minuten war sie, unbemerkt von ihrer kleinen Schwester, nachhause gekommen. Den Abend hatte sie bei ihrer Freundin Sam verbracht. Eigentlich wollte sie schnell in ihr Zimmer, doch dann war ihr Lola aufgefallen, die vor dem Kamin saß und gespannt etwas zu lesen schien. Offenkundig war sie so vertieft in ihre Lektüre gewesen, dass Lola sie überhört hatte. Das war Grund genug für Luna, um nach dem Rechten zu sehen. Neugierig warf sie einen Blick über Lolas Schulter.

„Gar nichts“, antwortete Lola furchtbar nervös und versuchte sodann Lincolns Comic von ihrer Schwester zu verstecken. Doch sie war zu langsam. Bevor sie etwas tun konnte, fasste Luna bereits sanft nach ihrem rechten Oberarm, um sie daran zu hindern. Begeistert lag ihr Blick auf einem Bild. Ihre Augen glänzten regelrecht vor Bewunderung.

„Wow… Bin das etwa ich?“, wollte sie sodann von ihr wissen. Luna hatte das letzte Bild gesehen, das ihr Alter Ego zeigte: Eine Großaufnahme von Sahra, wie sie für ihre Kundschaft ein Leid spielte.

„Nicht so ganz… Die Figur heißt Sahra und entstammte Lincolns Feder. Er hat diesen Comic hier gezeichnet und ich wollte ihn mir ansehen. Aber sag ihm das bitte nicht.“ Unruhig spielt Lola mit ihren Fingern. Luna war eigentlich recht tolerant und schimpfte selten mit ihr. Doch dennoch hatte sie Angst vor ihrer Reaktion.
 

„Echt jetzt? Das hat Lincoln gezeichnet?“, erkundigte sich Luna. Das erklärte ihre Ähnlichkeit mit der Sängerin. Lincoln hatte sich ja bereits einmal zuvor an ihr und ihren Schwestern Orientiert. Damals als er bei diesen Ace Savy Wettbewerb mitgemacht hatte.

„Zeig mal her. Ich möchte nur einen kurzen Blick darauf werfen.“ Augenblicklich war sie Feuer und Flamme.

„Okay… Aber bitte sei vorsichtig damit. Lincoln weiß nicht, dass ich es habe und ich will nicht wieder seinen Unmut auf mich ziehen“, antwortete Lola zurückhalten. Bisher lief es recht gut. Luna schien nicht sauer auf sie zu sein. Selbst jetzt, wo sie wusste, dass sie es heimlich an sich genommen hatte.

„Kein Ding, kleine Schwester“, antwortete Luna und nahm den Comic an sich. Natürlich würde sie vorsichtig sein. Neugierig blätterte sie durch die Seiten. Der Text war ihr zunächst egal, die umwerfend schönen Zeichnungen waren im Moment alles, was ihre Aufmerksamkeit fesselte.

„Das hat wirklich alles unser Bruder gezeichnet?“, fragte Luna nochmal nach. Sie hatte sich nie großartig für Comics interessiert, doch was sie sagen konnte war, das Lincoln sich nicht länger vor den großen Comickünstlern verstecken musste. Zumindest was seine Zeichnungen angeht, spielte er definitiv schon ganz weit oben mit.

Lola blieb ihr eine Antwort schuldig, nickte aber stumm mit ihren Kopf. Nach wie vor wirkte sie sehr nervös. Ob Lola Angst davor hatte, sie könnte wütend werden?

„Um was geht es in der Geschichte?“, stellte Luna sogleich die nächste Frage. Vielleicht würde Lola das etwas beruhigen. Vor ihr musste sie keine Angst haben und Luna war gespannt auf den Inhalt.

„Nun ja: Die Geschichte spielt in einer alternativen Welt, in der die Adelsgeschlechter noch deutlich mehr Macht haben, als heutzutage. Es gibt zwar freie Wahlen, doch die Bürger wählen keine Parteien sondern ein Adelshaus“, begann Lola zu erklären.

„Ich bin ganz Ohr… Rede ruhig weiter“, ermutigte Luna ihre kleine Schwester.
 

„In Lincolns Geschichte gibt es vier Adelshäuser, die mit am meisten Einfluss haben. Heartfilia, Black, Fernandes und Redmoor. Jedoch noch das eine oder andere mehr, die eben weniger Einfluss haben. Viele unserer Geschwister gehören einem davon an…“

„Ich auch?“, fiel ihr Luna unerwartet ins Wort. Das würde sie schon sehr interessieren.

„Leider nein. Du und Luan besitzen einen Nachtclub und Lori und Leni arbeiten für die Polizei.“

„Echt Schade, ich wäre gerne eine Prinzessin gewesen“, antwortete Luna mit gespielter Enttäuschung. Auf Lolas Lippen zeichnete sich ein sanftes Lächeln ab und sie begann weiter zu erzählen:

„Die Geschichte beginnt damit, dass ein Staatsanwalt und eine Bürgerrechtsanwältin gegen eines der Adelshäuser ermitteln. Lincoln lässt aber offen gegen welches. Scheinbar hat dieses eine ganze Menge Dreck am Stecken. Erpressung, Mord, Korruption und einiges mehr. Das Komplet-Packet an kriminellen Machenschaften, wenn du so möchtest. Natürlich weiß das Volk nichts davon, doch diese beiden wollten das ändern. Sie planten einen Prozess und wollten die Verantwortlichen vor das königliche Gericht zerren, das die Angelegenheiten des Adels bearbeiten soll. Über Jahre hinweg haben sie darum verschiedenstes Beweismaterial gesammelt. Logan und Lindsey, bei denen es sich wohl um Lynn und Lincoln handeln soll und welche die Hauptcharaktere darstellen, gehören selbst einen Adelshaus an, und haben ihnen dabei geholfen…“

Lola unterbrach sich selbst, um sich zu vergewissern, ob ihre Schwester irgendwelche Fragen hatte. Doch Luna gab ihr mit einem stummen Nicken zu verstehen, dass sie weitererzählen konnte.
 

„Mit einen kleinen Team von Vertrauten, kämpfen Logan und Lindsey, damals wie heute, Nacht für Nacht gegen das Unrecht, sind dabei zufällig in diese Sache hineingezogen worden und hatte sich schnell entschieden, die Sache bis zum Ende durchzuziehen. Doch dann wird das Anwaltspaar überfallen, als sie gerade das Haus verlassen wollten, um sich einen schönen Abend zu machen. Sie werden niedergeschlagen und verschleppt. Zumindest glaube ich das, Lincoln lässt leider offen, ob die beiden überlebt haben, oder nicht. Im jeden Fall wird das Haus anschließend niedergebrannt, um alle Bewiese darin zu vernichten. Ein kleines Kind, zehn Jahre alt, bei dem es sich wohl um Lilly, alias Julia und um die Tochter des Ehepaares handelt, bleibt allerdings im brennenden Haus zurück. Sie wird aber glücklicherweise in letzter Sekunde von einer Angestellten ihrer Familie gerettet. Später wird die Polizei verständigt und die Ermittlungen beginnen. Es läuft darauf hinaus, dass die Brandstiftung nachgewissen werden kann. Doch Hinweise auf dem Täter oder den Verbleib von Julias Eltern, bei denen es sich wahrscheinlich um Mom und Dad handelt, bleiben unauffindbar. Mangels näherer Verwandte in der Umgebung, kommt Julia schließlich bei Logan und Lindsey unter, deren Familie gut mit ihren Eltern befreundet war, und sich bereit dazu erklärt hat, sich um Julia zu kümmern. Natürlich konnten sich Lindsey und Logan denken, warum Julias Eltern überfallen wurden. Sie versprechen ihr, nach ihnen zu suchen, und kommen darüber überein, unter keinen Umständen aufzugeben, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Da aber alle hart beschafften Beweise vernichtet wurden, machen sie sich auf dem Weg, um neue zu sammeln, um die Verantwortlichen am Ende hoffentlich zur Rechenschaft ziehen zu können… So viel zu den ersten beiden Kapiteln.“
 

„Wow… Das ist aber eine düstere Geschichte“, kommentierte Luna, Lanas Zusammenfassung.

„Ja. Irgendwie schon… Aber ich fand das Ganze richtig spannend, auch wenn das eine oder andere blutige Bild dabei war. Lincoln achtet aber schon darauf, betreffende Bilder nicht zu detailverliebt zu zeichnen, darum komme ich ganz gut damit klar.“

„Nun ja. Es würde mich auch überraschen, wenn nicht. Kämpfen Logan und seine Kumpane schließlich gegen einen Gegner, der über Leichen geht, um seine Machenschaften zu vertuschen.“

Luna blätterte durch die ersten beiden Kapitel, um sich grob von Lolas Zusammenfassung zu überzeugen, und blieb schließlich bei Kapitel drei hängen.

„Die bezaubernde Diebin im Mondschein“, las Luna die Kapitelüberschrift vor und betrachtete das Titelbild genauer. Ronnie Anne war darauf in Großaufnahme zu sehen, wie sie den Vollmond im Rücken hatte und sich auf dem Dach eines Gebäudes befand.

„Sieh mal einer an. Unser lieber Bruder steht also doch auf Ronnie Anne“, kommentierte Luna mit einen sanften Lächeln das Titelbild von Kapitel drei. Offensichtlicher hätte Lincoln seine Schwäche für seine Freundin kaum zeigen können. Es war leicht zu erkennen gewesen, dass er sich bei diesen Bild besonders viel Mühe gegeben hat.

„Was hat es damit auf sich?“, wandte Luna sich anschließend wieder an ihre kleine Schwester.
 

„Am Ende von Kapitel zwei haben Logan und Lindsey eine Einladung zu einer Wohltätigkeitsgala erhalten, die Adrians Familie sponsert, bei dem Lincoln sich wohl an Clyde orientiert hat. Sidney, die Ronnie Annes Komplizin ist, und bei der es sich natürlich um Sid handelt, hat über einen Mittelsmann ebenfalls eine solche erhalten. Dort soll ein Bild ausgestellt werden, das Sidney und Ronalda – Ronnie Anne, du verstehst –, gerne haben möchten. Soweit ich das verstanden habe, ist während eines Krieges das Haus ihres Vaters ausgeraubt worden, der ein Leidenschaftlicher Kunstliebhaber und berühmter Maler gewesen sein und eine riesige Sammlung besessen haben soll. Ronalda will auf nicht ganz legalen Weg diese Sammlung wieder in den Besitz ihrer Familie bringen und raubt zu diesen Zweck jede Menge dubioser gestallten aus, bei denen klar ist, dass sie nicht auf legalen Weg zu ihren Vermögen gekommen sind, und ein Stück von der Sammlung ihres Vaters besitzen. Clydes Familie gehört zufällig auch dazu. Erwähnenswert ist noch, dass Ronalda jeden ihrer Diebstähle in vorhinein ankündigt, aber dennoch nicht geschnappt wird. Immer sind sie und Sidney der Polizei einen Schritt voraus. Ronalda und Sidney schleichen sich also auf die Gala und setzten ihren Coup in die Tat um. Während Ronalda auf den richtigen Zeitpunkt wartet, läuft sie Logan über den Weg, der sofort von ihr fasziniert ist. Sie tanzen miteinander und trennen sich im Guten. Doch wenig später wir ein Attentat auf Adriane verübt, der sein bester Freund ist. Logan hört den Schuss und ist zusammen mit Lindsey als erstes am Tatort. Dabei hört er ein Geräusch aus einem angrenzen Zimmer. Er öffnet die Tür und identifiziert sein Tanzpartnerin im Mondlicht, die ein Bild bei sich hat, das Adrian gehört, und in der nächsten Sekunde aus einem geöffneten Fenster entkommt. Logan verdächtigt natürlich sie, für das Attentat verantwortlich zu sein und hetzt ihr hinterher. Für den Moment ist seine Faszination für Ronalda verständlicherweise verschwunden.“
 

„Autsch... Das ist aber fies. Ist sie denn wirklich die Übeltäterin?“, erkundigte sich Luna interessiert. Sie konnte sich schwer vorstellen, dass Lincoln seine Freundin, als die Antagonistin darstellen würde.

„Lass dich überraschen. Ich komme bald dazu“, antwortete ihr Lola. Ihre anfängliche Unsicherheit war verschwunden. Lunas Begeisterung für ihre Zusammenfassung hatte ihre Anspannung restlos verscheucht.

„Wo war ich?“ Lola dachte kurz nach und sagte dann: „Ach ja… Es folgt eine Verfolgungsjagt über die Dächer und Straßen, bis Logan sie letztendlich austricksen und zur Rede stellen kann. Von seiner Wut geblendet und taub für Ronaldas Unschuldsbekundungen kommt es zum Kampf, den Logan dummerweise verliert. Ronalda verschwindet mit der Beute aber beteuert vorher noch einmal, nichts mit dem Attentat zu tun zu haben. Sie hätte lediglich das Bild gestohlen und wisse nicht, was im Raum nebenan passiert war, zumindest nicht genau. Sie gibt an, zwar den Schuss gehört, sich aber nicht darum gekümmert zu haben, und stattdessen ihren eigenen Plan gefolgt zu sein. Logan glaubt ihr auch diesmal nicht und verspricht ihr, sie zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Später stellt sich aber tatsächlich heraus, dass Ronalda unschuldig war. Doch Logans Entschluss sie zu finden bleibt, wenngleich diesmal aus anderen Gründen.“

„Lass mich raten: Gründe romantischer Art, oder etwa nicht?“, erkundigte sich Luna. Das würd schon eher ihren Geschmack treffen. Stumm nickte Lola mit ihren Kopf.

„Aber wenn es nicht Ronalda war, wer dann?“, wollte sie dann von Lola wissen.
 

„Nun ja... Während Logan hinter Ronalda her war, hat Lindsey die Rettung und die Polizei verständigt. Adrian überlebt den Anschlag schwer verletzt und wird ins Krankenhaus gebracht. Unterdessen fängt die Polizei mit Zeugenbefragungen an. Lori alias Lorane Goldsmith leitet die Ermittlungen und Lindsey jubelt ihr bei Gelegenheit unbemerkt eine kleine Wanze unter, um mithören zu können, was die Verdächtigen so zusagen haben. Es scheint fasst so, als ob Lindsey in Lincols Geschichte eine Schwäche für Adrian hegen könnte. Ich würde echt gerne wissen, was Lynn dazu zu sagen hätte. Aber zurück zur Handlung. Am Ende kommt sehr wenig dabei herum. Lincoln verzichtet darauf, die Befragungen genau zu beschreiben. Es waren allerdings auch weit über fünfzig Gäste anwesend. Hätte er alles genau geschildert, wäre es wohl zu lange und zu uninteressant geworden. Ein Paar interresante Brocken bekommen wir aber dennoch zu hören. Am Ende ist es Adrian, der ein paar Tage später, den entscheidenden Hinwies liefert kann. Bevor er niedergeschossen wurde, hatte er Besuch von einer fremden Frau, die daran interessiert war, ihm einen alten Siegelring abzukaufen, der seit langen im Besitz seiner Familie war, doch Adrian lehnte freundlich ab. Lucy, alias Raven Heartfilia bekommt ihren Auftritt. Trotzt Adrians Absage hinterlegt Raven eine Visitenkarte mit ihren Name bei ihm, für den Fall, dass er es sich anders überlegen sollte und vielleicht doch verkaufen möchte. Offiziell war es Raven jedoch auch nicht, die Adrian niedergeschossen hat, auch wenn der Siegelring plötzlich verschwunden ist. Es wurde also nicht nur das Bild von Ronalda geklaut sondern auch eine wertvoller Ring war gestohlen worden, das Raubdezernat und Bobby, alias Rupert Santana beträten die Bühne. Da Ronalda wie üblich eine Visitenkarte am Tatort hinterlassen und eine Ankündigung geschickt hat, die aber Adrian und seine Familie nicht an die Polizei weitergegeben haben, weil sie der Meinung gewesen waren, ihr persönlicher Sicherheitsdienst würde ausreichen, um das Bild zu verteidigen, ist der Name der Diebin dieses immerhin bekannt. Allerdings nur unter einen Alias. Wer genau sich also hinter den Namen Nightowl verbirgt wissen nur Logan und der Leser. Dagegen wissen aber weder der Leser noch das Raubdezernat oder Logan sicher, ob Raven hinter den Diebstahl des Siegelringes steckt, aber da diese ebenfalls eine Visitenkarte hinterlassen hat und an dem Siegelring interessiert war, verdächtig Rupert natürlich sie. Doch wiedererwarten bestehen Adrian und seine Familie darauf, die Diebstähle nicht weiter zu verfolgen. Der Grund dafür ist zunächst noch unklar, aber als Leser kann man sich seinen Teil denken. Und auch der Polizeistab verbietet Rupert, weiter zu ermitteln, oder er würde bald seinen Job los sein. Auch wenn es ihm nicht gefällt, er lässt sich darauf ein, und legt die Diebstähle unaufgeklärt zu den Akten..." Lola unterbrach sich selbst, um sich kurz von Lunas Aufmerksamkeit zu überzuegen und erzählte weiter:
 

„Wenig später trifft er zufällig auf Lorane und er kommt mit ihr ins Plaudern. Wir erfahren dadurch, dass er eine jüngere Schwester hat und warum er dem Raubdezernat beigetreten ist. Auch ihm geht es um die verschollene Sammlung seines Vaters und auch er möchte sie wieder zusammentragen, die schäbigen Geschäfte mit gestohlener Kunst der neuen Besitzer aufdecken und diese hinter Gittern bringen. Er versucht also auf legale Weise den Besitz seiner Familie wieder zusammenzutragen und die Welt etwas besser zu machen. Meistens stößt er allerdings erst dann auf die Eigentümer, gestohlener Bilder seines Vaters, wenn Ronalda diese schon beklaut hatte. Natürlich möchte er die Diebin mit allen Mitteln festnageln, da er ja nicht weiß, wer sich dahinter verbirgt. Im Zuge dieses Gesprächs erfahren wir auch das Lorane inzwischen einen heiße Spur auf denjenigen hat, der auf Adrian geschossen haben könnte. Sie führt das auf einen anonymen Tipp zurück, den sie von Logan und Lindsey erhalten hat, die auf ihre Weise versucht haben, den Täter ausfindig zu machen. Auf weniger legalen Weg haben sie über drei Kapitel hinweg, die unterschiedlichsten Spuren verfolgt. Adrians Aussage war dafür nicht ganz unerheblich gewesen. Im Zuge der Ermittlungen von Logan und Lindsey lernen wir auch sein restliches Team kennen. Lana alias Rosanna Black, als das Mädchen, das für ausreichende Mobilität sorgt. Stolze Eigentümerin einer Tuningwerkstadt und leidenschaftliche Teilnehmerin an vielen, nicht ganz legalen Straßenrennen. Lisa, alias Mary Oswin, als der kluge Kopf für Computer-Business aller Art. Eine talentierte Hackerin, die mit Leichtigkeit an brisante Informationen gelangt, wie auch geniale Wissenschaftlerin und Konstrukteurin zahlreicher Geheimwaffen. Du und Luan, alias Sahra und Anna Williams, als die Informanten mit guten Kontakten zur Unterwelt und Lorane, als unfreiwilliger Spitzel bei der Polizei. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Täter ein persönliches Motiv hatte, Adrian und seinen Eltern zu schaden. Scheinbar hatte der Sohn des späteren Täters Selbstmord begangen, weil Adrian diesen einen hart erkämpften Studienplatz an einer renovierten Medizinuniversität weggeschnappt hat. Der Täter hatte verständlicherweise krumme Geschäfte des Adels vermutet…“
 

„Warum auch nicht. Adrians Familie war stinkreich und er und sein Sohn nicht“, fiel ihr Luna überraschend ins Wort.

„Der Meinung war ich auch. Obwohl beide die gleiche Punktzahl bei dem Aufnahmetest erreicht haben, hat Adrian dennoch den Vorzug bekommen. Da diese Wohltätigkeitsgala allerdings nur für geladene Gäste war, stellt sich natürlich die Frage, wie der Täter zu einer Einladung gekommen war. Der Leser erfährt jedoch, dass dem Täter offensichtlich eine Einladung von einem Unbekannten zugeschickt wurde. Auch die Tatwaffe wurde ihm scheinbar von denselben Unbekannten zu Verfügung gestellt, zusammen mit einer Karte mit dem Wortlaut: »Wir haben einen gemeinsamen Feind, mach etwas aus der Gelegenheit, die ich dir biete. « Natürlich ließ sich das der Täter nicht zweimal sagen und packte die Gelegenheit am Schopf. Es gibt also einen geheimen Drahtzieher hinter der Tat und Lincoln lässt subtil durchblicken, es könnte sich dabei um Raven handeln. Immerhin ist ihre Visitenkarte die Spur, welche Logan und Lindsey als nächstes verfolgen möchten. Ob es am Ende aber tatsächlich so ist, weiß der Leser noch nicht mit Gewissheit.“

„Ich muss schon sagen, unser Bruder hat sich diesmal selbst übertroffen. Eine sehr originale und verzwickte Geschichte“, nahm Luna das Wort an sich, als Lola zu einem Ende gekommen war.

„Hier bitte.“ Wie selbstverständlich gab Luna Lola den Comic zurück und fragte sodann: „Gibt es auch ein paar Superkräfte?“
 

„Bisher nicht wirklich. Die meisten Charaktere von Lincoln sind fit im Kampfsport und der Sportart Parkour, können jedoch auch mit der einen oder anderen Waffe ganz gut umgehen. Lindsey und Sidney beispielsweiße mit einen Kampfstab. Einzig und alleine Raven scheint eine Schwarzmagierin, beziehungsweise eine unheimlich geschickte Bühnenmagierin zu sein. Als der Täter schließlich geschnappt wird springt die Szene vorrübergehende zu Raven, die plötzlich den verschwundenen Siegelring in der Hand hält und zu ihren zahmen Fledermaus sagt: » Das lief besser, als erwartet, wenngleich nicht so gut, wie es hätte laufen können. « In einer Rückblende sehen wir dann, wie Raven sich durch eine Wand bewegt, mit Telekinese über den Boden schwebt und den fraglichen Siegelring zu sich holt. Mit Ende der Rückblende wechselt die Szene jedoch wieder zu Logan und seinem Team, die in Sahras und Annas Nachtclub die erfolgreiche Verhaftung des Täters, durch die Polizei feiern, aber nachdenklich auf Ravens Visitenkarte schauen. Wieder wird also Raven als die potenzielle Drahtzieherin in Erwägung gezogen. Das Kapitel endet schließlich mit einer Großaufnahme von Sahra und den Wortlaut: » Raven Heartfilia, Zeit dir auf den Zahn zu fühlen. « Ich denke aber, es fehlen noch ein paar Seiten. Bisher hatte jedes Kapitel nämlich fünfundzwanzig. Es ist schon verdächtig, dass das Letzte plötzlich nur zwanzig hat. Wahrscheinlich ist Lincoln noch nicht ganz fertig damit. Es könnten also noch ein paar Informationen fehlen, die vielleicht wichtig sein könnten, und mein Charakter ist bisher noch nicht aufgetaucht. Bestimmt werden sich die letzten Seiten um Rosemary Black drehen und ihre Rolle genauer erklären. Ich glaube zumindest nicht ganz, dass Lincoln tatsächlich Lucys alter Ego als die Böse hinstellen würde, hoffe aber natürlich, dass am Ende nicht ich die Böse sein werde.“ Durchaus etwas betrübt über diesen Gedanken senkte Lola ihren Blick. So gerne sie auch wollte, richtig wütend würde sie selbst in diesen Fall nicht auf ihren Bruder sein können. Ihr war durchaus bewusst, dass sie manchmal eine bessere kleine Schwester hätte sein können.
 

„Da bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als ihn selbst zu fragen“, antwortete ihr Luna verständnisvoll. Lincolns Geschichte hatte auch sie begeistert, doch Lolas Art, sich den Comic zu beschaffen war keinesfalls die feine englische Art gewesen. Subtil wollte sie damit also erreichen, dass Lola Lincoln die ganze Sache erklärte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich darüber freuen würde, eine seiner Schwestern für seinen Comic begeistert zu haben.

„Bist du verrückt? Wenn ich das tue, weiß er doch, was ich gemacht habe. Nein, da warte ich lieber ab, bis er fertig ist und schaue später nochmal nach dem Comic. Sobald ich es zurückgelegt habe, wird er gar nicht wissen, dass ich es überhaupt gesehen habe, und alles bleibt wie es ist.“

Bedauernd schüttelte Luna mit ihren Kopf und meinte: „Ich bin nicht hier, um dir irgendwelche Vorträge zu halten, aber lass mich dir einen guten Rat geben: Besser du sagst ihm die Wahrheit, als wenn Lincoln später auf andere Art dahinterkommt. Du kennst ihn bestimmt lange genug, um zu wissen, wie sehr Lincoln sich darüber freuen würde, dass sich jemand von uns, für seine Hobbys interessiert. Vielleicht ist er ein paar Tage sauer auf dich, aber im Nachhinein bist du bestimmt seine Lieblingsschwester. Alleine deshalb, weil du dich für seine Zeichnungen begeistern kannst.“

Reumütig sah Lola zu Boden, den Schnellhefter umklammerte sie fester, fast so, als ob sie plötzlich Angst davor hatte, ihn erneut aus der Hand zu geben.

„Vielleicht hast du Recht“, antwortete ihr Lola nachdenklich. Morgen wollte Lincoln etwas mit ihr unternehmen. Es wäre wohl angebracht ihn dann, über ihren Einbruch zu informieren.

„Das ist alles was ich hören wollte.“ Aufmunternd lächelte Luna Lola entgegen und legte sodann ihre Rechte auf ihren Kopf.

„Ich bin stolz auf dich, Lola.“ Ein warmes Lächeln legte sich über Lolas Lippen. Luna war so viel einfühlsamer, als Lana.

„Falls du moralischen Beistand brauchen solltest, ich bin oben in meinen Zimmer und helfe gerne. Lincoln, Lori und Lilly müssten eigentlich bald zuhause sein. Am besten du wartest einfach auf die drei und sagst Lincoln dann, was Sache ist. In der Nähe von Lilly und Lori, ist es unwahrscheinlich, dass er deshalb an die Decke gehen würde. Er fürchtet zur Recht Loris Zorn und will sich vor Lilly bestimmt von seiner besten Seite zeigen. Behalte das im Hinterkopf…“

Ein schelmisches Lächeln umspielte Lunas Lippen. Sie kannte ihren gemeinsamen Bruder einfach schon sehr gut.

„Vielen Dank“, antwortete ihr Lola.

„Immer wieder gerne“, sagte Luna noch und machte sich sodann auf den Weg, hinauf zu ihren Zimmer.
 

Nachdenklich betrachtete Lola den geschlossenen Schnellhefter. Sollte sie auf Luna hören, oder Lincoln erst sagen, was sie gemacht hatte, wenn der morgige Tag zu Ende gegangen war? Verständlicherweise hatte sie Angst davor, dass Lincoln sein Versprechen zurückziehen könnte, wenn sie es ihm noch heute Abend sagen würde.

Grundlegend für sein Versprechen war ja, dass sie sich niemals wieder heimlich in sein Zimmer schleichen würde, und genau das hatte sie eben gemacht. Wenn sie sich schon nicht an ihre Abmachung hielt, warum sollte sich Lincoln daran halten? Dachte sie womöglich zu negativ von ihren Bruder? Vertieft in ihre Gedanken merkte Lola nicht, wie sich die Haustüre leise ein zweites mal öffnete und jemand das Haus betrat.

Eskalation

Während Lola gemütlich vor den Kamin saß, hielt ein einsamer Wagen vor der Hauzufahrt. Schnell öffnete Lana die Beifahrertür und stieg aus dem kuschelig, warmen Auto. Kaum draußen, prasselten der Regen heftig gegen ihre Winterjacke. Sie war früher nachhause gekommen, weil ihre Freundin Sally am späten Abend überraschend krank geworden war. Als sie sich gerade fertig für die Nacht gemacht hatten, hatte Sally plötzlich hohes Fieber bekommen und sich mit üblen Schüttelfrost in ihr Bett gekuschelt. Besorgt um ihre Freundin hatte Lana sich dann an Sallys Eltern gewandt, die glücklicherweise noch wach gewesen waren, und sich im Wohnzimmer ein Film angesehen hatten.

Nachdem ihre Eltern sich von Sallys Zustand einen ersten Eindruck verschaffen konnten, hatte Sallys Vater Lana schließlich darum gebeten, doch besser nachhause zu gehen. Schweren Herzens hatte Lana sich darauf eingelassen. Sie wäre ihrer Freundin gerne beigestanden, hatte aber eingesehen, dass sie eigentlich nicht viel tun hätte können. Freundlicherweise wurde sie dann von Sallys Mutter nachhause gefahren, während ihr Vater einen Arzt verständigte. Am Ende war also aus Lanas und Sallys Übernachtungsparty nichts geworden.
 

„Danke, dass Sie mich nach Hause gebracht haben, Miss Smith.“ Ein heftiger, nasskalter Windstoß peitsche schroff gegen Lanas Winterjacke. Zitternd schlug sie ihre Arme um ihre Brust.

„Dafür musst du dich wirklich nicht bedanken, Lana. Das war doch Ehrensache. Ich konnte dich bei diesen Wetter und zu dieser späten Stunde unmöglich zu Fuß nachhause schicken. Jetzt aber schnell rein mit dir, bevor du dich am Ende auch noch erkältest.“

„Trotzdem... Vielen Dank. Bitte richten Sie Sally gute Besserung von mir aus“, antwortete Lana.

„Das mache ich gerne. Auf wiedersehen.“ Freundlich lächelte ihr Miss Smith entgegen und wandte ihren Blick sodann wieder auf die Straße vor ihr.

„Auf wiedersehen“, erwiderte Lana und schloss eiligst die Beifahrertür hinter sich. Keine Sekunde später beeilte sie sich bereits wieder ins Warme zu kommen. Zügig lief sie durch den Regen, auf die Haustüre zu und öffnete diese mit ihren Schlüssel. Im nächsten Moment stand Lana bereits zwischen Küche und Wohnzimmer. Für den Fall der Fälle hatten sie und ihre Geschwister alle einen eigenen Schlüssel.
 

Abwesend und mit ihren Gedanken bei Sally schloss Lana die Tür hinter sich. Obwohl Sallys Eltern ihr versichert hatte, dass es ihrer Freundin bald wieder besser gehen würde, sorgte Lana sich sehr um sie. Gerade wollte Lana hinauf in ihr Zimmer gehen, als sie überraschend bemerkte, dass es im Wohnzimmer noch hell war. Neugierig, wer von ihrer Familie so spät noch wach war, warf Lana einen Blick hinein und sah natürlich ihre Zwillingsschwester vor den Kamin sitzen, die nach wie vor Lincolns Schnellhefter in ihren Händen hielt. Ohnehin in Sorge um ihre Freundin, wirkte Lolas stille, in sich gekehrte Gestallt alarmierend auf Lana. Wie war das noch gleich? Ein Unglück kommt selten allein. Mit diesen bitteren Gedanken im Hinterkopf, ging Lana auf ihre Zwillingsschwester zu, um mit ihr zu reden. Vergeben und vergessen war ihr unterschwelliger Ärger über Lola.

„He, Lola. Alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte sich Lana besorgt. Kreidebleich drehte Lola sich zu ihrer Schwester. Ihre Stimme würde sie unter tausenden wiedererkennen. Luna war eine Sache gewesen, doch Lana eine ganz andere. Von wegen heute Abend konnte nichts schieflaufen. Gerade lief irgendwie alles schief, was nur schieflaufen konnte. Auf viel Verständnis würde sie bei Lana bestimmt nicht hoffen können.

„Ja… Natürlich“, antwortete Lola furchtbar nervös.

„Wieso bist du schon zuhause?“, fragte sie wenig später, während sie Lincolns Comic mit beiden Händen fest gegen ihre Brust drückte.

„Sally ist dummerweise Krank geworden“, erwiderte Lana bereitwillig. Schuldbewusst wanderte ihr Blick Richtung Boden.

„Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, es könnte meine Schuld sein. Obwohl heute ein überraschend unfreundlicher Tag gewesen war, habe ich Sally davon überzeugen können, mit mir zusammen ein wenig draußen im Regen zu spielen. Bestimmt hat sie sich dabei erkältet.“
 

„Das ist sicher nur ein dummer Zufall“, antwortete ihr Lola. Obwohl sie Lana eigentlich gut zureden wollte, klang ihre Stimme weiterhin sehr angespannt. Natürlich konnte das ihrer Zwillingschwester schlecht verborgen bleiben. Nachdenklich betrachtete sie Lola genau und plötzlich sprang ihr der Schnellhefter ins Auge, den Lola fast schon krampfhaft umarmte.

„Was hast du da?“, erkundigte sich Lana neugierig, als ihr sogleich ein Wortlaut auffiel, der auf der Rückseite zu lesen war:

« The famous fifteen. By Lincoln Loud » las sie laut vor.

„Nichts Besonderes. Nur ein Comic, den Lincoln gezeichnet hat“, antwortete Lola möglichst gefasst. Doch ihre Unsicherheit war deutlich zu hören gewesen.

„Ein Comic?“, fragte Lana überrascht. „Das wollte Lincoln mir also zeigen, sobald es fertig ist.“

„Was? Du… Du wusstest davon?“, erkundigte sich Lola. Ihre Angespanntheit war verschwunden. Vielleicht ging das Ganze, entgegen allen schlechten Vorahnungen, doch noch gut aus. Auf der anderen Seite aber: Warum wusste Lana überhaupt über den Comic Bescheid, wenn sie selbst nur durch Zufall darüber gestolpert war? In ihren Augen konnte das weiter nichts, als ein neues Indiz dafür sein, das Lincoln Lana doch mehr mochte als sie.

„Ich habe ihn zufällig dabei gesehen, wie er in seinem Zimmer etwas verstecken wollte. Gestern, nachdem er wieder zuhause war. Ich habe ihn gefragt, was er denn vor uns verheimlichen möchte und er meinte, er würde es mir gerne zeigen, wenn es fertig ist“, erklärte sich Lana. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, allerdings konnte Lana ihr schlecht sagen, dass sie Lincoln den Tipp gegeben hatte, dass Lola sich in sein Zimmer geschlichen hatte.

„Aber was ist mit dir? Weiß Lincoln, dass du seinen Comic gelesen hast?“, erkundigte sich Lana ungehalten. Vor wenigen Minuten noch, hatte sie ihren Ärger über Lola vergessen, doch nun war er zurück. Das Einzig, was sie daran hinderte, Handgreiflich zu werden, war die Gewissheit, dass Lola und Lincoln sich seit gestern Abend besser verstanden. Es könnte also sein, dass Lincoln Lola den Comic überlassen hat, um sich eine zweite Meinung einzuholen. Auf der einen Seite verletzte Lana das, andererseits aber, hoffte sie fast, es würde genauso sein. Ansonsten hätte Lola nämlich wieder vorsätzlich und mit voller Absicht sein Vertrauen missbraucht. So gerne Lana auch die Erwachsene sein wollte, bei diesem Gedanken fiel es ihr schwer.
 

„Ähm… Nicht so richtig“, erklärte sich Lola. Augenblicklich verabschiedete sich erneut jede Farbe aus ihrem Gesicht. Warum bitte, hatte sie das gerade gesagt?

„Echt jetzt!“, wurde Lana überraschend lauter. „Nach allem was gestern zwischen dir und unseren Bruder vorgefallen ist, schleichst du dich trotzdem wieder in sein Zimmer, um heimlich seine Sachen zu klauen. Ich dachte, du hättest ihn fest versprochen, das zukünftig bleiben zu lassen.“

Ein paar Tränen bildeten sich in Lanas Augen. Es verletzte sie zu tiefst, wie scharmlos Lola Lincolns Vertrauen und seinen guten Willen ignorierte.

„Woher weißt du davon?“, erkundigte sich Lola geschockt. Ein paar Schweißperlen bildeten sich in ihrem Gesicht. Das konnte nicht gut enden.

„Das ist verdammt nochmal völlig unwichtig! Wichtig ist nur, dass du dich nicht an dein Versprechen gehalten und Lincolns Vertrauen mit Füßen getreten hast. Wie viel Chancen soll er dir denn noch geben, bist du dich endlich änderst? Eine einzige Sache, die Einhaltung einer einzigen kleinen Regel ist alles, was er von uns verlangt, mehr nicht. Und trotzdem… Und trotzdem…“

Lana unterbrach sich selbst, ihr Ärger über ihre Zwillingsschwester war inzwischen größer, als je zuvor. Besser sie war still, bevor sie etwas sagte, was sie später bereuen würde. Wiederholt atmete sie fest ein und aus. So schwer es Lana auch fiel, sie wollte ihren Ärger herunterschluck, diplomatisch vorgehen. Versöhnlich streckte sie ihrer Schwester die Hand entgegen und sagte:

„Bitte, Lola. Gib mir den Schnellhefter und ich gebe ihn Lincoln zurück, sobald er wieder zuhause ist.“

„Niemals…“ Vehement schlug Lola mit ihrer Linken, Lanas Hand zur Seite.

Absolut fassungslos über Lolas aggressive Reaktion, auf ihr Friedensagenbot, fixierten Lanas Augen ihre Schwester. Wütend, verletzt und furchtbar enttäuscht. So viele Emotion und dennoch fehlten ihr die Worte.
 

„Damit du ihm sagen kannst, was ich getan habe, um mir damit vorsätzlich meinen morgigen Tag zu versauen? Das kannst du sowas von vergessen. Ich lege den Comic einfach dahin zurück, wo ich ihn gefunden habe, und alles bleibt wie es ist.“

Alle guten Ratschläge, die ihr Luna vor kurzem noch gegeben hatte, waren vergessen. Im nu hatte Lolas Angst vor Lincolns Reaktion die Oberhand zurückgewonnen. Allmählich sammelte sich in ihren Augen die eine oder andere Träne. Was sie vorhin gemacht hatte, tat ihr plötzlich leid, doch sie konnte einfach nicht auf Lanas Vorschlag eingehen. Zu viel hing davon ab.

„Bitte Lana, behalte das einfach für dich. Kannst du mir nicht einmal diesen einen Gefallen tun. Ich verstehe mich gerade so gut mit Lincoln. Mach mir das doch bitte nicht kaputt.“

„Ich…“ Kurz dachte Lana ernsthaft über Lolas Vorschlag nach, aber bald schüttelte sie energisch mit ihren Kopf. Lana durchschaute Lolas Absicht. Egal wie sehr ihre Zwillingschwester auf die Tränendrüse drückte, sie würde sich nicht von ihren Vorhaben abbringen lassen.

„Nein. Diesmal nicht… Diesmal redest du mir kein schlechtes Gewissen ein.“

„Was? Aber das hatte ich doch überhaupt nicht vor“, verteidigte sich Lola entsetzt. Die ersten Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Wie konnte Lana ihr sowas unterstellen?

„Und ob du das vorhattest. Bei Lincolns Modelflugzeug war es genau dasselbe“, entgegnete Lana aufgebracht. Warum sollte sie schweigen, wenn sie wusste, dass Lola Mist gebaut hatte?

„Das war auch alleine deine Schuld. Hättest du mich einfach in Frieden gelassen, wäre sein Modelflugzeug heute noch ganz, und bestimmt längst fertig zusammengebaut.“
 

„Erzähl keinen Dreck. Hättest du es mir einfach gegeben, als ich dich darum gebeten habe, damit ich es an seinen Platz zurückstellen kann, wäre es gar nicht erst zu Bruch gegangen.“

„Das ist doch Jacke wie Hose, Lana!“, versuchte Lola ihre aufgebrachte Schwester zu beruhigen. Doch schnell merkte sie, dass das keinen Sinn hatte. Im Moment war Lana auf hundertachtzig. Obwohl die Schuld damals gleichermaßen sie beide getroffen hatte, wollte diese das gegenwertig einfach nicht hören. Offensichtlich musste Lola ihre Strategie überdenken.

„Okay, Lana. Du hast Recht… Sowas von Recht. Ich alleine habe damals Mist gebaut, zufrieden? Aber bitte… Nur dieses eine Mal. Lass mich selbst zu meinen Fehlern stehen.“

Lolas Plan funktionierte. Von jetzt auf gleich beruhigte sich Lana. Alles was diese von ihr verlangte war, Einsicht zu zeigen. Diesen einen Gefallen würde sie ihrer Zwillingsschwester gerne tun.

„Na schön, Lola. Aber du machst das hier und heute. Wir warten gemeinsam auf Lincoln und du kannst ihn dann sagen, was Sache ist.“

„Geht in Ordnung“, antwortete Lola kleinlaut. Das war verdammt knapp gewesen. Lincolns Comic war vorerst gerettet, doch ihre Angst auf seine Reaktion blieb. Selbst Lanas aufmunterndes Lächeln und ihre Hand, die sie ihr erneut als Friedensangebot entgegenstreckte, änderten wenig daran. Doch dennoch nahm Lola die versöhnliche Geste ihrer Zwillingsschwester an.

„Kopf hoch. Du packst das schon. Ganz bestimmt“, versuchte Lana ihr gut zuzusprechen. Mit einen mulmigen Gefühl fasste Lola nach ihrer Hand, und schnell half Lana ihr auf die Beine.
 

Kaum stand Lola fest auf beiden Füßen hörten sie und Lana, wie ein Auto vorfuhr. Scheinbar waren Lori, Lincoln und Lilly zurück von ihrem Stadtausflug. Plötzlich hatte Lola die drohende Konfrontation mit ihren Bruder unmittelbar vor Augen, weshalb sie in letzter Sekunde die Nerven verlor. Wenn sie schnell in Lincolns Zimmer laufen und den Comic zurücklegen würde, dann würde am Ende vielleicht doch noch alles gut werden.

Eiligst riss Lola sich von Lana los und wollte sodann nach oben, allerdings reagierte ihre Zwillingsschwester überraschend flott. Noch ehe Lola überhaupt einen Schritt machen konnte, hatte Lana sich bereits auf sie gestürzt, gewaltsam Richtung Boden geworfen. Natürlich rutschte Lola der Comic dabei aus den Händen. Ein paar der Charakterskizzen segelten auf den Boden, der Schnellhefter selbst, hingegen schlitterte ein paar Meter über den selbigen und kam schließlich vor den Füßen ihres Vaters zum Erliegen. Der andauernde Lärm im Wohnzimmer, hatte ihn, mit der Absicht aus dem Schlafzimmer gelockt, endlich für Ruhe zu sorgen.

Überrascht bückte sich Lynn Senior nach dem Schnellhefter und sah sodann zu seinen beiden Töchtern hinüber, die sich unermüdlich auf den Boden wälzten, sich an den Haaren zogen und vergeblich versuchten, sich voneinander loszureißen.
 

„Natürlich versuchst du dich vor der Verantwortung zu drücken. Das war sowas von klar“, hörte er Lanas verärgertet Stimme sagen.

„Du verstehst das nicht, Lana“, erwiderte Lola angestrengt. Mit aller Macht versuchte sie von ihrer Zwillingsschwester loszukommen.

„Und ob ich das verstehen“, sagte Lana, ohne recht zu wissen, was Lola eigentlich damit meinte. „Ich dachte wirklich, diesmal hättest du endlich was gelernt…“

Überraschend gewann Lola die Oberhand. Sie drehte ihre Kontrahentin auf den Rücken, setzte sich auf dessen Hüfte und schüttelte heftig an Lanas Schultern während sie sagte:

„Verdammt nochmal, Lana. Ich habe etwas gelernt, ehrlich. Ich sage Lincoln bestimmt noch, was ich angestellt habe, aber ein anderes Mal. Du warst gestern nicht dabei. So ein Gespräch mit ihm stehe ich kein zweites Mal durch.“

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, keifte Lana zurück. Im nächsten Moment fasste sie nach Lolas Handgelenken und drehte diese rasch zurück auf dem Rücken.

„Schluss jetzt!“, hörten sie ihren Vater plötzlich lautstark von der Seite. Erschrocken sahen Lola und Lana zu ihm hinüber. In seinen Händen hielt er Lincoln Schnellhefter, während das Feuer des Kamins zu seiner Rechten weiterhin gemächlich vor sich hin loderte, den Raum erwärmte.

„Um was geht es hier bitte?“, fragte er dann, als er sich der Aufmerksamkeit seiner beiden Töchter sicher war. Im selben Moment betraten Lincoln und Lori mit Lilly zusammen das Haus.
 

„Das würde ich auch gerne wissen“, ergriff Lori sogleich das Wort. Der heftige Streit zwischen Lana und Lola war selbst draußen vor der Tür noch deutlich zu hören gewesen. Ihre Stimme alarmierte die zwei zusätzlich. Wenn Lori in der Nähe war, dann konnte Lincoln nicht weit sein. Reumütig sahen sie zu ihren drei Geschwistern hinüber.

Lori funkelte die Zwillinge verärgert an, während sie mit verschränkten Armen auf eine Erklärung wartete. Lincoln und Lilly dagegen, wirkten sichtlich verwirrt. Beschämt ließ Lana ihre Schwester los, die ihre Chance sofort ergriff und hinüber zu ihren Vater lief. Noch ehe er etwas dagegen unternehmen konnte, umklammerten Lolas Finger den Schnellhefter in seinen Händen.

„Bitte, Dad. Gib das zurück“, sagte sie und zog sogleich am Schnellhefter, doch zunächst ohne Erfolg, ihr Vater war stärker. Allmählich ergab das Ganze einen Sinn, um das Ding in seinen Händen hatten sich die Zwillinge also gestritten.

„Warum sollte ich?“, erkundigte sich Lynn Senior streng bei seiner Tochter. Diese Art von Benehmen würde er nicht ohne weiteres dulden. Unlängst lag auch Lincolns Aufmerksamkeit auf seinem Vater. Es dauerte eine Weile, doch bald identifizierte er den Schnellhefter in dessen Händen als seinen Comic. Sogleich schlug seine anfängliche Verwirrung in blankes Entsetzen um. Auch für ihn war der Grund des Streites von Lana und Lola jetzt offensichtlich.

„Weil er Lincoln gehört“, hörte er Lola antworten. Ruckartig zog sie fester am Schnellhefter und riss diesen ihren Vater im nächsten Moment aus der Hand, doch der plötzlich fehlende Wiederstand ließ Lola nach hinten taumeln. Nahe des Kamins landete sie unsanft auf ihren Hintern. Zu ihrem Schreck entglitt ihr dabei der Schnellhefter und fiel geradewegs in den Kamin hinein. Schneller als es allen Versammelten lieb war, fing er Feuer. In Panik versuchte Lola in aus den Flammen zu ziehen, doch wurde gerade noch rechtzeitig von Lana daran gehindert.

„Bist du verrück geworden?“ erkundigte sich Lana eindringlich, als sie Lola schließlich gewaltsam zu sich gezogen hatte. Lincolns Comic war einmal, aber ihrer Zwillingschwester ging es glücklicherweise gut.

„Aber die vielen schönen Zeichnungen, die ganze Arbeit.“ Sofort begann Lola bitterlich zu weinen. Das hatte sie nicht gewollt. Weder sie noch Lana.
 

Ungläubig verfolgten Lincolns Augen, wie sein Comic von den Flammen verschlungen wurde. Besorgt schielte Lori hinüber zu ihren Bruder. Sie wusste genau, wie lange er an diesen Projekt gearbeitet hatte, und was er damit erreichen wollte. Warum passierte das ausgerechnet heute, wo das mit Ronnie Anne geschehen war, und Lincoln der Kopf sonst wo stand? Das würde noch schlimm enden. Für Lana, Lola und Lincoln. Ganz bestimmt.

„Das war alles. Wegen ein paar alberner Kritzeleien dieser ganze Ärger?“, erkundigte sich sein Vater verständnislos.

Kaum hatte sie das vernommen, schlug Loris Sorge um Lincoln in unbändige Wut auf ihren Vater um. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Schön es war mitten in der Nacht, doch das war sowas von unnötig gewesen. Hatte ihr alter Herr denn kein Feingefühl?

„Was stimmt nicht mit euch!?“, vernahm Lori sodann die gefährlich brodelnde Stimme ihres Bruders. Es war soweit. Endlich hatte sich alles vor seinem inneren Auge zu einen Bild zusammengefügt. Lola, Lana und Lilly zuckten gleichermaßen vor Schreck zusammen und selbst Lynn Senior verlor für einen kurzen Moment seine Fassung.

„Habt ihr beide überhaupt eine Ahnung, wie lange ich daran gearbeitet habe!?“ Furchtbar eingeschüchtert schüttelten Lana und Lola mit ihren Kopf.

„Ein ganzes Jahr. Zwölf verdammte Monate. Und ihr habt wirklich nichts Besseres zu tun, als es als Brandbeschleuniger zu benutzen… Ist das euer Ernst!?“

Ängstlich krallte sich Lilly an Loris Jacke fest. Nie zuvor hatte sie ihren Bruder so wütend erlebt. Doch ihre Furcht war nichts in Vergleich zu Lolas und Lanas. Auf sie beide alleine richtete sich Lincolns ganzer Zorn. Und das wussten die Zwillinge sehr genau.

„Lincoln, bitte… Lass die beiden sich doch erklären“, versuchte Lori in gut zuzusprechen, doch ohne nennenswerten Erfolg. Wenn überhaupt, hatte sie seine Wut nur noch weiter geschürt.
 

„Was gibt es da zu erklären?“, erkundigte sich Lincoln bei ihr. „Es ist ja wohl offensichtlich, dass Lana und Lola nichts Besseres zu tun haben, als meine Sachen zu vernichten.“

„Das stimmt nicht“, erwiderten die Zwillinge kleinlaut. Unlängst kullerten auch Lana die Tränen übers Gesicht. Die letzte Äußerung ihres Bruders hatte auch sie massiv getroffen.

„Ach nein?“, fragte Lincoln ungehalten. „Mein Comic, mein Modelflugzeug, und noch hundert Dinge mehr. Es ist immer dasselbe. Kaum bin ich bereit dazu, euch eine Sache zu verzeihen, schon passiert die nächste. Ich habe die Nase sowas von gestrichen voll von euch!“

„Lincoln Loud. Schluss jetzt damit!“, hörte er überraschend, die Stimme seines Vaters.

„Natürlich... Wie immer stellst du dich auf die Seite der Mädchen, Dad! Ganz genau so, wie Mom es ständig tut. Selbst wenn Lisa das Haus abfackeln würde, ist es bestimmt mit einem einfachen » Tut mir leid « gegessen. Aber wenn ich etwas verbocke, bekomme ich, kaum ist es passiert, wochenlang Hausarrest, egal wie oft ich mich auch entschuldige. Oder ich werde – besser noch – mal eben so aus dem Haus geworfen. Es ist fast so, als wäre ich der Prügelknabe dieser Familie!“

Lynn Senior verschlug es glatt die Sprache und selbst Lori konnte schwer glauben, was sie gerade gehört hatte. Alle beide wussten sehr genau auf welchen Vorfall sich Lincoln gerade bezogen hatte. In Lori wuchs die Sympathie für ihren Bruder, bei ihren Vater dagegen steigerte sich der Ärger über seinen Sohn weiter. Doch Lincoln war noch nicht fertig:

„Was würdest du sagen, wenn ich aus einer Laune heraus, dein schickes Restorant niederbrenne, für das du Jahre lang geschuftet hast? Nichts anders haben Lola und Lana nämlich gerade gemacht.“

Wäre die Lage nicht bereits schlimm genug gewesen, hätte Lori über diesen Vergleich geschmunzelt. Ob nun mit Absicht oder nicht. Auf seine eigene Art hatte Lincoln durchaus Recht.
 

„Das reicht jetzt endgültig!“, platzte Lynn Senior schließlich der Kragen: „Auf dein Zimmer. Wir reden morgen darüber. Für heute habe ich genug von dir.“

„Gerne doch… Ich habe nämlich auch mehr als genug von euch.“ Ohne einen weiteren Kommentar drehte Lincoln ihnen den Rücken zu und steuerte sodann auf die Treppe zu.

„Lincoln, warte doch!“, reifen Lana und Lola im selben Moment nach ihrem Bruder. Sofort liefen sie ihm hinter her. So wollten sie sich keinesfalls von Lincoln trennen.

„Stopp!“ Augenblicklich hielten die beiden in ihrer Bewegung inne. „Bleibt verdammt noch mal, wo ihr seid. Bevor ich mich vergesse.“ Gerade hatten die Zwillinge ihre Tränen niedergekämpft, da kamen schon die nächsten. Diesmal hatte sie es gründlich verbockt.

„Lincoln…“ mahnte sein Vater ihn eindringlich, doch bevor er noch etwas sagen konnte fiel ihn jemand überraschend ins Wort:

„Lynn Loud Senior. Noch ein Wort und du verbringst den Rest der Nacht auf der Couch!“, hörten alle Versammelten plötzlich Ritas Stimme. Ursprünglich wollte sie es ihren Ehemann überlassen, für Ruhe zu sorgen, doch die wütenden Worte ihres Sohnes hatten sie schließlich aus dem Schlafzimmer gelockt.
 

Lincoln kümmerte sich auffallend wenig um sie. Mit einer unbändigen Wut im Bauch schritt er geradewegs weiter auf sein Zimmer zu, doch bevor Rita ihn zurückrufen konnte, fiel ihr etwas ins Auge. Vor ihren Füßen lag ein Blatt Papier. Sie bückte sich, hob es auf und betrachtete dieses genauer. Es war eine von Lincolns Zeichnungen gewesen, die vor den Fall in den Kamin aus dem Ordner gesegelt waren, und wie es der Zufall so wollte, direkt vor ihrer Schlafzimmertür zum Erliegen gekommen war.

Denn Großteil des Streites hatte sie mitbekommen, laut genug waren die Beteiligten ja gewesen. Sie wusste das Lana und Lola irgendetwas zerstört hatte, woran ihr Sohn, nach eigener Aussage, ewig gearbeitet und das ihr Eheman als alberne Krizeleien verunglimpft hatte. Plötzlich wusste sie, um was es sich handelte und auch in ihr stieg der Ärger auf. Aufgebracht schritt sie auf ihren Ehemann zu. Hatte Lynn überhaupt eine Ahnung, was er gerade angerichtet hatte?
 

„He, Bruder, was ist eigentlich los?“, erkundigte sich Luna, als Lincoln die Treppe hinter sich gelassen hatte. Neben ihr auf den Flur standen Lisa, Lucy, Lynn, Luan und Leni versammelt. Der Streit im Wohnzimmer war heftig genug gewesen, um alle seine übrigen Schwestern aus dem Zimmer zu locken, egal ob sie bereits geschlafen hatten oder nicht.

„Lass mich einfach in Frieden...“, antwortete Lincoln unfreundlich.

„Das gilt für euch alle“, fügte er noch hinzu, als er bemerkte, dass Leni noch etwas sagen wollte. Wenig später war Lincoln in seinem Zimmer verschwunden. Das lautstarke aufbäumen der Tür, die er gewaltsam ins Schloss geschlagen hatte, war bestimmt selbst unten noch deutlich zu hören gewesen, und dennoch wollte Luna wissen, was vorgefallen war. Um Lincoln aber nicht noch mehr zu verärgern, beherzigte sie jedoch seinen Wunsch und ging, anstatt mit ihm zu sprechen, nach unten ins Wohnzimmer. Eine andere Alternative war im Moment schwer vorstellbar.

Dort angekommen wollte sie zunächst ihren Augen kaum trauen. Lola und Lana weinten krampfhaft. Ihre Eltern funkelten sich wütend an und Lilly krallte sich ängstlich an Lori fest. Einzig diese schien noch einen klaren Kopf zu haben, doch ihr besorgter Blick stach Luna sofort ins Auge.

„Alberne Kritzeleien… Ist das dein Ernst? Von allen möglichen Dingen, die du hättest sagen können, musstest du ausgerechnet das sagen? Hier für dich...“

Ohne auf eine Reaktion ihres Ehemannes zu warten, drückte sie diesen Lincolns Zeichnung in die Hände. Es war die Charakterskizze von Lucy gewesen. Geschockt studierte er die Skizze. Lana und Lola waren keinesfalls die Einzigen, die heute Abend Mist gebaut hatten.

„Das sind die albernen Kritzeleien von dem du gesprochen hast. Unser Sohn hat ein wunderbares Talent. Eines von dem wir absolut keine Ahnung hatten, und alles was du dazu zu sagen hast ist, alberne Kritzeleien. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Lincoln sich gerade fühlen muss. Hunderte seiner Zeichnungen sind in Flammen aufgegangen, und trotzdem kommst du ihm Dumm, weil er diesmal zu Recht wütend auf die Zwillinge ist. Bei aller Liebe, Schatz, das hättest du deutlich besser handhaben können, eigentlich fast schon müssen.“
 

„He, Leute… Ich traue mich kaum, das zu fragen, aber was ist überhaupt passiert?“, erkundigte sich Luna von der Seite. Selten zuvor hatte sie ihre Familie in diesem Zustand gesehen. Überraschend legten sich die Blicke aller Anwesenden sogleich auf sie.

„Oh, Luna. Ich hab dich gar nicht bemerkt… Die Kurzfassung: Lana und Lola haben es sich gründlich mit Lincoln verscherzt. Dein Vater war unfähig die Situation zu entschärfen und hat es am Ende nur tausendmal schlimmer gemacht. Und ich habe beschämenderweise zu spät eingegriffen. Aber das ist Nichts, was wir nicht wieder hinbekommen werden“, erklärte sich Rita und sagte dann zu ihrer ältesten Tochter:

„Lori, kannst du dich bitte um die Zwillinge kümmern?“

„Sicher doch“, war Loris knappe Antwort. „Aber was ist mit Lilly?“, wollte sie kurz darauf von ihrer Mutter wissen. Im Moment wollte Lori Lilly ungern aus ihren Händen geben.

„Luna soll sich um sie kümmern und ich versuche, mit Lincoln zu sprechen“, erwiderte Rita und wandte sich sogleich an ihre musikbegeisterte Tochter:

„Luna, kannst du Lilly bitte ins Bett bringen? Für heute hatte sie im jeden Fall genug Aufregung.“

„Klare Sache, Mom“, antwortete Luna bereitwillig. Alles was sie wollte, war dabei zu helfen, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Und wenn sie dafür auf Lilly achten musste, sollte es ihr recht sein.

„Danke“, erwiderte ihre Mutter und machte sich sodann auf den Weg nach oben.
 

Mit Elan machte sich Luna, an die, ihr zu Teil gewordene Aufgabe. Sie merkte durchaus, dass Lilly der Schock noch in den Gliedern saß, darum ging sie zu ihr hinüber und kniete sich vor ihr auf den Boden. Gutmütig Lächelte Luna Lilly entgegen und versuchte, ihre Laune etwas zu heben:

„Wollen wir nach oben gehen? Unser lieber Bruder mag im Moment zwar schlecht drauf sein, aber morgen sieht die Welt bestimmt schon wieder ganz anders aus.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Lilly zurückhaltend. So recht konnte sie ihrer Schwester nicht glauben.

„Ganz sicher… Aber wie war eigentlich dein Ausflug in die Stadt? Ich bin gespannt darauf zu hören, was du dort alles erlebt hast.“ Lunas unbeschwerte Stimme bewirkte echte Wunder. Von jetzt auf gleich hellte sich Lillys Gesicht auf. Schneller als Luna es für möglich gehalten hatte, löste sich Lilly von Lori, ergriff ihre rechte Hand und begann sogleich von ihren Tag in der Stadt zu schwärmen. Während Lilly Luna allerhand erzählte, gingen die beiden gemeinsam die Treppe hoch. Ein Weile lang sah Lori ihren Schwestern hinterher, bevor sie sich schließlich an Lana und Lola wandte:

„Kommt mit ihr beiden. Gehen wir nach oben zu mir, und dann erzählt ihr mir in Ruhe, wie um alles in der Welt, das gerade passiert ist.“

„Muss das denn sein?“, fragten die Zwillinge, wie aus einem Mund. Ihr Ton ließ vermuten, dass sie der Meinung waren, auch Lori könnte sauer auf sie sein.

„Wenn wir die Sache wieder in Ordnung bringen wollen, dann werdet ihr kaum darum herum kommen. Ich werde bestimmt nicht mit euch schimpfen. Hoch und heilig versprochen. Aber ich will wissen, was ihr euch dabei gedacht habt.“

Wie aufeinander abgesprochen, wischten sich Lana uns Lola gleichzeitig die Tränen aus dem Gesicht und steuerten auf ihre ältere Schwester zu. Lori ging in die Hocke und nahm die Zwillinge sodann kurz in die Arme. Hoffentlich konnte sie ihnen so die Angst vor dem kommenden Gespräch nehmen.

„Keine Sorge, ihr beiden. Wir kriegen das wieder hin“, sagte Lori aufmunternd zu ihnen und machte sich sodann mit ihnen zusammen auf den Weg nach oben.

Einzig Lynn Senior blieb im Wohnzimmer zurück. Unzufrieden mit sich selbst, setzte er sich auf die Couch und betrachtete traurig die Zeichnung seines Sohnes. Ob er das wieder gerade biegen konnte?

Nachts um halb zwei

Wütend und verletzt schlug Lincoln die Tür zu seinem Zimmer lautstark ins Schloss. Warum traf es immer ihn? Alles war so gekommen, wie er gedacht hatte. Genau darum wollte er, dass sein Comic niemand aus seiner Familie zu Gesicht bekam, ehe es nicht fertiggestellt und eingereicht war. Alberne Kritzeleien. Ständig hallten die Worte seines Vaters in seinem Kopf wieder, doch das war nicht einmal das schlimmste. Alles Woran er das letzte Jahr so hart gearbeitet hatte, war in Rauch aufgegangen. Und wie schon so oft waren alleine die Zwillinge dafür verantwortlich gewesen und er bekam trotzdem noch das Fett weg, weil er seinen beiden Schwestern mal richtig die Meinung gesagt hatte. Sollen sie doch heulen, verdient hatten sie es ja. Er lehnte sich an die Tür und ließ sich zu Boden gleiten. Eine Weile lang hatte er nicht gewusst, ob er wütend oder traurig sein sollte. Doch jetzt wo er alleine war, sammelten sich die ersten Tränen in seinen Augen. Seine große Chance war verpufft. Endlich hatte er die Möglichkeit gehabt, aus dem Schatten seiner Schwestern herauszutreten. Mit etwas glänzen zu können, das er als einziger seiner Familie wirklich gut beherrschte, Zeichnerisches Geschick. Und nun das. Das Klingeln seines Handys holte ihn aus seiner trübsinnigen Gemütsverfassung, sofort schlug die Trauer in Wut um. Wer wollte denn ausgerechnet um halb zwei Uhr Nachts etwas von ihm? Er zog das Handy aus der Tasche und nahm den Anruf entgegen, ohne vorher nachzusehen, um wem es sich eigentlich handelte.
 

„Lincoln hier, wer stört?“, erkundigte er sich maßlos verärgert, bei seinem unliebsamen Anrufer.

„He, Lincoln. Ronnie Anne hier... Bist du sauer auf mich?“, erkundigte sich seine Freundin bei ihm. Zunächst hatte sie sein wütender Ton abgeschreckt, doch eigentlich konnte sie es ihm schwer verübeln. Immerhin hatte sie ihm neulich mitten ins Gesicht gelogen.

„Ronnie Anne? Nein… Das heißt ja. Aber nicht auf dich.“ Kaum hatte er ihre Stimme vernommen, hatte sich seine Laune etwas gebessert.

„Warum rufst du so spät noch an? Ist irgendetwas passiert?“, wollte er im nächsten Moment von ihr wissen. Sorge schwang in seiner Stimme mit. Ein Umstand, der ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

„Nein… Ich konnte nur nicht schlafen, und wollte mich darum bei dir melden…“

Ronnie Anne unterbrach sich selbst. Eigentlich wollte sie etwas Wichtiges mit ihm besprechen, doch plötzlich hatte sie der Mut verlassen, darum wechselte sie das Thema: „Wenn du nicht auf mich sauer bist, auf wenn denn dann?“, wollte sie plötzlich von ihm wissen.

„Auf die Zwillinge. Aber das langweilt dich bestimmt.“ Lincoln hatte keine Interesse mit Ronnie Anne über seine Probleme mit seinen Schwestern zu sprechen und im Moment auch wenig Lust dazu.

„Nein, gar nicht“, beteuerte Ronnie Anne. Sie schämte sich selbst für ihr unreifes Verhalten, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie neugierig war.

„Na gut. Es geht um meinen Comic. Ich weiß nicht wie die beiden ihn gefunden haben, aber als ich mit Lori und Lilly zuhause angekommen bin, haben sie sich darum gestritten. Erst auf den zweiten Blick habe ich bemerkt, um was genau es sich handelt. Doch noch ehe ich etwas sagen konnte, kam Dad aus seinem Zimmer. Wahrscheinlich haben Lana und Lola ihn mit ihrem Streit geweckt. Es ist mir ohnehin ein Rätsel, warum die Zwillinge so spät überhaupt noch wach waren. Im jeden Fall wollte er wissen, was der Lärm soll und hat schnell meinen Comic als den Grund für ihren Zank identifiziert. Und von da an lief irgendwie alles schief…“ Lincoln erzählte seiner Freundin, genau was in den letzten fünfzehn Minuten alles passiert war.
 

„Die Arbeit von mehr als zwölf Monaten ist also in Rauch aufgegangen, mit etwas Glück haben ein paar Seiten überlebt, doch der Großteil davon wärmt jetzt unser Wohnzimmer. Das ist nicht fair Ronnie Anne. Und am Ende bin trotzdem ich der Böse. Manchmal habe ich echt das Gefühl, Mom und Dad stehen immer auf der Seite der Mädels, egal wie viel Mist sie auch bauen.“

Lincoln haderte erneut mit den Tränen, doch konnte seine Gemütsverfassung durchaus vor seiner Freundin verbergen.

„Tut mir echt Leid, das zu hören. Ich habe deinen Comic und deine Figuren wirklich gemocht“, ergriff Ronnie Anne schließlich das Wort. Vielleicht sollte sie es später nochmal versuchen, wenn Lincoln wieder bessere Laune hatte? Doch dann kamen ihr Sids Worte in den Sinn. »Steh zu deinen Gefühlen und sag es ihm endlich« Und das reichte, um ihren Mut neu zu entfachen. Immerhin hatte sie nur deshalb angerufen, um mit ihren Freund reinen Tisch zu machen. Diesmal wollte und konnte sie einfach nicht kneifen.

„Sag, Lincoln. Können wir unser Gespräch bitte per Videoanruf fortsetzten. Es gibt da etwas, das ich dir unbedingt sagen möchte und ich möchte dich dabei gerne sehen können.

„Ronnie Anne. Können wir das nicht ein anderes Mal klären? Ich bin müde, habe genug anderen Mist in meinen Kopf und möchte mich eigentlich nur noch unter meiner Bettdecke verkriechen…“

„Nein“, fiel ihm Ronnie Anne ins Wort, ohne das ihr sein deprimierter Ton aufgefallen wäre.

„Ich muss das endlich loswerden, bevor mich wieder der Mut verlässt.“

„Wenn es denn unbedingt sein muss“, ging Lincoln schließlich auf den Vorschlag seiner Freundin ein. Er hatte ein ungutes Gefühl im Magen, doch konnte Ronnie Annes Bitte schlecht ablehnen. Seiner Meinung nach konnte sie ihm nur sagen wollen, dass sie bemerkt hatte, dass er sich in sie verknallt hatte, und klarstellen, dass es ihr eben anders ging. Hatte er heute nicht schon genug gelitten?

„Danke… Ich melde mich gleich wieder. Bye.“ Ronnie Anne beendete den Anruf und Lincoln machte sich sodann auf dem Weg zu seinem Bett, um dort Platz zu nehmen. Wenige Augenblicke später klingelte es erneut. Diesmal zeigt ihm sein Handy tatsächlich einen eingehenden Videoanruf an. Er atmete einmal tief durch und hob ab. Mit beiden Händen hielt er die Kamera seines Telefons etwas von seinem Gesicht entfernt.
 

„Hallo nochmal“, begann Ronnie Anne, als sie Lincolns Gesicht auf ihren Smartphone erkannte. Täuschte Lincoln sich oder wirkte seine Freundin verlegen. Doch bevor er nach dem Grund dafür fragen konnte, nahm Ronnie Anne erneut das Wort an sich:

„Hör zu, Lincoln. Es tut mir Leid, dass ich dich neulich angelogen habe. Sid hat mir erzählt, dass du ihr gestern Abend über den Weg gelaufen bist, und mich hat das schlechte Gewissen geplagt…“

Ronnie Anne unterbrach sich selbst und Lincolns Laune sank weiter in den Keller. Offensichtlich hatte er vorhin richtig vermutet.

„Doch der Grund für meinen Anruf ist der… Ich wollte dir nur sagen: Ich steh auf dich…“ Ronnie Annes Wangen glühten vor Scharm. Endlich war es raus, doch was würde ihr Freund dazu sagen?

Für einen kurzen Moment blieb die Zeit für Lincoln stehen. Hatte er sich da gerade verhört? Doch dann durchschaute er das Spiel seine Freundin, und seine aufgestaute Wut kam zurück.

„Ronnie Anne, ich bin gerade nicht in Stimmung für deine blöden Scherze.“

Aus Rücksicht auf seine langjährige Freundin versuchte er seine Stimmlage dennoch so neutral wie möglich zu halten. Das Letzte was er wollte, war einen Streit vom Zaun zu brechen.

„Was?“, fragte Ronnie Anne trotz allem etwas verärgert, doch auch sie fasste sich rechtzeitig am Riemen.

„Das ist kein Scherz… Ich meine es ernst... Hör zu. Ich kann verstehen wenn…“
 

„Nein. Du hörst mir jetzt zu“, unterbrach Lincoln sie unerwartet. „Ich bin nicht von Gestern, Ronnie Anne. In den letzten Monaten hast du deutlich gemacht, dass du nicht mit mir gesehen werden willst. Ich weiß nicht was ich falsch gemacht habe… Ehrlich nicht. Aber hör bitte auf mich für dumm zu verkaufen und sag mir einfach, was genau dich stört. Du stehst auf mich? Das ich nicht lache… Warum versuchst du dann, alles dir möglich, um nichts mit mir unternehmen zu müssen? Weißt du eigentlich, wie sich das anfühlt? Zu wissen, dass das Mädchen in das ich mich Hals über Kopf verknallt habe mir ständig ins Gesicht lügt? …“

Lincoln unterbrach sich selbst. Erneut fanden ein paar Tränen ihren Weg in seine Augen. Er fühlte sich richtig miss. Bestimmt war er eben zu weit gegangen, doch er konnte nicht anders.

„Das ist nicht witzig“, sagte er noch und verstummte. Ronnie Anne verschlug es glatt die Sprache. Alles hatte sie erwartet, aber nicht das.

„Sag das noch mal“, kam es ihr über die Lippen. Sämtliche zurückgehaltene Wut auf ihren Freund war schlagartig verschwunden. Sie hatte ihre Beziehung zu Lincoln ordentlich verbockt. Soviel stand fest, aber es war vielleicht noch möglich, eine ganze Menge zu retten.

„Willst du das wirklich ein zweites Mal hören?“, fragte er sarkastisch und fügte ohne ihre Antwort abzuwarten hinzu: „Ich steh auf dich… so richtig übel. Zufrieden, Ronnie Anne?“

Ein glückliches Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Dass sie das ausgerechnet aus seinem Mund hören würde, hätte sie bis vor kurzem kaum für möglich gehalten.

„Ich doch auch… Glaub mir bitte, Lincoln. Ich lüge nicht, ehrlich. Was hätte ich denn davon?“, antwortete seine Freundin. Jetzt wo es raus war, fühlte sie sich deutlich besser.

„Ronnie Anne, bitte…“ Wieder wurde Lincoln von seiner Freundin unterbrochen.

„Nichts bitte. Ich habe mir angehört, was du zu sagen hattest. Da ist es nur fair, du hörst dir an, was ich zu sagen habe. Findest du nicht auch?“

„Meinetwegen“, stimmte Lincoln seiner Freundin zu. Der Umstand, dass Ronnie Anne sich trotz seines Geständnisses noch unbefangen mit ihm unterhielt, war Balsam für seine Laune.
 

„Der Grund warum ich mich die letzten Monate vor einen persönlichen Treffen mit dir gedrückt habe war, dass ich Schiss davor hatte, ich könnte mich zu etwas hinreißen lassen, das ich später bestimmt bereut hätte. Ein Kinobesuch, eine Zaubershow, eine Einladung zum Essen in das Restaurant deines Vaters… Wirklich, Lincoln? Hättest du nicht etwas weniger romantisches vorschlagen können. Ich hatte voll die Panik davor, dass ich dich hätte küssen können, wenn ich zugesagt hätte. Und glaub mir, es wäre bestimmt dazu gekommen. Seit Wochen muss ich ständig an dich und dein albernes Grinsen denken.“

Ein fettes Lächeln schlich sich über seine Mundwinkel, kaum hatte sie das gesagt.

„Genau das meine ich. Warum bitte, grinst du so überglücklich? Hör auf damit.“

„Ich kann nichts dafür. Ich freue mich eben über deine Zuneigung. Wo liegt überhaupt das Problem, wir haben uns doch schon geküsst. Und das mehr als nur einmal“, erwiderte Lincoln kokett. Ronnie Annes offene und ehrliche Art beflügelte seinen Mut.

„Das war etwas anderes. Und das weist du genauso gut wie ich. Damals vor deinem Haus, hast du es doch nur gemacht, weil deine Schwestern dich dazu genötigt haben. Und bei unserem Doppeldate mit Bobby und Lori.“ Das Wort Doppeldate betonte Ronnie Anne ganz besonders. „Dort war es dasselbe. Du hast mich nur geküsst, damit Lori aufhört, sauer auf dich zu sein. Weil Bobby nicht damit klargekommen ist, was du mir keinen Tag zuvor alles an den Kopf geworfen hast.“

„Aber das habe ich doch nicht ernst gemeint“, versuchte Lincoln seine Ehre zu verteidigen.
 

„Bist du dir sicher? Ich könnte es durchaus verstehen, wenn du alles genauso gemeint hast, wie du es auch gesagt hast. Schließlich habe ich mich selten wie ein vorbildlicher Freund verhalten. Das ist mir durchaus bewusst.“ Reumütig senkte Ronnie Anne ihren Blick. Im Nachhinein betrachtet hätte sie öfters deutlich freundlicher sein können.

„Ganz sicher. Ich war nur sauer auf die Jungs und ihr blödes Gelaber, das war dumm von mir. Dabei hätte ich wissen müssen, dass sie nur eifersüchtig auf mich waren. Schließlich war ich der Erste in unserer Klasse, der so etwas wie eine feste Freundin hatte, und sie auch geküsst hat.“

„Glaubst du wirklich, das trifft zu?“, wollte Ronnie Anne von ihm wissen.

„Selbstverständlich. Warum sonst sollten sie mich einerseits ärgern, aber sich andererseits Tipps von mir holen wollen, wie man Mädchen für sich gewinnen kann. Und das so sehr, dass sie bereit dazu waren, Geld dafür zu bezahlen.“

„Oh ja… Ich erinnere mich. Dieses Mädchenguru Desaster, womit du dir am Ende den Zorn der ganzen Schule zugezogen hast. Selbst den der Lehrer.“ Ronnie Anne musste Schmunzeln, als sie daran zurückdachte. Auch sie hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn mit einer Torte zu bewerfen. Jetzt, Jahre später dagegen, tat es ihr unheimlich Leid.

„Ganz genau“, antwortete Lincoln verlegen. Unlängst war ihm das Blut in die Wangen geschossen.

„Mach dir nichts draus. Du weißt durchaus, wie man Mädchen für sich gewinnt. Ich bin schließlich eines und bin deinem albernen Charme am Ende erlegen. Doch du kannst schlecht leugnen, dass du damals keinerlei romantische Gefühl für mich empfunden hast. Versteh mich nicht falsch. Ich habe es gemocht mit dir abzuhängen und genieße es euch heute noch. Du warst mein erster Freund in Royal Woods und bist neben Sid mein bester Freund überhaupt. Und auch unsere Küsse waren eigentlich ganz nett, doch am Ende waren sie alle nur gestellt, ohne großartige Emotionen dahinter. Theaterküsse, wenn du so willst. Das hat sich jetzt aber geändert.“

„Geändert? In wie fern?“ Er wusste natürlich, was seine Freundin ihm damit sagen wollte, doch er wollte sie dazu bewegen, erneut die schönsten Worte dieses Abends an ihn zu richten.
 

„Stell dich nicht dümmer als du bist. Du weißt genau was ich damit meine. Ich kann unmöglich sagen, wann das Ganze angefangen hat. Als ich von Royal Woods in die Stadt gezogen bin, habe ich dich die meiste Zeit über richtig vermisst, und das obwohl du dich regelmäßig bei mir gemeldet hast. Trotz der Entfernung hast du es immer geschafft, meinen Tag etwas besser zu machen. Es war toll mich mit dir zu unterhalten. Egal ob über Videochat, per Telefon, oder über E-Mail. Und wenn du dann doch mal persönlich vorbeigeschaut hast, habe ich mich unheimlich darüber gefreut. Selbst deine altmodischen Briefe, die du gelegentlich schickst, sind irgendwie etwas Besonderes für mich. Ich schäme mich fast, dass zu sagen, aber jeden Einzelnen davon habe ich aufgehoben. Gut versteckt in einer kleinen Box unter meinem Bett, verborgen vor neugierigen Blicken meiner Familie, versteht sich. Aber was zählt ist, dass ich sie noch habe… Kitschig nicht wahr?“

„Ein wenig“, meinte Lincoln. Verlegen kratze er sich am Hinterkopf. „Aber ich freu mich darüber.“

„Das ist süß von dir“, antwortete Ronnie Anne und fügte hinzu:

„Man sollte meinen, das alles hätte mich früher ins Grübeln bringen müssen, doch wirklich überrissen habe ich es erst, als du angefangen hast, während unserer Unterhaltungen, über diese Stella zu schwärmen.“

„Du willst mir ernsthaft weiß machen, du warst eifersüchtig?“, fragte Lincoln seine langjährige Freundin frei heraus. Das konnte er beim besten Willen nicht glauben. „Stella und ich sind nur gute Freunde.“

„Das waren wir einst auch. Oder etwa nicht?

„Guter Einwand“, antwortete Lincoln. Plötzlich musste er daran zurückdenken, wie er, Rusty, Liam, Zack und Clyde gedacht hatten, Stella könnte etwas von einen von ihnen wollen. Er konnte unmöglich leugnen, dass er eine Weile lang etwas für Stella übrig hatte.
 

„Wie du schon richtig bemerkt hast, war ich auf dieses Mädchen, von dem du scheinbar so eine hohe Meinung hattest, eifersüchtig. Und dann hat es plötzlich klick gemacht. Ehe ich mich versah habe ich damit begonnen, alles was ich zu dir gesagt habe zu hinterfragen. War das jetzt zweideutig? Denkt er, ich flirte mit ihm?“

Lincolns zurückhaltendes Lachen unterbrach sie in ihren Redefluss.

„Genau… Lach du nur. Für mich war das Ganze aber alles andere als amüsant. Ich habe mich daran erinnert, wie ich mich einst verhalten habe, nachdem ich gedacht hatte, du könntest dich in mich verknallt haben. Damals, als du mir diesen einen Zaubertrick mit den Ringen vorführen wolltest. Und irgendwie dachte ich wohl, solltest du je Verdacht schöpfen, könntest du dich womöglich genauso peinlich verhalten. Und das wollte ich nicht. Außerdem war ich davon überzeugt, du würdest auf diese Stella stehen. Kannst du dir denken, was für alberne Horrorszenarien ich mir ausgemalt habe, die passieren könnten, solltest du jemals Wind von meinen Gefühlen für dich bekommen? Ich wollte einfach, dass alles so bleibt wie es war. Doch am Ende habe ich mit meinen Verhalten mehr kaputt gemacht, als ich retten konnte...“

Ein kurzes Schweigen folgte.

„Es tut mir wirklich leid, Lincoln: Die Ohrfeigen, die dummen Scherze und Streiche, die ich mir mit dir erlaubt habe. Mein unreifes und verletzendes Verhalten. Einfach alles davon… Ich weiß nicht, ob das mit uns klappen kann, aber wollen wir es trotzdem versuchen?“

„Du meinst, gemeinsam als Paar?“, fragte Lincoln vorsichtshalber nach. Hoffentlich hatte er sie richtig verstanden. Sollte am Ende dieses Tages noch eine Sache so laufen, wie er es sich gerne gewünscht hätte? Könnte das wirklich wahr sein?

„Genau… Gemeinsam als Paar. Nächstes Wochenende läuft ein Film im Kino an, den ich gerne sehen möchte. Ich habe auch genug Geld für eine Fahrkarte nach Royal Woods. Was denkst du, Lust darauf, gemeinsam mit mir ins Kino zu gehen?“

„Ist das eine Einladung auf ein Date?“, fragte Lincoln sie kokett.

„Wenn du es so nennen möchtest“, antwortete Ronnie Anne mit ähnlicher Tonlage.

„Sehr gerne“, erwiderte Lincoln mit überglücklicher Stimme. Doch eine Frage blieb dennoch offen.

„Aber warum so plötzlich? Warum redest du ausgerechnet heute mit mir über deine Gefühle?“

„Ganz ehrlich? Sid hat mir ordentlich den Kopf gewaschen, nachdem sie dir über den Weg gelaufen war, und erfahren hat, dass ich dich angelogen habe. Als sie dann von mir den Grund für alles erfahren hat, meinte sie nur: Ich weiß gar nicht wo dein Problem liegt. Ihr könnt denselben Quatsch machen wie immer, zuzüglich einiger feiner Extras.“
 

„Feine Extras?“, wiederholte Lincoln. Eine zarte Röte legte sich über seine Wangen.

„Genau… Feine Extras. Du weißt schon: Herumknutschen, hemmungslos miteinander vögeln und rummachen. Alles was Paare ebenso tun“, antwortete sie mit neckender Stimme.

„Ich habe dich schon verstanden, Ronnie Anne“, erwiderte Lincoln furchtbar verlegen. Das gut gelaunte Lachen seiner Freundin drang durch den Lautsprecher seines Handys.

„Keine Panik… Wir müssen nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Lass uns damit beginnen, das zu machen, was wir schon kennen. Diesmal aber nicht aus irgendwelchen selten dämlichen Gründen, wie etwa, es deinen Schwestern recht zu machen, oder die sinnlosen Beziehungsprobleme unserer älteren Geschwister beizulegen… Kannst du damit leben?“

„Und wie ich damit leben kann“, antwortete Lincoln glücklich. Besser konnte es kaum laufen.

„Das ist ein guter Anfang. Aber eine Sache wäre da noch. Ich möchte gerne über Nacht bleiben. Doch du bist der einzige Freund in Royal Woods, den ich habe. Habt ihr in eurem Haus zufällig noch Platz für eine weitere Person?“

„Schwierig… Jetzt wo du meine feste Freundin bist, werden meine Eltern wohl kaum erlauben, dass du in meinem Zimmer übernachtest. Ich kann mir buchstäblich ihre Gesichter vorstellen, wenn ich sie darum bitten würde.“ Lincoln und Ronnie Anne mussten zeitgleich schmunzeln.

„Doch Lori fährt Montagabends wieder zurück zum College und wird erst zu Thanksgiving wieder zuhause sein. Ihr Bett wäre also frei. Wenn es dich nicht stört, mit Leni ein Zimmer zu teilen, haben wir durchaus Platz für dich. Lori hat sicher nichts dagegen.“
 

„Toll… Dann ist es beschlossene Sache. Bye, Lincoln, und das mit deinem Comic tut mir wirklich leid. Hast du keine Sicherheitskopie erstellt?“

„Dummerweise nicht. Wir haben keinen Scanner, den ich benützen könnte, um meine Bilder auf den PC zu übertragen und zu speichern. Und mit Zeichenprogrammen habe ich derzeit noch so meine Probleme.“

„Verstehe“, antwortete Ronnie Anne bedauernd. Sie litt still mit ihren Freund.

„Kannst du dann nicht versuchen, es nochmal zu zeichnen?“

„Natürlich könnte ich das. Aber das hätte keinen Sinn. Ich habe Wochen zum Plotten gebraucht und Monate zum Zeichnen. Selbst wenn mir Mom und Dad erlauben würden, das gesamte nächste Monat die Schule zu schwänzen, würde ich nie im Leben rechtzeitig damit fertig werden.“

„Und wenn du es nächstes Jahr wieder probierst?“

„Es ist nicht sicher, ob dieser Wettbewerb nächstes Jahr ein Comeback feiert, und selbst wenn doch, ich könnte nicht mehr daran teilnehmen. Die Regel sagen deutlich, dass nur Jugendliche unter fünfzehn daran teilnehmen dürfen. Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich jedoch bereits fünfzehn.“

„Und vielleicht keine Jungfrau mehr.“ Augenblicklich machte Lincolns Kopf einer reifen Tomate Konkurrenz. Ein breites Grinsen schlich sich über Ronnie Annes Lippen. Selbst wenn sie es nicht ganz ernst gemeint hatte. Es machte Spaß ihren Freund in Verlegenheit zu bringen.

„Du bist süß, Lincoln… Weißt du das? Doch was ist, wenn du versuchst, ein kürzeres zu zeichnen?“

„Ähm… Danke“, begann Lincoln furchtbar verlegen. Ihr Kompliment und ihr Scherz von vorhin, hatten ihr Ziel erreicht, doch bald fand er zu seiner alten Gelassenheit zurück:

„Theoretisch möglich. Aber ich würde trotzdem höchstens zwanzig Seiten schaffen. Und das macht bestimmt keinen guten Eindruck, egal ob mir die Zeichnungen nun gut gelingen würden oder nicht. Außerdem habe ich keine Großartigen neuen Ideen. Unabhängig davon, ob ich nun gewonnen hätte oder nicht, wollte ich die Geschichte erst zu einem Abschluss bringen, bevor ich mich an etwas Neues Setzte. Ab und zu mal eine Landschaftsaufnahme zwischendurch zu Papier zu bringen, um auf andere Gedanken zu kommen, kann ich durchaus mal machen. Ich bin aber schlecht darin, an zwei Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Sollte ich etwas Neues anfangen, dann wandern meine Gedanken bestimmt ständig zum Alten zurück, sodass ich mich unmöglich auf das Neue konzentrieren kann. Egal was ich auch versuche, diese Chance ist endgültig vorbei.“

„Schade… Aber du zeichnest die Geschichte trotzdem zu Ende, wenn ich dich eben richtig verstanden habe. Ich bin nämlich durchaus gespannt darauf, wie du das Ganze fortführen möchtest. Selbst dann, wenn ich schon weiß, dass die Blacks am Ende die Bösen sein werden. Zumindest ein Teil davon. Rosanna selbst wirkt doch ziemlich loyal.“
 

„Respekt, Ronnie Anne. Du hast sehr gut aufgepasst“, merkte Lincoln an.

„Das war auch leicht rauszubekommen. Das Haus Fernandes wurde zum Opfer, wenn man so will. Die Familie Redmoor, oder was von dieser übrig ist, steht offensichtlich auf der Seite der Guten, und Raven Heartfilia scheint augenscheinlich auch aus familiären Gründen zu handeln, oder wie sonst soll ich den Satz »Ich hol mir zurück was einst uns gehörte, Vater« deuten. Aber da wir gerade davon sprechen. Wie lange wolltest du die Geschichte eigentlich machen?“

„Ich dachte an fünfzig Kapitel, also fünf Bände zu je zehn Kapitel. Die Anfänge, falsche Verdächtige, allmählich auf der richtigen Spur, die letzten Hinweis und das große Finale, wenn man so möchte“, erklärte sich Lincoln bereitwillig. Er freute sich sichtlich über ihr Interesse an seinem Projekt.

„Wow… Da hast du noch eine Menge Arbeit vor dir. Ich hoffe, du lässt mich auch die neuen Kapitel Probelesen. Ich will schließlich wissen, wie Ronalda und Logan zusammenfinden.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Lincoln seine frischgebacken Freundin. Unlängst waren seine Wangen wieder ein paar Nuancen dunklerer geworden.

„Nenne es weiblich Intuition, wenn du so möchtest. Tatsache ist aber, dass du dir nicht gerade viel Mühe gegeben hast, Logans Faszination für Ronalda zu verbergen. Wie lange stehst du eigentlich schon auf mich? Doch bestimmt länger als du an deinem Comic gearbeitet hast.“ Ronnie Annes Mundwinkel wanderten nach oben. Das würde sie wirklich sehr gerne wissen.

„Schwer zu sagen, doch richtig erwischt hat es mich im jeden Fall damals, als ich dir letzten Herbst bei deinem Skateboard-Wettbewerb zugesehen habe. Deine Peformens hat mich umgehauen und das hübsche Lächeln, das du im Gesicht hattest, als du den Wettbewerb schließlich für dich entscheiden konntest, wie auch das strahlende Funkeln deiner Augen auf dem Siegertreppchen haben mich regelrecht verzaubert. Zum ersten Mal ist mir richtig bewusste geworden, was für ein hübsches und cooles Mädchen du wirklich bist. Dein Verhalten mir gegenüber, das du im Siegestaumel an den Tag gelegt hast, war auch nicht ganz unschuldig daran.“ Auch Lincolns Mundwinkel wanderten nach oben, als er daran zurückdachte. Dieser Wettbewerb war im jeden Fall ein Highlight seines Lebens gewesen.
 

„Was meinst du? Was habe ich den gemacht?“, wollte Ronnie Anne sichtbar verlegen von ihm wissen. Aus welchen Gründen auch immer konnte sie sich nicht mehr genau daran erinnern. Sicher war nur, dass sie sich unheimlich über den ersten Platz gefreut hatte.

„Nun ja… Du bist mir um den Hals gefallen, hast mir eine Kuss auf die Wange gegeben und mich über eine Minute lang fest an dich gedrückt, während du dich bestimmt ein Dutzend Mal bei mir dafür bedankt hast, dass ich mir Zeit genommen habe und mit dabei sein konnte.“

„Das klingt aber überhaupt nicht nach mir“, antwortete Ronnie Anne furchtbar verlegen.

„Dem kann ich nicht wiedersprechen, aber ich habe mich trotzdem sehr darüber gefreut. Selbst dann, wenn ich mir sicher den Unmut des einen oder anderen Jungen zugezogen habe, der zufällig anwesend gewesen war und deinem Charme erlegen ist. Lori hat das Ganze auch auf Video, wenn du mir nicht glauben solltest. Immerhin waren sie und Bobby mit dabei. Und du weißt inzwischen bestimmt, wie sie manchmal sein kann. Ihr kleiner Bruder, der von einem Mädchen umarmt wird, das zufällig nicht eines seiner Schwestern war, das konnte Lori sich unmöglich entgehen lassen.“

„Gut möglich. Das bleibt aber unter uns… Wehe dir, du erzählst das weiter.“

„Meine Lippen sind fest versiegelt. Hoch und heilig versprochen, Ronnie Anne.“

„Das will ich doch hoffen. Aber was ist jetzt mit Lana und Lola? Du weißt hoffentlich, dass du nicht ewig auf die beiden sauer sein kannst. Oder?“

„Natürlich. Selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht. Aber heute haben die beiden echt den Vogel abgeschossen. Eine einfache Entschuldigung werde ich diesmal nicht gelten lassen. Es wird Zeit, dass sie lernen, dass ihr Verhalten auch Konsequenzen haben kann, die sich nicht so ohne weiteres aus der Welt schaffen lassen.“

„Das ist dein gutes Recht. Sei aber bitte nicht zu hart zu ihnen. Ich habe es dir nie gesagt, aber die Art wie du mit deinen Schwestern umgehst, besonders mit deinen jüngeren, hat mich schon immer fasziniert. Vergiss das bitte nicht. Gute Nacht, Lincoln. Wir sehen uns nächste Woche. Wenn du möchtest natürlich auch schon früher. Inzwischen habe ich mich mit unseren Videotelefonaten und Videochats durchaus angefreundet.“
 

Ronnie Anne formte mit ihren beiden Händen ein Herz vor ihrer Brust und beendete keine Sekunde später auch schon das Videotelefonat. Scheinbar war ihr ihre letzte Aktion schnell peinlich geworden. Die reizende Röte ihrer Wangen, die Lincoln als Letztes zu Gesicht bekommen hatte, würde sich auf ewig in sein Gedächtnis einbrennen. Ob Ronnie Anne wusste, wie süß sie sein konnte?

Gut gelaunt ließ er sich zurück in seine Mattratze fallen. Alles im allem war nicht alles an diesen Tag ein Desaster gewesen. Die Zaubershow war toll, er hatte Lilly für die Magie begeistern können, das Abendessen mit Lori und Bobby war deutlich weniger anstrengen, als er gedacht hätte und Ronnie Anne war tatsächlich seine feste Freundin geworden. Das Ende seines Comics war möglicherweise nicht gleichzusetzten mit dem Ende der Welt. Vielleicht hatte er überreagiert, doch konnte man es ihm wirklich verübeln? Gerade wollte er die Augen schließen, da klopfte es an der Tür.

Lori und die Zwillinge

Still und geduldig stand Rita vor der Zimmertür ihres Sohnes. Vor kurzem hatte sie geklopft. Nun wartete sie darauf, dass Lincoln sie hereinbitten würde. Hoffentlich spielte er nicht mit den Gedanken, sie wegzuschicken. Rita hatte vor die Wogen zumindest notdürftig zu glätten und wollte dabei ungern auf ihre elterliche Autorität beharren müssen.
 

„Nur zu. Komm rein“, hörte sie die Stimme ihres Sohnes. Offensichtlich hatte sein vorheriges Gespräch mit Ronnie Anne seine Laune etwas angehoben. Sie wartete natürlich schon länger vor der Tür, doch als sie das erste Mal klopfen wollte, hatte Rita plötzlich das Klingeln seines Handys vernommen und es sich spontan anders überlegt. Sie wollte warten, bis der Anrufer, wer in aller Welt es um diese späte Stunde auch sein mochte, sein Anliegen vortragen konnte ohne von ihr gestört zu werden. Selbstverständlich hatte sie darum eine Menge von dem Gespräch der beiden mitbekommen, weil Lincoln gerne mit eingeschalteten Lautsprecher telefonierte. Schnell hatten sich ihre Mundwinkel nach oben gezogen.

Der Start mag etwas holprig gewesen sein, aber mit dem Ergebnis war sie durchaus zufrieden. Ihr kleiner Junge hatte also in Ronnie Anne seine erste, feste Freundin gefunden. Rita griff nach der Türschnalle und öffnete die Tür, als sie jedoch ihren Sohn sah, wünschte sie sich schnell, es nicht getan zu haben. So sehr Ronnie Anne seine Laune auch gehoben hatte, es tat weh zu sehen, wie diese, kaum hatte sie das Zimmer betreten, wieder in den Keller sank.

„Na toll. Willst du mir jetzt etwa auch noch vorwerfen, dass ich mich vorhin unmöglich benommen habe?“, erkundigte sich Lincoln gereizt. Als ob die Rüge von seinen Vater nicht schon schlimm genug gewesen war.

„Nein, Lincoln. Darum bin ich nicht hier. Darf ich mich zu dir setzen?“, ergriff Rita das Wort. Zwar schmerzte seine Ablehnung ihr gegenüber heftig, doch sie wollte mit ihm reden.
 

„Wenn es denn sein muss“, antwortete Lincoln. Es war leicht zu erkennen, dass er nach wie vor wenig begeistert über ihre Anwesenheit war, doch seine Zustimmung war ein Schritt in die richtige Richtung.

Lincoln setzte sich auf und machte seiner Mutter Platz. Dankbar lächelte Rita ihm entgegen und setzte sich sogleich neben ihres Sohnes auf dessen Bett. In ihrer Hand befanden sich fast alle Zeichnungen, die den Unfall überlebt hatte, weil sie zuvor aus dem Ordner gefallen waren. Einzig Lucys Charakterskizze war noch in den Händen ihres Mannes.

„Ich wusste nicht, dass du so gut zeichnen kannst. Es ist schade, dass du es für unnötig empfunden hast, mir davon zu erzählen. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?“

Überrascht über ihre traurige Stimmlage sah Lincoln zu ihr und bemerkte, dass seine Mutter gerade die Charakterskizze von Lola betrachtete.

„Ich dachte, ihr würdet es albern finden. Im Vergleich zu Loris Talent fürs golfen und den zahlreichen Talenten der Anderen, fand ich meines fürs zeichnen immer etwas unbedeutend. Und jetzt weiß ich auch, dass ich Recht damit gehabt habe“, erklärte sich Lincoln. Sein mangelndes Selbstvertrauen schmerzte Rita tief im Herzen. Gleichzeitig dazu wuchs ihr Ärger über ihren Ehemann. Bestimmt war nur seine dumme Bemerkung von vorhin daran schuld gewesen. Doch trotz allem wollte sie ihm den Rücken stärken.

„Das stimmt nicht. Ich finde es toll, dass wir neben Luna und Lucy noch einen weiteren Künstler in der Familie haben“, versuchte sie ihren Sohn aufzumuntern. Tatsächlich schlich sich ein Lächeln über seine Lippen. Scheinbar war sie auf einen guten Weg.

„Hör zu, Lincoln. Ich weiß, dein Vater hat heute Mist gebaut, aber sei bitte nicht sauer auf ihn. Was er gesagt hat, hat er nie im Leben so gemeint. Ich bin mir sicher, wenn er deine Zeichnungen vorher gesehen hätte, hätte er bestimmt etwas anderes darüber gesagt.“

„Das ist nicht so wichtig, Mom. Selbst wenn ihm meine Zeichnungen tatsächlich nicht gefallen sollten, wäre das halb so schlimm. Was mich aber Ärgert ist, dass er ständig auf der Seite der Mädchen steht. Egal wie viel Mist sie auch bauen, immer bin ich der Angeschmierte“, antwortete Lincoln zu tiefst verletzt.

„Lincoln, das ist doch nicht wahr“, erwiderte Rita einfühlsam. Kein Wunder dass es ihm ausgerechnet heute so vorkommen musste, doch sie fühlte sich verpflichtet, die Ehre ihres Mannes zu verteidigen.

„Und ob das wahr ist!“, wurde Lincoln unerwartet etwas lauter.

„Obwohl Lana und Lola ständig ungefragt meine Sachen anfassen und kaputtmachen, kommen sie immer mit einen blauen Auge davon. Wann hatten die beiden bitte zuletzt Hausarrest? Jedes verdammte Mal heißt es nur, macht das bitte nicht wieder, und alles ist für die Zwillinge wieder in Ordnung. Und das ärgert mich, denn kaum mach ich mal etwas falsch, kann ich mich im nächsten Moment auf eine Standpauke und mindestens eine Woche Stubenarrest einstellen. Ganz genauso wie heute Abend. Gut, ich mag noch keinen Stubenarrest ausgefasst haben, aber warte mal ab bis morgen früh.“
 

„Zur Verteidigung deines Vaters muss ich aber auch sagen, dass du heute überraschend harsch zu den beiden gewesen bist… Versteh das bitte nicht falsch. Ich kann dich verstehen, besser als du denkst. Wenn die Mädchen eines meiner Manuskripte als Brandbeschleuniger benutzen würde, um es mit deinen Worten zu sagen, wäre ich sicher auch sauer auf die beiden.“

„Das kannst du nicht vergleichen, Mom. Du hast deine Manuskripte auch Digital, also eine Sicherheitskopie davon, ich aber nicht. Mehr als zweihundert Seiten sind weg, und zwar endgültig.“

„Entschuldigung, das habe ich nicht bedacht. Natürlich hast du Recht damit. Achte aber bitte trotzdem darauf, was du sagst. Ich bin weder hier um dich zu tadeln, noch um dir Stubenarrest aufzudrücken, Lincoln. Alles was ich wollte war, mit dir zu reden. Die Mädchen haben deine Zeichnungen nicht absichtlich vernichtet, ganz im Gegenteil. Ich bin fest davon überzeugt, dass Lana und Lola im Moment von unheimlichen Schuldgefühlen dir gegenüber geplagt sein müssen. Behalte das einfach im Hinterkopf, und sei bitte nicht zu hart zu ihnen… Mir zu liebe.“

„Ich werde mich sicher nicht bei Lana und Lola entschuldigen. Ganz egal, was du auch sagst“, äußerte sich Lincoln verärgert. Selbstverständlich stand auch seine Mutter wieder auf der Seite der Mädchen. Was für eine Überraschung.

„Darum habe ich dich auch nicht gebeten, Lincoln. Alles was ich von dir möchte ist, die Bereitschaft ihnen zu vergeben. Immerhin sind sie deine kleinen Schwestern.“

„Ich denke darüber nach“, antwortete Lincoln, der Diskussion überdrüssig geworden. „Ich kann aber nichts versprechen.“

Ein sanftes Lächeln umspielte die Mundwinkel seiner Mutter. Lincoln war schon immer ein gutmütiger Junge gewesen und sie konnte kaum in Worte fassen, wie stolz sie auf ihn war.
 

„Danke, Lincoln. Das bedeutet mir wirklich viel. Ich lasse deine Zeichnungen hier, Okay?“

Lincoln nickte stumm mit den Kopf und Rita erhob sich von seinem Bett. Wenig später hatte sie seine Zeichnungen bereits dort abgelegt, wo sie vor kurzem noch gesessen hatte und widmete sich wieder ihrem Sohn:

„Gute Nacht, Lincoln. Ich bin froh darüber, dass du mir zugehört hast. Und bevor ich es vergesse, ich freue mich sehr für dich und Ronnie Anne.“ Schlagartig errötete Lincoln etwas.

„Das kann ja wohl nicht wahr sein. Lauscht eigentlich jeder in diesem Haus?“, erkundigte er sich furchtbar verlegen bei seiner Mutter. Plötzlich musste Rita lachen. Die Reaktion ihres Sohnes war so knuffig gewesen, dass sie über den ersten Teil seiner Äußerung hinwegsah.

„Nun ja. Was soll ich sagen. Die Wände in diesem Haus sind dünn. Und außerdem, konnte ich doch nicht einfach dein Zimmer betreten, wenn du gerade mit deiner Freundin telefonierst“, antwortete Rita vergnügt, und schickte sich an das Zimmer zu verlassen, doch kurz vor der Türschwelle, zog ihr Sohn nochmal ihre Aufmerksamkeit auf sich:

„Gute Nacht, Mom.“

„Dir auch“, antwortete seine Mutter sanft. Bevor Rita das Zimmer endgültig verließ, warf sie noch einen letzten Blick über ihre Schulter und bemerkte schnell, dass Lincoln unlängst seine Zeichnungen in den Händen hielt. Wehmütig betrachtete er Lolas Charakterskizze. Ein schweres Gewicht fiel von ihren Herzen. Vielleicht würde es etwas dauern, doch nun war sie sich sicher, zwischen Lincoln und den Zwillingen würde bald wieder alles in Ordnung sein.
 

Wenige Minuten zuvor hatten sich Lana und Lola, zusammen mit Lori in deren Zimmer zurückgezogen. Lori wollte alleine mit den Zwillingen sprechen und hatte darum Leni gebeten, doch bitte vor der Tür zu warten, bis sie fertig waren. Gerne war diese ihren Wunsch nachgekommen. Als ihr Lincoln die Sache mit den Zwillingen vorgestern erklärt hatte, hatte Lori es als eine Fase abgetan, die wenig Schaden anrichten konnte. Nachdem sie aber gesehen hat, was vor wenigen Minuten alles passiert war, hatte sie begonnen, ihre Haltung zu überdenken. Lincoln mag vielleicht überreagiert haben, doch wirklich verübeln konnte sie es ihm kaum. Immerhin war ihren kleinen Bruder eine Menge an diesem Projekt gelegen.
 

„Ich kann gar nicht sagen, wie enttäuscht ich von euch beiden bin“, begann Lori zu sprechen.

„Habt ihr eine Ahnung warum Lincoln damit begonnen hat, dieses Comic zu zeichnen, und was er damit erreichen wollte?“

Stumm schüttelten Lana und Lola mit ihren Kopf. Nach wie vor standen ihnen die Tränen im Gesicht. Alles was sie wussten war, wie lange ihr gemeinsamer Bruder daran gearbeitete hatte. Lincolns Gefühlsausbruch von vorhin wirkte noch deutlich nach und die Schuldgefühle erdrückten die beiden beinahe.

„Dieser Comic war ihm aus mehreren Gründen sehr wichtig gewesen. Er hat sich unheimlich viel Mühe mit jeder einzelnen Seite gegeben und ihr beide habt innerhalb eines Momentes das zerstört, woran er mehr als ein Jahr lang mit Herzblut gearbeitet hat. Reife Leistung“, fügte Lori noch hinzu. Maßlos ärgerte sie sich über die Zwillinge, doch verbissen versuchte sie, sich wenig davon anmerken zu lassen. Immerhin hatte sie Lana und Lola versprochen, nicht mit ihnen zu schimpfen. Und daran wollte sie sich gerne halten. „Wollt ihr mir vielleicht erklären, wie es dazu gekommen ist?“

„Das ist alles Lolas Schuld“, antwortete Lana. Wütende warf sie ihrer Schwester einen bösen Blick zu.

„Gar nicht wahr. Wenn du einfach bei deiner Freundin geblieben währest, oder das getan hättest, um was ich dich gebeten habe, hätte Lincoln nicht einmal bemerkt, dass ich es gelesen habe“, verteidigte sich Lola. Unlängst hatte sie vergessen, weshalb Lana früher zurück gekommen war.

„Was glaubst du, wie gerne ich doch bei Sally geblieben wäre?“, antwortete Lana überraschend lautstark. Eingeschüchtert schreckte Lola in sich zusammen. Plötzlich fiel Lola wieder ein, warum ihre Schwester überhaupt nachhause gekommen war, und augenblicklich bereute sie ihre Worte von vorhin.

„Doch das ist im Moment weniger wichtig. Hättest du einfach um Erlaubnis gefragt, wäre Lincoln jetzt nicht wütend auf uns“, keifte Lana zurück. Sie war sauer auf ihre Schwester und das nicht zu knapp.
 

„Schluss jetzt damit!“, wurde Lori ihrerseits etwas lauter. Das war ja zum verrückt werden. So musste sich Lincoln fühlen, wenn immer er dazu gezwungen war, als Vermittler zwischen Lola und Lana zu arbeiten. Plötzlich wusste sie wieder, warum sie und ihre Schwestern sich einst darauf geeinigt hatten, sich bei Streitereien, die nicht ihre eigenen waren, herauszuhalten. Das Schwesternstreitprotokoll hatte durchaus seine Berechtigung. Doch diesmal konnte sie unmöglich dazu schweigen. Allmählich machte sich auch Lori Sorgen um die Zwillinge.

„Ich will jetzt die ganze Geschichte von euch hören. Jeder sagt was Sache ist und Lola kommt zuerst. Warum wusstest du überhaupt, dass Lincoln an einen Comic arbeitet? Er hat nur mir, Ronnie Anne und Clyde davon erzählt.“

„Ganz genau... Sag Lori schon, wie du Lincolns guten Willen wiederholt mit Füßen getreten hast. Er verlangt nur eine einzige Sache von uns, und nicht einmal das kannst du respektieren.“

„Na warte“, keifte Lana zurück, doch bevor die beiden handgreiflich werden konnten, fiel ihnen Lori ins Wort:

„Lana, Lola. Es reicht!“ Beide Schwestern verstummten schlagartig.

„Ich habe gesagt, Lola kommt zuerst. Also bitte, was hat Lana damit gemeint?“

„Lincoln möchte, dass wir sein Zimmer nicht betreten, wenn er außer Haus ist“, antwortete Lola eingeschüchtert.

„Genau… Und Lola hält sich nie daran. Dazu kommt noch, dass sie es nicht lassen kann, ständig in seinen Sachen herumzuschnüffeln und irgendetwas davon kaputt zu machen.“

„Das ist voll gelogen“, verteidigte sich Lola vehement. Diese böswillige Unterstellung würde sie nicht auf sich sitzen lassen.

„Natürlich. Und was ist mit seinem Modelflugzeug?“, erkundigte sich Lana sarkastisch.

„Fängst du schon wieder damit an. Ich habe dir schon mal gesagt: Das wäre immer noch ganz, wenn du nicht gewesen wärest“, antwortete Lola verärgert. Sie hat es so satt, daran Erinnert zu werden.

Schuldbewusst senkte Lana ihren Kopf. Offensichtlich zeigte sie Einsicht. Ein Glück, Lori hatte bereits mit den Gedanken gespielt, wieder eingreifen zu müssen. Wer hätte gedacht, dass die beiden so anstrengend sein konnten?

„Das will ich auch nicht bestreiten, aber ich möchte doch nur, dass du seine Wünsche beachtest. Lincoln hilft Luan bei ihrem Funny Business, dir bei deinen dummen Wettbewerben, Lynn bei ihrem Training und Leni bei ihrem Hobby, neu Kleider zu entwerfen und herzustellen. Er hört sich sogar Lucys Gedichte und Lunas Liedtexte an. Und findet trotzdem noch Zeit mit mir und Lilly etwas zu unternehmen, oder mit seinen Freunden auszugehen. Warum fällt es dir dann so schwer, ihm diesen einen Gefallen zu tun?“, erklärte sich Lana unter Tränen. Lola verschlug es glatt die Sprache, zum ersten Mal hatte sie keine Antwort auf Lanas unerwünschte Einmischungen. Ihr schlechtes Gewissen hatte sich heftig zurückgemeldet.
 

„Das würde mich auch interessieren“, zog Lori die Aufmerksamkeit auf sich. „Ich weiß besser, als jeder andere in diesem Haus, dass wir kaum echte Privatsphäre haben. Das wenigste, was du tun kannst ist, seine Wünsche zu respektieren. Neben Dad ist Lincoln der einzige Junge in diesem Haus. Schon alleine deshalb sollte sich das von selbst verstehen. Warum machst du es dir eigentlich so schwer, Lola? Wenn du dich für seine Hobbys interessierst, ist das einfachste doch, ihn einfach zu fragen, ob du ihn Gesellschaft leisten kannst. Bestimmt würde Lincoln sich darüber freuen.“

„Nein würde er nicht. Warum sonst hätte er sein Comic ohne unser Wissen gezeichnet?“, warf Lola energisch in die versammelte Runde.

„Weil er erst damit fertig werden wollte, das habe ich dir doch schon gesagt“, antwortete Lana überraschend zügig.

„Du wusstest also auch Bescheid?“, erkundigte sich Lori. Doch das erklärte noch nicht, warum sich die beiden dann darum gestritten hatten.

„Ja… Aber nur weil ich zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen bin“, erklärte sich Lana.

„Verstehe. Lola hat sich also heimlich in Lincoln Zimmer geschlichen und ist beim herumschnüffeln zufällig über seinen Comic gestolpert“, fasste Lori die bisherige Geschichte kurz zusammen.

„Genau… Ich habe ein wenig darin geblättert und war vor seinem zeichnerischen Talent so begeistert, dass ich es unbedingt lesen wollte. Doch dann kam Lana nachhause und ich habe es dorthin zurückgelegt, wo ich es gefunden habe. Denn ich wusste, sollte sie mich damit erwischen, wäre genau das passiert, was heute Abend passiert ist…“

„Und weil Lincoln und Lana heute Abend nicht im Haus gewesen sind, hast du es dir heimlich geschnappt und durchgelesen“, fiel ihr Lori überraschend ins Wort. Allmählich ergab die ganze Geschichte einen Sinn.

„So weit so gut, doch das erklärt noch nicht, warum sein Comic schlussendlich in Rauch aufgegangen ist.“

„Dummerweise ist Lana früher nachhause gekommen, obwohl sie bei einer Freundin übernachten wollte, und hat mich dabei erwischt, wie ich es in den Händen hielt. Als ich ihr dann erklärt habe, um was es sich handelt, hat sie mir damit gedroht, es Lincoln zu sagen, sobald er wieder im Haus sein würde. Ich hatte Lincoln gerade soweit, dass er morgen etwas mit mir unternehmen wollte, und habe Lana darum, unter Tränen angefleht, es dieses eine Mal bitte für sich zu behalten. Denn wenn Lana es ihm gesagt hätte, hätte Lincoln sicher sein Versprechen gebrochen. Erst gestern war er sauer auf mich, weil ich mich in sein Zimmer geschlichen habe. Aber Lana ließ sich nicht umstimmen“, erklärte sich Lola.
 

„Warum auch? Erst schleichst du dich in sein Zimmer, dann klaust du irgendetwas daraus, mit dem du ihn erpressen kannst, und dann wirst du auch noch dafür belohnt, weil du Lincoln fest versprochen hast, das zukünftig sein zu lassen. Und das nur damit du, kaum ist er nicht zuhause, dein Versprechen gleich wieder brichst. Warum soll ich dich einfach so davon kommen lassen, obwohl du dich so unmöglich verhältst? Das ist nicht fair und ich finde, Lincoln hat ein Recht darauf, das zu wissen.“ Lana hatte sich richtig in Rage gesprochen und dabei völlig vergessen, auf das zu achten, was sie eigentlich gesagt hatte.

„Moment mal... Warum zum Teufel weißt du das alles so genau?“, erkundigte sich Lola verärgert. Soll das etwa heißen, Lana hatte sie und Lincoln Freitags belauscht?

„Ich habe zufällig mitbekommen, worüber du und Lincoln Freitagabends geredet habt. Ist das etwa ein Verbrechen?“, antwortete ihr Lana überraschend unfreundlich. Suchte sie etwas Streit?

„Im jeden Fall ist es unfair mir und Lincoln gegenüber.“

„Und ihn zu erpressen etwa nicht?“, erkundigte sich Lana wutschnaubend bei ihrer Schwester.

„Seid still… Alle beide!“, ergriff Lori lautstark das Wort. Zum wiederholten Male verstummten Lana und Lola schnell.

„Geht das schon wieder los? Ich dachte wir drei wären endlich einen Schritt weiter. Von jetzt an redet keine von euch, ohne dass sie vorher gefragt wird… Haben wir uns verstanden?“

„Laut und deutlich“, antworteten die Zwillinge wie aus einen Mund. Zufrieden lächelte Lori vor sich hin. Ihr Status als Älteste hatte nichts von seiner Wirkung verloren, selbst jetzt wo sie nur noch selten zuhause war.

„Schön“, sagte Lori und fügte hinzu: „Ich muss zugeben, Lana hat nicht ganz unrecht mit dem, was sie gesagt hat. Ungeachtet deiner Motive hast du dich voll daneben benommen. Aber kannst du mir bitte erklären, was Lana vorhin damit gemeint hat, du würdest Lincoln erpressen wollen?“

„Es ist so. Neben Lincolns Comic habe ich auch eine kleine Bildergeschichte über Lincoln und Ronnie Anne gefunden, in dem die beiden ein Theaterstück aufführen. Er besteht ständig darauf, das Ronnie Anne nicht seine feste Freundin ist und trotzdem zeichnet er eine Geschichte, in der er und sie sich innig küssen. Keine alternativen Versionen von ihnen sondern die Originale, verstehst du? Ich war wütend auf ihn, weil er die anderen ständig bevorzugt und darum wollte ich ihn dazu bringen, etwas mit mir alleine zu unternehmen, und diese kleine Geschichte bot sich dazu an, ihm ins Gewissen zu reden.“
 

„Ist das dein Ernst, Lola?“, Loris mühevoll unterdrückter Zorn trieb Lola die Schweißperlen ins Gesicht. Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass sie im Begriff gewesen war, etwas Dummes zu tun. Aber dass Lori sich so verhalten würde, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.

„Was wolltest du damit?“, erkundigte sich Lori bei ihrer Schwester. Obwohl sie innerlich kochte, blieb sie überraschend ruhig. Unter anderen Umständen würde sie sich wohl kaum darum kümmern. Im besten Fall hätte sie sanft gelächelt und das Ganze als dummen Streich unter Geschwistern abgetan. Aber nachdem sie wusste, was Lincoln für Ronnie Anne übrig hatte, und sie Gewissheit über deren verletzendes Verhalten ihm gegenüber erlangt hatte, war das Thema Ronnie Anne im Moment gefährlich explosives Pulver für ihre Gefühle.

„Sei jetzt bitte nicht sauer, Lori, aber ich wollte es ihr zukommen lassen, wenn Lincoln sich geweigert hätte“, antwortete Lola verängstigt. Selbst in ihrer jetzigen Gefühlverfassung merkte Lori, dass es Lola unangenehm war, darüber zu sprechen. Sie holte einmal tief Luft und sagte:

„Hör zu, Lola. Du bist noch zu jung, um die Situation zwischen Lincoln und Ronnie Anne zu begreifen, darum will ich ein Auge zudrücken. Aber ich hoffe doch sehr, du bist einsichtig genug, um ähnlichen Mist in Zukunft sein zulassen. Lincolns Liebesleben ist Nichts in das du dich leichtfertig einmischen solltest.“

Wortlos nickte Lola mit ihren Kopf. Sie war so erleichtert über Loris plötzlichen Wandel, dass sie kein Wort herausbrachte. Ihre Schwester hatte sich beruhigt, das war alles was zählte.

„Ich nehme dich beim Wort“, antwortete Lori und wandte sich dann wieder an Lana: „Gut… Da das nun geklärt ist. Lana, warum bist du eigentlich früher nachhause gekommen?“
 

„Sally hat Mitten in der Nacht hohes Fieber bekommen. Es war sogar so schlimm, dass ihre Eltern extra einen Arzt verständigt haben, um nach ihr zu sehen. Sally und ich waren den Großteil des Tages über draußen, obwohl es geregnet und ziemlich kalt gewesen ist, weshalb sie sich wohl erkältet hat. Weil es ihr plötzlich so miss ging, hat ihr Vater gemeint, es wäre besser, wenn ich nachhause gehen würde, und darum hat mich ihre Mutter freundlicherweise heimgebracht.“

„Tut mir Leid wegen Sally. Ich hoffe doch, ihr geht es bald wieder besser. Aber um wieder zum Thema zurückzukehren: Warum habt ihr euch gestritten, als ich mit Lilly und Lincoln zusammen nachhause gekommen bin?“

„Es war so... Als Lola schließlich deinen Wagen gehört hat, hat sie plötzlich die Nerven verloren, obwohl wir uns kurz davor darauf geeinigt haben, Lincoln gemeinsam die Wahrheit zu sagen. Sie wollte schnell hinauf in sein Zimmer, um das Comic wieder an seinen Platz zu legen. Ich wollte sie daran hindern und bin handgreiflich geworden. Es hat mich einfach zu sehr geärgert, dass Lola sich aus der Verantwortung ziehen wollte. Ich habe mich also auf sie gestürzt und Lola zu Boden gerissen. Natürlich hat sie sich mit Leibeskräften gewährt und versucht, mir zu entkommen. Eine Weile lang haben wir uns an den Haaren gezogen und auf den Boden gewälzt. Dummerweise ist dann Dad aus seinem Zimmer gekommen, um nach den Rechten zu sehen, und den Rest hast du ja mit eigenen Augen gesehen. Das alles tut mir so unheimlich Leid. Ich hätte mich anders Verhalten sollen.“ Reumütig senkte Lana ihren Kopf.
 

„Ich verstehe... So ist das Ganze also gewesen. Danke, dass ihr so ehrlich ward und mir alles erzählt habt. Das war doch alles. Oder?“ Skeptisch beobachtete Lori die Zwillinge. Wenn sie jetzt tatsächlich sämtliche Details kannte, hatte sie etwas worauf sie aufbauen konnte. Gleichmaßen verschwiegen nickten Lana und Lola mit ihrem Kopf. Lori blieb also nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben.

„Kommt mal näher ihr beiden.“ Mit einen unguten Gefühl in Magen traten die Zwillinge näher an Loris Bett heran und setzten sich rechts und links neben ihr auf ihre Matratze.

„Lasst mich euch bitte etwas zeigen, damit ihr wisst, wie übel ihr es heute Nacht verbockt habt.“ Lori fasste nach ihrem Handy, öffnete den Browser und gab einen Suchbegriff darin ein. Wenig später blitzte bereits das was sie suchte auf dem Display auf.

„Lincoln wollte mit seinen Comic an diesem Wettbewerb teilnehmen.“ Unberührt zeigte Lori die dazugehörige Internetseite ihren beiden Schwestern.

„Hätte er gewonnen, hätte Lincoln diese Trophäe und fünfhundert Dollar in bar sein Eigen nennen dürfen.“

Lori zeigte Lana und Lola ein Foto von der Siegertrophäe. Sprachlos sahen die beiden auf den Preis in Form eines goldenen, kleinen Comicheftchens, das auf einen silbernen Sockel ruhte, und auf dessen Vorderseite ein Wortlaut eingraviert war:

« First Award for the best Graphic Novel Artist under fifteen »

„Toll nicht wahr?“, fragte Lori ihre beiden Schwestern, als sie ihre begeisterten Blicke bemerkte.

„Und mit dem Preisgeld wollte er sich das hier kaufen.“
 

Erneut gab Lori einen Suchbegriff ein und zeigte das Ergebnis den Zwillingen. Ein Tablett speziell für das Zeichen ausgelegt, war zu sehen gewesen. Es war mit W-LAN, HDMI-Ausgang, Zeichenstift und einer Kamera ausgestattet, mit dem man bereits gezeichnete Bilder abfotografieren konnte, um sie später, am Gerät selbst versteht sich, nachbearbeiten zu können. Dazu war es noch vollgestopft mit den besten Zeichenprogrammen für Anfänger und Fortgeschrittene.

„Lincoln hat Probleme damit, mit der Maus am PC zu zeichnen, weshalb er sich dieses Tablett besorgen wollte. Aber dank euch bekommt er keine Chance mehr dazu, seinen Comic einzureichen. Der letzte Abgabetermin ist nächsten Monat. Ihr könnt euch sicher denken, dass Lincoln, selbst wenn er es wollte, seinen Comic bis dahin unmöglich erneut zeichnen kann. Immerhin hat er mehr als ein Jahr lang daran gearbeitet und war trotzdem noch nicht fertig. Ich bezweifle auch stark, dass er eine Sicherheitskopie besitzt, ansonsten hätte er sich heute Nacht anders verhalten. Nachdem ich eure Gründe gehört habe, muss ich wohl oder übel zugeben, dass ich euch durchaus verstehen kann… Ehrlich. Aber war das wirklich nötig, Lana, Lola?“
 

Schuldbewusst senkten die Zwillinge ihre Köpfe. Ein beklemmendes Gefühl legte sich um ihre Herzen, fast so, als würde eine Hand versuchen wollen, es daran zu hindern, weiterzuschlagen. Loris letzte Frage entfaltete eine beägstiegende Wirkung.

„Es tut uns so schrecklich leid“, sagten Lola und Lana wie aus einem Mund. Jetzt wo sie die Tragweite ihres Streites von vorhin richtig begriffen hatten, war ihnen wieder danach, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

„Das weiß ich doch. Aber bei mir müsst ihr euch nicht entschuldigen. Lincoln ist derjenige, bei dem ihr euch entschuldigen solltet. Doch ich fürchte, diesmal ist es mit einer einfachen Entschuldigung nicht getan. Er wirkte unheimlich wütend, und das ausgerechnet heute, wo er mit seinen Gefühlen für Ronnie Anne schon genug zu kämpfen hat…“

Schlagartig verbat Lori sich selbst den Mund. Warum bitte, hatte sie das gerade gesagt? Mit Mühe hatte sie Lola davon überzeugen können, sich aus Lincoln Liebesleben rauszuhalten. Und jetzt das. Sie wusste, dass die Zwillinge Lincoln mindestens so gern hatten, wie es auch alle seine anderen Schwestern taten, wenn nicht sogar mehr.

„Was soll das heißen, was ist denn mit Ronnie Anne?“, erkundigte sich Lana. Es war fast schon amüsant, dass Lana Lola mit dieser Frage zuvorgekommen war. Natürlich wollte sie mehr darüber wissen.
 

„Lana, ich habe bereits Lola gesagt, dass sie sich nicht leichtfertig in Lincoln Liebesleben einmischen soll. Was zwischen ihm und Ronnie Anne ist, oder auch nicht, ist seine ganz persönliche Privatsache, und das solltest du respektieren. Bist du nicht deshalb sauer auf Lola, weil sie genau das nicht tut?“

„Das ist schon wahr. Aber trotzdem. Wenn er Liebeskummer hat, sollten wir ihm dann nicht beistehen“, wollte Lana wissen. Was war falsch daran, sich um ihren Bruder zu Sorgen?

„Lana, vertrau mir. Als jemand der schon Jahre lang in einer festen Beziehung lebt, rate ich dir, hör auf das, was ich dir sage, und halt dich da raus. Wenn er unsere Hilfe möchte, dann kommt Lincoln bestimmt früher oder später von alleine zu uns. Es ist früh genug, wenn du dich dann in sein Liebesleben einmischt, denn dann hat er darum gebeten. Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass sich ihm aufzuzwingen selten das gewünschte Ergebnis erzielt.“ Aufmuntert lächelte sie Lana entgegen. Ihre Sorge um ihren Bruder rührte sie. Hoffentlich wusste Lincoln, was für eine tolle Schwester er in Lana hatte.

„Meinetwegen. Solange er sauer auf mich und Lola ist, würde er ohnehin nicht mit mir reden wollen, selbst wenn ich das Gespräch mit ihm suche. Sag, Lori. Was können wir tun, damit Lincoln uns vergibt?“

„Schwer zu sagen. Ich denke aber, es wäre eine nette Geste, wenn ihr euer Taschengeld zusammenlegen würdet und Lincoln das Tablett besorgt, dass er sich so gerne kaufen wollte. Trotz seines herausragenden Talentes war es ja nicht sicher, ob er wirklich gewonnen hätte. Das wäre bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber würde er sich, ohne Witz, sehr freuen.“

Vor Begeisterung funkelten Lanas Augen. Kaum hatte Lori ihr diesen Vorschlag gemacht, war sie Feuer und Flamme dafür gewesen.

„Das ist eine super Idee. Vielen Dank, Lori.“ Stürmisch fiel Lana ihrer Schwester um den Hals. Es war also nicht alles verloren.
 

„Gern geschehen“, antwortete Lori. Ein einnehmendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber sie freute sich über Lanas Zuneigung. Doch dann ergriff Lola das Wort und Lanas gute Laune war sogleich verschwunden:

„Aber ich wollte mir davon etwas ganz anderes kaufen.“ Wie konnte Lana es sich bitte erlauben, für sie mitzuentscheiden?

„Echt jetzt, Lola. Nach allem, was du angerichtet hast“, antwortete Lana verärgert. Was war nur mit ihrer Schwester los? Sie litt mit am meisten unter Lincolns Zorn. Warum war sie dann so selbstsüchtig?

„Muss ich dich daran erinnern, dass das alles nicht passiert wäre, wenn du nicht so stur gewesen währest.“

„Natürlich. Jetzt bin ich wieder die Böse. Wenn du dich nicht in sein Zimmer geschlichen hättest, obwohl er dich mehrfach darum gebeten hat, es nicht zu tun, hätte ich mich nicht dazu gedrängt gefühlt, einschreiten zu müssen. Sind dir deine dummen Rüschenkleider wirklich wichtiger, als Lincolns Gefühle?“

„Das…“ Lola unterbrach sich selbst. Ein paar Tränen sammelten sich in ihren Augen. Was Lana eben gesagt hatte, verletzte sie zu tiefst. „Das habe ich doch gar nicht gesagt. Ich…“

„Hört endlich auf damit!“, ergriff Lori erneut das Wort. Immer mehr verstand sie Lincolns Sorge um die beiden.

„Ihr seid Zwillinge und steht euch darum deutlich näher, als alle anderen von uns. Müssen diese unnötigen Streitereien wirklich sein? Es tut fast weh, euch dabei zusehen zu müssen. Ich habe keine von euch darum gebeten, euer Geld auszugeben; weder dich noch Lana. Ich habe nur gemeint, es wäre eine Wiedergutmachung, die Lincoln vielleicht milde stimmen kann. Die Entscheidung liegt am Ende aber bei dir alleine, Lola… Doch beschwer dich später nicht darüber, dass Lincoln seine Zeit lieber mit mir, Lana, seinen Freunden oder mit einer anderen unserer Schwestern verbringen möchte. Ich sage dass nur ungern, aber die Schuld alleine auf Lana abzuwälzen, macht keinen guten Eindruck auf dich.“

„Da hast du es. Hör auf damit, mich ständig als Sündenbock hinzustellen.“ Lana freute sich über Loris Rückhalt, doch bald schon wurde sie eines Besseren belehrt.
 

„Das gilt, ohne Witz, auch für dich. Ich weiß, dass du nur die besten Absichten gehabt hast, aber auch du solltest dein Verhalten gründlich überdenken. Es muss nicht immer nach deinen Kopf gehen, Lana. In den meisten Fällen gibt es mehr als eine Lösung für dasselbe Problem. Bevor du Lola also das nächste Mal etwas aus der Hand reißen möchtest, weil du denkst, im Recht zu sein; reflektiere die Möglichkeiten und denke dabei nicht nur an dich alleine, sondern auch an deine Geschwister. Ich weiß, es ist manchmal schwer in unserem Haus, aber wir sind trotz allem eine Familie. Und als solche sollten wir fest zusammenhalten. Findest du nicht auch, Lana?“

Stumm nickte Lana mit ihrem Kopf. Selbst wenn sie Loris Meinung nicht teilen konnte. Zumindest in Bezug auf ihre Zwillingschwester fiel es ihr im Moment schwer, auf heile Familie zu machen.

„Schön, das ist alles was ich möchte. Du bist ein gutes Mädchen, Lana, aber in Bezug auf manches bist du ebenso rücksichtlos wie Lola, das muss dir klar sein. Jetzt aber ab mit euch ins Bett. Es ist schon weit nach Mitternacht, und egal wie gerne ihr euch auch mit Lincoln aussprechen möchtet, lasst ihn bitte etwas Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Nur weil ihr Mist gebaut habt, hasst er euch nicht gleich inbrünstig. Selbst dann, wenn es euch im Moment genauso vorkommen sollte. Morgen früh sieht die ganze Sache bestimmt schon ganz anders aus. Fest versprochen.“

„Soll mir Recht sein. Alles davon“, antwortete Lana monoton. Ohne Lori noch eines Blickes zu würdigen ging Lana aus dem Zimmer. Ihr krasser Sinneswandel von überraschend dankbar zu unberührt blieb Lori nicht verborgen, doch sie führte das auf die späte Stunde zurück, eben darauf, dass Lana müde sein musste. Nicht in Traum hätte sie daran gedacht, dass sie es sich gerade, – ebenso wie Lola – gründlich mit Lana verscherzt haben könnte. Mit Lola in einen Topf geworfen zu werden war Gift für ihre Gemütsverfassung gewesen.
 

Keine Minute später verabschiedete sich auch Lola von Lori, um Lana zu folgen. Als diese schließlich ihr gemeinsames Zimmer erreicht hatte, saß ihre Zwillingsschwester still auf ihrem Bett und zählte das Geld aus ihrem Sparschwein. Traurig sah sie auf ihre Bettdecke, wohin sie das Geld, mangels Alternativen, gelegt hatte. Am Ende war sie nur auf zweihundertfünfzig Dollar gekommen. Das Taschengeld von zehn Monaten und es würde trotzdem nicht reichen.

„Lana, hör zu. Ich…“ begann Lola, doch Lana fiel ihr unerwartet heftig ins Wort:

„Sei still und lass mich in Frieden!“
 

Die Ablehnung ihre Zwilligsschwester verpasste ihr einen heftigen Stich im Herzen, doch sie tat, was Lana von ihr verlangte. Wortlos legte Lola sich ins Bett, deckte sich zu und schloss die Augen. Hoffentlich hatte Lori Recht und morgen war wieder alles in Ordnung. Es war schon schlimm genug, dass Lincoln sauer auf sie war, aber das selbst Lana ihr immer noch zürnte, war schwer zu verkraften. Vielleicht sollte sie auf Lori hören, und ihr Geld mit Lanas zusammenlegen, um ihren Bruder zumindest einen seiner Wünsche erfüllen zu können.

Familienbande

Kurz nach zehn Uhr vormittags öffnete Lola ihre Augen. Hoffnungsvoll sah sie sich nach ihre Schwester um. Die gestrigen Ereignisse waren noch gut in ihrem Gedächtnis verankert. Gestern wollte Lana nicht mehr mit ihr sprechen, doch heute wollte sie es nochmal versuchen. Aber leider war Lana nirgends in der Nähe zu sehen gewesen. Offensichtlich war sie früher aufgewacht als Lola und hatte geräuschlos das Weite gesucht. Ein Umstand, der ihr durchaus zu schaffen machte. Scheinbar war Lana immer noch wütend auf sie.

Traurig schlug sie sich die Decke von ihren Körper und erhob sich von ihren Bett. Wenn sie mit Lana sprechen möchte, würde sie wohl nach ihr suchen müssen. Ihren ersten Gedanken folgend, machte Lola sich sogleich auf den Weg zu Lincoln. Vielleicht war Lana dort und versuchte mit ihren ganz eigenen Charme Lincolns Gunst zurückzugewinnen. Doch als sie schließlich bei seinen Zimmer angekommen war, stieß sie auch hier auf gähnende Leere. Weder Lana noch Lincoln waren zusehen, doch seine Tür stand ausnahmsweise einen Spalt weit offen. Hatte er vergessen abzuschließen oder hatte er sie offengelassen, weil er jetzt nichts mehr hatte, was er verheimlichen konnte?
 

Kaum dachte sie an gestern Abend zurück, meldete sich ihr schlechtes Gewissen heftig zurück. Zögerlich öffnete sie die Tür. Vielleicht traf sie Lincoln in Inneren an. Der Drang sich in aller Form bei ihm zu entschuldigen war überwältigend. Aber sein Zimmer war leer. Weit und breit sah sie niemand. Auf seinen Schreibtisch befand sich ein einzelnes Blatt Papier und ein paar Zeichenstifte lagen daneben. Mit einen Mulmigen Gefühl trat sie näher an den Schreibtisch heran um einen kleinen Blick zu riskieren. Wenn sie es nicht anfassen würde konnte zum Glück kaum etwas passieren.

Was sie am Ende sah, war eine weitere Seite seines Comics, die sie bisher nicht gesehen hatte. Diesmal ging es um Rosemary Black und ihren Butler. Ihr Alter Ego stand mit verschränkten Händen vor einem großen Fenster und sah nachdenklich nach draußen. Vor ihr die Silhouette einer hell erleuchteten Stadt. Sie trug eine reich verziertes Kleid und ein silbernes Diadem. Im nächsten Bild zog das Geräusch einer sich öffnenden Tür ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Blick bewegte sich von Fenster weg und ruhte nun auf ihren Butler, der einen schwarzen Anzug trug und soeben eigetreten war.
 

» Wie ist es gelaufen « fragte sie diesen gerade heraus, ohne ein Wort der Begrüßung zu verlieren.

» Ausgezeichnet, Eure Hoheit. Die Redmoor-Sprösslinge haben unseren Köder bereitwillig geschluckt und verdächtigen Raven Heartvilia, hinter den Attentat auf Adrian Fernandes zu stecken. Alle Spuren, die zu uns führen könnten, wurden von mir aufs Sorgfältigste beseitigt « war seine Antwort gewesen.

Im Nächsten Abschnittt zeichnete sich ein Lächeln auf Rosemarys Gesicht ab, das aber im Bild darauf gleich wieder verschwunden war, da ihr Butler noch etwas hinzugefügt hatte:

» Allerdings gibt es auch eine schlechte Nachricht. Adrian Fernandes hat das Attentat leider überlebt «

» Das soll uns nicht weiter stören « meinte Rosemary selbstbewusst.

» Wichtig ist nur, dass Logans Misstrauen geweckt wurde. Heartvilia, Goldsmith, Redmoore und Santana. Wir können unmöglich zulassen, dass die vergessene Freundschaft dieser Familien erneut auflebt. Doch genug davon. Wie steht es mit unserem anderen Köder? «

» Das Santana Fräulein hat ihn geschluckt. Heute habe ich das im Postkasten gefunden «

Selbstzufrieden präsentierte Viktor eine Visitenkarte von Nightowl. Heute in fünf Tagen hole ich mir die großen vier zurück, war der Wortlaut der Karte gewesen. Erneut lächelte Rosemary zufrieden. Das nächste und letzte Bild zeigte schließlich eine große Malerei auf dem vier adelige Paare mit ihren vier kleinen Sprösslingen zu sehen waren. Die großen vier war der etwas irreführende Titel gewesen. Immerhin waren mehr als die genannten vier Leute darauf abgebildet gewesen. Doch es war unschwer zu erkennen, dass sich der Titel auf die vier Familien bezog, die dort zu sehen waren und offensichtlich gut befreundet zu sein schienen.
 

Traurig und verletzt lag Lolas Blick auf dem Blatt Papier. Lincolns Zeichnungen waren nach wie vor wirklich schön Anzusehen, doch der Umstand, dass am Ende sie die Böse war, tat ihr im Herzen weh. War der gestrige Vorfall daran schuld gewesen, oder hatte Lincoln von Anfang an mit den Gedanken gespielt, ihr Alter Ego als die Antagonisten zu verwenden? Beide Möglichkeiten schmerzten gleichermaßen, implizierten diese doch, dass sie von Anfang an Recht gehabt hatte. Von allen seinen Schwestern mochte Lincoln sie wohl am wenigsten. Und das gemeine daran war, dass sie es ihm nicht mal verübeln konnte. Es war mehr also offensichtlich, dass sie ihr Verhalten gründlich überdenken musste, wenn sie Lincolns Vertrauen wieder zurückgewinnen wollte. Fest nahm Lola sich vor, von heute an eine bessere kleine Schwester zu sein.
 

Nachdem Lola Lincolns Zimmer verlassen hatte, ging sie hinunter in die Küche. Ihr Vater stand bereits in dieser, bereitete das Essen für sich und ihre Geschwister vor. Dem Geruch nach zu urteilen, war heute Lincolns Lieblingsessen an der Reihe. Ein schmales Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Offensichtlich wurde auch ihr Vater von einem schlechten Gewissen geplagt und er versuchte nun, sich auf seine persönliche Art bei Lincoln zu entschuldigen.
 

„Hallo, Dad“, sagte Lola. Schnell drehte sich ihr Vater zu ihr um.

„Guten Morgen, Lola. Geht es dir wieder etwas besser?“, erkundigte sich Lynn Senior bei seiner kleinen Prinzessin. Als er gemerkt hatte, was er gestern angerichtet hatte und weil ihn seine Frau darum gebeten hatte, hatte er sich dazu entschlossen, Lincoln keine Straffe aufzubrummen. Doch er konnte nicht vergessen, wie sehr Lola und Lana unter der Eskalation gestern gelitten hatten.

„Ja… Ein wenig“, antwortete sie betrübt. Wie zu erkenn war, quälte sie weiterhin ein schlechtes Gewissen.

„Weißt du wo Lincoln steckt?“ Lola wollte endlich mit ihm reden, selbst dann wenn ihr etwas mulmig zu mute war.

„Tut mir Leid, Lola. Er hat heute in aller Früh das Haus verlassen, um sich mit Clyde zu treffen. Zudem hat er vorhin angerufen, und gemeint, dass er bei den McBrides zum Essen bleiben möchte…“

Lynn Senior unterbrach sich selbst, seufzte bedauernd und fügte hinzu: „Und nachdem, was ich gestern angerichtet habe, konnte ich unmöglich Neinsagern. Ich fürchte, er ist vor heute Abend kaum zurück, sofern er nicht auf die Idee kommen sollte, bei Clyde übernachten zu wollen.“

„Oh“, meinte Lola furchtbar betrübt. Lincoln ging ihr also aus dem Weg und natürlich hatte er sein Versprechen gebrochen. So sehr sie das verletzt, so gut verstand sie ihren Bruder auch.

„Und wo ist Lana?“, wollte Lola dann von ihm wissen. Mit ihr möchte sie sich ebenfalls aussprechen.

„In der Garage. Vanzilla ist gestern Abend nur mit Mühe angesprungen. Ich dachte schon, ich müsste zu Fuß nach Hause oder mit Kotaro mitfahren, als es dann doch noch klappte. Darum habe ich sie gebeten, ob sie sich ihn mal anschauen könnte? Wieder schlich sich ein schmales Lächeln auf Lolas Lippen. Das sah Lana ähnlich. Dinge zu reparieren war ihr liebstes Steckenpferd.

Gerade wollte sie sich bedanken, da meinte ihr Vater noch: „Komisch du bist schon die Zweite, die nach ihr fragt. Lori wollte auch mit ihr reden, schien aber kein Glück gehabt zu haben, da sie kaum war sie von der Garage zurück, resigniert in ihr Zimmer gegangen ist. Ist etwas zwischen euch dreien vorgefallen, von dem ich nichts weiß?“ Lynn Senior machte sich wirklich Sorgen um das Familienheil.

„Nun ja… Lana ist sauer auf mich“, gab Lola bereitwillig zu, „Aber das mit Lori überrascht mich.“ Als sie Lori alles erzählt hatten und diese sogleich mit einer Lösung angekommen war, hatte Lana sich so darüber gefreut, dass sie Lori vor Freude in die Arme gesprungen war. Warum also, war Lana plötzlich sauer auf Lori? Obwohl, wenn Lola genauer darüber nachdachte, nachdem sie Lori ins Bett geschickt hatte, wirkte Lana aus heiteren Himmel überraschend Distanziert. Immerhin hatte sie Lori am Ende nicht einmal eine gute Nacht gewünscht. Das war dann doch irgendwie seltsam.

„Verstehe… Wegen der Sache mit Lincolns Zeichnungen.“

Stumm nickte Lola mit ihrem Kopf und sagte dann: „Aber ich mache alles wieder gut. Fest versprochen. Also mach dir keine Sorgen, Dad.“

„Das ist die richtige Einstellung… Viel Glück“, antwortete ihr Vater stolz.

„Danke“, ergriff Lola das Wort und machte sich sodann entschlossen auf den Weg in die Garage. Nichts würde sie aufhalten, davon war sie überzeugt.
 

Als Lola schließlich dort angekommen war, sah sie ihre Schwester bereits, wie sie sich am Wagen zu schaffen machte. Die Motorhaube war geöffnet und Lana über den Motor gebeugt. Auf der Werkbank hinter ihr lagen ein paar Werkzeuge. In ihrer Rechten ein seltsames Stück Metall.

Nachdem sie und ihre Familie vor einiger Zeit einen großen Flohmarkt veranstaltet hatten, war darin tatsächlich wieder genug Platz für den Wagen. Es war fast schon beängstigend gewesen, wir gut sich der alte Ramsch am Ende verkauft hatte. Mit einem unguten Gefühl in Magen schritt Lola durch das geöffnete Tor. Lana hatte sie offensichtlich noch nicht bemerkt. Ob sie immer noch wütende auf sie war? Ganz bestimmt. Doch um die Dinge wieder ins Lot zu bringen war sie auf Lana angewiesen.
 

„Lana“, ergriff Lola furchtbar nervös das Wort. Verärgert drehte Lana sich um, suchte den Augenkontakt mit ihr. Lolas Stimme war die Letzte, die sie gerade hören wollte. Lanas wütender Blick schnürte ihr beinahe die Kehle zu, doch Lola schaffte es dennoch etwas zu sagen: „Kann ich…“

„Nein. Du kannst nicht!“, fiel ihr ihre Zwillingsschwester sogleich heftig ins Wort.

„Aber du weißt doch überhaupt nicht, was ich von dir möchte!“, antwortete Lola ebenso heftig. Natürlich weigerte Lana sich, ihr zuzuhören. Aber so einfach würde Lola sich keineswegs verschrecken lassen.

„Und ob ich das weiß! Ich will nicht mit dir reden… Weder mit dir, noch mit Lori. Ich dachte das hätte ich ihr vorhin klargemacht. Ich hasse auch beide… Also verzieh dich und lass mich in Frieden!“

Ängstlich und sichtbar verletzt wich Lola etwas zurück. Lanas explosiver Gefühlausbruch traf sie schwer. Verärgert drehte ihr Lana sodann den Rücken zu. Für sie war die Sache wohl damit erledigt, für Lola aber nicht. So sehr sie gerade das Weite suchen wollte, so sehr wollte sie auch bleiben und reden.

„Ich aber habe dich gern… Sehr sogar“, antwortete Lola eingeschüchtert. So leise, dass man sie nur schwer verstand. Krampfhaft ballte Lana ihre Hände zu Fäusten. Lolas nette Worte kamen überraschend.

„Hör zu… Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist. Aber wieso stehst du auch mit Lori auf dem Kriegsfuß. Sie war gestern doch so nett zu uns? Sie hat nicht einmal mit uns geschimpft.“

„Weil sie mich mit dir zusammen in einem Topf geworfen hat… Zufrieden?“, erwiderte Lana lautstark. „Und jetzt verschwinde endlich. Ich hab zu tun.“

„Aber…“ Lola unterbrach sich selbst. Fast hätte sie wieder darauf bestanden, dass Lana genauso Schuld daran war, doch dann besann sie sich eines Besseren. Sie wollte die Sache in Ordnung bringen und nicht schlimmer machen.

„Aber was?“, erkundigte sich Lana gereizt. Warum war ihre Schwester immer noch hier?
 

Lola blieb ihr eine Antwort schuldig. Lana hatte deutlich gemacht, was sie von ihrer Gesellschaft hielt, doch aufgeben wollte sie nicht. Wie konnte sie erreichen, dass ihre Zwillingsschwester ihr zuhörte? Verbissen suchte Lola nach einer Lösung, doch es wollte ihr auf die Schnelle keine Idee kommen.

Ohne sich weiter um sie zu kümmern, ging Lana auf die Werkbank zu, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Scheinbar hatte Lola endlich aufgegeben. Zum Glück hatte der Motor von Vanzilla nichts Ernstes. Als ihr Vater heute Früh gemeint hatte, der Wagen würde nur noch schwer anspringen, hatte Lana zunächst etwas Schlimmeres befürchtet. Doch der Motor war in Ordnung. Zumindest so in Ordnung, wie ein über vierzigjähriger Motor sein konnte. Auch die Batterie war in einem guten Zustand, immerhin hatte Lana diese vor kurzem getauscht. Am Ende stellte sich heraus, dass nur die Zündkerze defekt gewesen war. Kurz bevor Lola in die Garage gekommen war, hatte Lana sie ausgebaut, weshalb sie diese noch in den Händen hielt. Lana legte die defekte Zündkerze auf die Werkbank und wollte gerade nach einer Schachtel greifen, in der sich eine Neue befand, – da schnappte Lola ihr eben diese vor der Nase weg.
 

Sichtbar verärgert suchte Lana erneut den Blick mit ihrer Schwester und meinte: „Gib das sofort zurück.“

Schnell ging Lola einen Schritt zurück, um aus Lanas unmittelbarer Reichweite zu kommen. Als Lola schließlich bemerkt hatte, was Lana in ihren Händen hielt und das etwas Ähnliches auf der Werkbank in einer Schachtel lag, hatte sie die rettende Idee. So musste Lana ihr einfach zuhören.

„Nein… Erst wenn du mir zugehört hast“, erwiderte Lola selbstbewusst. Eine wilde Hetzjagd durch die Garage entbrannte. Immer wieder um Vanzilla herum, lief Lana ihrer Schwester hinterher, doch so sehr sie sich auch anstrengte, die Zündkerze blieb außer Reichweite. Wütend auf ihrer Schwester gab Lana bald auf und sagte lautstark:

„Was willst du eigentlich von mir?“

„Mich bei dir entschuldigen. Ehrlich und von ganzem Herzen. Ich weiß, dass ich es übel verbockt habe. Genauso, wie ich weiß, dass ich es mir nicht nur mit Lincoln verscherzt habe, sondern auch mit dir. Darum möchte ich eine bessere kleine Schwester für dich und unseren Bruder sein.“

Verwundern über Lolas Worte, flaute ihr Ärger über sie etwas ab. Selten gab Lola zu, dass sie ein paar Minuten jünger als Lana war.

„Ich habe darüber nachgedacht, was Lori gestern gesagt hat und ich möchte Lincoln seinen Wunsch gerne erfüllen. Aber alleine habe ich nicht genug Geld. Bitte, Lana, lass uns zusammenlegen und das Kriegsbeil begraben... Ja?“

Stille Tränen sammelten sich in Lolas Augen. Hoffentlich würde Lana ihr verzeihen können?

„Ist das dein Ernst?“, erkundigte sich Lana perplex. Sie erkannte ihre Schwester kaum wieder.

Stumm nickte Lola mit ihren Kopf. Bereitwillig hielt sie Lana sodann die Zündkerze entgegen.

„Kannst du mir noch einmal verzeihen?“, fragte Lola vorsichtig optimistisch. Doch eine Antwort blieb zunächst aus. Alles was sie sah, war Lanas skeptischer Blick, der auf ihr haftete. Betroffen senkte sie ihren Kopf, ihre Augen waren traurig auf die Zündkerze gerichtet. Aus der Traum von der glücklichen Versöhnung.

„Ich verstehe… Entschuldigung, dass ich dich gestört habe... Ich lege das Ding zurück. Okay?“
 

Gerade wollte Lola einen Schritt nach vorne machen, als sich Lana überstürzt in ihre Arme warf. Überrumpelt von Lana fiel ihr die Zündkerze aus den Händen, geradewegs auf dem Boden. Im nächsten Moment drückte Lana sie fest an sich.

„Natürlich du Dummkopf“, meinte Lana mit zu tiefst gerührter Stimme. Lolas Charme und die Liebe zu ihrer Schwester hatte am Ende gesiegt. Doch ehe Lola etwas sagen konnte fügte Lana mit strenger Stimme hinzu:

„Aber das ist das letzte Mal… Hörst du?“ Ein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Froh über die Bereitschaft ihrer Schwester, ihr zu verzeihen, fiel Lola ein schwerer Stein vom Herzen.

„Danke“, sagte sie und erwiderte Lanas Umarmung mit großer Freunde. Bald aber lösten sich die Zwillinge peinlich berührt voneinander, als sie das vertraute klicken einer Handykamera hörten.

„Wahnsinn… Wie süß ist das denn?“, hörten sie Luans fröhliche Stimme.

„Das bekommt bestimmt Tonnenweise Klicks auf meiner Internetseite.“

„Untersteh dich, das zu veröffentlichen“, sagten Lola und Lana wie aus einem Mund und stürmten sogleich auf Luan zu. Lori hatte sie vorhin gebeten, nach dem Rechten zu sehen, als diese bei Lana abgeblitzt war. Dass die Zwillinge ihr aber, nach allem was gestern passiert war, das perfekte Bild für Geschwisterliebe liefern würden, hätte sie niemals erwartet.
 

Nachdem sie von Luna erfahren hatte, was zwischen Lincoln und den Zwillingen vorgefallen war, hatte Luan kaum ein Auge zubekommen. Schön, dass zumindest Lana und Lola wieder ein Herz und eine Seele waren. Hoffentlich würde auch Lincoln bald über seinen Verlust hinwegkommen und sich wieder mit den beiden vertragen.

Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht ergriff Luan die Flucht vor der doppelten Bedrohung für das Heil ihres Handys. Unter keinen Umständen würde sie dieses Foto löschen. Während sie also versuchte, den Attacken der Zwillinge zu entkommen, ladete sie das Bild auf eine Virtuell Cloud. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie Lana und Lola mit gemeinsamer Kraft zu Fall brachten und sich ihr Telefon schnappten. Keine Sekunde später war das Bild auch schon gelöscht, von Lola aus dem Speicher ihres Handys verbannt worden.
 

„Hast du das Bild gelöscht?“, fragte Lana, die mit aller Kraft versuchte, Luan am Boden zu halten. Unwissend darüber, dass ihr das nur gelangt, weil sich diese kaum werte.

„Ja“, antwortete Lola stolz.

„Bis du dir sicher?“, erkundigte Luan sich erheitert. Das breite Grinsen in ihrem Gesicht erzählte eindeutig, dass sie zu spät gewesen waren. Luans Cloud war mit einem Passwort geschützt, das weder sie noch Lana kannten. Alle Mühen waren also vergebens gewesen.

„Luan, du misse…“

„He, he, he… Immer langsam mit den jungen Pferden, Lana. Das Bild ist nur auf einer Cloud. Kein Grund also, mich gleich zu verfluchen…“ Ein amüsiertes Lachen war von Luan zu hören gewesen, bevor sie weitersprach:

„Ihr wisst doch, dass ich Nichts veröffentliche, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.“

„Entschuldigung“, ergriff Lana das Wort. Im nächsten Moment ließ sie von ihr ab und half ihr auf die Beine. Wenig später hatte Lola Luan auch schon das Telefon zurückgegeben. Scheinbar hatten die Zwillinge ihre Niederlage akzeptiert.

„Danke“, antwortete Luan. Gut gelaunt öffnete sie ihre Cloud.

„Ihr könnt doch nicht ernsthaft wollen, dass ich das hier lösche“, fügte sie hinzu und präsentiert das Bild sogleich ihren Schwestern. Nach einem kurzen Blick erröteten beide gleichermaßen, vermieden es ab sofort, der jeweils anderen in die Augen zu sehen.

„Meinetwegen… Behalte es“, meint Lana unglaublich verlegen.

„Ja… Nur zu. Ich bin so gut getroffen“, fügte Lola ebenso verlegen hinzu.

„Punkt für die Geschwisterliebe“, sagte Luan stolz und suchte schnellst möglich das Weite. Es war immerhin wahrscheinlich, dass Lana und Lola ihre Meinung ändern und ihr wieder hinterherjagen würden.
 

Mit strahlenden Gesicht betrat Luan wenig später das Haus. Lori würde sich sicher über die Neuigkeiten freuen. Lana und Lola hingegen, blieben zurück um sich ihren Angelegenheiten zu widmen.

Normalerweise war die schmutzige Arbeit Lanas nichts für Lola, doch heute wollte sie ihr Gesellschaft leisten, selbst dann wenn sie kaum mehr tun konnte, als Lana etwas über die Schulter zu schauen. Ihre Stärken lagen dummerweise wo anders. Pünktlich zum Mittagsessen funktionierte Vanzilla wieder halbwegs zuverlässig, zumindest solange, bis sich die nächst Panne zeigen würde.
 

Lincoln hatte sich, nachdem er von Clyde zurückgekommen war, in sein Zimmer zurückgezogen. Eigentlich wollte er bei seinen Freund übernachten, da morgen ohnehin Schulfrei war und er durchaus ein wenig Abstand von seinen zahlreichen Schwestern brauchen könnte, doch Clyde hatte ihn erfolgreich ins Gewissen geredet. Die vielen Sitzungen bei Dr. Lopez bewirkten offensichtlich mehr als nur, dass Clyde seine Ängste in den Griff bekam. Bestimmt würde er später Psychologe werden wollen, so wie er sich heute ihm gegenüber verhalten hatte. Lola und Lana waren Lincoln dabei glücklicherweise nicht begegnet. Er war ohnehin noch stocksauer auf die beiden und zog es daher vor, ihnen – so gut es eben ging – aus dem Weg zu gehen. Ein paar seiner anderen Schwestern hatten ihn natürlich trotzdem gesehen, doch seltsamerweise schienen diesmal alle auf seiner Seite zu sein. Zumindest hatte ihm keine dazu geraten, sich doch bitte mit den Zwillingen auszusprechen; weder Lisa noch Luna. Selbst Luan und Lynn waren überraschend Wortkarg gewesen. Eine willkommene Abwechslung, ganz gleich was der Grund dafür sein mochte.

Ein weiterer Anlass weshalb er auf Clyde gehört hatte, war Ronnie Anne. Weil sie sich virtuell mit ihm treffen wollte hatte sie ihn vor kurzem angerufen. Darum hatte Lincoln sich schnell seinen Computer geschnappt, um nach seinen Mails zu sehen. Tatsächlich fand er gleich ihre Einladung, die vor kurzem eingetroffen war. Er klickte auf dem Link und erblickte bald Ronnie Annes Antlitz auf dem Bildschirm. Etwas verlegen lächelte sie ihm entgegen. Das ganze Freund und Freundinnen Ding schien sie noch nicht ganz verinnerlicht zu haben.
 

„Hallo, Lincoln… Schön, dass du Zeit hast“, sagte sie gut gelaunt, wenn auch etwas kleinlaut.

„Für dich immer“, antwortete Lincoln charmant.

„Du bist unverbesserlich“, erwiderte Ronnie Anne. Ihre Stimme wirkte plötzlich wieder etwas natürlicher. „Aber dein Angebot hilft mir sehr. Tante Frieder will mich und die anderen heute Abend zu einer ihrer Kunstausstellungen mitnehmen. Eigentlich keine große Sache, aber sie besteht darauf, dass ich in schicker Abendgarderobe mitkomme.“

„Wie jetzt… So richtig mit Kleid und so?“, erkundigte sich Lincoln neugierig.

„Du hast es erfasst… Doch wie du sicher weißt, bin ich kein großer Freund von peinlichen Mädchenkleidern. Ich wollte mich also eigentlich davor drücken, aber meine Großmutter hat dem einen Riegel vorgeschoben, indem sie mir damit droht, mir für die nächsten Wochen den Nachtisch zu streichen, sollte ich zuhause bleiben, und das würde ich bestimmt nicht überleben. Darum muss ich wohl oder übel mit. Charlotte hat mir also ein paar Kleider gegeben, die mir – ihrer Meinung nach – gut stehen. Dummerweise neigt auch sie dazu, mich gerne in peinliche Mädchenkleider stecken zu wollen, weshalb ich eine unabhängige zweite Meinung möchte. Und dann fielst du mir ein.“

„Echt… Du willst meine Meinung hören?“, fragte Lincoln überrascht und errötete sogleich etwas. Auch er würde seine frischgebackene Freundin gerne mal in einem hübschen Kleid sehen. Lincoln freute sich also riesig über Ronnie Annes Vorschlag.

„So sieht es aus“, sagte Ronnie Anne leicht verlegen. Auch ihre Wangen waren etwas dunklerer geworden.

„Warte hier… Okay? Ich bin gleich wieder da.“ Ronnie Anne verschwand für einen kurzen Moment aus dem Bildschirm, um nach dem ersten Kleid zu fassen. Sicher auf dem Kleiderbügel verstaut, hielt sie es sich vor ihre Brust und präsentierte sich ihren Freund. Ein kurzes, schwarzes Flamencokleid, rot gepunktet und mit Rüschen an Ärmel wie Saum umspielte ihren Körper.

„Was denkst du?“, erkundigte sich Ronnie Anne mit glühenden Wangen bei ihrem Freund. „Albern. Oder?“

Lincoln traute seinen Augen nicht. Seine Freundin sah wirklich süß aus. Aber sollte er ihr das wirklich sagen?

„Finde ich nicht. Meiner Meinung nach steht dir das Kleid hervorragend, doch für eine Kunstausstellung vielleicht die falsche Wahl. Solltest du dort allerdings tanzen wollen, bekommst du zehn von zehn Punkte von mir.“ Nervös wartete Lincoln auf ihre Antwort. Zwar hatte er mit keinem Wort erwähnt, wie süß er sie darin fand, doch bei Ronnie Anne wusste man nie, woran man war.
 

„Denkst du wirklich? Du veralberst mich doch nicht etwa, oder?“

„Keineswegs, Ronnie Anne. Das Kleid rockt, um es mit Lunas Worten zu sagen“, antwortete Lincoln. Nicht gerade die Reaktion, die er erwartet hatte, aber er war zufrieden damit.

„Und was hältst du davon?“, fragte Ronnie Anne und nahm sich sodann ein anderes Kleid. Ein schwarzes Ballkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte war nun zu sehen. Es hatte einen dezenten Ausschnitt und war schön verziert mit hübschen Schnörkeln an Ärmel und Saum.

„Wo hast du das den her?“, erkundigte sich Lincoln leicht amüsiert. Das Kleid war hübsch keine Frage, aber Ronnie Anne wirkte darin glatt zehn Jahre älter.

„Es gehörte meiner Mom. Abuella hat es heute auf dem Dachboden gefunden und gewaschen“, antwortete sie bereitwillig. „Und… Was denkst du? Viel zu protzig oder?“

„Nicht unbedingt aber ich fürchte, da musst du noch ein bisschen Reinwachsen“, erklärte sich ihr Freund.

„Eine wirklich charmante Art mir zu sagen, es steht mir nicht“, sagte Ronnie Anne erheitert. Das Ganze machte mehr Spaß, als sie gedacht hätte.

„Oder liegt es vielleicht daran, dass ich darin so hammermäßig aussehe, dass du Angst davor hast, ein süßer Junge könnte sich auf der Veranstaltung in mich vergucken und mich verführen?“

„Okay… Du hast mich erwischt“, antwortete Lincoln humorvoll. Keiner von ihnen meinte ernst, was er gerade gesagt hatte, aber es war irgendwie unterhaltsam.

„Warte eines habe ich noch“, ergriff Ronnie Anne erneut das Wort. Ein breites Lächeln zierte ihre Lippen, als sie nach dem letzten Kleid von Charlottes engerer Auswahl fasste. Stolz präsentierte sie dieses ihren Freund. Ein kurzes, dunkelblaues Sommerkleid mit Unterrock, ausgestattet mit feinen Bändchen an den Ärmeln und einer schmalen, weißen Schleife um den Bauch. Seitlich gebunden würden so ihre Kurven besser zur Geltung kommen.

„Das sieht gleich viel besser aus“, kommentierte Lincoln begeistert. „Ich finde, dass solltest du nehmen… Das oder das Flamencokleid.“

„Ich fürchte nur, getanzt wird nicht, Lincoln“, meinte Ronnie Anne gut gelaunt. „Aber danke für deine ehrliche Meinung.“

„Immer wieder gerne“, schloss Lincoln das Gespräch vorerst.
 

Unschlüssig standen Lana und Lola vor der Zimmertür ihres Bruders. Natürlich hörten sie, dass Lincoln wieder mit Ronnie Anne chattete. Darum wollten sie warten, bis er fertig war. In ihren Händen hielt Lana das Zeichentablett, das Lincoln so gerne wollte. Dank einer Freundin Lolas, deren Eltern einen kleinen Laden in der Innerstadt ihr Eigen nennen durften, und indem Zeichenequipment angeboten wurde, hatten sie es kaufen können, obwohl heute alle Läden dicht waren. Demnach waren sie bis vor kurzem nicht zuhause gewesen. Als sie dann erfahren hatten, dass Lincoln zurück war, wollten sie sogleich mit ihm reden und sich in aller Form bei ihm entschuldigen. Auch deswegen zogen sie es vor, zu warten. Nicht, dass sie nochmal seinen Zorn auf sich lenkten, indem sie ihn unterbrechen würden, doch das Gespräch dauert schon überraschend lange und allmählich wurden die Zwillinge nervös. Je länger sie es aufschoben, umso schwerer schien es zu werden.
 

„He… Was macht ihr beiden Trauerklüse denn da?“, erkundigte sich Lynn, die vor kurzem die Treppe hochgekommen war, unsensibel wie immer bei ihren Schwestern.

„Wir möchten zu Lincoln, um uns… Nun ja. Zu entschuldigen. Aber er chattet gerade mit Ronnie Anne“, erklärte sich Lola.

„Deshalb warten wir hier“, fügte Lana hinzu.

„Da könnt ihr warten, bis ihr alt und grau werdet. Wenn Lincoln mit Ronnie Anne chattet hilft nur eines... Rohe Gewalt“, meinte Lynn überzeugt. Sie trat an beiden vorbei und ging geradewegs auf Lincolns Zimmertür zu. Ohne vorher zu klopfen öffnete sie diese, schritt hindurch und sagte sodann: „Lincoln“ Überrascht drehte sich ihr Bruder zur Tür.

„Lana und Lola wollen…“ Lynn unterbrach sich selbst, als sie Ronnie Anne auf dem Bildschirm sah. Vor kurzem hatte diese sich umgezogen, um sicherzugehen, dass ihr das Kleid wirklich stand. Eigentlich war sie ganz zufrieden damit, doch Lynn hätte sie niemals erwartet.

„Seit wann trägst du Kleider?“, kam es ihr im nächsten Augenblick über die Lippen.

„Hallo, Lynn“, sagte Ronnie Anne mit glühenden Wagen. Am liebsten hätte sie an Ort und Stelle die Verbindung unterbrochen, doch sie entschied sich anders.

„Tante Frieda will mich zu einer Kunstaustellung mitschleppen und verlangt angemessen Kleidung… Du verstehst? Darum habe ich Lincoln gebeten, mir bei der Auswahl zu helfen.“

„Und Lincoln ist dein Style-Berater, weshalb?“, erkundigte sich Lynn neugierig. Bald schon aber, zeichnete sich ein Ausdruck der Erkenntnis in ihrem Gesicht ab.

„Das ist nicht dein Ernst.“ Schneller als Lincoln und Ronnie Anne reagieren konnten, stürmte Lynn aus seinem Zimmer, hinaus auf den Flur.
 

„He, Leute… Lincoln hat eine Freundin“, hörten sie im nächsten Moment ihre Stimme durch das Haus hallen. Laut genug, damit es auch wirklich jeder hören würde.

„Du hast ihnen noch nichts davon erzählt?“, erkundigte sich Ronnie Anne erheitert.

„Ich wollte noch etwas warten“, war Lincoln knappe Antwort. Er wunderte sich gerade sehr darüber, dass seine Mutter scheinbar dichtgehalten hatte. Er hätte wetten können, die Nachricht war bereits bei allen seinen Schwestern angekommen. Offensichtlich hatte er sich geirrt.

„Ehrlicherweise muss ich gestehen, ich habe es auch noch niemandem erzählt“, ergriff Ronnie Anne verlegen das Wort. Bald darauf waren bereits eine Menge Füße auf den Flur zu hören.

„Viel Glück“ flüsterte sie ihren Freund noch zu, bevor die ersten Arme nach ihm griffen. Ein stummes Dankeschön konnte Ronnie Anne noch von seinen Lippen ablesen, gerade als ihn seine Schwestern langsam aus dem Zimmer zerrten.

„Dude, warum wissen wir nichts davon?“, wollte Luna sogleich von ihm wissen. Schneller als ihr lieb war, war Ronnie Anne alleine.

„Du kommst jetzt mit“ war noch zu hören gewesen, bevor Lincoln und seine Schwestern verschwunden waren. Einzig und alleine Lori blieb in Türrahmen zurück. Sie wollte nicht wissen, wann oder wie es dazu gekommen war, aber es war eine gute Gelegenheit. Selbstbewusst ging sie in das Zimmer ihres Bruders und setzte sich an den Tisch.

„Hallo, Ronnie Anne“, sagte Lori, noch bevor diese das Meeting schließen konnte.
 

Lincoln war bestimmt eine Weile lang verhindert und sie hatte erfahren, was sie wollte. Darum wollte Ronnie Anne den Chat eigentlich beenden, doch Lori hinderte sie daran. Überrascht widmete sie sich dem neuen Gesicht.

„He, Lori“, antwortete Ronnie Anne unschlüssig. War Lori sauer auf sie?

„Hübsches Kleid“, kommentierte Lori gefährlich emotionslos ihren neuen Look.

„Da… Danke“, meinte Ronnie Anne nervös. Ein paar Schweißperlen bildeten sich auf ihrem Gesicht.

„Ist es dir ernst?“, fragte Lori sie frei heraus. „Das mit dir und Lincoln meine ich.“

„Es ist mir ernst genug, um es zu versuchen“, antwortete Ronnie Anne etwas verärgert. War das nicht genau das, was sie immer wollte? Warum benahm Lori sich dann so feindselig?

„Nicht die Antwort, die ich gerne gehört hätte, aber gut genug. Ich hoffe, das ist keiner deiner blöden Scherze“, erwiderte Lori streng. Hinter sich hörte sie die Zwillinge tuscheln. Vermutlich waren Lana und Lola nur deshalb zurückgeblieben, um Lincoln keinen weiteren Grund zu liefern, wütend auf sie zu werden. So gerne sie und seine anderen Schwestern sich auch in sein Liebesleben einbinden wollten, so sehr hasste es Lincoln auch, wenn man ihm gut gemeinte Ratschläge erteilte. Immerhin waren sie alle Mädchen, kein Wunder also, dass sie dachten, ihre Tipps könnten Lincoln helfen, würden diese doch auch bei ihnen selbst funktionieren. Doch Lori ignorierte Lana und Lola gekonnt.

„Natürlich nicht!“, entgegnete Ronnie Anne lautstark. Diese gemeine Unterstellung wollte sie keineswegs auf sich sitzen lassen.
 

„Bist du dir sicher?“, antwortete Lori unbeeindruckt. „In den letzten Wochen hast du nämlich gerne mit seinen Gefühlen gespielt.“

Von jetzt auf gleich wurde Ronnie Anne ganz kleinlaut: „Woher…“

„Woher ich das weiß?“, fiel ihr Lori ins Wort. „Ich bin seine große Schwester. Und selbst wenn ich nur noch selten zuhause bin. Ich bin keineswegs blind. Lincoln redet mit keiner von uns gerne über sein Liebesleben, aber wenn es ihm dreckig genug geht, wird es ihm schon recht.“

„Hör zu Lori… Ich weiß, dass ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe, aber ich habe mich bei Lincoln entschuldigt… Ganz ehrlich…“

„Das glaube ich dir aufs Wort. Sonst währet ihr jetzt wohl kaum zusammen“, fiel ihr Lori wieder ins Wort. „Aber das ändert wenig an deinem Verhalten. Lincoln mag dich wirklich sehr. Er steht übel auf dich, soviel steht fest. Doch er ist und bleibt mein kleiner Bruder und deutlich sensibler, als du denkst. Ich hoffe wirklich, du behandelst ihn so gut, wie er dich. Ohne Witz, das soll eine Warnung sein, Ronnie Anne. Als deine zukünftige Schwägerin kann ich dir dein Leben durchaus zur Hölle machen…“

„Ist das dein Ernst?“, fragte Ronnie Anne eingeschüchtert.

„Mein voller Ernst. Keine Einladung zu Weihnachten oder Thanksgiving. Kein Patentamt für eines meine elf Kinder und noch eine ganze Menge mehr. Sei also nett zu Lincoln… Verstanden?“ Ein schwer zu deutendes Lächeln legte sich über Loris Lippen. Hoffentlich war sie deutlich genug gewesen.
 

„Lincoln, wo willst du denn hin! Wir müssen doch noch shoppen gehen. So kannst du unmöglich auf dein erstes Date“, hörten sie Lenis Stimme von unten. Scheinbar hatte Lincoln sich loseisen können.

„Leni, es ist Sonntagabend. Kein Einkaufcenter der Welt hat noch geöffnet“, erwiderte Lincoln missmutig.

„Oh ja. Stimmt. Das habe ich glatt vergessen. Dann schneidere ich dir eben ein süßes Outfit“, antwortete Leni voller Tatendrang.

„Vergiss doch mal das Outfit“, zog nun Luna die Aufmerksamkeit auf sich. „Wir müssen noch ein paar gute Songs finden, die Ronnie Anne in die richtige Stimmung bringen.“

„Musik…. Das ich nicht lache. Humor ist das, was Mädchen wollen“, ergriff Luan das Wort.

„Lincoln, du musst schnell ein paar gute Witze lernen, sonst langweilst du Ronnie Anne zu Tode.“

„Coole Klamotten, romantische Musik, oder dumme Witze sind ja recht und schön, aber Intelligenz ist das was Mädchen schätzen“, gab auch Lisa ihren Senf dazu.

„Nein, liebste Schwester. Tiefschürfende Poesie und geheimnisvolle Melancholie sind der Schlüssel zum Herzen von uns Mädchen“, erklärte sich Lucy heute weniger emotionslos als üblich

„Wieso soll Lincoln sich verstellen. Ich würde mich auch so in ihn verlieben“, fügte Lilly unschuldig hinzu.

„Ihr habt doch alle keine Ahnung… Sportliche Kerle lassen Mädchen dahinschmelzen“, ergriff nun Lynn das Wort.

„Lincoln, ab sofort trainieren wir doppelt so hart. Ronnie Anne soll dich nicht für einen Schwächling halten.“

Lori und Ronnie Anne konnten sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen. Die unterschiedlichen Meinungen von Leni und den anderen waren auch zu komisch gewesen.

„Mädchen, Mädchen. Ihr liegt alle falsch, überragende Kochkunst ist das A und O. Das hat bei eurer Mutter funktioniert und wird auch bei Ronnie Anne funktionier, so sehr wie sie immer von den Essen ihrer Großmutter schwärmt“, sprach nun Lynn Senior zu seinen Kindern. Selbst sein Vater ließ es sich nicht nehmen, seinen einzigen Sohn gute Ratschläge zu geben.

„Das ist eigentlich keine dumme Idee“, stimmte Luan überraschenderweise zu. Auch sie kochte durchaus gerne.

„Da hast du es, Lincoln. Ab morgen bekommst du persönlichen Kochunterricht von mir und Luan.“
 

„Schluss Jetzt!“, erhob Lincoln seine Stimme und plötzlich waren alle still. Er hatte sich lange genug von seiner Familie aufhalten lassen.

„Ich komme sehr gut alleine zurecht“, hörten Lori und Ronnie Anne Lincoln noch sagen, bevor sie seine wütenden Schritte auf der Treppe vernahmen. Offensichtlich war er auf den Weg nach oben.

„So leid es mir auch tut, Ronnie Anne. Ich denke, ich muss Schluss machen. War schön, sich mit dir zu unterhalten. Und vergiss nicht… Sei nett und alles kommt in Ordnung“, sagte Lori noch, bevor sie sich von Schreibtisch ihres Bruders erhob. Keine Sekunde später betrat Lincoln schon sein Zimmer.

„Na sowas, Lori. Was machst du denn hier?“, erkundigte sich Lincoln. Sein Ärger über seine Schwestern war so schnell verschwunden, wie er gekommen war, war ehrlicher Verwunderung gewichen. Tatsächlich hatte er sich gefragt, warum Lori ihm keine dummen Tipps gegeben hatte.

„Ich habe mich mit deiner neuen Freundin unterhalten und ihr ein paar gutgemeinte Ratschläge gegeben. Immerhin soll dein Liebesleben, doch so abwechslungsreich wie möglich sein.“

Lana, Lola und Ronnie Anne konnten ihren Ohren kaum trauen. Wie verlogen war das denn? Lincolns Wangen hingegen, erröteten etwas. Wie konnte er sich nur von Loris Unschuldsmiene derart zum Narren halten lassen?

Gerade wollte Lincoln etwas sagen, da fiel ihm seine ältere Schwester ins Wort: „Ich gehe ja schon... Viel Spaß noch ihr beiden.“
 

Kaum hatte sie das gesagt, verließ Lori gut gelaunt sein Zimmer. Zurück blieben Lana und Lola. Vielleicht sollten sie es jetzt versuchen, wo Ronnie Anne noch zusah?

„Lincoln“, vernahm er Lolas schüchterne Stimme von der Seite. Schnell wandte er seinen Blick nach rechts. Sogleich erblickte er die Zwillinge. Es war keineswegs so, als ob er ihnen schon verziehen hatte, doch ihre Gegenwart war unerwartete. Hatten sie gehört, worüber Ronnie Anne und Lori vorhin gesprochen hatten?

„Was... Ihr beiden auch?“

Stumm nickten Lana und Lola. Sofort sprang sein Beschützerinstinkt über die Strenge. Die Zwillinge waren deutlich zu jung für diese Art von Unterhaltung. Er hoffte inständig, dass keine Fragen von ihnen kommen würden.

„Du bist so verpeilt wie immer“, ergriff Ronnie Anne erheitert das Wort. Das Mienenspiel ihres Freundes war wirklich amüsant gewesen, doch sie wollte verhindern, dass sich Lincoln zum Narren machte.

„Lori und ich haben über etwas ganz anderes geredet. Also mach dir keine Sorgen.“ Sofort entspannten sich seine Gesichtszüge. Lana und Lola dagegen, runzelten verwirrt die Stirn. Im Gegensatz zu Lincoln und Ronnie Anne schienen sie nur Bahnhof zu verstehen. Ihre kindliche Unschuld war gerettet.

„Gott sei Dank.“ Erleichtert ließ sich Lincoln auf seinen Sessel fallen. Von Ärger war nichts zu sehen. Gute Bedingungen, um sich endlich zu entschuldigen. Gerade wollte Lola etwas sagen, da fragte Lincoln:

„Was versteckt ihr eigentlich hinter eurem Rücken?“ Er war schlicht weg zu müde, um sich über Lanas und Lolas Anwesenheit zu ärgern.

„Ein paar Geschenke für dich“, antwortete Lana verlegen und ging sodann wenige, unsichere Schritte nach vorne. Im Moment lief es wirklich gut für sie und Lola. Mit geschlossenen Augen überreichte sie Lincoln, das Zeichentablett.

„Hier bitte… Mir und Lola tut das von gestern so unendlich leid, da wollten wir uns aufrichtig bei dir entschuldigen.“ Mit zittrigen Händen und unter Ronnie Annes sprachloser Präsenz nahm er das Tablett entgegen.

„Woher habt ihr das und wieso wisst ihr überhaupt davon?“, wollte Lincoln von seinen Schwestern wissen. Heute war Sonntag. Selbst wenn sie genug Geld gehabt hätten, wie hatten sie es so schnell bekommen?

„Lori hat uns gestern davon erzählt“, beantwortete Lana schüchtern eine seiner Fragen.

„Und die Eltern meiner Freundin Ronda besitzen einen kleinen Laden in der Innenstadt, der Zeichenequipment verkauft. Ich und Lana haben sie darum gebeten, uns das Tablett ausnahmsweise zu verkaufen, selbst wenn sie geschlossen haben. Zu unserem Glück waren sie einverstanden… Darum, bitte. Kannst du uns noch mal verzeihen?“

Auch Lola überreichte Lincoln nun ein kleines Präsent. Eine Entschuldigungskarte, die Lana und Lola im Laufe des Tages gemeinsam entworfen und zusammengebastelt hatten. Gerührt nahm Lincoln diese entgegen.

„Wir entschuldigen uns so oft du willst, Lincoln. Hundertfach, tausendfach. Ganz egal wie oft. Nur bitte, fass dir ein Herz und vergib uns.“ Ein paar Tränen kullerten Lola und Lana über ihre Gesichter. Mit feuchten Augen lag Lincoln das Tablett, wie die Entschuldigungskarte zur Seite.

„Kommt her, ihr beiden.“ Zögerlich gingen Lana und Lola auf ihren Bruder zu. Im nächsten Augenblick umarmte er seine zwei kleinen Schwestern innig.

„Wieso ist es immer dasselbe mit euch? Im ersten Moment bringt ihr mich zur Weißglut und im nächsten bringt ihr mich glatt zum Heulen. Das ist echt nicht fair.“

„Hießt das?“, erkundigten sich Lola und Lana wie aus einem Mund bei ihrem Bruder.
 

„Ja… Entschuldigung akzeptiert“, sagte Lincoln und drückte die beiden sodann noch enger an sich.

„Du bist der beste Bruder der Welt, weißt du das?“, fragten Lana und Lola synchron. Ihre überglücklichen Stimmen waren Beweis genug dafür, dass endlich wieder alles in Ordnung gekommen war.

„Natürlich. Ich habe immerhin eine Trophäe, die das beweist“, meinte Lincoln gespielt selbstbewusst.

„Das ist zum niederknien, so süß seid ihr gerade. Ich klinke mich besser aus, bevor es zu kitschig wird“, zog Ronnie Anne die Aufmerksamkeit auf sich. Gemeinsam lachten die drei Geschwister über ihre Äußerung und trennten sich dann voneinander. Besser hätte es kaum laufen können.

„Gut gemacht, ihr beiden“, wandte sie sich an die Zwillinge, bevor sie sich wieder ihren Freund widmete: „Und natürlich vielen Dank für deine kompetente Beratung in Sachen Abendgarderobe.“

„Keine Ursache“, antwortete Lincoln mit gut gelaunter Stimme. „War nett mit dir zu reden und melde dich bald wieder, Ronnie Anne. Ich würde mich sehr darüber freuen.“

„Ganz bestimmt“, verabschiedete sich Ronnie Anne von Lincoln und seinen Schwestern. Kurz darauf hatte sie das Meeting beendet. Es wurde ohnehin höchste Zeit, dass sie sich fertig machte.

„Jetzt da wieder alles zwischen uns in Ordnung ist. Könntest du bitte Rosemarys Rolle in deiner Geschichte abändern. Ich möchte ungern die Böse sein“, ergriff Lola das Wort, kaum waren sie alleine.

„Woher…“, Lincoln unterbrach sich selbst, bevor er ungezwungen zu Lachen begann. Warum verließ er auch das Haus, ohne vorher abzuschließen?
 

„Lola, Rosemary war nie die Böse in meiner Geschichte. Sagt dir der Begriff Antiheld etwas?“

„Nicht wirklich“, antwortete Lola wahrheitsgemäß. Für einem kurzen Moment dachte sie tatsächlich, es von neuem verbockt zu haben. Sie war so froh über Lincolns Reaktion, dass sie Lanas anklagenden Blick einfach ignorierte. Solange sie es sich nicht mit Lincoln verscherzte, würde Lana ihr schon verzeihen können.

„Das sind Personen, die schwer zu rechtfertigende Dinge tun, aber dabei nur die besten Absichten im Sinn haben. Manchmal beginnen sie von alleine ihr Handeln zu hinterfragen und wechseln irgendwann auf die gute Seite, manchmal aber auch nicht. Was jedoch ständig bleibt, sind ihre guten Absichten. Rosemary war nie die Böse, alles was sie will ist ihre Familie und ihre Stadt in eine glorreiche Zukunft zu führen. Sie hat allerdings den falschen Berater dafür, doch mehr möchte ich nicht verraten. Und auch du, Lola bist nicht meine böse kleine Schwester, aber die Aufdringlichste und Charakterfesteste.“

„Ehrlich“, fragte Lola überglücklich. Stumm nickte Lincoln mit seinem Kopf. Das war Antwort genug.

„Und was ist mit mir?“, erkundigte sich Lana leicht eingeschnappt.

„Du bist das Mädchen, mit dem ich vor meinen Freunden angeben kann. Stehst auf der Überholspur und die beste Mechanikerin, Handwerkerin und Klempnerin, die ich kenne. Ich bin stolz auf euch beide und weiß nicht, wie ich mich bei euch revanchieren kann.“

„Ganz einfach... Du zeichnest deinen Comic zu Ende und zeigst ihn uns, sobald du damit fertig bist. Kannst du uns das Versprechen“, ergriff Lola das Wort. Endlich war wieder alles in Ordnung.

„Nichts leichter, als das“, antwortete Lincoln und schloss die Zwillinge erneut in die Arme. Ende gut alles gut.



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