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Libertalia

von

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Memoiren II

Persönliches Logbuch,
 

Es ist bereits einige Wochen her, dass ich meine Heimat verlassen und bei den Rothaarpiraten angeheuert habe. Wie zu erwarten bin ich als einzige weibliche Person der Mannschaft einiges an Triezereien ausgesetzt, doch ein solches Verhalten ist mir aus meiner Heimat bekannt. Sowohl auf See als auch an Land gibt es leider unverhältnismäßig wenige Frauen in Führungspositionen oder welche die sich freiwillig einer harten Männerdomäne aussetzen. Außerdem musste ich feststellen, dass die See hier draußen deutlich rauer und unberechenbarer ist, als ich es von den karibischen Gewässern gewohnt bin, und dass dieser Fakt ebenso für jegliche feindliche Begegnungen zutrifft.
 

Alle paar Tage heftet sich die Marine an unsere Fersen und die Mannschaft stürzt sich jedes Mal voller Wetteifer in den Kampf. Bei diesem Kräftemessen ziehen die Offiziere und ihre Soldaten regelmäßig den Kürzeren. Dabei stellen sich beide Parteien als unglaublich stark heraus, mit Kraftausmaßen die ich mir im Leben niemals hätte zu erträumen wagen.
 

Ich für meinen Teil halte mich bei diesen Auseinandersetzungen bedeckter, aber sehe es als willkommenes Schwertkampftraining, da die Crew nicht den nötigen Ernst an den Tag legt, wenn ich sie zu Übungszwecken herausfordere. Sie lachen über meine Schwertkunst und Angewohnheit aus allem ein Beleidigungsduell zu machen.
 

Am gestrigen Tage hat ein feindliches Piratenschiff versucht uns zu plündern. Jetzt ist unsere Schatzkammer doppelt so voll und wir konnten außerdem eine rätselhafte Seekarte erbeuten. Gewiss wird sie uns noch mehr Reichtum verschaffen, wenn wir ihre Geheimnisse ergründen…

Die Karte

Grübelnd saßen der Kapitän, sein Vize und die beiden Offiziere über das vergilbte Papier gebeugt. Um die notwendige Ruhe zu gewährleisten hatten sie sich in die Kapitänskajüte zurückgezogen und starrten dort gewiss seit gut einer Stunde auf die unverständlichen Zeichen hinab.
 

„Was sollen diese ganzen Namen, Symbole und Zahlen?!“, stieß der Kapitän aus und raufte sich die roten Haare.
 

„Ich glaube, das ist ein Rätsel, Boss“, beschwichtigte Lucky Lou, welcher ihm gegenübersaß.
 

Dieser erntete einen müden Blick seines Kapitäns. „Ach, wirklich.“ Frustriert lehnte er sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. „Man kann Schatzkarten auch unnötig kompliziert gestalten.“
 

Die eine Seite der Karte bildete einen groben Ausschnitt der Grand Line ab. Sie zeigte jede noch so kleine Insel auf dem Weg von Alabasta bis hin zum großen Kontinent, der Red Line. Als Seekarte allein hätte sie von großem Nutzen sein können, wären die Maßstäbe nicht völlig durcheinander gewesen.
 

Der erste Maat Ben Beckman hatte sich bereits zu Anfang die Mühe gemacht, die vor ihnen liegende Karte mit ihrem eigenen Fundus abzugleichen und sie als völligen Quatsch abgetan.
 

Die Ränder waren verziert mit allerhand Zahlen und Buchstaben, welche dem Raster augenscheinlich so etwas wie Ordnung zuteilen sollten. Die andere Seite war vollbeschrieben mit Namen und scheinbar zusammenhangslosen Zahlen, außerdem Symbole von denen sie weder Hand noch Fuß ableiten konnten.
 

„Sonst verkauf sie auf der nächsten Insel halt an den Meistbietenden“, schlug Yasopp vor. „Wenn der auch nichts mit der Karte anzufangen weiß, haben wir in jedem Fall Gewinn gemacht.“
 

„Und wer weiß, vielleicht erbeuten wir sie irgendwann in der Zukunft ja dann noch einmal“, donnerte Lou lachend.
 

Shanks seufzte missmutig. „Sang- und Klanglos aufgeben ist aber auch langweilig. Wo bleibt denn da der Spaß?“ Sein Blick fiel erneut auf die Karte. „Hat denn wirklich keiner von euch eine Idee?“
 

Gelassen blies Ben Beckman einen Schwall Rauch aus. Er hatte seine Teilnahme bei diesem Rätselraten bewusst minimalistisch gehalten. „Meinte die Kleine nicht mal, dass sowas voll ihr Ding sei?“
 

„Stimmt! Wo ist sie eigentlich?“ Shanks hatte die junge Piratin seit dem gestrigen Abend nicht mehr gesehen.
 

„Sie liegt im Krankenzimmer“, informierte Yasopp mit einem Schulterzucken. „Übergibt sich wohl schon den ganzen Tag.“
 

Betreten ließ der Kapitän die Schultern sinken. Davon hatte er gar nichts mitbekommen. Sollte er nach ihr sehen? Als Kapitän musste er sich doch schließlich nach dem Wohlergehen seiner Crew erkunden.
 

„Sei unbesorgt, Boss. Schwanger wird sie schon nicht sein“, versuchte Lou seinen Kapitän aufzumuntern, erheiterte damit aber hauptsächlich sich selbst und Yasopp, welcher ebenfalls schelmisch anfing zu grinsen.
 

„Ist wahrscheinlich nur verkatert. Sie hat gestern ordentlich gebechert“, vermutete Beckman fachmännisch und unterband somit weitere Sticheleien.
 

„Jau, sie hat sich auf einen Trinkwettbewerb eingelassen“, erinnerte sich Yasopp. „Und ihn gewonnen!“
 

„Erstaunlich, wenn man bedenkt, was sie für ein Leichtgewicht ist“, nickte Shanks anerkennend.
 

„Jedenfalls wäre es keine gute Idee, wenn sie auf die Karte kotzt“, warf Lou ein.
 

Es folgte betretene Zustimmung der anderen drei anwesenden Piraten. Shanks kannte das folgenschwere verkaterte Gefühl nach einer durchzechten Nacht nur zu gut. Mit ihm war dann auch nicht mehr viel anzufangen, von nachdenken ganz zu schweigen.
 

„Vielleicht wäre morgen ein besserer Tag. Und wenn ich dieses Gekrakel noch länger anschauen muss, krieg ich ebenfalls bald Kopfschmerzen. Ich sage, wir machen Schluss für heute und genehmigen uns ein Bier!“, entschied der Kapitän und erhob sich von seinem massiven hölzernen Armsessel.
 

„Ich bin gespannt, wann wir den berühmten Spruch ‚Nie wieder Alkohol‘ zu hören kriegen“, schmunzelte Beckman.
 

„Hoffentlich gar nicht. Angetrunken ist sie so anschmiegsam.“ Ein unverhohlenes Grinsen huschte über das Gesicht des Kapitäns.
 

„Hatte sie dich nicht abgewiesen, Boss?“, hakte Yasopp nach und hob argwöhnisch die Augenbraue.
 

„Wenn sie kuscheln möchte, werde ich sie doch nicht davon abhalten. Ein Gentleman schweigt und genießt.“
 

Für diese Aussage erntete der Rothaarige spöttisches Gelächter von seinen Offizieren, die sich kaum die Mühe machten ihr Amüsement in irgendeiner Art zu verbergen.
 

„Du und Gentleman?“
 

„Bleib lieber bei der Piraterie.“
 

Achtsam wanderte die Karte zurück in eine der Schreibtischschubladen. Ihre Rätsel sollten ein anderes Mal ergründet werden. Vor dem verdienten Feierabendbier wollte sich der Kapitän allerdings von dem Wohlergehen seines verkaterten Crewmitglieds überzeugen.
 

Glücklicherweise musste er gar nicht den Weg zum Krankenzimmer antreten. Kaum hatten sie die Türe zum Quartier hinter sich geschlossen, stieß Yasopp seinem Boss in die Seite. „Sieh mal“, bedeutete er mit einem Nicken zur kleinen Piratin, welche kauernd auf den Stufen zum Poopdeck saß.
 

„Herrje“, seufzte der Rothaarige, bat seine Offiziere darum, schonmal den Alkohol aus dem Lager zu holen, und schritt anschließend zum Patienten hinüber.
 

Kiara starrte apathisch auf ihre nackten Füße und hob den Blick erst, als er direkt vor ihr zum Stehen kam.
 

„Das letzte Mal, dass es mir so schlecht ging, hab‘ ich vergammelten Fisch gegessen. Aber der hat mir wenigstens keine Kopfschmerzen bereitet“, nuschelte sie.
 

Ein fast mitfühlendes Lächeln huschte über seine Lippen. „Höre ich da etwa Reue?“
 

Sie zuckte mit den Schultern. „Ach, ich hab‘ gekriegt, was ich wollte. Das ist dann halt der Preis, den ich dafür zahlen muss.“
 

„Und jetzt sitzt du hier.“
 

„Japp. Der Doc meinte, frische Luft würde mir guttun. Mein Magen sieht das allerdings anders.“
 

„Es hilft, wenn du den Wellengang beobachtest. Setz dich doch nach oben, da hast du einen besseren Blick auf das Meer“, bot Shanks ihr an.
 

„Aber das ist dein Platz“, protestierte sie kraftlos.
 

„Und der kennt sich mit Katern aus. Komm mit, ich wollte mich da eh gerade hinsetzen.“
 

Kiara hatte sich schon länger gefragt, wie es auf dem Poopdeck aussah. Vom Mittschiff aus konnte man Palmenblätter erkennen, wie sie im Wind wogen. Daher hatte sie sich immer einen kleinen Garten vorgestellt, war sich aber nie sicher, wie man einen solchen auf einem Schiff verwirklichen konnte.
 

Auf des Kapitäns Geheißes, erklomm sie unbeholfen die restlichen Stufen und musste daraufhin feststellen, dass es doch pragmatischer war, als ihre romantische Vorstellung. Nichtsdestotrotz hatten fünf Palmen auf dem Poopdeck ihren Platz und neben einem bequemen breiten Sessel direkt unter dem Mast, standen mehrere kleine Ottomanen herum. Da es demnächst dämmern sollte, hatten sie die Segel eingeholt und den Anker ausgeworfen, sodass nichts den Ausblick auf das eindrucksvolle Panorama trübte, welches sich nun vor ihr erstreckte.
 

Entspannt ließ sich der Rothaarige in die dicken Polster des Sessels fallen. Von dort hatte er einen guten Blick auf die unteren Decks, den Horizont und ihm wurde immer Schatten gespendet.

Bald würden sie für längere Zeit an einer Winterinsel vor Anker liegen. Bis sie in die kälteren Gefilde kamen, wollte er die Sonne noch einmal ordentlich genießen.
 

„Hier treibst du dich also sonst herum?“, fragte Kiara staunend und schob einen der hockerartigen Kissen näher an den Rothaarigen, um seine freie Armlehne zu nutzen. Wie geraten, versuchte sie sich auf die ruhige See zu konzentrieren, um sich von ihrem flauen Magen und dicken Schädel abzulenken.
 

„Jedenfalls bei schönem Wetter“, bestätigte Shanks ihre Frage. Aufmerksam erkannte er aus den Augenwinkeln, dass sein Vize und die beiden Offiziere mit ein paar Krügen und Fässern die Treppe erklommen. „Hier lassen sich Kater ganz gut vertreiben.“ Er grinste zur Piratin an seiner Seite. „Ist es dein erster?“
 

„Ja, wir hatten sonst nur Hunde“, erwiderte Kiara trocken.
 

Der Spruch kam so unerwartet, dass Shanks laut auflachen musste. „Die sind auch nicht so eigenwillig, das verstehe ich.“
 

Kiara schnaufte. „Meinst du. Meine Mutter hat die komischsten Tölen angeschleppt. Alles perfekte Wachhunde – meistens. Aber ansonsten… der eine war faul, hat sonst nichts auf die Reihe gekriegt und lag ständig im Weg, der danach war groß und stark, aber dumm und störrisch. Hat mich im Affentempo an der Leine quer über die Insel geschliffen.“

Gequält beobachtete sie, wie die Alkoholfässer auf den Planken abgestellt wurden. Der Anblick allein reichte aus, damit sich ihr Magen wieder von selbst umdrehen wollte.
 

„Dann hättest du auf ihm reiten sollen“, schlug Yasopp amüsiert vor und reichte ihr eine Flasche mit klarer Flüssigkeit. „Ist Wasser, also trink ordentlich, ja?“
 

Dankend nahm sie die Buddel entgegen. „Ich glaube, dafür bin ich nicht Rodeo-erprobt genug.“ Nachdem sie daran scheiterte den Korken mit bloßen Händen zu lösen, biss sie kurzerhand hinein und zog ihn mit den Zähnen aus dem engen Hals. Das laute Ploppen war eine Genugtuung. Kiara hatte gar nicht gemerkt, wie durstig sie war und leerte die halbe Flasche an einem Stück. „Aber ja, waren sehr gute Wachhunde“, fuhr sie nach einem erleichterten Seufzen fort. „Konnten alles erschnüffeln, was meiner Mutter gehörte und irgendwelche Gäste aus dem Haus entwenden wollten.“
 

Mittlerweile hatten es sich der Vize-Kapitän und die Offiziere ebenfalls auf dem Poopdeck gemütlich gemacht und schenkten sich Bier in die großen Krüge. „So etwas wie das gute Silberbesteck?“
 

„Ja oder Schmuck. Oder das Schatzkartenteil von Urgroßvater. Das wurde ständig versucht zu stehlen.“
 

Bei dem Wort wurden die Piraten natürlich hellhörig. „Ein Schatzkartenteil?“
 

„Ja, die Karte einer Insel, die mein Urgroßvater vor langer Zeit gemacht und aufgeteilt hat.“
 

Lucky Lou nahm einen ordentlichen Bissen von seiner Fleischkeule. „Klingt nach der Legende von Big Whoop“, schmatze er beim Kauen.
 

Mit einem Mal richtete sich Kiara auf und ihre Augen fingen schier an zu leuchten. „Richtig. Der größte Schatz aller Zeiten. Ein Schatz, so wertvoll, so gut versteckt, dass er die Träume jedes gestandenen Piraten heimsucht!“ Sie sankt wieder zurück und räusperte sich zurückhaltend. „Also, heimgesucht hat. Schließlich wurde er gefunden. Vor einer ganzen Weile schon.“
 

„Davon hab‘ ich gehört. So ein Typ mit total komischem Namen ist damit quasi überall hausieren gegangen. Erzählte immer, dass er ein mächtiger Pirat sei.“
 

Kiara nickte eifrig. „Guybrush Threepwood.“
 

„War das nicht auch der, über den du an deinem ersten Abend hier erzählt hast. Der zu dieser Affeninsel gesegelt ist?“, versuchte sich Shanks zu erinnern.
 

„Genau, das ist er! Ich hab‘ mir seine Logbücher so häufig durchgelesen, dass ich sie in- und auswendig kann.“
 

Beckman zündete sich routiniert eine frische Zigarette an, wobei er die Flamme des Streichholzes anschließend in seiner Faust erstickte. Shanks erkannte, dass die Piratin wieder etwas bleicher um die Nase wurde, als die Rauchwolke in ihre Richtung vorbeizog. „Und, wie ist er an das Kartenteil gekommen?“, fragte Beckman gelassen.
 

Kiara erinnerte sich an die Zeilen im Logbuch, aber auch an die Erzählung ihrer Mutter. Sie schürzte die Lippen. „Er hat… nett gefragt?“, formulierte sie es vorsichtig. Die Wahrheit war, dass er es geschafft hatte, ihre Mutter so dermaßen wütend zu machen, dass sie das Papier aus dem Fenster warf. „Es ist kompliziert.“
 

„Also hat er sie rumgekriegt“, vermutete der Rothaarige fachmännisch.
 

Der Rest pflichtete ihm bei. „Erst erhält man Zutritt zum Herz einer Frau und dann zu ihrer Schatztruhe.“
 

„Hey!“, fuhr Kiara sie an.
 

„Verzeihung. Man redet so nicht über Mütter“, wandte Yasopp aufrichtig reuevoll ein.
 

„Richtig“, nickte Shanks nachgiebig.
 

„Diese ganze Big Whoop Legende hatte damals, als sie anfing, für ordentlich Piratenzuwachs im South Blue gesorgt“, erinnerte sich Beckman. „Und tatsächlich haben viele Inseln davon profitiert, weil sie mit den Piraten gehandelt haben. Dadurch sind einige Leute sehr reich geworden.“
 

„Aber das versucht die Weltregierung schon seit Jahren einzudämmen. Die größten Anlaufplätze hat sie schon aufgelöst, zum Beispiel Isla Jambalaya“, ergänzte Lou, welcher gebürtig aus dem South Blue stammte und sich noch gut an die Veränderungen und die ganzen Marineschiffe erinnerte.
 

„Das hab‘ ich auch mitgekriegt! Jambalaya Island war mal der Hafen für die ganzen verlorenen Seelen, mit Kneipen und Freudenhäusern an jeder Ecke – und jetzt sieht es da aus wie geleckt. Mit Familienrestaurants und Kaffeehäusern. Es ist echt – He, Moment mal!“
 

Nicht nur bei Kiara war der Groschen gefallen, denn die anderen Piraten starrten sie ebenfalls an, als sei ihnen ein Licht aufgegangen.
 

Der Kapitän rieb sich den allmählich dichter werdenden Kinnbart. „South Blue also“, murmelte er abwägend. „Sagtest du nicht, du wärst Richtung Süden gefahren? Wie bist du dann auf die Grand Line gekommen?“
 

„Durch den Calm Belt, wohl bemerkt.“
 

Tatsächlich war Kiara nach mehreren Tagen reifer Überlegung zu einer Antwort auf die Frage gekommen, wie sie mitten im Nirgendwo gelandet war. „Das mag vielleicht erstmal komisch klingen, aber ich glaube, es hat etwas mit Voodoo zu tun.“
 

Stirne wurden ungläubig in Falten gelegt und Augenbrauen skeptisch zusammengezogen. Natürlich klang es im ersten Moment unglaubwürdig. Immerhin war ihre Antwort wortwörtlich ‘Hexerei‘ und aus dem Mittelalter waren sie nun deutlich raus.
 

„Da war dieser Nebel durch den ich gefahren bin, der hat mich total müde gemacht. Und das hat mich daran erinnert, dass es in dem Logbuch doch auch diese komische Suppe gab, die einen wie von Geisterhand nach Monkey Island lenkt. Vielleicht war das also extra mächtiger Mojo-Nebel, um so eine schnelle Ankunft auf die Grand Line zu versichern?“
 

Die Piraten sahen sich eine Weile gegenseitig ratlos an und zuckten dann mit den Schultern. Wenn es Teufelsfrüchte und Haki gab, warum sollte Schwarze Magie dann nur ein Märchen sein.
 

„Das wäre eine Erklärung, schätze ich“, ließ Shanks etwas unsicher verlauten. Er hätte selbst die Vermutung, dass sie vom Himmel gefallen ist, für plausibel gehalten. Wenn er eins in seinem Leben gelernt hatte, dann dass auf der Grand Line alles möglich war.

Notwendigkeiten

„Ich war bestimmt, Pirat zu sein. Leinen los, ins Meer hinein.“
 

Der melodische Gesang erreichte kaum die eigenen Ohren der Interpretin, da wurde er bereits vom Rauschen der Wellen und vom Pfeifen des Windes übertönt. Kiara hing ungefähr fünf Meter hoch in der Luft in einem Bootsmannstuhl, bewaffnet mit einem Lappen und einem Eimer voller Teer. Ihre heutige Aufgabe war es den Mast mit einer großzügigen Schicht zu behandeln, damit dieser noch für lange Zeit den rauen, salzigen Seewinden strotzte und der Witterungen Stand hielt.
 

„Den ganzen Mast? Alleine?“, hatte Kiara perplex nachgefragt.
 

„Natürlich nicht“, entgegnete einer der Piraten abwinkend.
 

„Ick halt dat Seil und dassde ooch wieda runter kommst“, bot ein anderer ihr hilfsbereit an.
 

„Oh, zu freundlich.“
 

So verbrachte sie den Vormittag in luftigen Höhen, sang ihre altertümlichen Seemannslieder aus der Heimat und arbeitete sich Stück für Stück am gewaltigen Mast entlang, während ihr Kamerad mit der schwarzen Mütze und dem interessanten Dialekt sie alle paar Minuten wieder etwa einen halben Meter hinunterließ.
 

„Wie jeht’s dir da oben, Kleene?“, rief er zu ihr, das Seil sicher um sich geknotet, den Griff jedoch relativ locker. Es war nicht nötig feste zuzupacken, der Flaschenzug und der Knoten übernahmen die meiste Arbeit für ihn. Sie war so leicht, dass er das Gefühl hatte, am anderen Ende würde gar nichts baumeln.
 

„Bisschen frisch!“, meinte sie und wagte es nicht den Blick von dem Holz vor ihr abzuwenden. Stoisch tauchte sie den Lappen erneut in die schwarze, klebrige Flüssigkeit und verteilte sie anschließend großzügig auf dem Mast. Sie hing keinesfalls das erste Mal in ihrem Leben im Tauwerk, doch änderte es nichts an ihrem Respekt vor der Höhe. Es war keine Angst per se, mehr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, welches sie, wenn möglich, gerne vermied. Inzwischen war sie dem Deck deutlich näher, ein Umstand, der sie zumindest ein bisschen beruhigte.
 

„Brauchste ‘ne Pause?“, wollte er sich vergewissern.
 

„Ach, ich mach‘ die Bahn noch zu Ende“, erwiderte Kiara zuversichtlich. Sie konnte es insgeheim kaum erwarten wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen zu spüren. Glücklicherweise hatte man ihr aufgetragen, nur das untere Drittel des Hauptmastes zu labsalben. Der Rest der Crew befürchtete wohl ebenfalls, dass sie einem Drachen gleich davonfliegen würde, wenn man sie bis zum Krähennest emporhievte.
 

„Allet klar. Danach können wa tauschen, wennde willst“, bot ihr Kamerad an.
 

„Wenn du magst.“ Kiara hielt für einen Moment inne. Missmutig stellte sie fest, dass sie seinen Namen schon wieder vergessen hatte. Nun war sie bereits seit einigen Wochen Teil der Crew und hatte es immer noch nicht geschafft, sich mehr als eine Handvoll Namen zu merken. Inzwischen wurde es ihr auch unangenehm nachzufragen. „Beanie?“, fragte sie vorsichtig.
 

„Meinste mich?“, lachte der Pirat am anderen Ende des Seils und rückte sich das entsprechende Kleidungsstück zurecht.
 

„Ja, klar!“, grinste sie zu ihm runter. Ein Fehler. Die Höhe ließ sie schwummerig werden, weshalb sie sich schleunigst an der Halterung des Bootsmannsitzes festklammerte. Es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit und beruhigte Kopf sowie Magen. Kurz atmete Kiara durch und fuhr mit dem Gespräch fort. „Weißt du schon, was du auf dem nächsten Landgang machen willst?“
 

„Ick lasset mir jut jeh’n, wat sonst?“, stieß er freudig aus. „Hey, dat wird deene erste Insel, wa? Biste aufjeregt? Vila is‘ ‘ne hübsche, kleene Ortschaft.“
 

Einerseits war Kiara gespannt darauf, in was für eine Gegend ihre Reise sie zuerst trieb. Andererseits fiel ihr ein, dass sie bald nach Ankunft einiges zu erledigen hatte. Sie seufzte. „Naja, ich muss Notwendigkeiten einkaufen gehen.“ Zwar freute sie sich, endlich wieder etwas Eigenes zu besitzen, jedoch waren ihre geldlichen Mittel trotz größter Bemühungen eher überschaubar geblieben. Sie konnte es sich daher nicht leisten, allzu anspruchsvoll zu sein.
 

„Was sind denn Notwendigkeiten?“, fragte ein anderes Crewmitglied. Der Pirat saß mit ein paar anderen an der Reling gelehnt und gemeinsam flickten sie einige Kleidungsstücke, welche Löcher und Schlitze von Kämpfen aufwiesen.
 

„Na, Unterwäsche und so’n Zeug. Ich hab‘ doch nichts.“
 

Der Pirat grinste spitzbübisch. „Brauchst du jemanden, der dich begleitet?“
 

Kiara runzelte die Stirn. „Wozu?“
 

„Willste etwa alleene rumloofen?“, fragte Beanie verwundert.
 

„Ich bin schon ein großes Mädchen. Ich kann auf mich selbst aufpassen“, vergewisserte sie der Bande trocken.
 

„Das mit der Größe, würde ich nochmal überdenken“, entgegnete einer von ihnen und grinste unverhohlen.
 

„Ja, darüber lässt sich streiten“, stimmte sein Kumpane lachend mit ein.
 

Die Piratin verdrehte die Augen. „Hey, von mir aus könnt ihr mitkommen. Aber ist das nicht langweilig?“ Sie selbst hatte schon keinen Gefallen daran in einer fremden Stadt – oder in einem Dorf – Läden nach Kleidung zu durchsuchen, die ihr gefiel und passte. Wie zehrend musste es dann sein, jemanden bei dieser Tätigkeit zu begleiten? Da stand man sich doch nur den ganzen Tag die Beine in den Bauch. Das klang nicht nach einer erstrebenswerten Freizeitbeschäftigung.
 

"Pass oof, ick komm mit!“, beschloss Beanie. „Der Rest will doch nur sehen, watte für Unterwäsche koofst."
 

Der Gedanke war Kiara ebenfalls gekommen. Die einzige logische Erklärung für dieses geheuchelte Interesse. Also entschied sie, ihnen die lüsternen Fantasien mit einem gekonnten Einwurf zu vermiesen: "Oma-Schlüpfer!"
 

Ein verstörtes Ächzen und Raunen gingen durch die Runde. "Oh, komm schon, Kleine! Du willst auch einfach jeden von der Bettkante schubsen, kann das sein?"
 

Kiara zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Und wenn dem so ist?"
 

"Dit is ihr jutes Recht!"
 

"Beanie hat's verstanden", schloss sie zufrieden.
 

Die Piraten warfen einander skeptische Blicke zu. „Beanie?“
 

Der Angesprochene schwellte stolz die Brust und grinste. „Dit bin icke.“
 

„Ach, vergebt ihr etwa schon Spitznamen?“ Mit leisen Hustern wurde versucht das spöttische Auflachen zu kaschieren.
 

„Neidisch, wa?“
 

Es wurde gleichgültig die Schultern gezuckt. „Wenn du meinst, Beanie-Boy.“
 

In einer fließenden Bewegung sank Kiara die letzten zwei Meter bis zum Deck hinab und seufzte erleichtert auf, als sie die Planken wieder betreten konnte. Mit den Füßen am Boden schaukelte sie in ihrem Sitz entspannt noch etwas hin und her, bevor sie sich wieder aufrichten wollte. Freundlicherweise hielt Beanie das Seil weiterhin in der richtigen Höhe, statt sie rücklings auf den Hintern fallen zu lassen.
 

„Und du wärst also nicht an meiner potentiellen Unterwäsche interessiert?“, fragte Kiara amüsiert skeptisch nach und sah zu ihm auf.
 

„Nee, dit is‘ nich‘ meen Ding. Keene Sorge.” Er lächelte sie freundlich an. „Aber wennde lieber mit dem Boss Zeit verbringen willst, versteh ick det ooch.“
 

Kiara winkte ab und schmunzelte. „Ach, mit dem verbringe ich noch genug Zeit. Ich fänd’s cool, wenn wir die Insel zusammen erkunden.“
 

„Ja, dann machen wir dit doch! Ick freu mir!“

Bartpflege

Prüfend strich sich der rothaarige Piratenkapitän über den bereits viel zu dichten Bartschatten, der seine Wangen und seinen Hals entlang wuchs. Der Blick in den Spiegel bestätigte seinen Verdacht. Er hatte sich ein bisschen zu sehr gehen lassen in den letzten Tagen. Sein Glück war, dass sein Bartwuchs generell eher langsam vonstatten ging. Seitdem er seinen guten Arm eingebüßt hatte, stellte sich die tägliche – oder manchmal auch nur wöchentliche – Rasur als eher lästig heraus. Es gab bereits genügend andere Dinge, für die er jetzt seine rechte Hand bemühen musste. Mit einem scharfen Messer an seinem Gesicht herumzuhantieren gehörte nicht zu seinen Prioritäten.
 

Sehr zu seinem persönlichen Wohlgefallen hatte sich die junge Piratin dazu bereit erklärt ihm die Bartpflege abzunehmen. Zumindest ab und zu. Das Angebot, geschweige denn die damit einhergehende bedingungslose Aufmerksamkeit die ihm dadurch zuteilwurde, konnte er wohl kaum ausschlagen.
 

Gut gelaunt lümmelte Shanks sich daher auf den Rand der Badewanne, um eine angemessene Arbeitshöhe für die kleine Piratin zu ermöglichen.
 

Diese rührte währenddessen emsig mithilfe eines dicken, weichen Pinsels den Rasierschaum in einer kleinen Holzschale an.
 

„Hast du das eigentlich schonmal gemacht?“, fragte der Rothaarige neugierig. Sie wirkte jedenfalls nicht allzu unsicher in der Handhabung mit dieser doch recht spezifischen Materie.
 

„Wenn ich nein sage, würdest du mich dann trotzdem noch mit einer scharfen Klinge an deinen Hals lassen?“, erwiderte Kiara mit einem Grinsen im Mundwinkel.
 

Shanks presste nachdenklich die Lippen zusammen. Das Gefährliche hatte schon seinen Reiz. Gelassen zuckte er mit den Schultern. „Wahrscheinlich schon.“
 

Sie lachte amüsiert auf. „Keine Sorge, ich hab‘ auf Plunder Island mal eine Zeit lang in der Barbierküste gearbeitet. Ich war quasi Teil eines Barbershop Quartetts.“
 

Flüchtig berührte sie den metallenen Henkel eines Deckels, welcher sich mitsamt noch dampfendem Topf im Waschbecken befand. Shanks hatte sich schon gefragt, wozu sie den brauchte und was sie im Badezimmer bitte zubereiten wollte. Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage folgte zum Teil sogleich, als Kiara den Stoff ihres Ärmels um die Hand wickelte und den Deckel hob, um ein fein säuberlich zusammengerolltes, weißes Handtuch aus dem Topf zu heben.
 

„Da hast du aber lecker gekocht“, bemerkte er zweifelnd und beobachtete wie Kiara das Tuch von einer Hand in die andere jonglierte.
 

„Das ist dafür da, damit deine Haut sich spannt. Dann wird das Ergebnis umso glatter! Und du kriegst keine Hautirritationen“, erklärte sie fachmännisch. Anscheinend hätte sie wirklich ein oder zwei Dinge von einem echten Barbier gelernt. Oder sie dachte sich das alles nur aus. Von so einer Prozedur hatte er noch nie gehört. Seine bisherigen Rasuren hatten immerhin auch ohne gespannte Haut ganz gut funktioniert. Vorsichtig trat sie an ihn heran hob das beinahe heiße Handtuch an seine Wangen. Shanks zuckte nicht einmal, obwohl die Berührung im ersten Moment nicht ganz angenehm war. Doch kurz darauf fühlte es sich gleich viel angenehmer an.
 

„Ist es zu heiß?“, fragte Kiara unsicher nach.
 

Kaum merklich schüttelte Shanks den Kopf. „Alles gut.“ Selbst wenn sie sich das nur ausdachte, war es eine Prozedur, an die er sich gewöhnen konnte.
 

„Und, singt ein Barbershop Quartett dann während des Haareschneidens?“, hakte er amüsiert nach.
 

„Ich glaube, das mussten sie lassen, weil es vor lauter heiterer Überschwänglichkeit zu Kollateralschäden kam. Aber beim Aufräumen hab‘ ich viele Shantys gelernt.“
 

Shanks nickte anerkennend. Ein ordentliches Repertoire an schmissigen Sea Shantys war eine Unerlässlichkeit für einen Seemann auf Kaperfahrt.
 

„Wie kommt es, dass du bei einem Friseur gearbeitet hast? Ich dachte, du wärst Pirat“, grinste er sie schelmisch an. Er mochte zwar frech rüberkommen, aber es interessierte ihn tatsächlich. Nun waren sie schon einige Wochen gemeinsam unterwegs und er wusste kaum etwas über sie.
 

„Ich brauchte Geld für ein Schiff. Ohne Schiff ist es schwierig anderen ihre Beute zu plündern, nicht wahr?“ Sie versuchte sich nicht zu sehr von seinem Gesicht und Grinsen ablenken zu lassen, und wahrte möglichst einen professionellen Blick auf die Aufgabe vor sich. Sanft tupfte sie das allmählich lauwarme Tuch über seine Wangen, Kiefer und Hals, betrachtete den Zustand seiner Haut eingehend und wandte sich dann zu der Schale mit dem weißen Schaum zu.
 

„Nachdem wie du dir hier dein Taschengeld erwirtschaftet hast, hätte ich eher erwartet, dass du dir einfach eins ergaunerst“, feixte er.
 

Verständlicherweise war Kiara kein Geld geblieben, als sie von seiner Mannschaft aus dem Meer gefischt wurde. Die Goldstücke, welche sie besessen hatte, waren entweder im Magen des Seekönigs oder zusammen mit dem Rest des Schiffes auf dem Meeresgrund gelandet. Shanks’ Angebot, dass sie sich gerne auf seine Kosten beim nächsten Landgang eindecken konnte, hatte sie freundlich abgelehnt. Stattdessen ermutigte sie die Crew zu einem Wetttrinken, welches sie veranstalten wollte und sammelte Geld für einen Siegertopf. Keiner hatte erwartet, dass dieses kleine Leichtgewicht gewinnen und den Topf absahnen würde. Danach war es ihr durch geschicktes Kartenspiel, und gewiss einer ganzen Portion Glück, gelungen ihren Gewinn zu verdoppeln. Im Kodex der Rothaarpiraten war Glücksspiel keinesfalls verboten, jedoch sollten Wetteinsätze in Maßen gesetzt werden. Und da sie von vielen Männern je ein bisschen gewann, war dem nichts gegen einzuwenden.
 

„Hey, was heißt ergaunern? Das war fair und ehrlich! Oder krieg ich etwa Taschengeld für’s Kartoffeln pellen?“, entrüstete sie sich während sie mit dem kurzen, dicken Pinsel begann den Schaum auf sein Gesicht aufzutragen.
 

Shanks überging die Frage beflissentlich und hob das Kinn, um ihr mehr Spielraum zu geben. „Und was hast du vorher gemacht? Oder hast du deine ganze Jugend in einem Friseursalon verbracht?“
 

Sorgfältig und großzügig hatte Kiara den Rasierschaum auf dem Kiefer ihres Kapitäns verteilt. Nun ging es ans Eingemachte. Bedacht entfaltete sie das Rasiermesser. „Nur ein halbes Jahr oder so.“ Sie hob andeutend die Klinge in sein Sichtfeld. „Letzte Chance deine Entscheidung zu überdenken.“
 

„Du machst das schon, ich vertrau dir da“, meinte er ruhig. „Und wenn du doch Blödsinn machst, hab‘ ich dich schneller im Griff, als du gucken kannst.“
 

„Ich bemüh‘ mich“, zwinkerte sie zuversichtlich und setzte behutsam die Schneide zum ersten Schnitt an.
 

Shanks ließ es sich nicht anmerken, aber dass er nach dieser ersten fließenden Bewegung keine blutende Fleischwunde davontrug, erleichterte ihn dann doch. Äußerlich sowie auch innerlich gelassen, wandte er sich dem nächsten Zug der Klinge entgegen.
 

„Also?“, hakte er entspannt nach.
 

„Hm?“
 

„Was hat Klein-Kiara gemacht?“
 

Während nach und nach die kurzen dunkelrötlichen Stoppeln wichen, erzählte ihm Kiara davon, wie sie zuhause unterrichtet wurde und ihre Mutter darauf ein Auge hatte, dass es mehr als nur das bloße Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen war. Sie erzählte ihm von Musikstunden, Wirtschaftslehre und dem Französischlehrer den sie absolut nicht ausstehen konnte.
 

„Das klingt eher nach Aristokratie, als nach Piratenleben“, bemerkte Shanks beiläufig.
 

„Meine Mutter ist Gouverneurin. Ich denke, sie wollte nicht, dass ihre Tochter als dumm gilt. Und dass ich eventuell ihren Posten irgendwann übernehme. Also übernehmen könnte. Sofern ich für das Amt gewählt werden würde. Aber solange sich sonst niemand jemals aufstellen lässt, bleibt das Motto halt weiterhin ‚Wenn es nur einen Kandidaten gibt, gibt es auch nur eine Wahl.‘“
 

„Gouverneurin also? Ganz schön viel Verantwortung.“ Er wollte nicken, aber da sie gerade akribisch die Kontur seines Kinnbartes definierte, hielt er dann doch lieber so still er konnte.
 

„Naja, damit bin ich quasi aufgewachsen. Es fühlt sich nicht nach etwas besonderem an. Wenn meine Mutter für einige Zeit auf einer anderen Insel war, hab‘ ich sie mehr oder weniger wie selbstverständlich vertreten.“ Kurz hielt Kiara inne. „Ich glaube es sollte eigentlich so etwas wie eine ebenfalls gewählte oder ernannte Stellvertretung geben… aber wir sind noch nicht so lange demokratisch. Eventuell sollte man das System dahingehend noch etwas verbessern.“
 

„Interessante Demokratie. Was wart ihr vorher?“
 

Kiara blies einen Schwall Luft aus. „Frag mich nicht. So viel ich weiß haben aber zumindest drei der Inseln mal meiner Familie gehört. Aber gleichzeitig war die Regierung auch dem Königreich Eigis unterstellt. Dann kam Urgroßpaps Marley und hat beschlossen, unabhängig zu werden, die Sklaverei abzuschaffen und eine Demokratie einzuführen. Meine Großeltern sollen ziemlich scheiße gewesen sein, vielleicht wollte er ihnen das Erbe so richtig schön aus den gierigen Händen schlagen.“ Sie setzte die Konturen zu seinen Mundwinkeln fort. „Naja und ansonsten war ich den Großteil der letzten fünf oder sechs Jahre auf Handelsschiffen unterwegs, hab gelernt wie man möglichst diplomatisch verhandelt und sich nicht von irgendwelchen Idioten bescheißen lässt.“
 

„Und wann hast du dein Piratenzertifikat bekommen?“, warf der Rothaarige mit einem Schmunzeln ein, während die Möchtegern-Barbierin Haar und Schaum von der silbernen Klinge abstrich.
 

Sie biss sich auf die Lippe und beschäftigte sich noch etwas länger als notwendig mit der Säuberung des Rasiermessers, um ihm ihre Schamesröte nicht zu offenbaren. Er wollte sie nur damit aufziehen und das gelang ihm auch mit Bravour.
 

„Unwichtig. Was ist mit dir? Seit wann nennst du dich einen Piraten?“, wälzte sie das Thema stattdessen zurück auf ihn ab.
 

„Eigentlich schon mein ganzes Leben. Im Grunde bin ich seitdem ich denken kann auf See und hab die Welt gesehen.“ Der Blick des Rothaarigen wandte sich erneut prüfend zum Spiegel. Da waren noch einige weiße Schaumrückstände, doch die kam Kiara sogleich mit einem feuchten, kleinen Handtuch abtupfen. Das war wirklich sehr ordentlich. Ob sie sich immer seines Bartes annehmen mochte? Es war definitiv eine Prozedur an die er sich gewöhnen konnte.
 

„Du bist seit du denken kannst ein Pirat zur See? War das nicht gefährlich?“
 

„Oh, das war es. Es war gefährlich, anstrengend und aufregend. Feindliche Piraten, die Marine, die unberechenbare See. Da hat man früh gelernt tough zu sein.“
 

Kiara träufelte sich etwas von der Balsamlotion auf die Handfläche, während sie aufmerksam den Worten ihres Kapitäns lauschte. „Das klingt nicht sonderlich nach dem geeigneten Umfeld für ein Kind“, zweifelte sie sorgevoll.
 

„Aye, das ist es auch nicht. Deswegen hab‘ ich den kleinen Jungen, aus dem Dorf an dem wir ein Jahr vor Anker lagen, nie auf eine Fahrt mitgenommen, egal wie oft er mir damit in den Ohren hing.“
 

Sorgfältig verrieb Kiara die Lotion auf ihren Händen, bis ihre Haut ganz ölig und glänzend war. Dann nahm sie sein Gesicht sanft in ihre Hände um den beruhigenden Balsam zärtlich einzumassieren. Das gefiel dem Kapitän gut. Er lehnte sich in die Berührung hinein und ließ genießend die Augen zufallen.
 

„Und wer war hingegen so leichtsinnig und hat dich mitgenommen?“, summte ihre Stimme beinahe.
 

Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen. „Na, Käpt’n Roger.“
 

Ihre liebliche Massage stoppte abrupt. Fragend blinzelte Shanks die Augen auf, um nachzuforschen, was sie pausieren ließ.
 

Kiara starrte ihn fassungslos an. „Du… Redest du von ‚König der Piraten‘-Roger?“
 

„Genau dem.“ Prüfend zog Shanks eine Augenbraue hoch. Er konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten.
 

„Aber du bist doch erst… 25? 30?“, stammelte sie.
 

„27, wenn du es wissen möchtest.“ Er legte den Kopf schief. Nicht um seine Wange noch etwas an ihre Hand anzuschmiegen, aber es war ein nettes Extra. „Was passt für dich nicht zusammen?“
 

„Ich dachte seine Hinrichtung sei gut zwanzig Jahre her?“, überlegte sie laut. Sie hatte bis dato von dem Piratenkönig nur in Büchern gelesen, was er wohl für ein eindrucksvoller und ungeheurer Mann gewesen war und es erschien ihr alles so weit weg.
 

„Es geschah vor zwölf Jahren.“
 

Kiara ließ die Hände sinken. Sehr zum Verdruss des Rothaarigen.
 

„Das muss schrecklich für dich gewesen sein“, sagte sie erschüttert.
 

„Auf seinem Schiff?“
 

„Seine Hinrichtung. Wenn du dort aufgewachsen bist, dann war er doch sowas wie Familie“, erwiderte sie betreten.
 

Erstaunt lehnte sich Shanks ein Stück zurück und musterte sie eingehend. „Das würden die wenigsten Außenseiter auf Anhieb denken.“
 

Ein Lächeln glitt über ihre Lippen während sie ungläubig den Atem ausstieß. „So warm wie deine Augen gerade geleuchtet haben, als du ihn erwähntest… Er war kein schlechter Mensch.“ Ihre kleine, bedeutungsschwere Pause unterbrach sie mit einem „jedenfalls nicht für dich.“ Ihr war wohl eingefallen, dass manches auch einfach Ansichtssache war.
 

Ehe er sich versah spürte Shanks wieder die warmen, weichen Hände an seinen Wangen, wie sie ihn zärtlich liebkosten. Augenblicklich flatterten seine Lider wieder zu und ein zufriedenes Seufzen entwich seinen Lippen. Es kostete ihn eine Menge Willenskraft sich daran zu erinnern, dass sie das bestimmt einfach nur aus professioneller Sicht und Fürsorge tat. Aber dann strichen ihre Daumen auch noch über seinen Oberlippenbart und er musste wirklich an sich halten nichts zu überstürzen. Immerhin hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Und das würde er ohne Zweifel tun, wenn er jetzt seinen Gelüsten nachgäbe.
 

„Du musst mir unbedingt von dieser Zeit erzählen“, säuselte ihre Stimme an seinem Ohr. Bestimmt tat sie es gar nicht, aber er wollte es sich einreden. „Du weißt, ich liebe Geschichten.“
 

Intuitiv neigte er sich wenige Zentimeter nach vorne, um die viel zu riesige Lücke zwischen ihnen zu überbrücken. Er fühlte die Wärme ihres Gesichts prickelnd nah an seiner Haut und ihren Atem gegen seine Lippen hauchen. Trotzdem war die Entfernung weiterhin zu groß für seinen Geschmack.
 

Und plötzlich war die Lücke verschwunden.

Wetterumschwung

Eine dichte, graue Wolkendecke hing über dem Horizont auf den die Red Force zusteuerte. Zwar war es Mittagszeit, doch ließ sich die Sonne an diesem Tag kein Stück blicken. Mit halben Segeln fuhr sie gemütlich ihrem Ziel entgegen. In wenigen Tagen sollte die Rothaarbande die nächste Insel ihrer Route erreichen. Allmählich sanken die Temperaturen zum Minuspunkt und statt Regentropfen rieselten still weiße Flocken auf See und Schiff herab. Die Mannschaft bespaßte sich damit, anderen Crewmitgliedern kleine Eishäufchen in den Kragen zu stecken oder die Flocken mit der Zunge aufzufangen.
 

Vorsichtig und in ihren etwas zu großen Mantel gewickelt, steckte Kiara die Nase aus dem Quartier. Skeptisch beäugte sie das Treiben der Crew und traute sich kaum auch nur einen Schritt nach draußen zu treten. Die Luft war beißend kalt und roch merkwürdig frisch und klar. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt tiefer einatmen sollte. Die Flocken, welche vom Himmel rieselten, erinnerte sie an Ascheregen, wenn der Vulkan auf Blood Island stärker ausbrach als sonst.
 

„Hey, Kleine!“, rief der glatzköpfige Pirat, mit dem sie gelegentlich Schwertkämpfen übte.
 

Die Angesprochene wandte den Blick nichts ahnend in seine Richtung und bekam dafür einen kalten Klumpen ins Gesicht geworfen. Kiara zuckte zusammen und fasste sich reflexartig an die getroffene Stirn.
 

„Los, mach mit!“, spornte der Trainingspartner sie an und sammelte mehr des weißen Pulvers vom Deck auf.
 

Irritiert betrachtete sie die weißen Kristalle auf ihrer Handfläche, welche sich schnell verflüssigten und als bloße Wassertropfen ihren Arm hinunter tropften.
 

„Was-?“, stammelte sie. „Was ist das?“
 

Die Crew um sie herum, beäugte sie belustigt und lachte unverhohlen. „Das ist Schnee!“
 

Erstaunt sah sich Kiara die Flocken, welche aus dem Himmel rieselten genauer an. Sie landeten auf ihren Wimpern, Wangen und Lippen und tropften ebenfalls sogleich hinab. Jede Berührung fühlte sich nicht ganz unähnlich eines feinen Nadelstichs an, doch es störte sie kaum.
 

„Das ist Schnee?“, wiederholte sie ehrfürchtig.
 

So etwas kannte sie ganz und gar nicht. Sie war auf tropischen Inseln aufgewachsen, selbst Frieren war ihr fremd. Lediglich von Erzählungen ihrer Mutter oder den Seefahrern hatte sie gehört, dass es eine Jahreszeit gab, zu der alles ganz kalt und ruhig wurde und sich plötzlich Hügel und Berge auftürmten, wo sonst keine waren.
 

Die Neugierde packte sie und mit Begeisterung sprang sie raus an Deck um das Phänomen ordentlich zu untersuchen.
 

Von seinem Platz auf dem Poopdeck aus beobachtete der Kapitän die junge Piratin mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
 

„Du kannst sie mit der Zunge einfangen, etwa so!“, erklärte ein Crewmitglied fachmännisch, streckte die Zunge heraus und legte den Kopf in den Nacken für maximale Landefläche.
 

Interessiert tat Kiara es ihm gleich. „Das schmeckt nach gar nichts!“, protestierte sie daraufhin, was erneut amüsiertes Gelächter aus der Mannschaft hervorkitzelte.
 

Daraufhin zeigte man ihr, wie man Schneebälle formte um andere damit abzuwerfen.
 

Shanks war zur Abwechslung auf heißen Rum umgestiegen. Es kam ihm seltsam vor, nur eine Hand an dem Becher wärmen zu können. Vor seinem inneren Auge, konnte er immer noch sehen und spüren, wie auch seine linke Hand die Keramik umfasste. Er fragte sich, ob dieses Gefühl jemals verschwinden würde.
 

Mit einem Mal kam Kiara die Treppe hinauf gestürmt und rutschte beinahe aus, da die Stufen vom Schnee und Wind leicht vereist waren. Nichtsdestotrotz strahlte sie ihn überschwänglich an. „Sieh mal, ich kann Wasser einfach so in einer Hand halten!“, grinste sie stolz und zeigte ihm den kleinen Schneeball in ihrer Handfläche.
 

Ihre Naivität trug sehr zur Erheiterung aller bei. „Wie ein kleines Kind“, kam es heiter grölend vom Hauptdeck.
 

„Ist doch süß“, entgegnete ein anderer, der mindestens genauso breit grinste. Ihre Begeisterung war zu ansteckend.
 

Shanks kam eine Idee. „Stell dich mal unter die Palmenblätter.“
 

Kiara legte den Kopf schief, doch tat wie ihr geheißen. Ihr war nicht entgangen, dass die Blätter ebenfalls deutlich heller und von einer dünnen Schicht des weißen Pulvers bedeckt war. Der Rothaarige trat zu ihr und gab dem Stamm einen kräftigen Schlag gegen die Rinde. Die Palme zitterte, das brachte die Blätter ins Wanken und der Schnee rutschte herunter und berieselte Kapitän und Piratin gleichermaßen. Sie lachte halb gequält auf und versuchte sich das kalte Zeug aus dem Nacken zu streichen.
 

„Wo wir hinfahren, gibt es davon noch viel mehr“, grinste Shanks sie an und strich ihr noch einige Flocken von den Schultern des blauen Mantels.
 

„Ist dann die ganze Insel mit Schnee bedeckt?“, fragte sie und die Vorstellung allein ließ ihre Augen funkeln. Der Schnee in ihrem Nacken tropfte kalt ihren Rücken hinab und sie schauderte.
 

Der Kapitän nickte bestimmt. „Dort wird der Schnee einige Meter hoch liegen. Wir sollten dir dafür etwas Warmes zum Anziehen finden.“ Er hob seinen linken Arm und wollte sie dazu einladen, Schutz unter seinem Umhang zu finden. Leider vollzog er nicht ganz die Geste, die er wollte. Kiara schien die Regung des schwarzen Stoffes allerdings richtig zu deuten und nahm den Saum selber in die Hand, um darunter schlüpfen zu können.
 

„Dabei trage ich doch schon Stiefel und Mantel. Du hingegen hast immer noch deine Sandalen an. Und überhaupt, bei dir liegt so viel Haut frei!“, bemerkte sie spöttisch, besah sich seine nackten Füße, Beine und das halb offene Hemd.
 

„Aber ich bin größer und habe Muskeln die mich warmhalten. Deine Haut ist dafür so dünn, dass jeder Kratzer gleich rot leuchtet“, konterte Shanks und tippte zum Beweis auf die errötete Stirn, wo sie der Schneeball getroffen hatte. „Glaub mir, wenn du deinen Körper nicht warm genug hältst, frieren dir die Gliedmaßen ab.“
 

Kiara starrte entsetzt zu ihm hoch. „Das geht?!“
 

„Deine Finger sind jetzt schon rot. Danach werden sie weiß, dann blau und dann…“
 

Voller Schreck stellte sie fest, dass er recht hatte und ihre Hände wirklich bereits ungewöhnlich rötlich und blass waren. Instinktiv schlang sie ihre Arme um den Oberkörper des Rothaarigen und krallte sich in den körperwarmen Stoff seines Hemdes.
 

Shanks lachte herzlich auf. „Gut, noch ist es nicht kalt genug und so schnell passiert das auch nicht. Aber schön, dass du so einsichtig bist.“
 

„Erzähl mir keine Märchen, ich hab‘ doch keine Ahnung von Schnee!“, klagte sie und spürte wie ihr Gesicht vor Schamesröte immerhin wieder wärmer wurde. Den Griff lockerte sie trotzdem nicht. Die klammen Hände dankten es ihr.
 

Gerne hätte der Kapitän seinen Arm um ihre Schultern gelegt, leider stand sie dafür auf der falschen Seite. Da sie im Vergleich zu ihm so klein war, strich das Überbleibsel seines Armes gerade mal über ihre Schulter. Der verknotete Ärmel seines Hemdes baumelte beinahe tätschelnd über ihr Schulterblatt. Nun, der Gedanke zählte.
 

„Ich habe eine Aufgabe für dich“, sagte der Kapitän schließlich. „Wenn wir auf Avalugg Island ankommen, möchte ich, dass du mit Beckman zum Pfandhaus gehst. Dann kannst du zeigen, wie gut du im Verhandeln bist.“
 

„Damit du mehr Geld für Fusel hast, was?“, grinste die Piratin schelmisch zu ihm auf.
 

Der Rothaarige strich sich intuitiv über den feinsäuberlich getrimmten Kinnbart. „Es sind die kleinen Freuden im Leben“, zwinkerte er ihr zu.
 


 

Die nächsten Tage verstrichen in Windeseile. Vielleicht weil die Crew sich zunehmend damit bespaßte kugelrunde Männer zu bauen und Schneeballschlachten zu veranstalten. Die weißen Massen sorgten für viel Heiterkeit.
 

Sehr zum Wohlgefallen des rothaarigen Kapitäns brachten die sinkenden Temperaturen die junge Piratin immer öfter dazu seine wärmende Nähe aufzusuchen. Jeden Morgen machte sie es ihm schwerer das behagliche Bett zu verlassen. Und jeden Morgen ertappte er sich dabei, dieser Bitte und seiner eigenen Neigung mehr und mehr nachgeben zu wollen.
 

Sie nahm es ihm deutlich übel, dass er sie nach der Landung in einen ungefähr zwei oder drei Meter tiefen Haufen Neuschnee schubste, als sie gerade begeistert dabei war die Landschaft zu inspizieren. Shanks konnte es einfach nicht lassen, diejenigen die er mochte, hin und wieder ein wenig zu triezen.
 

„Soll ich die Kleine mitnehmen, Boss?“, vergewisserte sich der Vize, der mit einigen Truhen und Säcken voller Gold und Silber beladen war. Fünf weitere Männer teilten den restlichen Großteil ihrer Beute der vergangenen Wochen untereinander auf, um so viel wie möglich zu tragen.
 

„Ja, lass sie mal machen“, bestätigte der Kapitän und warf einen amüsierten Blick darauf, wie sich die Piratin einige Meter entfernt den Schnee aus der Kleidung und den Haaren klopfte. „Sie erzählte, dass sie auf einem Handelsschiff war. Und ihre Heimatinseln sind mit Piratenschätzen reich geworden. Da wird sie wohl einiges an Expertise haben, die wir nutzen können.“ Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Und wenn nicht, dann lernt sie was von dir.“
 

„Hätte nicht gedacht, dass du mir mal einen Lehrling an die Backe drückst“, entgegnete Beckman dezent amüsiert und schulterte den unförmigen Sack erneut, da dieser ihm zu verrutschen drohte. Anschließend ging er die Piratin für den gemeinsamen Landgang einsammeln.
 

Der Pfandleiher stellte sich als genauso knauserig heraus, wie Beckman es von jeder anderen Insel gewohnt war. Mit leiser Stimme unterbreitete er ihnen ein Angebot, welches vermutlich nicht einmal ihre Kosten an Proviant decken würden.
 

„Das ist doch wohl ein Scherz. Ihr kriegt nachher über Auktionshäuser doch das fünffache dafür raus!“, empörte sich Kiara, welche neben dem Vize Platz nehmen sollte, um dem Verhandlungsgespräch besser folgen zu können.
 

„Es ist kein schlechtes Angebot, wenn man bedenkt, dass ihr das ganze Zeug eh nur geklaut habt“, kam die schroffe, geflüsterte Antwort des Pfandleihers.
 

Kiara verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Wir kaufen hier für das Geld Proviant, Kleidung, Materialien – und überhaupt die ganze Kost und Logie während wir hier ankern. Ihr könnt nicht erwarten, dass wir mit Plus-Minus-Null rausgehen. Sehen wir aus wie die Wohlfahrt oder was.“
 

„Wenn du uns mehr Geld gibst, können wir auch mehr ausgeben, nicht wahr? Wäre doch schade, wenn wir jeden Berry zweimal umdrehen müssen“, setzte Beckman nach. „Gewinn machst du so oder so.“
 

Erfolgreich leierten die Piraten mit ihrer Unablässigkeit dem Pfandleiher gut das dreifache seines ursprünglichen Angebots aus dem Ärmel. Damit sollten sie die Mannschaft für einen beachtlichen Zeitraum bei Laune halten können.
 

„Verkaufsgespräche kenne ich sonst nur anders herum“, lachte Kiara, nachdem sie das Pfandhaus mit Truhen und Säcken voller ordentlich gepresster Scheine und einer Menge abgezählter Münzen verließen. „Wobei ich Preise auch gerne mal erhöht hab, wenn die Kunden meinten, mich untereinander auf anderen Sprachen zu beleidigen.“
 

Beckman blies einen Schwall Rauch aus dem Mundwinkel. Er konnte seine Angewohnheit Zigaretten zu frönen nicht ablegen, selbst wenn seine beiden Hände belegt waren. „Haben sie dir deine Waren dann trotzdem noch abgekauft?“
 

„Nachdem ich ihnen erzählt hab, dass die anderen Händler ihr Zeugs so billig verscherbelten, weil sie Sklaven die Arbeit machen lassen, haben sie sogar sehr gerne noch etwas draufgezahlt“, entgegnete Kiara stolz. „Man macht sich schnell Freunde, wenn man ihre Landessprache spricht. Oder wenn man weiß, welcher Seite sie angehören.“ Sie schürzte die Lippen. „Aber ich wurde auch oft genug beschissen. Einmal haben sie mir Katzengold angedreht.“
 

„Deshalb benutzt man inzwischen weltweit eigentlich nur noch den Berry um zu bezahlen“, erklärte der Vize sachlich.
 

Kiara prustete spöttisch, als sie an die ulkigen Abbildungen auf den Münzen und Scheinen der Währung dachte. „Shanks sagt, ich lebte in einem Piratenfreizeitpark, dabei habt ihr eindeutig das Spielgeld.“
 

Geld blieb das Thema, als sie sich später um ein aufgebautes Lager herum zusammensetzten und die Beute genauer begutachteten.
 

„Der Mistkerl hat uns Zweitausender Scheine gegeben“, knurrte Beckman, der sich ärgerte, dies nicht vorher bemerkt zu haben.
 

„Sind die gefälscht?“, fragte Kiara nach.
 

„Nein, das ist echtes Geld. Aber diese Scheine werden nur von der Marine oder Weltregierung für Kopfgelder ausgezahlt. Das heißt, nur Kopfgeldjäger oder Piraten die einander ans Messer liefern, bezahlen mit denen.“
 

Die Piratin nickte andächtig. „Das Geld geht quasi dem Ruf voraus.“
 

Der Kapitän nahm sich einen ordentlichen Batzen aus der Truhe. „Naja, als Piraten haben wir den schlechten Ruf sowieso erstmal weg. Geld ist Geld. Also, wer macht mit mir eine Sauftour?“
 

„Ah, Boss, was ist eigentlich mit der Karte?“, erinnerte ihn Yasopp an ihr Fundstück vor einigen Tagen. „Wenn du die noch verkaufen willst-…“
 

„Da sagst du was!“ Er wandte sich zu Kiara um. „Ich hab‘ da etwas, was du dir ansehen solltest. Erinnere mich heute Abend… oder lieber morgen nochmal daran.“ Und mit diesen Worten trat der Kapitän den Weg ins nächste Gasthaus an.

Des Rätsels Lösung

Der rothaarige Kapitän erwachte zu den ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen nach einer durchzechten Nacht und stellte mit leichtem Erstaunen fest, dass ihm der Kopf klarer war als nach der konsumierten Menge üblich. Von dem Alkohol sollten sie besonders viel für die Weiterreise mitnehmen, dachte er und blinzelte langsam die Augen auf. Beinahe komplett unter der Bettdecke verkrochen lag Kiara halb auf seiner Brust, die Arme eng um ihn geschlungen. Ironischerweise hatten die kalten Temperaturen sie dazu inspiriert immer mehr aufzutauen. Allerdings lernten sie sich auch, wie von ihr gewünscht, deutlich besser kennen.
 

Innerlich seufzte er. Sie lag so friedlich an ihn gekuschelt, da wollte er sie nur ungern wecken und von ihrem Platz verscheuchen. Es war bestimmt nichts dagegen einzuwenden, es den Morgen gelassen anzugehen und noch eine Runde zu dösen. Wenn jemand fragte, könnte er es auf den Alkohol schieben. Er war schließlich ein Gentleman. Meistens. Manchmal.
 

Behutsam strich er durch ihre Haare, ehe er den Arm um sie legte. Er genoss ihre Nähe, die Wärme die sie ausstrahlte, ihr Gewicht, dass er auf sich spürte. Shanks nahm einen tiefen Atemzug, bedacht darauf ihren Schlaf nicht allzu sehr zu stören. Dabei entging ihm nicht der frische Duft von Shampoo, der ihm dabei in die Nase stieg. Sie musste gestern, während er die örtlichen Kneipen besucht hatte, ein Badehaus aufgesucht haben.
 

Eigentlich gar keine so schlechte Idee. Zwar war er auch so stets um ein akzeptables, gepflegtes Äußeres bemüht und nahm daher regelmäßig ein Bad, aber sollte es hier auf der Insel heiße Quellen geben, wäre dies eine gute Gelegenheit sich dort ausgiebig zu entspannen. Und vielleicht könnte er die junge Piratin ja dazu überreden mit ihm in ein gemischtes Bad zu gehen. Ein schelmisches Lächeln zeichnete sich auf seinen Mundwinkeln ab.
 

„An was denkst du wieder, hm?“, murmelte eine verschlafene Stimme an seiner Brust.
 

„Ach, nur daran, wie gern ich dich bei mir habe“, lächelte Shanks und wanderte mit der Hand in ihren Nacken, um sie dort zu kraulen. Instinktiv schmiegte sie das Gesicht noch etwas mehr an seinen Oberkörper. Himmel, sie machte es ihm auch wirklich nicht mehr leicht.
 

„Natürlich ganz ohne Hintergedanken, nicht wahr?“, nuschelte Kiara und war von sich selbst beeindruckt, in diesem Zustand deutlich sarkastisch zu klingen.
 

„Völlig“, kam die gedehnte Antwort, von der sie beide wussten, dass sie gelogen war.
 

Für einen Moment verschwand das leichte Gewicht von seiner Brust, als Kiara weiter zu ihm hinauf robbte und mit den Armen seinen Kopf einrahmte. Mit einer Hand stützte sie ihren Kopf ab, mit der anderen kämmte sie durch seine vom Schlaf etwas wüsten Haare. Während er sich genüsslich den darauf folgenden zärtlichen Liebkosungen ihrer Lippen auf seinen Wangen und seiner Halsbeuge hingab, kam Shanks nicht drum herum die Entwicklung ihres kleinen Verhältnisses wertzuschätzen. Es war offensichtlich, dass sie ebenso seit ihrem Kennenlernen Interesse an ihm bekundete und allmählich bewegte sie sich Schritt für Schritt auf ihn zu. Shanks ließ ihr die Zeit und freute sich währenddessen über jede weitere neue Art der Zuwendung, die sie ihm entgegen brachte.
 

Shanks hauchte beiläufig einen Kuss auf ihre Schläfe. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du noch nicht aufstehen möchtest?“, schmunzelte er zufrieden an ihr Ohr und malte mit den Fingerkuppen Muster auf ihren Rücken.
 

Kiara sah mit geschürzten Lippen auf. „Da draußen ist es kalt. Sag bloß, du ziehst das meiner Gesellschaft vor?“
 

Shanks schnaubte in einem Versuch ein lautes Auflachen zu unterdrücken. „Natürlich würde ich auch den ganzen Tag mit dir im Bett verbringen. Und mir fiele da auch ein schöner Zeitvertreib ein.“ Die darauffolgende Pause ließ er sich auf der Zunge zergehen. Er kostete sie voll aus, um die erwartete Röte auf Kiaras Wangen aufglühen zu sehen. Ihr Blick hingegen schien recht herausfordernd. Das war interessant. „Aber als Käpt’n muss ich mich auch um meine Pflichten kümmern“, endete er gewissenhaft und seufzte theatralisch.
 

Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. „Aber wir haben Landgang.“
 

Ein verheißungsvolles Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln. „Tja, dann…“
 

Geschickt rollte er sich mit ihr auf dem Bett herum, der offenen Einladung gerne entgegenkommend. Triumphal lehnte er über Kiara und musterte ihre schmale Form, welche kaum in der Matraze versank. Sie war lächerlich leicht und er hatte sie bereits einige Male ohne großartigen Kraftaufwand mit einem Arm hochgehoben. Schüchtern hielt Kiara die Arme an ihre Brust veschrenkt, und wirkte unsicher, was sie mit ihnen machen sollte. Shanks beschloss ihr bei dieser Entscheidung zu helfen und nahm eine ihrer Hände um sie sich in seinen Nacken zu legen. Eigenständig folgte die zweite Hand und kämmte durch seinen roten Schopf. Von dieser Position aus hatte er nun mühelos Zugang zu all seinen Lieblingsstellen – die sie hoffentlich genauso begeisterten wie ihn. Er neigte gerade den Kopf zu ihr hinab, um sich an ihrem Hals zu schaffen zu machen, als es an der Kabinentür klopfte.
 

„Boss?“, kam es dumpf von draußen.
 

Shanks sah auf, stöhnte genervt und warf der Tür einen missbilligenden Blick zu. „Was?“
 

Kiara hingegen hielt sich die Hand vor den Mund gepresst, um ein Auflachen zu ersticken.
 

„Hier möchte jemand mit dir sprechen.“
 

Shanks rollte mit den Augen. „Kann das nicht warten?“
 

„Es ist die Bürgermeisterin, Boss.“
 

Der Rothaarige seufzte erneut. „Gib mir fünf Minuten“, entgegnete er dem Crewmitglied vor der Tür. Widerwillig löste er sich aus Kiaras Umarmung und stand aus dem Bett auf. Dabei murmelte er so etwas wie „Typisch“, während er nach seiner Kleidung griff.
 

Immer noch ihr Lachen unterdrückend, wickelte sich Kiara in die immerhin noch warme Bettdecke ein und beobachtete ihn beim Anziehen.
 

„Würdest du-?“ Shanks hielt Kiara die kaminrote Schärpe entgegen. Zwar vermochte er es auch alleine zu schaffen, sich den Stoff umzubinden, jedoch dauerte dieser Vorgang noch deutlich zu lange.
 

Kiara nahm die lange Stoffbahn hilfsbereit an und wickelte sie geschickt um seine Hüfte. „Ich sollte dich noch an etwas erinnern“, warf sie nebenbei ein und grinste weiterhin unverhohlen über beide Wangen.
 

„Was? Ach ja, die Karte“, gab Shanks zerstreut von sich, während er sich das Hemd in die Schärpe stopfte. „Sie ist in der rechten Schublade. Vielleicht kannst du ja was damit anfangen.“ Eilig schulterte er noch den Umhang, strich sich die Haare aus dem Gesicht und trat aus dem Quartier heraus.
 

Dieses Dörfchen war schon ziemlich eigen. Nicht nur, dass jeder Bewohner ständig flüsterte aus Angst jederzeit eine Lawine auslösen zu können, die Bürgermeisterin war nebenberuflich auch noch Bibliothekarin. Na, das passte ja irgendwie zusammen, wenn man es gewöhnt war den ganzen Tag um Ruhe zu bitten.
 

Belustigt über diese merkwürdigen Charaktere, schüttelte der Kapitän den Kopf während er der alten Frau zum Abschluss noch kurz winkte. Das Gespräch selbst war tatsächlich nicht großartig von Belang gewesen, darum konzentrierte er sich lieber auf die komischen Eigenarten, statt daran zu denken, was dieses Gespräch unterbrochen hatte.
 

„Mal sehen, entweder sitzt sie noch in der Decke eingewickelt auf dem Bett, oder sie brütet über das Kartenrätsel“, wog der Kapitän ab und kehrte mit seinem Vize zurück in die Kapitänskajüte.
 

Drinnen stand die Piratin mit Decke über den Schultern und Papier und Feder bewaffnet über die angebliche Schatzkarte auf dem Schreibtisch gebeugt.
 

„Oder beides“, stellte der Vize fest.
 

Kiara sah von ihrem Rätselraten auf. „Oh. Guten Morgen.“
 

„Morgen. Soll ich nochmal raus?“, fragte Beckman und deutete auf das etwas zu große Nachthemd, welches sie vor einigen Wochen aus einer Kleidertruhe gefischt hatte und nun leicht verrutscht am Leibe trug.
 

„Wieso? Ich hab‘ doch was an. Mir ist das egal. Musst du wissen, ob es dich stört“, meinte sie halbherzig, während sie fleißig auf das Notizblatt kritzelte.
 

Beckman musterte die Piratin für eine kurze Weile, eher er unter leichtem Kopfschütteln die Luft ausblies und anschließend die Kabinentür hinter sich schloss.
 

„Und, sag bloß du hast bereits etwas herausgefunden?“, erkundigte sich Shanks und versuchte etwas aus ihrem Geschriebenen zu erkennen. Als sie meinte, dass ihre Schrift zwar immerhin leserlich sei, hatte sie eindeutig gelogen.
 

„Offensichtlich haben wir hier eine Seekarte, also ist das Ziel die richtigen Koordinaten zu finden. Norden, Süden, Osten, Westen und je eine Zahl zwischen Null und Dreißig“, begann Kiara ihre Erklärung.
 

„Gut, soweit sind wir auch gekommen“, nickte der Rothaarige, noch nicht sonderlich beeindruckt. „Und wir wissen, dass die Karte viel zu grob gezeichnet ist und die Maßstäbe und Entfernungen dadurch nicht stimmen.“
 

„Je nachdem, was wir hier genau suchen, ist das vielleicht gar nicht so wichtig. Mit diesen Tic-Tac-Toe Alphabeten auf der Rückseite können wir jedenfalls die Symbole über der Karte entschlüsseln.“ Sie schrieb die zehn Zeichen neben den abgemalten Hinweisen auf ihr Notizblatt. „Das erste ist ein L. Seht ihr? Das L steht an der unteren Stelle von diesem Kreuz und das Zeichen ist ein Dreieck ohne Hypotenuse.“
 

Nun zeigte sich der Kapitän doch deutlich begeisterter. „Wir saßen da Stunden drüber und dir fällt das sofort auf?“, schoss es ungläubig aus ihm hervor.
 

Kiara zuckte bescheiden mit der Schulter. „Mein Vater hat früher öfter solche Rätsel zusammengestellt und mich damit auf eine Schnipseljagd quer über die ganze Insel geschickt.“ Sie dechiffrierte auch das letzte Symbol. „Libertalia“, verkündete sie den Titel der Karte.
 

„Klingt nach dem Namen eines Schiffes“, überlegte Beckman laut.
 

Sie nickte. „Stimmt. Aber ein Schiff oder ein Schiffswrack wird es nicht sein, wenn die Karte so grob ist, wie ihr meint. Es macht keinen Sinn einen Bereich über Zehn mal Zehn Seemeilen abzugrasen um nach einem eventuell noch vorhandenen Schatz zu tauchen. Außerdem, warum sollte man sich so ein elaboriertes Rätsel ausdenken, für eine Schatzkarte? Wenn hier alle Hinweise drauf sind, die wir für die Lösung brauchen, dann hätte man die Karte zerteilen sollen. Das hier wird wohl kaum so etwas wie der Schatz von Mêlée Island sein“, meinte Kiara spöttisch.
 

Der Rothaarige runzelte die Stirn. „Was ist der Schatz von Mêlée Island?“
 

„Ach, ein von der Mêlée Island Handelskammer gestifteter Schatz, irgendwo im Wald. Wenn du die Stelle findest, an der er vergraben ist, stehst du vor einem Schild mit der Aufschrift ‚Bitte lass noch etwas für den nächsten übrig.‘ So ein Zeitvertreib halt.“ Kiara rollte mit den Augen und verdrehte sie noch mehr, als sie das Grinsen des Kapitäns in ihrem Nacken spüren konnte.
 

„Und, was hast du gefunden?“, fragte dieser unverhohlen.
 

„Ein T-Shirt.“
 

Shanks prustete hinter vorgehaltener Hand. „Freizeitparkpirat.“
 

Kontrolliert zog Kiara die Luft ein. „Jedenfalls“, fuhr sie fort, „sollte es sich um eine Insel handeln. Die kann man aus der Entfernung noch gut erkennen.“
 

Es dauerte noch eine kleine Weile, bis Kiara sich aus den Kombinationen aus Symbolen und Zahlen auf der Rückseite einen Reim machen konnte und auch was die Liste an Namen damit zu tun hatte. R1, G20, T2, N9 – Moment. Aus den Symbolen erkannte sie die vier Himmelsrichtungen mit je einem Zahlenpartner.
 

„Okay, hier haben wir definitiv unsere Kandidaten für das Koordinatensystem. N9, O12, S13 und W26. Die Frage ist nur, welche beiden sind die Antwort?“
 

„Wie sieht es aus mit W26 und S13?“, meldete der Vize sich zu Wort. „Wenn das die Initialen der Namen darstellen sollen, stehen sie doch für William Zach und Steven MacLeod, oder? Und das sind von dieser Liste die einzigen beiden, deren Anfangsbuchstaben nicht in Libertalia vorkommen.“
 

„Dann könnte es aber auch genau anders herum sein. Was wenn es Otis Lawson und Nora Irwin sind? Also O12 und N9, eben weil sie im Namen der Insel vorkommen?“, überlegte auch der Kapitän mit.
 

Kiara drehte das Blatt wieder auf die Seekartenseite, um sich die Punkte genauer anzusehen. Der eine verwies auf eine Insel westlich vom Sabaody Archipel. Der andere Punkt sollte sich direkt südlich von Archipel befinden und verzeichnete keine weitere Insel an dieser Stelle.
 

„Eine Insel, die niemand kennt?“, warf die Piratin in den Raum.
 

Der Kapitän grinste siegessicher. „Wir sind gerade eh auf dem Weg in die Neue Welt. Dann können wir uns in der Gegend ja mal umsehen.“
 

„Da ist nur eine Sache“, unterbrach der Vize und tippte auf eine Symbol-Zahlenkombination, welche auf Kiaras Notizen ganz für sich stand. „Was ist mit diesem Kürzel, hier? G20, dafür gibt es keinen passenden Namen auf der Liste.“
 

Kiara zog die Decke enger um sich herum, da es ihr nach getaner Arbeit doch langsam zu frösteln begann. „Vielleicht hat sich der Rätselsteller damit verewigt. Oder es sollte einfach nur in die Irre führen.“

Sie tat es als unwichtig ab, aber im Kopf ging sie das Alphabet durch, um sicher zu gehen, welcher Buchstabe an zwanzigster Stelle stand.

Hochrangiger Besuch

Die Tage gingen ins Land, während die Rothaarpiratenbande noch einige Zeit länger auf der verschneiten Winterinsel Avalugg verbrachte. Nicht allzu weit ihres ankernden Schiffes hatten sie ein Lager aufgeschlagen. Für den Fall, dass ein Sturm aufzog, befand sich in der Nähe eine lauschige Höhle, aus welcher sie einen einsamen Bären vertrieben.
 

So genossen sie die kalte Jahreszeit in Mäntel gehüllt, um ein wärmendes Lagerfeuer herum und saßen an improvisierten Tischen auf Holzstämmen und -stumpfen.
 

Was sie dort den ganzen lieben langen Tag trieben, wusste Kiara nicht genau. Sie ahnte, dass es etwas damit zu tun hatte andere Piraten zu treffen, da das Betreten eines fremden oder gar feindlichen Schiffes nie eine Diskussion auf neutralem Boden gewährleistete.
 

Als Neuling in der Crew wurde ihr die Aufgabe zuteil den Ausguck zu übernehmen. Das hieß, sie hockte außerhalb vom Lager in der Kälte und hielt Ausschau nach potentiellen Störenfrieden. Dass sie darüber nicht allzu erfreut war, sah man ihr an. Auch wenn sie inzwischen zumindest wetterfeste Kleidung trug, der dicke Mantel und die gefütterten Stiefel förderten ihr Wohlbefinden ungemein, so fröstelte sie dennoch ständig. Auch nach Wochen konnte sich Kiara nicht an die kalten Temperaturen gewöhnen und langsam sehnte sie sich die karibische tropenwarme Luftfeuchtigkeit herbei.
 

Da es nicht sonderlich piratig oder tough wirkte, wenn sie auf ihrem Posten kleine Schneemänner baute, malte sie aus Langeweile mit einem Stock kleine Kritzeleien in die weiße Pracht. Wenn ihr etwas misslang, wurde die Leinwand einfach wieder begradigt und sie konnte von neu anfangen.
 

Von ihrem Standort aus hatte Kiara einen guten Blick über die Gegend. Hinter sich sah sie den entfernten Rauch des Lagerfeuers aufsteigen, vor ihr erstreckten sich der Wald und dahinter die Küste.
 

„Hey, Snakes. Falls wir doch irgendwann mal diese Insel wieder verlassen, bringst du mir dann bei, wie man Gitarre spielt?“, fragte Kiara ihren Kollegen, welcher ein paar Meter hinter ihr auf einem waagerecht gewachsenen Baumstamm saß.
 

Dabei handelte es sich nicht um seinen echten Namen. Allerdings trug er ein sehr markantes Tattoo einer roten Schlange auf seinem Oberarm, daher fand Kiara diesen Spitznamen durchaus passend.
 

Snakes gluckste. „Falls?“ Er beugte sich vor und stützte die Arme auf den Knien ab. „Klar, kann ich machen. Sind deine Hände bei diesem Wetter etwa zu kalt?“
 

Wenn sie so lange hier draußen saßen, hatte sie kaum noch Gefühl in ihren Fingerkuppen und Zehen. Und wenn doch, dann war es Schmerz. Missbilligend zog sie den Handschuh aus und zeigte ihm die halb tauben, roten Finger.
 

„Schlägst dich tapfer“, meinte er und grinste sie aufmunternd an. „Weißt du, was ein Akkord ist?“
 

Sie bejahte. „Ich hab‘ Klavier gelernt.“
 

„Ah, perfekt. Das heißt, Noten lesen kannst du auch.“
 

„Nicht sonderlich gut, ich spiele eher nach Gehör. Aber ja“, gestand Kiara schüchtern.
 

„Dann bringe ich dir als erstes ein paar Akkorde bei“, beschloss Snakes mit fachmännischem Nicken. „Damit kann man schon einige lustige Lieder singen.“
 

Das war das Wichtigste. Es kam nicht darauf an, mit musikalischem Talent zu beeindrucken. Die Hauptsache war, man konnte alleine oder in der Gruppe gut gelaunt dazu vor sich hin grölen.
 

Gedankenverloren malte Kiara ein paar Notenschlüssel und grobe Melodien in den Schnee. Als sie das nächste Mal aufblickte, erkannte sie einen kleinen schwarzen Punkt am Horizont. Skeptisch zog sie das Fernrohr aus ihrer Manteltasche und inspizierte die Gestalt durch die Linse. Was war das denn? Ein Sarg mit Segel? Und darin saß ein einzelner Mann.
 

„Ich glaube, wir kriegen Besuch“, informierte sie Snakes.
 

„Hm? Zeig mal her.“
 

Locker warf sie ihm das Fernrohr zu, damit der andere Pirat ebenfalls die Lage sondieren konnte. Er hob die Röhre zu seinem Auge und suchte das Meer ab. Plötzlich spannte sich seine Mimik an und er biss die Zähne zusammen.
 

„Das ist Falkenauge.“
 

Binnen kürzester Zeit war das kleine Boot bis zur Küste geschippert und der Mann zielstrebig in ihre Richtung gelaufen. Er beäugte die Piraten argwöhnisch mit stechendem Blick. Snakes hatte sein Schwert gezogen und war in Verteidigungshaltung gegangen. Sie selbst sah dem Ruhestörer locker entgegen. Dies war vermutlich dem Grund zu verschulden, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wer ihr gerade gegenüberstand. Zwar spürte sie eine kalte, mächtige Aura von ihm ausgehen, jedoch entschied sie sich nicht deswegen klein bei zu geben.
 

„Was willst du hier, Falkenauge?“, presste ihr Kollege hervor.
 

„Na, was wohl. Ich will zu eurem Boss. Wenn einer von euch beiden also so freundlich wäre, mich zu ihm zu führen.“
 

Kiara trat einen Schritt vor. „Kann ich machen.“
 

Die Stimmung im Lager war ausgelassen. Die Crew blödelte herum, trank heißen Rum und kostete ihren entspannten Landgang vollends aus. An einem besonders großen Baumstumpf, welcher als improvisierter Tisch diente, saßen der Kapitän und seine Offiziere und erzählten sich die neusten schmutzigen Witze.
 

„Also, da ist ein Pärchen beim Sex. Sie fängt an zu stöhnen und ruft ‚Sag mir dreckige Sachen‘. Darauf der Mann-“
 

Der Vize räusperte sich laut, ehe Yasopp die Pointe erzählen konnte, da ihm auffiel, wie der Rest der Crew nach und nach plötzlich verstummte. Die heitere Stimmung war mit einem Mal verflogen und ein kalter Wind zog über die Lichtung.
 

Der Rothaarige blickte zum anderen Schwertkämpfer auf. „Hallo, Falkenauge. Bist du hier für ein Kräftemessen?“
 

Sein Gegenüber schnaufte verächtlich. „Das hängt davon ab, ob die Gerüchte wahr sind.“
 

„Welche Gerüchte denn?“
 

Die junge Piratin stand mit respektvollem Abstand abseits des Geschehens und hatte das Gefühl die Atmosphäre mit einem Messer zerschneiden zu können, so angespannt wie sie war. Lediglich die Offiziere wirkten gelassen und sahen keinen Anlass sich zu rühren oder gar einzugreifen.
 

„Du sollst im East Blue einiges zurückgelassen haben.“
 

Shanks‘ Hand wanderte zu seinem Schwert, welches zu seiner rechten Seite am Baumstamm lehnte. „Ich versichere dir, das mindert keineswegs meine Fertigkeiten.“
 

„Nein, danke. Ich habe kein Interesse daran gegen einen einarmigen Krüppel zu kämpfen.“
 

Empört zog Kiara die Augenbrauen hoch und biss sich auf die Unterlippe. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt, oder?! Ihre Augen huschten fieberhaft zwischen den beiden Parteien hin und her.
 

Eine unangenehme Stille legte sich über das Lager. Jedem anwesenden Piraten war bewusst, dass die Situation jeden Augenblick kippen könnte. Und dann fing der Kapitän an herzhaft zu lachen.
 

„Wenn du schon den weiten Weg gekommen bist, dann musst du auch was mit uns trinken! Komm, setz dich her, du alte Kanaille.“
 

Kiara atmete erleichtert auf. Es war, als würde die Kälte, welche vorher so klamm an allen gehangen hatte, dem wärmenden Gemüt der nächsten Feierlichkeit weichen.
 

„Kennst du schon unser neustes Crewmitglied?“, der Rothaarige winkte die Piratin zu sich. „Das ist Kiara! Wir haben sie aus dem Meer gefischt.“ Etwas unbeholfen landete sie auf dem Baumstumpf, als er sie am Mantel zu sich herunter zog.
 

Falkenauge wirkte als würde er sich nur widerwillig setzen, nahm aber ohne ein weiteres Wort zu Shanks‘ linker Seite Platz. Vielleicht lag es einfach an seinem stoischen Gesicht. Jedenfalls nahm er den vollen Krug Grog, welcher ihm gereicht wurde, gerne entgegen.
 

„Wieso hast du ausgerechnet im East Blue deinen Arm und deinen Hut verloren?“, fragte Falkenauge ungerührt und hob das Getränk an seinen Mund.
 

„Du wirst es nicht glauben, Mihawk, aber ich habe dort einen bemerkenswerten Jungen kennengelernt. Einen kleinen Teufelskerl, der Wort für Wort dieselben Dinge gesagt hat, wie Käpt’n Roger.“
 

Begeistert erzählte Shanks wie der Bengel die Crew Tag für Tag erheitert hatte, während sie an dem Dorf ankerten und er ständig darum bat mitgenommen zu werden, weil er auch Pirat werden wollte. Vor ihrer allerletzten Abfahrt hatte Shanks ihm seinen Hut vermacht. Als Versprechen, dass der Junge ein großer Pirat werden würde und wenn er das erreicht hatte, sollte er ihm den Hut zurückgeben. Ein Strohhut, sein wertvollster Besitz. Es war ein Geschenk seines alten Kapitäns gewesen und er trug ihn, seitdem er ein Kind gewesen war.
 

Am gespanntesten lauschte wohl Kiara, der die Geschichte mit dem Hut völlig neu war. Ihr erzählte der Kapitän selten aus seiner Vergangenheit. Vielleicht stellte sie auch die falschen Fragen. Oder er hatte keine Lust für seine Erzählungen großartig auszuholen. Offenbar kannten sich Shanks und Falkenauge bereits längere Zeit, da war das Vorwissen also längst vorhanden.
 

„Na dann viel Glück, dass deine Aufopferung nicht umsonst war“, entgegnete Falkenauge trocken. Man stelle sich vor, der Junge würde sich den Traum vom Piratenleben aus dem Kopf schlagen. Shanks würde seinen Hut niemals wiedersehen.
 

„Aber was ist mit dir, Mihawk“, setzte der Rothaarige an. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die offene Stelle als einer der Sieben Samurai der Meere angenommen hast.“
 

Gelassen hob Falkenauge die Schulter. „Ich dachte mir, damit gewährleiste ich ausreichend Ruhe von der Marine.“
 

„Quasi ein Kaperbrief?“, fragte Kiara nach, die von diesem Titel noch nie etwas gehört hatte.
 

„Du musst ja tief unten im Meer gelebt haben“, höhnte der Schwertkämpfer und verzog dabei keine Miene.
 

„Ich bin doch keine Meerjungfrau?!“
 

Shanks winkte ab. „Selbst wenn, der Schwanz einer Meerjungfrau teilt sich erst mit Dreißig.“
 

„Was?“ Kiara starrte ihn verdattert an. „Was?!“ Wollte er ihr gerade weiß machen, dass Meermenschen wirklich existierten?
 

„Der Piratenfreizeitpark, wo sie aufgewachsen ist, kriegt nicht viel von der Außenwelt mit“, informierte der Rothaarige.
 

„Die Tri-Islands sind kein Freizeitpark!“, pikierte sich die Piratin.
 

„Jedenfalls, hast du recht. Mein guter Freund Falkenauge ist jetzt ein Hündchen der Weltregierung.“
 

„Dafür habe ich erstmal ausgesorgt. Es ist leichter ein Samurai der Meere zu werden, als ein Kaiser.“
 

Kiara traute sich nicht erneut nachzufragen.
 

„Pass auf“, lenkte Shanks ein, der sich schon dachte, dass sie keine Ahnung hatte, wovon sie gerade sprachen. „Es gibt die drei großen Mächte, die das Gleichgewicht der Welt bewahren. Die Marine, die Sieben Samurai der Meere und die Vier Kaiser. Die Marine muss ich nicht großartig erklären, das ist das Militär der Weltregierung. Die Sieben Samurai sind Piraten, mit Kaperbrief, so gesehen, die sind ebenfalls der Weltregierung unterstellt.“
 

Argwöhnisch runzelte Kiara die Augenbrauen. „Komisches Gleichgewicht.“
 

„Naja, dafür sind die Vier Kaiser besonders mächtig. Vier Piraten, die zu den stärksten der Welt gehören. Sie haben die Neue Welt in Territorien eingeteilt und niemand würde es wagen dort einzufallen. Keine anderen Piraten und auch nicht die Marine. Sich mit einem von ihnen anzulegen bedeutet einen gewaltigen Krieg loszubrechen.“
 

Da staunte sie nicht schlecht. „Und wer sind diese vier Piraten?“
 

„Vor vielen Jahren waren sie alle einmal Teil derselben Crew. Das wären Captain John, Big Mom, Kaido und Whitebeard. Jeder von ihnen ist schier unantastbar. Eine Allianz zwischen zwei von ihnen, könnte die Welt bereits in Chaos stürzen.”
 

„Moment. Soll das heißen, dass einer bereits so stark ist, wie die beiden anderen Mächte zusammen?!“ Kiara war fassungslos. Wie viel Macht konnte eine Person alleine haben?! „Hätten sie mal lieber einem von denen den Kaperbrief gegeben.“
 

Falkenauge schnaubte. „Als würden die sich mit der Weltregierung zusammentun wollen.“
 

„Beckman kann dir das Ganze mal genauer erklären“, meinte der Rothaarige. „Warum hast du eigentlich noch nichts zu trinken? Jungs, wollt ihr die Kleine auf dem Trocknen sitzen lassen, oder was? Wie soll man denn so anständig feiern?!“
 

Der Alkohol floss, die Gespräche wurden wieder lustiger und die Stimmung mit jedem Krug ausgelassener. Die Rothaarpiratenbande verstand es eine Party in Gang zu bringen. Über dem Lagerfeuer schmorrte der Fang des Tages und auch sonst wurde einiges an Essen aufgetischt.
 

„Du bis‘ also der beste Schwertkämpfer der Welt, aber has‘ du schonmal was von Beleidigungsfechten gehört?“, lallte Kiara nach dem zweiten Krug Grog, welcher ihr viel zu schnell zu Kopf gestiegen war.
 

„Das macht außer dir niemand!“, grölte ein Crewmitglied, das nah genug dran saß, um ihr Gespräch mitzuhören.
 

„Setz mal einen Fuß auf Mêlée Island, dann reden wir weiter!“, blaffte sie zurück.
 

„Beleidigungsfechten, was soll das sein?“, fragte Falkenauge und wirkte als würde der Gedanke allein die Kunst des Schwertkämpfens in den Dreck ziehen.
 

„Es geht darum, dass dein Verstand schärfer is‘ als dein Schwert!“
 

„Haki?“, offerierte Falkenauge.
 

„Beleidigungen! Beleidigungen und Konter. Die deinen Gegner auf’s Mark erschüttern, sodass es ihn aus dem Konzept bringt und er anfängt Fehler zu machen! Und zack! Kann man ihn entwaffnen!“
 

Der Schwertkämpfer schüttelte müde den Kopf. „Scheint mir eher so, dass deine Fertigkeiten im Schwertkampf nicht sonderlich ausgeprägt sind und du deshalb zu solchen billigen Tricks greifen musst.“
 

„Es sin‘ keine billigen Tricks, nur weil du sie nich‘ kennst“, entgegnete Kiara angestachelt.
 

„Ich würde dir eine Lektion in Sachen Schwertkunst erteilen, aber an sowas verschwende ich nicht meine wertvolle Zeit.“
 

„Du kamst extra hierher um dann doch nich‘ zu kämpfen, also scheinst du doch eindeutig zu viel Zeit zu haben.“ Kiaras Miene erhellte sich und sie lachte auf. „Deine Beleidigungen sin‘ auf jeden Fall schonmal gut!“
 

Beinahe zuckte in Falkenauges Mundwinkel ein Lächeln. Sie hatte ihn tatsächlich dazu gebracht ihr kleines Spiel mitzuspielen. Gegen sie antreten würde er trotzdem nicht. Sein Können wäre an ihr verschwendet und der Kampf schneller vorbei als sie blinzeln konnte. Aber sie war trotz seiner deutlichen Überlegenheit frech zu ihm und das machte sie irgendwie sympathisch. Die Kleine passte zum Rest dieser verschrobenen Bande.
 

„Das ist also Gang und Gäbe auf Mêlée Island, ja? Ich werde es im Hinterkopf haben, sollte es mich jemals dorthin verschlagen“, räumte Falkenauge versöhnlich ein.
 

Mit diesem Zugeständnis wurde erneut freudig angestoßen und der nächste Krug geleert. Es war töricht von Kiara zu glauben, sie könnte mit Falkenauge und Shanks beim Saufen mithalten. Sie versuchte es trotzdem und ignorierte den Gedanken, wie sehr sie sich selbst am morgigen Tag dafür hassen würde.

Etwas Blaues

Es war zehn Uhr nachts auf Mêlée Island. Es war immer zehn Uhr nachts auf Mêlée Island. Jedes Mal, wenn Kiara in ihre Heimat zurückkehrte war es dunkel und grau, die Straßen wie leergefegt und der Vollmond schien hell, wenn er sich hinter den bauschigen Wolken zeigte. Sie wanderte durch die bläulichen Gassen von Mêlée Town. In den Fenstern der alten Fachwerkhäuser flackerte warmes, gelbes Licht. Hineinsehen konnte sie jedoch nicht.
 

Ihre Schritte trugen sie über die Pflastersteine zum Hauptplatz, wo die große Uhr im Turm der Festung ihren Verdacht bestätigte. Eine Ratte kreuzte ihren Weg, doch sie erschrak nicht mehr. Zu häufig war ihr der kleine Nager bereits begegnet. Wo sie auch hinsah, alle Häuser waren hell erleuchtet, als wäre die kleine Stadt mit Leben gefüllt. Auf die Straßen drang kein Laut hinaus. Lediglich das Rauschen des Meeres war zu hören. Der Hafen lag nah.
 

Man hatte die Stadt auf einem Vorsprung am Rande eines Bergs erbaut. Zusammen mit dem Klippen die steil ins Meer führten, schaffte man die perfekte, natürliche und unumgängliche Umrandung, welche kaum eine Möglichkeit für Flucht bat.
 

Kiara wägte ab, ob sie runter zur Scumm Bar gehen sollte. Aber dann fiel ihr ein, dass sie noch zu jung war um Alkohol zu trinken, also machte sie sich auf den Weg durch das Tor des Walls in Richtung Gouverneursvilla. Vorbei an dem Krämer, der Kirche und dem Gefängnis. Nie hatte sie so viele erleuchtete Fenster gesehen. Die hohen, bunten Bleiglasfenster des Gotteshauses waren dabei besonders beeindruckend. Es schien als würde die ganze Insel eine riesige Party feiern. Und sie war nicht eingeladen.
 

Das große Herrenhaus im georgischen Stil abseits der Stadt wirkte merkwürdig deplatziert. Kein Weg führte zu den Eingangstreppen hinauf, überall wucherte ungebändigt das Gras und die Klippen krochen unangenehm nah an das Gebäude heran.
 

Ein glatzköpfiger Mann saß am Abgrund, den Blick stur auf das Meer gerichtet. Vorsichtig trat Kiara heran, um ihn nicht zu erschrecken. Sie erkannte, dass er Haken anstelle seiner Hände hatte und sie einen blauen Papageien in seinem Schoß hielten. Sie war sich nicht sicher, ob Vögel völlig starr auf ihrem Rücken liegen sollten.
 

„Ist er tot?“, hörte Kiara sich fragen.
 

„Nein, er schläft nur“, meinte der Mann unbekümmert, ohne sich umzudrehen.
 

„So einen hab‘ ich hier noch nie gesehen“, sagte sie.
 

„Ist ein North Blue Blauling“, erwiderte der Mann.
 

Kiara stutzte. „North Blue? Was macht er hier in der Karibik?“
 

„Sehnt sich nach den Fjorden.“
 

Sie wusste, wo es dem armen Vogel sicherlich gut gefallen würde. Besser jedenfalls als ihr, so viel war sicher. Wobei selbst die weißen Schneelandschaften von Avalugg Island einen solchen Ex-Papageien vermutlich nicht mehr beeindrucken konnten.
 

„Weißt du, ich wollte nie ein Pirat werden. Aber die Augenklappe und die Haken… da bin ich irgendwie in dieses Milieu gerutscht“, seufzte der Glatzkopf. „Eigentlich wollte ich immer Maler werden.“
 

„Sei doch einfach beides?“, schlug Kiara vor. Sie verstand nicht, was ihn aufhielt. Etwa der triviale Fakt, dass er keine Hände besaß? Das hielt sie für keinen gerechtfertigten Grund, seine Träume aufzugeben. Wo ein Wille, da auch ein Weg. Davon war sie fest überzeugt.
 

Als Kiara sich umdrehte, erkannte sie, dass die Tür zur Villa sperrangelweit offenstand. Zwar erinnerte sie sich nicht daran, dass die Tür jemals mitsamt Riegel abgeschlossen wurde, jedoch war sie auch nie so einladend. Einige Männer kamen mit Schatztruhen, Skulpturen und Armen voller Kleidung aus dem Anwesen heraus. Sie unterhielten sich in einer Sprache die Kiara nicht verstand und ignorierten die Piratin völlig, während sie lachend an ihr vorbeiliefen.
 

Ein Zettel am Türrahmen verkündete: “Anmeldeliste zur Plünderung!“ Je stärker sie sich auf die Namen konzentrierte, desto verworrener wurden die Buchstaben. Als sie erneut die Überschrift lesen wollte, hatte sie das Gefühl, dass dort “Ein Stück vom Glück“ oder irgendein anderer Quatsch stand. Der nächste Schwall Leute kam aus der Tür und Kiara versuchte sich behutsam an ihnen vorbei zu quetschen.
 

Im Salon sah es aus wie immer. Die Wände waren mit Portraits bereits verstorbener Familienmitglieder geschmückt, aber bis auf einen detailverliebt verzierten Mahagonitisch, einem prachtvoll geformten Ottomanen-Sofa, einigen Pflanzen und einer Ecke zum Schachspielen lud nichts zum Verweilen ein.
 

Als Kind hatte sie Spaß an dem vielen Platz gehabt. Sie rannte von einer Wand zur nächsten, machte Turnübungen und tanzte durch den Saal. Je älter sie wurde, desto karger und kahler kam der Raum ihr vor. Traurig war die Welt der Erwachsenen. Wichtige Abendveranstaltungen wurden hier gehalten, zur Knüpfung von Handelskontakten, zum Sehen und Gesehen werden. Beinahe hätte sich ein schnöder Neureicher bei einem solchen Bankett mal mit ihr verlobt, doch sie hatte ihn eiskalt abblitzen lassen.
 

Kein Stimmengewirr erfüllte jetzt noch den Salon, kein Klirren von Gläsern und Besteck oder Kratzen am Geschirr. Stattdessen hallten Schluchzer von den Wänden wider. Auf dem Ottomanen kauerte die Gouverneurin, das Gesicht von roten Locken umhüllt, tief in ihren Händen vergraben. Der Diamant an ihrem Ehering war matt und verblasst.
 

Kiara trat erschrocken einen Schritt zurück. Das war das erste Mal, dass sie ihre Mutter weinen sah. Völlig überfordert stand sie da, stocksteif und wusste nicht, was sie tun sollte. Warum weinte sie? Wegen der Plünderung? Wegen ihr? Oder wegen…
 

Mit einem Mal machte Kiara auf ihren Absätzen kehrt und rannte aus dem Haus. Die Klippe war verschwunden, stattdessen stand sie mitten im Dschungel. Über den Baumkronen sah sie die Lichter im Hafen in der Morgendämmerung. Ihre Füße trugen sie in Windeseile den geschwungenen Weg den Hügel hinunter nach Puerto Pollo. Der helle Sandstein der orangen bedachten Fachwerkhäuser glitzerte im frühen Sonnenlicht. Je weiter sie rannte, desto größer und höher kamen ihr die Gebäude vor. Oder wurde sie kleiner? Sie rannte am Theater vorbei, dessen eigenwilliges Glockenspiel gerade zur vollen Stunde schlug, über die kleine Brücke am Bach, stolperte beinahe im matschigen Sand vor dem Restaurant und stürmte die krumm und schief gepflasterten Steintreppen hinunter zum Frachthafen, wo das Schiff ihres Vaters ankerte.
 

Auch hier trugen Männer Truhen und Säcke vor sich, schwer bepackt schafften sie die Ladung Stück für Stück über den Landungssteg auf die Galeone. Kiara band sich die Haare zu einem Zopf und schnappte sich einen blauen Gehrock, welcher auf einem Fass drapiert lag. Sie hob eine Kiste und wankte damit zum Deck hinauf. Dieses Mal würde er sie mitnehmen. Ob er wollte oder nicht.
 

„Hat jemand meinen Mantel sehen?“, fragte die Stimme ihres Vaters.
 

Ihr Herz raste. Wenn er sie sah, würde er sie wieder an Land absetzen. Eilig sprang sie durch die Ladeluke unter Deck und versteckte sich hinter den Vorräten. Wie lang könnte sie hierbleiben? Ab wann lohnte sich eine Rückfahrt nicht mehr? Zwei Tage? Drei? Das sollte sie aushalten. Dieses Mal würde er nicht einfach so verschwinden und nie wieder auftauchen. Dieses Mal wollte sie seine Abenteuer miterleben und nicht nur von ihnen lesen.
 

Er konnte sie nicht abwimmeln, sie war genauso ein Pirat, wie er! Sie hatte fechten gelernt, Leute bestohlen und Schätze ausgegraben. Ihre Mutter hatte sie sogar einmal aus dem Gefängnis von Phatt Island freikaufen müssen. Aber auch nur, weil sie gerade so nicht zwischen den Gitterstäben hindurch gepasst hatte.
 

„Ist hier jemand?“, hallte es in das Lager hinunter.
 

Verflixt! Jetzt doch noch nicht! Das Schiff war nicht einmal losgesegelt. Wenn sie ihre Anwesenheit nicht leugnen konnte, dann musste sie ihn wohl oder übel überzeugen.
 

„Bitte, gib mir nur eine Chance! Ich verspreche, du wirst es nicht bereuen! Ich hab‘ gelernt auf mich aufzupassen! Ich bin kein Kind mehr!“
 

„Na zum Glück, sonst könnte ich mir nie verzeihen“, erwiderte eine andere Stimme viel zu nah an ihrem Ohr.
 

Ein Ruck fuhr durch Kiara und sie riss die Lider auf. Überrascht starrte sie in die dunklen Augen des Rothaarigen. Dieser runzelte die Stirn und sah sie mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge an.
 

„Huh? Was?“, nuschelte sie und musste sich der Kontrolle ihres Körpers erst wieder Gewahr werden.
 

„Du sprichst im Schlaf“, bemerkte Shanks, die eigene Stimme noch tief und rau. Ein Zeichen, dass er selbst ebenfalls gerade erst erwacht sein musste. „Hast du schlecht geträumt?“
 

Zerstreut drehte sich Kiara auf den Rücken und rieb sich durch das Gesicht. „Ich weiß nicht. Es war… sehr wirr.“
 

Flüchtig wanderte ihr Blick zu ihrem blauen Armeemantel, welcher über der Stuhllehne hing. Er sei nicht schlecht, wenn man Pirat spielen wollte, hatte Shanks damals zu ihr gesagt. Sie hatte es trotzig sofort dementiert. Aber plötzlich fühlte sie sich ertappter denn je.
 

Mit etwas Schwung setzte sich der Rothaarige auf und ächzte leise, während er die verblienen Gliedmaßen ausgiebig streckte. „Du träumst in letzter Zeit öfter, kann das sein?“
 

„Ich träume jede Nacht“, bemerkte Kiara und zog die verrutschte Decke wieder bis an die Nasenspitze.
 

„Oh? Aber du bist erst seit einigen Nächten so gesprächig.“
 

„Ich dachte, du schläfst wie ein Stein. Wieso kriegst du das mit?“ Nun war sie hellwach und begab sich ebenfalls in Sitzposition. „Und was erzähle ich überhaupt?!“
 

Er musterte sie mit einem verschwiegenen Lächeln, welches wohl so viel wie ein gedehntes ‘Tja‘ ausdrücken sollte.
 

Eine gemeingefährliche Fingerspitze bohrte sich in seine Seite und stupste ihn wiederholt und erbarmungslos. „Rede!“
 

Amüsiert über die klägliche Foltermethode lachte Shanks auf und rang sie mit einem Arm zurück in die Matratze. Das Gewicht seines Oberkörpers reichte aus um sie festzupinnen. Die heimtückischen Finger hielt er gleich mit fest. „Was krieg ich dafür?“, schmunzelte er.
 

„Die Erkenntnis mich morgens nicht zu reizen.“ Kiara wandte sich und versuchte Shanks von sich runter zu stoßen. Ein zweckloser Versuch sich zu befreien. Mit etwas Mühe könnte sie es schaffen die Hände aus seinem Griff zu lösen. „Und ‘nen Arschtritt.“
 

Sein Gesicht neigte sich noch etwas näher zu ihr herunter, das Grinsen wurde breiter. „Klingt nach Meuterei.“
 

„Erst sobald es diese Kabine verlässt“, entgegnete Kiara trocken.
 

Erleichtert füllten sich ihre Lungen wieder mit ausreichend Luft, als Shanks entschied sie genug getriezt zu haben und sich von ihr runter rollte. Eine Hand behielt er trotzdem in seiner und zog sie in eine Umarmung. Seine Brust drückte sanft gegen ihren Rücken.
 

„Du diskutierst jede Nacht mit jemandem.“ Shanks blies amüsiert die Luft aus. „Die gleichen Sprüche wie Luffy. Nimm mich mit; Ich bin erwachsen; Ich kann auf meinen eigenen Beinen stehen.“
 

Kiara presste die Lippen zusammen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sich diese Träume häuften. Geschweige denn, dass sie ihre Meinung offenbar laut kundtun musste. Er hatte Recht, sie klang dabei wie ein Kind. Peinlich, dass er anscheinend jedes einzelne Wort hörte.
 

„Wem willst du was beweisen?“, fragte Shanks an ihrem Ohr.
 

„Keine Ahnung“, log sie eilig. „Ich vergesse zu schnell, was überhaupt im Traum vorkam.“
 

„Nicht im Traum, sondern in der Realität.“
 

Mit einem Mal fühlte sich Kiara auf eine merkwürdige Weise durchschaut. Erzählte sie im Schlaf mehr als er preisgeben wollte? Oder war er einfach so gut darin, ihre Lügen zu erkennen? Sie überkam immer häufiger das Gefühl für ihn wie ein offenes Buch zu sein, selbst wenn sie nichts sagte. In den meisten Fällen verdankte sie dies wohl ihrer Mimik, zwecks Abwesenheit eines Poker Faces.
 

Lasch zuckte sie mit der Schulter und seufzte tief. „Wer weiß? Vielleicht mir selbst.“ Möglicherweise war diese Annahme gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Unsicher wandte sie den Blick zum Rothaarigen. Ob er sich mit der Antwort zufriedengab?
 

Er küsste sie flüchtig auf die Wange. „Ich finde, du machst dich gut. Als Pirat. Du lernst schnell. Und du baust deine Fähigkeiten stetig weiter aus. Die Gegner, die vor uns liegen, werden alle nur noch stärker, dennoch ist es wichtig, dass du dein eigenes Tempo gehst und dich nicht übernimmst, weil du glaubst mithalten zu müssen.“
 

Kiara verdrehte hilflos die Augen. Noch stärker? Die kleinen Fische überforderten sie schon. Wollte er sich am Ende etwa mit einem dieser übermächtigen Kaiser anlegen? Sie seufzte. „Da kommt noch einiges auf uns zu, oder?“
 

Ein Funkeln blitzte in Shanks‘ entschlossenen Augen auf. „Der Spaß fängt gerade erst an.“

Rubin

Die salzige Seeluft blies aus den kräftigen Lungen von Mutter Natur, unaufhörlich und beinahe beständig. Die Segel des großen Dreimasters wölbten sich voller Spannung nach vorne im Versuch den Wind einzufangen. Nach vielen Wochen auf der verschneiten Insel Avalugg setzte die Rothaarpiratenbande ihre Reise über die Grand Line fort. Die Schatzkammer war deutlich leerer, dafür ihr Lagerraum umso gefüllter mit Proviant, Schießpulver und vor allem Alkohol. Fässerweise an Vorrat des besonderen katerfreien Gebräus, welcher zum Abend hin sogleich angebrochen wurde.
 

Avalugg war inzwischen nur noch ein weit entfernter, winziger Punkt am Horizont, gerade mal mit einem Fernrohr noch ausmachbar. Zu ihr gesellte sich die Sonne, welche zur Dämmerung in die Fluten des Meeres hinab sank.
 

„Auf unsere Reise in die Neue Welt!“, rief einer der Piraten und hob seinen Krug feierlich in die Höhe.
 

„Auf die Neue Welt!“, prosteten ihm seine Kameraden zu und stießen wohlwollend mit ihm an.
 

„Wer in die Neue Welt will, muss an der Fischmenschen Insel vorbei“, verkündete der Kapitän belehrend, während sich ein Grinsen in seinen Mundwinkeln ausbreitete. „Und ihr wisst, was das heißt.“
 

„Meerjungfrauen!!“, jubelten die anderen.
 

Sogleich wurden Pläne geschmiedet, welche Aktivitäten sie dort als erstes abarbeiten würden. Ganz weit oben auf der Rangliste befand sich der Besuch eines Mermaid Cafés. Zudem würden sie vor der Überfahrt einige Tage im Sabaody Archipel ankern müssen um das Schiff beschichten zu lassen. Dort gab es einen Freizeitpark, welcher ebenfalls sehr beliebt unter den Seefahrern war.
 

Rege unterhaltend, lachend und voller Albereien im Kopf saß die gesamte Mannschaft an Deck versammelt, teilten sich Snacks und Alkohol. Es war zwar noch durchaus kalt, vor allem durch den eisigen Wind in ihrem Rücken, jedoch waren das Wetter und die Luft zu angenehm, um sich unter Deck in der Messe einzupferchen. Also hockte man etwas enger beieinander, und mit ausreichend Alkohol war auch genug Wärme für alle da.
 

Auch die junge Piratin zeigte sich deutlich kontaktfreudiger, ausnahmsweise sogar im nüchternen Zustand. Inbrünstig sang sie mit dem Musiker, welchem sie aufgrund seines Lieblingskleidungsstückes den Spitznamen Beanie gegeben hatte, und einigen anderen aus der Bande Binks‘ Sake und weitere Seemannslieder.
 

„Käpt’n Binks will einen Rum, ich bringe ihm die Flasche drum~!“
 

Dass sie seit Anfang der Feierlichkeiten schier am Boss klebte, musste selbst dem letzten Blitzmerker aufgefallen sein. Wenn sie nicht gerade gut angetrunken war, bewahrte die Piratin schließlich stets einen respektvollen Abstand. Während der Boss also wie üblich etwas erhöht auf seinem Fass saß und gut gelaunt den gefüllten Krug zu den Gesängen schwenkte, stand sie hinter ihm, die Arme locker um seinen Hals geschlungen und schaukelte mit von links nach rechts.
 

„Und der Wind weht übers Meer, das lieben wir so sehr~!“
 

Die dritte Runde wurde großzügig ausgeschenkt, damit bloß niemand auf dem Trockenen saß. Bevor die Stimmung zu ausgelassen und der Alkoholpegel zu hoch anstieg, neigte Kiara ihren Kopf zu Shanks‘ Ohr und versuchte möglichst neutral ihre Bitte zu nennen.
 

„Trink heut‘ Abend nicht zu viel.“
 

Der Kapitän zog die Stirn in Falten und sah fragend zu ihr auf. Ihre Augen betrachteten ihn so liebevoll, wie sie es sonst nur morgens nach dem Aufwachen tat. Sie löste sich von ihm, doch nicht ohne noch kurz durch seine roten Haare zu strubbeln.
 

„Ich geh‘ ein bisschen lesen“, verkündete sie und wandte sich den Quartieren zu.
 

„Hä? Aber wir sind doch gerade so gut dabei!“, protestierte einer ihrer Gesangskumpanen.
 

Die Piraten, welche näher um ihren Boss herum saßen, warfen sich hingegen wissentliche Blicke zu. Einer von ihnen gab dem Protestierenden einen bedeutenden Ellbogenhieb in die Seite.
 

„Lass sie doch“, zischte er ihn an.
 

Shanks fühlte sich wie auf einem Präsentierteller, als er bemerkte, wie erwartungsvoll er von seinen Offizieren und einigen Crewmitgliedern angesehen wurde. Was passierte hier gerade?
 

„Worauf wartest du noch, Boss?“, drängte Yasopp. „Geh ihr nach!“
 

Anscheinend hatte seine Crew eine höhere Auffassungsgabe und wusste die Situation besser zu deuten als er. Vielleicht war er auch gerade einfach nur zu überfordert. Aber wie auch die Sonne, so dämmerte es ihm allmählich.
 

„Na los, Boss. Wir können auch erstmal ohne dich feiern.“
 

Mit einer fließenden Bewegung stand Shanks auf, gab eine gemurmelte Entschuldigung von sich, drückte dem nächstbesten seinen Krug in die Hand und folgte der Piratin in seine Quartiere.
 

Tatsächlich hatte Kiara sich ein Buch genommen und saß damit an die Wand gelehnt im Bett. Dass er ihr so schnell gefolgt war, überraschte sie offenbar. Jedenfalls sah sie mit großen fragenden Augen von ihrer Lektüre zu ihm auf.
 

Shanks kniete sich auf das Bett und nahm ihr das Buch aus der Hand, um es anschließend achtlos zur Seite zu legen. Ihre freigewordenen Hände griffen an die Knopfleisten seines Hemdes und zogen ihn ungeduldig dicht zu sich heran. Es beeindruckte ihn fast, wie stürmisch sie die Lippen auf seine legte und wie begierig sie ihn küsste. Ein angenehmer Schauer fuhr seinen Rücken hinab und nachdem das Buch mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete, zögerte er nicht länger den Arm um sie zu schlingen und eng an sich zu drücken. Ihre Hände fuhren über seinen Oberkörper und seine Schultern. Sie streiften dabei den schweren Umhang ab, und legten sich anschließend zärtlich in seinen Nacken.
 

Innerlich fluchte er kurz auf. Er wollte sie berühren, über ihre Wirbelsäule, ihre Seite und andere Körperteile streicheln, sie erkunden – aber nun fiel ihm auf, wie eingeschränkt seine Möglichkeiten zum Multitasken waren. Egal, es gab immer Mittel und Wege! Umso bewusster konzentrierte er sich darauf die leidenschaftlichen Küsse vollends auszukosten. Ihr Atem war schnell und heiß an seiner Haut.
 

„Ich will dich“, hauchte sie und wurde gleich noch ein bisschen wärmer.
 

Ein weiterer Schauer durchfuhr Shanks. Nie hätte er erwartet, dass sie es tatsächlich, und auf so simple Weise, schaffen würde ihm den Verstand zu rauben. Jedoch machte er sich bewusst, dass er sich um Gewissenhaftigkeit bemühen musste, um ihrem Wunsch nachzugehen.
 

Die Gespräche und das Gelächter drangen dumpf durch die Holzwände. Draußen war die Party in vollem Gange und es bestand kein Zweifel, dass die lieblichen Töne, welche Kiara von sich gab nur für seine Ohren bedacht waren. Sie war wunderbar warm und weich, ihr Duft betörend und ihr Anblick gleichermaßen süß wie sexy. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden und wollte sich jede noch so winzige Kleinigkeit von ihr einprägen. Wie sie die Beine fest an ihn presste, wie sich ihr Oberkörper wölbte, wie sie seinen Namen seufzte, wie sich ihre Arme um seinen Oberkörper schlangen und wie sich ihre Fingerkuppen haltsuchend in seine Schulterblätter krallten.
 

Selbst als die große Ekstase bereits längst über sie geschwommen war, konnte er nicht anders als sie zu betrachten. Erschöpft lag sie in seinem Arm, das Gesicht glücklich an ihn geschmiegt. Ihre Brust hob und senkte sich im gleichen Takt wie seine eigene. Umsichtig zog er die Decke noch ein Stückchen über ihre Schulter. Zwar glühte ihr Körper noch förmlich vor Wärme, doch er wusste, wie schnell sich dieser Umstand ändern konnte und man mit einem Mal anfing zu frieren. Er wollte vermeiden, dass sie sich auf irgendeine Weise unwohl fühlte. Nachdem er sich vergewisserte, dass sie es schön bequem hatte, erlaubte sich Shanks für einen Moment die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, sah er kurzzeitig eine dunkelhaarige Frau neben sich liegen. Er kniff die Augen erneut zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war nicht fair gegenüber Kiara, wenn er jetzt an Makino dachte, egal welche Gefühle er auch hegen mochte.
 

Außerdem waren sie grundverschieden. Sie mochten zwar in etwa gleichalt und ungefähr gleichgroß sein, vom Charakter her unterschieden sie sich hingegen deutlich. Makino war das netteste, liebevollste Mädchen, was er kannte. Stets höflich, gut gelaunt und zuvorkommend. Zu jedem. Sie hatte das reinste Herz, das er sich vorstellen konnte. Wenn Kiara liebevoll war, stellte dies eine Ausnahme dar, die wahrscheinlich nur ihm galt. Zwar wusste sie sich zu benehmen, ließ sich dafür aber auch nicht alles gefallen und hatte immer einen Konter parat. Nein, sie waren absolut nicht vergleichbar. Und das war auch gut so.
 

„Bist du müde?“, fragte er die Piratin in seinem Arm und streichelte über ihre Wirbelsäule.
 

Sie hob den Kopf an und die wachen blauen Augen, die ihn ansahen, beantworteten seine Frage bereits. Scheinbar hatte sie sich während der kurzen Ruhepause gut erholt. Oder sie war trotz seiner Bemühungen vielleicht gar nicht so verausgabt, wie er dachte. Ob er sie für eine weitere Runde begeistern konnte? Von draußen drangen dumpfe Anfeuerungsrufe in die Kapitänskabine. Da veranstaltete jemand dem Jubel nach zu urteilen ein Wetttrinken. Shanks nickte zur Wand durch die das ausgiebige Gegröle zu hören war. „Willst du auch noch ‘was weiter Party machen?“, schlug er frei heraus vor.
 

Sie neigte den Kopf überlegend zur Seite. Er konnte verstehen, wenn sie keine Muße dazu verspürte, sich wieder anzuziehen und herzurichten. Ganz abgeneigt wirkte sie allerdings auch nicht. Plötzlich musste ihr etwas ganz Schreckliches bewusstwerden, denn sie starrte fassungslos einen unbestimmten Punkt an.
 

„Was ist los?“, hakte er nach.
 

„Die wissen das jetzt alle, oder?“
 

„Was, das?“ Shanks runzelte die Stirn. Dann ging ihm ein Licht auf. „Oh. Das? Ach, mach dir darum keinen Kopf. Ist doch nichts schlimmes.“
 

Kiara zog ihre Lippen schmollend vor. „Erinnerst du dich noch an den Tratsch als ich dir den Korb gegeben habe?“
 

„Die machen halt ihre Witze, na und? Du kennst die Jungs doch inzwischen. Als ob die irgendwas bringen, wo du nicht mitlachen würdest.“
 

Wo Shanks sich so daran erinnerte, bemerkte er, dass am meisten gegen ihn selbst geschossen wurde. Und das konnte er sehr gut ab.
 

„Oder bist du immer noch nachtragend wegen dem Brett?“, feixte er.
 

Herausfordernd zog Kiara eine Augenbraue hoch. „Nun. Es scheint dich ja nicht zu stören.“
 

Shanks lachte und zog sie noch etwas zu sich heran. „Du bist wunderbar weich und anschmiegsam. Es passt alles ganz ausgezeichnet zu dir.“ Als Dank für seine lieben Worte bekam er ein paar Küsse. Gerne gab er sich erneut ihren zarten Lippen hin. Doch konnte er ein schelmisches Grinsen nicht verbergen, als sich eine Ergänzung auf seine Zunge legte. „Nur für deine Ellbogen brauchst du einen Waffenschein.“
 

Kiara löste sich augenblicklich von ihm und starrte ihm aus verengten Augen entgegen. Dann knurrte sie neckisch und vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge, wo sie sanft die Zähne in sein Fleisch sank. Shanks lachte amüsiert auf. Das war es ihm wert. Der leicht bebende Oberkörper unter seinem Arm verriet ihm, dass es auch sie in Wahrheit amüsierte. Mit dem schönsten Schlafzimmerblick kehrte sie zurück in sein Sichtfeld und lehnte für ein liebevolles Schmiegen die Stirn an seine. Sanft strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und hinter das Ohr. Mit der Fingerspitze zeichnete er die Wölbung ihrer Ohrmuschel nach und blieb an ihrer kleinen Creole hängen. Zum ersten Mal bemerkte er, dass sie darüber ein weiteres Ohrloch besaß, welches jedoch nicht mit einer Verzierung bestückt war. Prüfend verglich er die andere Seite, wo ein passendes Gegenstück fehlte.
 

Kiara schien zu bemerken, wie er sie inspizierte. „Das hab‘ ich mir selbst gestochen. Aber weil es so scheiße-wehgetan hat und fies blutete, hab‘ ich mich nie getraut das andere zu machen.“
 

Shanks musste schmunzeln. „Und dann lässt du deine Mühen einfach dahinvegetieren? Was ist mit den anderen beiden Löchern?“
 

„Die hab‘ ich schon als Kind bekommen. Ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber ich denke, es ging viel schneller und weniger schmerzhaft.“
 

„Ist es denn durch?“ Er befühlte prüfend die Rückseite ihres Ohrläppchens. Sie wandte sich vor Empfindlichkeit und zog die Schultern an. Shanks verfasste eine mentale Notiz, dass er sich diese Stelle merken sollte.
 

„Ja und es wächst auch irgendwie nicht mehr zu. Deshalb lebe ich jetzt mit der Schande.“
 

Er lachte erneut. „Vielleicht hab‘ ich ja was für dich.“
 

Bevor er sich aufrichten wollte, zog er sie noch einmal für einen Kuss auf die Stirn zu sich heran. Auch Kiara setzte sich auf, die Decke weiterhin um sich geschlungen. Mühsam sammelte sie ihre Klamotten vom Boden auf und hielt sie schützend vor sich, als sie aufstand und zum Badezimmer tapste.
 

„Dann geh ich mich mal anziehen“, verkündete sie.
 

„Kannst du doch auch hier?“, entgegnete Shanks verwirrt. Wozu die Diskretion? Es gab nun wirklich nichts mehr zu verbergen.
 

„Und ich muss pinkeln!“, kam die forsche Antwort, ehe die Tür verschlossen wurde.
 

Verblüfft blinzelte der Rothaarige ihr hinterher. Dann lachte er auf und schüttelte amüsiert den Kopf. Ja. Sie war definitiv anders.
 

Auch Shanks nutzte die Zeit um sich wieder zu bekleiden, ehe er sich an einer Kommode zu schaffen machte und durch die dort verstauten Schmuckstücke kramte. Ungeordnet fanden sich dort einige Edelsteine, Ketten, Ringe verschiedener Größen und Verzierungen, eine Art Diadem, Armbänder, einzelne Ohrringe und Haarpinne in allen möglichen Gold- und Silbervarianten.
 

Er fischte einen Ohrstecker mit Rubinkopf heraus und betrachtete ihn im Kerzenlicht. Er war klein und unscheinbar, simpel jedoch wertvoll.
 

Kaum war die Piratin zurück in der Kabine, bot Shanks ihr das Schmuckstück auf der Handfläche präsentiert an. „Hier, wie wäre das?“
 

Vorsichtig nahm Kiara den Ohrstecker entgegen und studierte ihn eingehend von jeder Seite. Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Er schien die richtige Wahl getroffen zu haben.
 

„Danke, Shanks“, säuselte sie. Eifrig verlagerte sie ihr Gewicht auf ihre Zehenspitzen um die Distanz zwischen ihnen besser zu überbrücken. Mit einer eleganten Bewegung war sie hinauf gewippt um ihm einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. Mit ein paar geübten Handbewegungen hatte sie das Geschenk an ihrem Ohr befestigt.
 

Der Rothaarige betrachtete sie für einen Moment zufrieden, hob die Hand und drehte das filigrane Schmuckstück bedacht zwischen den Fingern. Ob sie die rötlich-violette Stelle an ihrem Hals schon bemerkt hatte? Vermutlich nicht, sonst hätte er dafür bestimmt schon eine Rüge kassiert. Shanks hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger an, beugte sich zu ihr hinunter für einen versöhnlichen Kuss auf die Wange und entschied, sie nicht auf den Knutschfleck aufmerksam zu machen. Einen kleinen Spaß wollte er sich schließlich doch noch erlauben. Dann schritt er zur Tür und griff verheißungsvoll nach der Klinke. Er spürte eine gewisse wohlbekannte Feierlaune wieder aufkeimen.
 

„Also dann, lassen wir die Jungs nicht länger warten.“

Seifenopern

Hastige Schritte hallten durch die verlassenen Gassen abseits des belebten Sabaody Parks. Das entfernte Gelächter und heitere Aufschreien der Besucher wurde vom rasselnden Atmen der Flüchtenden in ihren eigenen Ohren vollkommen überschattet. Wenn sie sich akribisch auf Geräusche fokussierte, dann war es auf die Stimmen und das dumpfe Getrampel der Männer hinter ihr.
 

Sabaody war eine wundersame, eindrucksvolle und durchaus amüsante Insel. Wenn man auf dem richtigen Pfad blieb. Abseits davon geriet man schneller in Schwierigkeiten als man gucken konnte.
 

„Sie ist links lang, schnappt sie!“, brüllte einer der Männer seinen Kollegen zu.
 

Sechs an der Zahl stürzten der jungen Frau hinterher. Zum Pech der Gruppe hatte ihre Beute noch rechtzeitig die Flucht ergriffen, bevor die Männer sie gänzlich einkesseln konnten. Jedoch schien dies ihr erster Tag auf der Insel zu sein, wohingegen ihre Verfolger die Gegend wie ihre Westentasche kannten. Ein verhältnismäßig kurzer Sprint war den Gewinn wert, den sie später einbringen würde.
 

Die Piratin nahm jede Biegung, an der sie während ihrer Flucht vorbeikam, in der Hoffnung, dass genügend Haken ihre Verfolger verwirren würden oder sie zurück zu lebhafteren Gegenden fand. Der Nachteil daran war, dass sie so kaum Geschwindigkeit aufnehmen konnte. Solange sie die Männer hinter sich noch hören konnte, wollte sie nicht das Risiko eingehen, stehen zu bleiben um sich zu verstecken.
 

„Gleich haben wir sie!“, klang eine der Stimmen, viel zu nah.
 

Eilig bog Kiara in die nächste Gasse ein und kam abrupt zum Stehen, als sie gegen jemanden stieß. Ein Stöhnen entwich ihrer Kehle, gedämpft durch die Brust des Fremden, in die sich ihre Nase schlug. Sie versuchte Abstand zu gewinnen und ihre Flucht fortzusetzen, da sie sich nicht sicher war, ob es sich bei der Person vielleicht um einen Verfolger handelte, der ihr den Weg abschneiden wollte. Bevor sie sich allzu weit von ihm lösen konnte, schlang sich ein Arm um ihre Schulter und zog sie mit Bestimmung hinter die aufbäumende Gestalt des Fremden.
 

Verwirrt sah Kiara zur Person auf. Es handelte sich um einen alten Mann mit wallendem weißem Haar, der herausfordernd die anrennende Meute fixierte. Unter seinen kreisrunden Brillengläsern erkannte sie eine dünne Narbe, welche senkrecht über sein rechtes Auge verlief.
 

„Aus dem Weg, Opa!“, blaffte der Anführer und hob drohend das Schwert.
 

Doch weiter kam er nicht. Mit einem Mal verdrehten die sechs fiesen Gestalten allesamt die Augen und sanken leblos zu Boden. Stille kehrte ein.
 

Kiara blies erleichtert den Atem aus und ihre Haltung entspannte sich. „Danke“, hauchte sie.
 

Der alte Mann wandte sich zu ihr. „Das ist nicht der Rede wert, schließlich habe ich doch gar nichts gemacht.“
 

Skeptisch zog Kiara eine Braue nach oben. Das Funkeln in seinen Augen bestätigte ihren Verdacht. Sie spürte eine Aura, die irgendwie vertraut wirkte, wenn auch um einiges mächtiger. Dass man mit dieser Aura offenbar Leuten das Bewusstsein rauben konnte, erlebte sie zum ersten Mal.
 

„Hast du dich verlaufen? Hier auf dem Sabaody Archipel wimmelt es vor Sklavenhändlern. Wenn du nicht aufpasst, läufst du denen direkt in die Arme.“
 

„Sklavenhändler?“, wiederholte Kiara und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Es war alles so schnell gegangen, dass sie gar keine Chance hatte zu realisieren, wofür sie überhaupt gejagt wurde. Am Rande ihrer Gedanken hatte sie die Kerle schon als kranke Schweine tituliert, aber jetzt wusste sie, dass sie es mit nichts Geringerem als dem Abschaum der Gesellschaft zu tun hatte.
 

Kiara trat den Boden und seifenartiger Schleim klatschte auf die komatösen Körper. „Menschen sind keine Ware“, zischte sie hinunter, würdigte ihnen dann aber keinen weiteren Blick. „Entschuldigung. Ich bin Kiara. Und mit wem habe ich die Ehre?“
 

Der alte Mann grinste. „Nenn mich einfach Ray.“
 

Freundlicherweise geleitete Ray die junge Piratin noch zurück zum Park, ehe er sich verabschiedete. Eigentlich hatte sich Kiara noch anständig bei ihm bedanken wollen, aber er winkte es mit einem Kommentar ab, dass man immer zweimal im Leben aufeinandertraf. Sie könne sich später revanchieren.
 

Aufmerksamer den je suchte Kiara nach ihren Mannschaftskollegen, von denen sie wusste, dass sie sich den Tag hier ebenfalls irgendwo vertrieben. Sie wollte sich ihnen schnellstmöglich wieder anschließen, bevor die nächste Gruppe Kidnapper ein Auge auf sie warf. Es erschrak sie selbst, dass sie Notwendigkeit darin sah, sogar am helllichten Tag Menschen um sich zu benötigen, aus Angst um ihr leibliches Wohl.
 

„Hey, wo hast‘e jesteckt?“, fragte ihr musikalischer Kumpel mit dem Beanie.
 

„Achterbahn“, log Kiara rasch.
 

„Hät‘ste was jesagt, dann wär’n wir mitjekommen.“
 

„Eigentlich war ich auf der Suche nach was zu Essen. Aber dann dachte ich mir, bevor das nachher im hohen Bogen wieder rausfliegt…“
 

„Essen is‘ eene jute Idee! Hier, probier‘ mal ditte.“
 

Freudestrahlend bot er ihr einige Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen an. Dankend nahm Kiara den Imbiss entgegen. Auf den Adrenalinschub von eben konnte sie jetzt wirklich etwas herzhaftes vertragen.
 

„Vom Riesenrad soll man eine tolle Aussicht auf das Archipel haben! Wie wär’s?“, schlug Snakes vor.
 

„Aber wehe eener fängt an die Kabine zu schaukeln“, warnte Beanie.
 

„Wieso? Sag bloß, du wirst sonst seekrank“, lachte der andere.
 

„Oh und danach gönnen wir uns Oktopusbällchen!“
 

„Und Pfannkuchen!“, stimmte Kiara mit ein.
 

„Dit heest Eierkuchen.“
 

Mit vollgeschlagenen Bäuchen fand sich die Rothaarpiratenbande zum Ende des Tages in einer Kneipe zusammen, die den fragwürdigen Namen „Rip Off-Bar“ trug. Man erzählte Kiara, der Name rührte von den horrenden Preisen, welche die Besitzerin für Getränke und Snacks verlangte. Aber da der Boss gute Kontakte pflegte, bekamen sie ausnahmsweise einen großzügigen Rabatt.
 

Als sie die Bar betraten fiel Kiara sofort die Person mit dem löchrigen Mantel und den weißen Haaren auf, die neben Shanks am Tresen saß. Zweifelsohne der Herr dem sie ihre aktuelle Unversehrt- und Freiheit verdankte.
 

„Oh!“, machte sie überrascht. Sie hätte nicht gedacht, dass man sich so schnell erneut begegnete.
 

Die beiden wandten sich ob der ungewöhnlichen Reaktion um.
 

„Ach. Was für ein Zufall. Das Mädchen von vorhin“, schmunzelte Ray und hob sein Glas zur Begrüßung an.
 

„Wie ich sehe, hattet ihr bereits das Vergnügen“, kommentierte Shanks. Das war ihm nur recht, so sparte er sich die obligatorische Vorstellungsrunde. Grinsend gestikulierte er zum freien Hocker zwischen ihnen.
 

Die Bardame hinter der Theke warf Kiara ein freundliches Lächeln zu. Beiläufig schnippte sie die überschüssige Asche ihrer Zigarette in eine kleine Schale. „Was kann ich dir bringen?“
 

„Oh, ähm. Irgendwas, das mir nicht die Kehle wegbrennt“, erwiderte Kiara und trat eilig nach vorne um der Einladung nachzugehen und Platz zu nehmen.
 

Die restlichen Crewmitglieder verteilten sich an den Tischen in der Bar und leisteten ihren teilweise schon angetrunkenen Kollegen Gesellschaft, um ihnen die heutigen Erlebnisse zu schildern.
 

„Kiara war der Name, nicht wahr?“, fragte der alte Mann nach.
 

Sie nickte eifrig. „Richtig.“
 

Wie er hieß, konnte sie sich gut merken. Es war ein kurzer Name und er erinnerte sie an etwas, das sie mal in einem Buch gelesen hatte. Kiara hielt inne. Dann warf sie Shanks einen nachdenklichen Blick zu. Warum genau kam ihr der Name so bekannt vor? Sie sah, wie sich seine Lippen zu einem wissenden Lächeln kräuselten.
 

„Wir sind damals zusammen gereist. Er war der Vize-“, begann er, ehe Kiara alles aus dem Gesicht fiel.
 

„OH.“
 

Es war inzwischen einige Zeit vergangen, seitdem Shanks ihr offenbart hatte, dass er bereits als Kind Teil der Bande des berüchtigten Gold Rogers gewesen sei. Das hieß, dass der Vize-Kapitän niemand geringeres war als-
 

„Silvers Rayleigh“, stammelte sie.
 

Sie hatte es ausgerechnet dem Dunklen König – der rechten Hand des Piratenkönigs! – zu verdanken, nicht auf einer Menschenauktion als Sklave versteigert worden zu sein.
 

Er winkte ab. „Heutzutage bin ich ein einfacher Beschichter.“
 

Ein heiseres Lachen entfloh ihren Lippen. „Ich kenne ja den Spruch ‚Leute fallen mir zu Füßen, wenn sie mich kommen sehen‘, aber normalerweise hängt man das dem Mundgeruch an.“ Sie nahm einen großzügigen Schluck vom Getränk, welches die Bardame ihr reichte. Und hustete.
 

„Entschuldige. Ich habe deine Toleranz höher eingeschätzt“, meinte sie amüsiert.
 

„Du kannst es einfach selber nicht mehr herausschmecken, Shakky“, lachte Rayleigh und wandte sich wieder seinem ehemaligen Lehrling zu. „Jedenfalls kann ich es kaum erwarten diesen Monkey D. Luffy selber kennenzulernen.“
 

Shanks musste wieder begeistert die Geschichte vom kleinen Jungen aus dem East Blue zum Besten gegeben haben. Es der rechten Hand des Piratenkönigs zu erzählen, ergab wohl Sinn, besonders wenn der Bengel sich zum Ziel gesetzt hatte eines Tages selbst König der Piraten zu werden. Kiara hoffte, ihn ebenfalls irgendwann zu treffen. Die Erzählungen hatten sie unglaublich neugierig gemacht.
 

Der Rothaarige nickte andächtig. "Noch ist er ein Kind. Ich hab' ihm gesagt, dass er erst einmal erwachsen werden soll. In zehn Jahren oder so kann er dann wirklich zeigen, was er als Pirat so drauf hat."
 

„Apropos, Pirat werden. Warum ist so eine junge Dame wie du eigentlich Pirat geworden? Hat dich Rogers letzte Ansprache ebenfalls inspiriert?“, fragte Rayleigh nun frei heraus.
 

Kiara schüttelte unbekümmert den Kopf. „Eigentlich wollte ich schon viel früher zur See. Vom One Piece hab‘ ich erst später erfahren, aber das hat mich nie sonderlich interessiert.“ Sie sah zwischen den beiden Männern hin und her. Es kam ihr gerade alles so surreal vor. „Das ist jetzt ein bisschen merkwürdig, es gerade euch zu erzählen, aber ich hielt es für eine Masche, so wie damals Big Whoop“, gestand sie.
 

Shanks zog die Augenbrauen hoch. „Hast du nicht letztens noch davon geschwärmt? Großer Schatz, so wertvoll, dass er die Träume jedes gestandenen Piraten heimsucht, und so weiter?“
 

Gleichgültig zuckte Kiara mit den Schultern. „Klar. Weil das einfach eine großartige Geschichte ist. Ein Schatz so wunderbar - oder so schrecklich - dass der Kapitän die Karte der Insel in vier Teile zerreißt und damit für eine Schnipseljagd sorgt, auf die sich noch Generationen später junge Piraten begeben? Damit kannst du Bücher füllen.“ Und Kiara hatte sie alle gelesen. Gelassen stützte sie das Kinn auf ihrer Handfläche ab. „Aber die Realität ist nun mal eine andere.“
 

„Du meinst, der Schatz hat nie wirklich existiert?“, hakte Shanks nach. Geknickt ließ er die Schultern sinken. Es kam zwar ständig vor, dass sich Schatzlegenden als reine Märchen entpuppten, aber das machte die Realisation darüber nicht weniger traurig. Es war, als würde man jedes Mal von neuem erfahren, dass der Weihnachtsmann nicht existierte.
 

„Soweit ich weiß, war die Truhe leer. Oder der Inhalt jedenfalls eine Enttäuschung. Mal im Ernst, wenn du nicht willst, dass jemand diesen Ort findet, sollte man die Karte verbrennen, anstatt sie im Salon über dem Kamin auszustellen. Es war einzig und allein das Ziel gewesen, Piraten zu den Tri-Islands zu locken. Großpaps Marley hatte gerade die Unabhängigkeit erzielt, aber das war halt teuer. Er hat Sklaven befreit, besaß aber kein Geld um sie vernünftig zu bezahlen. Das klügste, was er tun konnte, war den Tourismus anzukurbeln. Voilá.“
 

„Mithilfe einer riesigen Lüge“, warf der Rothaarige trotzig ein und stützte das Gesicht in der Faust ab.
 

„Hey. Er war Politiker“, entgegnete sie trocken. „Meine Mutter lügt auch ständig. ‘Ich kann heute Abend nicht, ich wollte mir die Haare waschen‘ – oh, oder ihre größte Lüge, als sie damals ständig erzählte, sie habe ihrem Vater versprochen niemals einen Piraten zu heiraten. Damit hat sie hunderte Bewerber abgewimmelt. Und wen hat sie letztendlich geheiratet? Einen Piraten.“
 

Rayleigh kratzte sich gedankenverloren am buschigen Kinnbart. „Ich kenne deine Mutter. Elaine Marley, nicht wahr? Wir sind ihr vor langer Zeit auf der Grand Line begegnet. Sie war auf der Suche nach ihrem Großvater.“
 

Kiara sah den alten Piraten fassungslos an. Auch Shanks wirkte verblüfft. Davon, dass Kiaras Mutter selber zur See gegangen ist, hörten sie zum ersten Mal. „Es heißt, er sei bei einer Segelregatta verschwunden. Aber – also, ich wusste nicht, dass sie-“
 

„Sie muss ungefähr in deinem Alter gewesen sein. Eine wunderschöne, kluge, junge Frau und knallharte Kapitänin. Sie war dafür bekannt, aus jeder noch so misslichen Lage einen Ausweg zu finden oder sich frei zu kämpfen.“
 

„Also war sie eine Piratin?“, fragte Shanks nach und lehnte sich interessiert nach vorne. Er erinnerte sich nicht, je so einer Frau begegnet zu sein. Nicht einmal als Kind.
 

Rayleigh schüttelte den Kopf. „Eine Piratin? Nein. Sie war absolut neutral. Aber man tat gut daran, es sich nicht mit ihr zu verscherzen.“
 

„Japp. Klingt definitiv nach ihr“, nickte Kiara.
 

„Eine großartige Frau. Ich bin mir sicher, sie hat dir einige wertvolle Weisheiten und Ansichten über das Leben vermittelt.“
 

Erneut nickte Kiara, dieses Mal beherzter. „Ohne sie, wäre ich nicht die, die ich heute bin. Sie hat mir so vieles ermöglicht und beigebracht.“
 

Sie hatte nie verstanden, warum sie privilegiert war, Schreiben, Lesen und Rechnen gelernt zu haben oder dass ihr die Grundsätze der Naturwissenschaften vermittelt wurden. Warum sie schief angesehen oder gelobt wurde, weil sie die gleiche Arbeit verrichtete wie Männer. Sie fand nicht, dass es etwas Besonderes darstelle.
 

„Wenn jeder so eine Person in seinem Leben hätte, die einen fördert und mögliche Wege anbietet statt Türen zu verschließen, dann könnten wir schon so viel weiter in der Gesellschaft sein.“ Vermutlich wäre der Sextant schon hundert Jahre eher erfunden worden, hätte man auch armen Bauernkindern die Chance ermöglicht, sich zu entfalten und zu bilden.
 

„Ich bin ihr wirklich unendlich dankbar.“
 

Die Bierflasche in der Hand des Rothaarigen rollte abwesend in kreisenden Bewegungen über das Holz des Tresens. Andächtig lauschte er ihrer Lobeshymne, neigte dann aber zweifelnd den Kopf. „Komisch eigentlich, dass du ihren Namen dann nicht weiter raus in die Welt trägst“, gab er zu bedenken.
 

Kiara sah ihn verdutzt an. Dann zog sie die Stirn in Falten. „Fragst du mich gerade ernsthaft, warum ich meinen Nachnamen nicht nenne? Ausgerechnet du?“
 

„Ein Mann ohne Familiennamen ist ein Mann ohne Vergangenheit. Er lebt nur für sich selbst“, sinnierte Rayleigh murmelnd und beobachtete wie der Alkohol in seinem Glas hin und her schwappte. Er ließ seine weiteren Gedanken unausgesprochen, doch warf er dem Roten einen vielsagenden Blick zu.
 

„Ich trage den Nachnamen meines Vaters. Aber solange ich nicht weiß, was er tatsächlich für ein Mensch ist – oder war –, werde ich ihn für mich behalten.“
 

Shanks setzte die Flasche an seinen Mund an. „Verständlich.“ Anschließend leerte er das Getränk in wenigen Zügen. Gerade er konnte ihre Auffassung sehr gut nachvollziehen.
 

„Stellst du dahingehend Nachforschungen an?“, fragte Rayleigh langsam.
 

„Naja, ich halte ein bisschen die Augen und Ohren offen. Das letzte Mal, dass ich, oder irgendjemand aus meiner Heimat, ihn gesehen hat, ist gut zwölf oder dreizehn Jahre her. Vielleicht war er es, den Rogers Ansprache tatsächlich angespornt hat. Er schien immer auf der Suche nach Ruhm und Reichtum zu sein.“
 

Die Hand des Rothaarigen wanderte in die Untiefen seines Mantels. Hervor zog sie die ominöse Schatzkarte, welche er vor einiger Zeit erbeutet hatte. „Wir sind übrigens auch auf der Suche nach etwas, Rayleigh.“ Er breitete das Papier auf dem Tresen aus. „Du kennst dich doch bestimmt in diesen Gewässern aus. Hast du schon einmal von einer Insel gehört, die sich hier befinden soll?“ Shanks tippte mit dem Zeigefinger auf die Koordinaten, wo sie das rätselhafte Libertalia vermuteten.
 

Interessiert beugte sich der ehemalige Vize über die Karte und rückte sich die runden Brillengläser zurecht. Sein Blick wanderte kritisch über die Zeichnungen, ehe er sich zurücklehnte und sein Glas wieder in die Hand nahm, um genussvoll daraus zu trinken. „Soweit ich weiß, gibt es in dieser Gegend eine ganze Menge gefährlicher Strömungen. Ob sich dort eine Insel befinden soll, ist mir schleierhaft. Aber ich bin einigen Piraten begegnet, die angeblich aus dieser Richtung kommen sollen.“
 

Auf Shanks‘ Lippen machte sich ein abenteuerlustiges Grinsen breit. „Meinst du, wir könnten uns während des Beschichtungsprozesses ein kleineres Schiff… ausborgen?“

El Dorado

Die Nacht in der Rip Off Bar stand ganz im Zeichen der Festivität. Erst wurde noch mehr Alkohol ausgepackt, dann die Trinkspiele und dann die Musikinstrumente. Sie feierten, lachten, sangen und Kiara machte sich den Spaß mit jedem einzelnen zu tanzen. Die einen waren dabei ausgelassener und lockerer als ein paar andere. Aber gute Laune hatte ausnahmslos jeder dabei und das war ihr wichtig. Außerdem konnte sie nun stolz von sich behaupten mit der rechten Hand des Piratenkönigs Rumba getanzt zu haben. Nicht, dass es ihr jemals jemand glauben würde.
 

Am nächsten Morgen erwachten sie verkatert und fröhlich in der Kneipe verteilt, auf Bänken, Stühlen, Tischen, halb auf dem Tresen, an den Sitznachbar angelehnt oder mitten auf dem Boden, im Zweifel auch gestapelt. Man schlief ein, wo man gerade noch gestanden oder gesessen hatte. Es war nicht besonders erholsam oder bequem, aber wenn der Körper unbedingt nach Bewusstlosigkeit verlangte, musste man dem wohl oder übel nachgeben.
 

Später am Tag machten sich der Kapitän mit seinen Offizieren und einigen seiner besten Crewmitglieder auf, einen Schoner für die Überfahrt zu besorgen. Mithilfe einer ordentlichen Seekarte peilten sie den Ort an, wo sie die vermeidliche Insel vermuteten. Das Meer war rau und stürmisch, wie Rayleigh sie gewarnt hatte. Aber die Crew war eingespielt und hatte auch den Schoner trotz unruhigem Wellengang gut im Griff, sodass sie unbeschadet durch die Strömungen fanden.
 

Belohnt wurden sie mit dem Ausblick auf einen mit dichtem Dschungel überwucherten Berg, welcher aus dem Meer ragte. Zwischen den grünen Baumkronen blitzten orangene Zinndächer durch die Wipfel und ein weißer Glockenturm überragte die Andeutung einer kleinen Stadt.
 

„Das muss sie sein. Libertalia.“
 

Niemand wusste, was sie auf dieser Insel erwarten würde. Mit Argusaugen gingen Lou und Yasopp daher voraus, um die Lage auszukundschaften. Sie stießen auf etwas, das mal ein Pfad gewesen sein könnte. Inzwischen war er mit Ranken überwuchert, doch es schien ein leichtes zu sein sich den Weg erneut mit Säbelklingen frei zu schneiden. Der Pfad entpuppte sich als nicht gerade ungefährlich. Vorbei an Treibsandgruben, Schlangennestern und an einer Schlucht entlang kämpfte sich die Piratencrew durch das Dickicht, tiefer in das Herz der Insel.
 

„Gibt die Karte eigentlich irgendwelche Infos darüber her, was hier versteckt sein soll?“, fragte der Kapitän und machte einen großen Schritt über einige dicke Wurzeln, die seinen Pfad kreuzten.
 

Die Möchtegern-Rätselkönigin schüttelte nur den Kopf. „Nichts. Nur die Lage der Insel. Vielleicht ist die Stadt gemeint? Es könnte quasi der Weg nach El Dorado sein.“
 

„Dabei meintest du, es sei keine Schatzkarte“, entgegnete der Rote beflissen.
 

„Wir stehen am Beginn eines Abenteuers, verdirb es nicht mit unnötigen Details!“ Und mit diesen Worten hüpfte die Piratin beschwingt und zwei Schritte schneller als vorher über jegliches Geäst voran.
 

„Ey, lauf nicht vor!“, mahnte Yasopp und sah sie bereits hinter der nächsten Böschung verschwinden.
 

Beckman blies mit einem belustigten Seufzen den Rauch aus seinen Lungen. „Wie ein Kind.“
 

Der Marsch dauerte noch einige Kilometer und endete schließlich abrupt als sie an den weißen Sandsteinmauern der Stadt ankamen. Ein großer Torbogen lud in das Innere ein, die gepflasterten Straßen belebt von Menschen, die unbekümmert ihrem Tagewerk nachgingen.
 

Begeistert betraten die Neuankömmlinge die verborgene Stadt, völlig überfordert wohin der Blick zuerst wandern sollte. Kinder spielten Fangen und Verstecken, Frauen saßen in gemütlicher Runde zusammen und machten Kassensturz unter einer bunten Markise. Andere flickten zerschlissene Kleider oder woben Baskenkörbe, die sie in ihrem Laden zum Verkauf anboten. Männer saßen im Schatten der Gebäude und spielten Karten oder priesen ihre Handelswaren mit rauer Stimme auf dem Marktplatz an.
 

Am prachtvollen Brunnen in der Mitte des Platzes saß eine Gruppe junger Leute zusammen und spielten Gitarre, klatschen, tanzten und sangen dazu. Sie pausierten kurz, als die Glocken des großen Uhrturmes hinter ihnen zur vollen Stunde schlug. Die eingemeißelte Schrift über der breiten Tür dieses Hauptgebäudes verkündete in feinen Lettern ‘Für Gott und Freiheit‘. Scheinbar handelte es sich hierbei um das Rathaus.
 

Kiara stutzte. Aus irgendeinem Grund, hatte sie es für ein Theater gehalten. Es war alles so sauber, so makellos. Als hätte man die Schleife zur großen Eröffnungsfeier erst am Tag zuvor durchgeschnitten. Und trotzdem strahlte diese Stadt Leben aus, als wäre der Alltag schon vor langer Zeit eingekehrt.
 

Die Ankunft der fremden Piraten blieb natürlich nicht unbemerkt. Jeder von ihnen konnte spüren, wie sie aus den Augenwinkeln beobachtet und abgeschätzt wurden. Drei Kinder waren mutig, oder naiv genug direkt auf die Gruppe zuzulaufen um sie eifrig auszufragen.
 

„Seid ihr Piraten?“, fragte das jüngste der drei, ein kleines Mädchen. Sie drückte ihren Spielball an den Oberkörper und drehte sich schüchtern hin und her.
 

Shanks zog den Umhang rücksichtsvoll fester um die Schulter und hockte sich zum Mädchen herunter.
 

„Ja, das sind wir“, sprach er mit Bedacht und legte dabei besonders viel Ruhe in seine Stimme. „Aber du brauchst keine Angst zu haben.“
 

Sie neigte neugierig den Kopf. „Wieso sollte ich Angst haben?“
 

Die Augenbrauen des Kapitäns hoben sich überrascht. „Nun…“, setzte er an.
 

„Hier sind alle Piraten!“, platzte der einzige Junge hervor.
 

Yasopp runzelte die Stirn. „Alle?“ Sein Blick schweifte erneut über den Hauptplatz und die angrenzenden Straßen.
 

Das älteste Mädchen klapste dem Jungen leicht auf den Kopf. „Nein, du Dussel. Sie waren mal Piraten!“, korrigierte sie betont.
 

„Also mein Papa hat immer noch einen Steckbrief!“, beschwichtigte der Junge und verschränkte die Arme.
 

„Oh, ein Hafen für Ex-Piraten?“ Das kam Kiara in der Tat bekannt vor. „Ich schätze, das ergibt Sinn.“
 

„Zieht ihr also auch hier her?“, fragte die Jüngste interessiert.
 

„So früh wollte ich die Piraterie doch noch nicht an den Nagel hängen“, bemerkte Shanks, die Schultern zuckend. „Darf man hier denn auch etwas verweilen, ohne sich auf Dauer niederzulassen?“
 

„Jeder Pirat ist in Libertalia willkommen!“, strahlte das Mädchen.
 

„Kommt, wir spielen weiter!“, warf der Junge ein, schnappte sich den Ball und rannte zurück zu ihrer Spielfläche.
 

„Warte! Das ist mein Ball!“, jammerte die Kleine und folgte ihm, wenn auch etwas unbeholfen auf den kurzen Beinen. Die Ältere half ihr auf, nachdem sie dann doch gestolpert war.
 

„Für Gott und Freiheit, huh?“, wiederholte Beckman den Leitsatz über der Rathaustür.
 

„Eine Insel die niemand, bis auf ein paar wenige, kennt. Keine Polizei, keine Marine. Ein Paradies für Piraten, die sich in Ruhe absetzen wollen“, nickte Yasopp.
 

Ein flaues Gefühl machte sich im Magen der Piratin breit. Unbehaglich ließ sie sich auf den Stufen vor dem Rathaus nieder. „Aber findet ihr das nicht auch irgendwie merkwürdig?“, fragte sie unsicher.
 

„Hast du nicht von genau so einer Insel in deiner Heimat erzählt?“, fragte Shanks. Er erinnerte sich vage, einen ähnlichen Wortlaut von Kiara gehört zu haben.
 

Sie nickte. „Ja. Aber die Piraten auf Plunder Island sind deutlich… älter. Und selbst die streiten sich trotzdem ständig. Waren die hier alle mal Teil derselben Crew, oder wie kann man so friedlich miteinander leben?“
 

Kiara hatte bereits Geschichten von geheimen Veranstaltungen von und für Piraten organisiert gehört. Orte, an denen sich viele verschiedene Piratenbanden trafen, um bei einem großen Wettkampf gegeneinander anzutreten. Und selbst dort schlugen sich die meisten bereits vorher gehörig die Hucke voll.
 

Was ein echter Pirat war, konnte sich selbst im Rentenalter nicht der Piraterie abschwören. Deshalb regierte die Gouverneurin mit knallharter Hand. Wenn sie es nicht tat, plünderten sich selbst die 80-jährigen gegenseitig oder steckten das ein oder andere Haus in Brand. Es war nicht schön nach einer Kneipenschlägerei die einzelnen Teile von Gebissen zusammenzufegen. Oder die Einschusslöcher in den Gebäuden beim Feld der Ehre zu reparieren.
 

„Außerdem“, setzte Kiara an. „Habe ich das Gefühl hier schonmal gewesen zu sein. Es ist alles so“, sie verzog ungalant das Gesicht während sie nach einem passenden Wort suchte, welches ihre Missgunst ausdrückte „vertraut.“
 

Ihr Blick wanderte über die steinerne Brücke auf die andere Seite des Baches, wo idyllische kleine Fachwerkhäuser standen. Eine Kneipe, ein Schmied, eine Schneiderei. Die Fenster waren blitzeblank, die Wege gefegt. Hinter den orangenen Dächern der Häuser, die den Markplatz umrahmten, sah sie Masten hervorragen. Zweifelsohne führte ein gepflasterter Weg hinunter zu einem Hafen, welcher die halbe Bucht einnahm.
 

„Hier hätten wir auch anlegen können, Boss“, bemerkte Lou, dem die Schiffe ebenfalls aufgefallen waren. „Dann hätten wir uns den Weg durch den Dschungel erspart.“
 

Der Kapitän winkte ab. „Halb so wild. Unser Anlegeplatz ist zwar abseits, aber immerhin geschützt.“
 

„Ick nehm‘ an, wir fahr’n heut‘ nich‘ mehr zurück, wa? Dann jeh‘ ich uns mal ‘ne Junterkunft besorjen“, bot Beanie an und ging mit Snakes im Schlepptau die Stadt erkunden, in der Hoffnung eine Gaststätte mit Übernachtungsmöglichkeit zu finden.
 

Kiara erhob sich von den Stufen. „Ich würde mich auch gerne noch etwas umsehen.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf das Gebäude hinter sich. „Vielleicht gibt’s im Rathaus ein paar nützliche Informationen?“
 

Links über ihr flackerte eine Flamme auf. Der Vize war neben sie herangetreten und zündete sich eine frische Zigarette an.
 

„Das trifft sich gut, das wollte ich mir auch noch ansehen“, murmelte er, darauf bedacht, dass ihm der Glimmstängel nicht von den Lippen entglitt. „Darf ich dich begleiten?“
 

Sie hatte keine Einwände, darum nickte sie zuversichtlich. Sie wusste, dass Beckman sich beim üblichen bunten Treiben lieber in Ruhe am Rand aufhielt, aber stets ein waches Auge auf alles hatte. Er war klug und analytisch, darum wunderte es sie nicht, dass ihm die ganze Situation auch vielleicht etwas zu schön vorkam um wahr zu sein.
 

„Gut, dann würde ich sagen, wir treffen uns heute Abend wieder hier. Oder in der Kneipe“, beschloss der Kapitän und hob zum Abschied kurz die Hand.
 

Die Piratin hatte bisher nur wenige Rathäuser von innen betrachtet. Umso erstaunter war sie, wie riesig und prachtvoll das von Libertalia verziert und dekoriert war. Kunstvolle Stuckarbeiten an den Decken und Wänden, wohin sie auch sah. Dazu gigantische kristallene Kronleuchter die herabhingen und Ölgemälde in Lebensgröße welche die Wände der Eingangshalle schmückten.
 

„Weißt du, was der Haken an diesen ganzen ‘Von Piraten, für Piraten‘ Geschichten ist?“, murmelte Kiara während sie völlig erschlagen den Blick über die Verzierungen schweifen ließ.
 

„Da geht es nie um Nächstenliebe“, brummte der Vize und suchte die Halle nach etwas Nützlichem ab.
 

„Richtig. Es geht allein um den Gewinn des Veranstalters. Das ist selbst bei uns Zuhause so. Piraten werden geduldet, weil sie gut fürs Geschäft sind. Mehr nicht.“
 

Zwölf Portraits mit den breitesten, eindrucksvoll geschnitzten Rahmen hingen fein säuberlich aneinander gereiht in einem großen Halbkreis am Ende des Saales. Sie betrachteten die Personen auf den Gemälden.
 

Direkt vor ihnen grinste sie selbstsicher das Ebenbild von Anne Bonny an. Kiara kannte wenige Piratinnen, umso begeisterter war sie von jeder, die sich in dieser Männerdomäne einen Namen gemacht hatte. Beeindruckt hatte sie schon als Kind jede Geschichte, die sie von Anne Bonney gehört hatte, in sich aufgesogen.
 

In den umliegenden Rahmen waren ebenfalls bekannte und berüchtigte Piraten abgebildet. Einen älteren Piraten mit grauem Vollbart, schwarzem Dreispitz und leuchtend rotem Mantel erkannte sie als Henry Avery.
 

Daneben starrte sie aus eiskalten Augen ein Mann mit schwarzem, schütterem Haar an. Laut der Namensplakette am Rahmen handelte es sich dabei um einen Piraten namens Thomas Tew. Kiara schauderte, dem wollte sie lieber nicht begegnen.
 

Ein blonder Pirat mit Bart und Pferdeschwanz stand stoisch in die Ferne blickend auf einem Felsen in der Brandung. Sein blauer Mantel wehte und seine Hände ruhten entschlossen an seinem mit Säbel und Pistole behangenem Gürtel.
 

Mit einem Mal vergaß die Piratin das Atmen und sie überkam das Gefühl, dass ihr Herz für einen kurzen Moment aussetzte. Hastig schnappte sie nach Luft und tastete blind zur Seite, um am Saum von Beckmans Schärpe zu zupfen.
 

„Was ist los?“, nuschelte er irritiert, die Zigarette zwischen den Lippen, und folgte ihrem perplexen Blick.
 

„Eindrucksvoll, nech‘?!“, platzte eine überschwängliche Männerstimme gleich hinter ihnen hervor und ließ die Piratin erschrocken zusammenzucken. „Das is‘ einer unserer zwölf Gründer!“, erklärte er. „Guybrush Threepwood.“
 

Beckman hob eine Augenbraue und sah hinunter zur Piratin. „Ach so. Ich verstehe.“
 

„Gründer?“, wiederholte Kiara verwirrt.
 

„Aye. Käpt’n Avery hat sich elf mächtige Piraten gesucht, welche seine Ideale und Träume teilen. Und mit ihnen zusammen hat er dann Libertalia gegründet und aufgebaut“, erklärte der Stadtschreiber inbrünstig und rollte dabei jedes R mit Leidenschaft.
 

„W-wann soll das gewesen sein?“ Kiaras Stimme zitterte vor Aufregung. Sie nahm einen tiefen Atemzug um sich zu beruhigen. Das meiste was sie davon allerdings einatmete war der Qualm von Beckmans Zigarette, wodurch sie zu allem Überfluss auch noch husten musste.
 

„Vor gut zehn Jahren, du.“
 

„Dann ist der Ort hier ja noch richtig frisch“, brummte Beckman. „Hab mich schon gewundert, warum das hier für eine angebliche Pirateninsel so sauber ist.“
 

„Aye! Wir sind sehr stolz auf das Erscheinungsbild der Stadt.“
 

„Sind sie noch hier? Die Gründer, meine ich“, unterbrach Kiara wirsch. Endlich schaffte sie es den Blick vom Gemälde zu lösen und sah den Stadtschreiber eindringlich an.
 

„Aye. Aber ich würd‘ ihnen nich‘ über den Weg laufen wollen. Sind ja nich‘ umsonst gefürchtete Piraten, nech‘?“
 

Kiara runzelte skeptisch die Stirn. Wenn sie so gefährlich waren, warum sollten sie dann eine Kolonie gründen? Die Menschen wirkten nicht, als würden sie hier in Angst und Schrecken leben. Oder handelte es sich dabei nur um eine Farce und es steckte in Wahrheit jemand ganz anderes hinter diesem zweifelhaften Paradies?
 

„Wenn sie so gefürchtet sind, warum habe ich dann noch nie einen Steckbrief von dem Kerl gesehen?“, hakte der Vize skeptisch nach und deutete mit einem Nicken auf das Portrait des blonden bärtigen Piraten.
 

„Es heißt, dass Guybrush Threepwood so mächtig is‘, dass er jeden umgebracht hat, der ihm ein Kopfgeld verpassen wollte. Deshalb traut sich auch niemand überhaupt ein Foto von ihm für einen Steckbrief zu machen!“, verriet der Pirat, während sein Blick ehrfürchtig über das Ölgemälde wanderte.
 

Beckman schnaubte verächtlich. Als ob dies ein Grund für die Marine war jemandem kein Kopfgeld in Millionenhöhe zu verhängen.
 

„Ich habe genug gehört. Danke für die Auskunft.“ Der Vize wandte sich dem Gehen zu, bemerkte aber schon nach wenigen Schritten, dass die junge Piratin ihm nicht folgte und stattdessen erneut das Gemälde wie in Trance anstarrte.
 

Der Stadtschreiber beugte sich nachgiebig zu ihr herunter. „Manchmal flaniert der Gründer durch die Straßen. Wenn du Glück hast, könntest du ihm über den Weg laufen.“
 

Kiara schüttelte den Kopf. „Aber die müssen doch auch irgendwo leben?“
 

„Jeder Gründer besitzt eine Villa in New Devon. Aber der Zutritt dorthin ist streng untersagt.“
 

Ein versonnenes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Aber es gibt hier doch keine Gesetze, oder? Keine Polizei, keine Marine, keine Gefängnisse.“
 

„Aye. Nur knallharte Selbstjustiz.“
 

Das Lächeln gefror ihr. Jeden der aufmüpfig wurde abzuknallen, sollte wohl für Recht und Ordnung sorgen, ja.
 

„Danke für die Auskunft!“, wiederholte sie Beckmans Worte in einem nervösen Singsang und eilte dem Vize hinterher.
 

Dieser stand bereits draußen vor den Pforten und blies mit einem langen Atemzug einen Schwall Rauch in die schwüle Mittagshitze hinaus. „Und, was denkst du?“
 

Binnen Sekunden klebten selbst die luftigen Stoffschichten an Kiaras schwitziger Haut. Nie war ihr das Gefühl vertrauter gewesen.
 

„Ich denke, dass dieses ganze Piratenparadies auf Lügen aufgebaut ist“, sagte sie ernst. „Und selbst wenn diese Gründerpersönlichkeiten tatsächlich echt sind, bezweifle ich, dass sie noble Intentionen haben.“
 

Das war zumindest die Erkenntnis zu dem ihr rationaler Verstand gekommen war. Insgeheim wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie sich irrte.

Threepwood Memoiren

Persönliches Logbuch, Guybrush Threepwood
 

Meine letzten Vorbereitungen sind getroffen. Wenn alles läuft, wie geplant, könnte die letzte Nacht von Libertalia in die Geschichte eingehen. Bereits seit längerer Zeit ist mir eine gewisse Unruhe unter den Bewohnern aufgefallen. Selbst Leute, die mich jahrelang freundlich auf den Straßen begrüßt haben, fingen an mich zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.
 

Erst dachte ich, mein Ruf als gefürchteter, mächtiger Pirat wäre mir endlich gefolgt. Meine Feinde sollten zurecht erzittern, wenn sie meinen Namen hörten oder meine Wege kreuzten! Doch dann kam mir zu Gehör, dass die Abwendung eine Folge der allgemeinen Unzufriedenheit mit den Gründern war.
 

Es stellte sich heraus, dass die Gelder und Schätze, welche die Bewohner in unserer Schatzkammer deponiert hatten, nicht mehr ausgezahlt werden. Henry und Thomas halten das Gold streng unter Verschluss. Sie meinten, es sei das beste für alle, wenn sie ein Auge darauf hielten und sich um die Finanzen kümmerten. Um ehrlich zu sein, habe ich ihnen nie sonderlich weit getraut.
 

Ich kam mit ihnen auf diese Insel und habe Libertalia aufgebaut, weil ich mir von diesem Vorhaben Ruhm und Ehre versprochen habe. Mein persönlicher Nachlass an alle kommenden Piratengenerationen! Es sollte mich zu einer Legende machen. Und jetzt muss ich mich im Schatten dieser dummen Affen herumschlagen, damit der Traum nicht wie eine Seifenblase endgültig zerplatzt.
 

Angeblich gibt es eine neue, fremde Piratenbande auf der Insel. Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht, doch es soll eine junge Piratin unter ihnen geben, die mich mit allen Mitteln versucht aufzuspüren. Täglich sei sie auf der Suche nach mir. Es war immer nur eine Frage der Zeit, bis mein Name auch außerhalb des Dreiinselreichs Bekanntheit erlangte.
 

Wenn möglich, werde ich ihr den Wunsch auf ein Treffen mit mir erfüllen. Schließlich kann ich meine treuen Anhänger doch nicht im Stich lassen. Viel Zeit bleibt mir allerdings nicht mehr…

Der letzte Abend

Der dritte Abend auf Libertalia brach für die Rothaarpiratenbande an. Sie hatten die Tage damit verbracht am feinen Sandstrand zu entspannen oder die kulinarischen Besonderheiten der Insel zu verköstigen. Da es an diesem Ort scheinbar keine Schätze zu finden gab, begnügten sie sich damit die Idylle der Insel zu genießen. Jedenfalls die meisten von ihnen.
 

Die junge Piratin verbrachte ihre Zeit damit von Ort zu Ort zu rennen, mit Leuten ins Gespräch zu kommen und einen Weg in das Sperrgebiet zu finden. Sie war zu besessen von dem Gedanken diesem zweifelhaften Paradies auf den Grund zu gehen.
 

Den Offizieren entging ebenfalls nicht, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging. Spätestens als am dritten Tag die meisten Schiffe, welche am Hafen ankerten, davongesegelt waren. Auf Nachfrage hieß es, man wollte die Familie auf dem nächsten Festland besuchen gehen. Dies wäre nicht zu auffällig gewesen, wenn am Ende des Tages nicht schier alle Frauen und Kinder die Stadt verlassen hätten.
 

Auch die Kneipe war am Abend nur noch halb so gut gefüllt. Nachdenklich saß Kiara auf einem Hocker am Tresen und hielt die umliegenden Plätze für ihre Kameraden frei. Trübselig nippte sie an ihrem Grog, der zu sehr nach Zuhause schmeckte.
 

„Na, heute erfolgreich gewesen?“, erklang die muntere Stimme des rothaarigen Kapitäns hinter ihr. Der ungerührte Blick, den er zurückbekam, beantwortete seine Frage.
 

„Warum willst du dem Kerl eigentlich so unbedingt begegnen?“, fragte Yasopp und nahm auf der nächstgelegenen freien Bank Platz, da sich Kapitän und Vize die beiden Hocker an der Bar sicherten. Die restlichen drei Piraten ihrer Libertalia-Sondereinheit gesellten sich ebenfalls zum Meisterschützen. „Willst du ein Autogramm von ihm haben, oder was?“
 

Kiara zog argwöhnisch die Stirn in Falten. „Darum geht es doch gar nicht.“
 

„Weeßte, manchmal is‘ es besser, wenn man seine Idole nich‘ trifft“, meinte Beanie und verteilte die bestellten Getränke. „Ick hab‘ mal echt stark für so ‘nen Sänger jeschwärmt. Als ick die Jelegenheit hatte, ihm mal Hallo zu sajen, zeigte der sich als richtijes Arschloch!“
 

Snakes neigte den Kopf musternd zur Seite. „Vielleicht hatte er auch einfach nur einen schlechten Tag?“
 

„Nee, nee, Freundchen. Dit Verhalten hast’e nich‘ nur wennje schlecht jelaunt bis‘, dit sag ick dir.“
 

„Ich nehme an, ihr habt euch also einfach damit abgefunden, dass das hier alles eine miese Falle sein könnte?“, wandte Kiara kritisch ein.
 

„Und wenn schon“, winkte Shanks ab. „Wenn sich jemand mit uns anlegen will, dann soll er nur kommen.“
 

„Morgen fahren wir eh zurück nach Sabaody“, informierte Beckman. „Der Beschichtungsprozess soll schließlich nur drei Tage dauern. Wir sollten die anderen nicht länger warten lassen.“
 

„Also heute oder nie“, murmelte Kiara und stürzte den Rest der grünen Flüssigkeit ihre Kehle hinunter.
 

Die Gespräche in der Bar verstummten, als die Tür der Gaststätte aufflog und zwölf mächtig wichtig aussehende Piraten hineinstolzierten. Eilig wurde ein großer Tisch in der Ecke freigeräumt und einige weitere Gruppen verließen fluchtartig das Wirtshaus. Kiara erkannte einige Gesichter von den Portraits aus dem Rathaus wieder. Wenn diese Gründer also wahrhaftig existierten-! Sie reckte ihren Kopf und versuchte einen blonden Haarschopf in der Gruppe auszumachen. Zu ihrem Entsetzen entdeckte sie ihn, inklusive dazugehörigem Piraten. Das Gesicht war älter als auf dem Gemälde, ein paar graue Strähnen woben sich mit in den Pferdeschwanz und sein blauer Mantel war abgetragen und matt. Aber er war es, ohne Zweifel. Kiara kauerte sich zermürbt auf ihren Hocker nieder.
 

„Da ist er, dein mächtiger Pirat“, murmelte Beckman zu ihr gebeugt.
 

Der ältere Pirat mit dem Dreispitz besah sich die beschauliche Runde mit musterndem Blick. Dann griff er nach einer Flasche und schlug sie dem nächstbesten Gast mit voller Wucht über den Schädel. Das Klirren war so laut, dass es einem Mark und Bein erschüttern ließ. Der Mann fiel bewusstlos von seinem Stuhl in die Scherben.
 

„Was ist eine Kneipe ohne Schlägerei? Und ihr wollt Piraten sein, dass ich nicht lache!“, donnerte Henry Avery und ließ den übergebliebenen Flaschenhals zu den restlichen Bruchstücken fallen.
 

Unbeeindruckt beobachtete die Rothaarbande das Spektakel. Sie fühlten sich weder angestachelt noch berufen irgendjemandem aufs Maul zu hauen, besonders nicht, wenn sie so verschroben dazu aufgefordert wurden. Der Kapitän ging sogar so weit, den Gründern kaum Beachtung zu schenken und frönte stattdessen ungeniert seinem Alkohol.
 

Andere Gäste versenkten ungelenk und angespannt die Blicke in ihre Getränke, während der Großteil der Piraten auf die Tische hämmerte und Stimmung machte.
 

„Na los! Wer traut sich gegen den großen Schwertmeister Guybrush Threepwood anzutreten?!“, stachelte das Oberhaupt die klägliche Runde an. Er schob den blonden Piraten nach vorne und setzte sich mit seinen zehn anderen Kumpanen an den extra für sie freigemachten Tisch. Der sogenannte Schwertmeister wirkte wenig motiviert, zog jedoch trotzdem den Säbel hervor.
 

Yasopp sah die junge Piratin vielsagend an. „Deine Chance“, meinte er leise.
 

„Auf gar keinen Fall“, lehnte sie ab und drehte sich ebenfalls wieder zum Tresen. Auf so ein Spiel konnte sie gut und gerne verzichten. Das war nicht das Treffen, was sie wollte.
 

Ein junger, aufgepumpter Pirat sprang mit gezückter Klinge dem angepriesenem Schwertmeister entgegen. Eindrucksvoll fuchtelte er mit der Schneide umher, ehe er einen gewaltigen Satz nach vorne und seinen ersten Angriff machte.
 

Kiara hob einen frischen Krug an und vergrub fast ihr ganzes Gesicht darin, um den Alkohol zu ihrem Mund zu bringen. Kaum hatte sie etwa fünf Schlucke gemacht und den Behälter mit einem hölzernen Klonk wieder auf dem Tresen abgesetzt, knallte auch der eben noch so engagierte junge Pirat mit einem dumpfen Knall direkt hinter ihr auf den Boden.
 

Einige ansässigen Piraten jubelten, applaudierten und schoben sich Geldsäckchen über den Tisch während der fast-ohnmächtige Titelanwärter aus der Fechtzone geschliffen wurde.
 

„Gar nicht schlecht“, kommentierte Shanks neben ihr, der entspannt mit dem Rücken am Tresen lehnte und zumindest den Kampf verfolgte hatte. Kiara fiel auf, dass er dabei seine Hand nicht unweit von seinem Schwert ruhen ließ.
 

„Ein weiterer Sieg für Threepwood!“, donnerte Avery über den Applaus. „Wer ist als nächstes dran?!“
 

„Na los! Wer traut sich? Wer ist Manns genug?“, stimmte nun auch Averys rechte Hand Thomas Tew mit ein.
 

Der blonde Gründer machte eine ausladende Geste mit seinem Schwert und sah erwartungsvoll in die Runde. „Ihr könnt es jedenfalls gerne versuchen, aber ein jeder hat vor meiner Schwertkunst kapituliert!“
 

„Das war ja auch leicht, dein Atem hat sie paralysiert“, erwiderte Kiara automatisch. Und erstarrte.
 

„Eine Herausforderin!“, grölte es vom Tisch der Gründer und spöttische Pfiffe mischten sich zum allgemeinen Gelächter der Stammgäste.
 

Kiara schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe um jegliche Flüche, die sich auf ihrer Zunge sammelten zu unterdrücken. Langsam wandte sie sich zum Gründer und atmete tief durch, bevor sie die Lider wieder öffnete und ihn langsam ansah.
 

„Hey, das ist doch die Kleine, die ständig nach dir gefragt hat!“, schallte es laut aus der Gründer-Fankurve.
 

Die Augenbrauen des Blonden wanderten interessiert nach oben. Auch ihre Kameraden sahen sie aufmerksam und mit großen Augen an.
 

„Das war keine Absicht“, nuschelte sie schüchtern.
 

Buh-Rufe hallten durch die Räumlichkeiten. "Große Klappe, nichts dahinter!"
 

"Zeig dem Frauenzimmer wo's langgeht, Threepwood!", kam es vom Tisch der Gründer.
 

Um ehrlich zu sein, hätte sich Kiara am liebsten mit dem ganzen anderen unzivilisierten Pack auf einmal angelegt, als mit dem einem Mann, der sie scheinbar tatsächlich erwartungsvoll ansah.
 

„Hey.“ Der Kapitän stupste sie sanft von der Seite an. Sein Lächeln war aufmunternd aber irgendwie beruhigend. „Zeig ihm, wo der Hammer hängt.“
 

Mit einem schweren Seufzen erhob sich Kiara von ihrem Hocker und trat hervor. So hatte sie sich das ganz und gar nicht vorgestellt. Mit Verwunderung musste sie feststellen, dass ihr Gegner sie ebenfalls aufmunternd anlächelte. Ein Feuer schien in seinen Augen, welches beim vorherigen Kampf komplett gefehlt hatte. Er wollte das hier.
 

Kiara umschloss den Griff ihres Säbels und zog es mit einer vollendeten Drehung um die eigene Achse aus der Halterung. Der Schwung verlieh dem darauffolgenden Aneinanderprallen der Klingen besonders viel Kraft. Das laute Klirren der Metalle ließ die Rufe des Publikums verstummen. Eine gebannte Stille legte sich über die Kneipe, als hätte sich ein Theatervorhang zur Eröffnung des ersten Aktes gelüftet. Der blonde Pirat trat in eine ordentliche Fechthaltung.
 

„Meine Klinge ist überall in der Karibik bekannt“, ließ Kiara möglichst ruhig verlauten. In Wahrheit schlug ihr bereits jetzt das Herz vor Aufregung bis in den Hals. Nach all der Zeit traf sie endlich auf jemanden, der ihre Beleidigungen zu schätzen wissen würde, statt sie nur dafür zu belächeln. Jemand, dem sie schon lange ihre Fähigkeiten beweisen wollte.
 

Überrascht zögerte ihr Gegner für den Hauch eines Momentes, doch dann zeigte sich ein wissendes Grinsen auf seinen Lippen. „Zu schade, dass dich hingegen überhaupt niemand kennt.“
 

Erneut prallten ihre Klingen aneinander, doch dieses Mal deutlich rhythmischer. Er vollführte eine Serie an Angriffen und trieb sie in einem Kreis durch die Fechtzone. Sie parierte jeden Schlag mit Leichtigkeit, als handelte es sich um eine einstudierte Choreografie.
 

„Ich sehe, du wurdest von Smirk unterrichtet“, stellte der Blonde fest, das Schwert für den Moment an ihrer Klinge ruhend. Die Schneiden wetzten aneinander, dass sich von dem Geräusch jedem Anwesenden die Nackenhaare aufstellten.
 

„Japp. Als ich anfing, meinte er, es hätte jemals nur einen Schüler gegeben, der schlechter war als ich. Und der hieß Threepwood.“ Dieses Mal versuchte Kiara die Offensive zu ergreifen und stieß den Säbel für einen tiefen Coupé hervor. Er konterte schneller, als sie gucken konnte und zwang sie zurück in die Verteidigung.
 

„Zu schade, dass du hingegen immer noch mit dem Schwert herumfuchtelst, wie mit einem Staubwedel.“ Sein Verstand war scharf und stand seiner Fechtkunst in nichts nach.
 

Kiara lachte gekünstelt auf. „Oho! Ich feudele, ich feudele.“
 

Als sich ein amüsiertes Lächeln in den Mundwinkeln ihres Gegners ausbreitete, konnte sie ebenfalls nicht anders, als tatsächlich herzlich zu grinsen. Sie hatte nicht gedacht, dass ihr dieser unerwartete Kampf so viel Spaß bereiten würde.
 

Der nächste seiner Angriffe sauste in Wadenhöhe auf sie zu. Die Bewegung vorausahnend sprang Kiara über die Klinge und parierte gerade rechtzeitig den nächsten Hieb, welcher auf ihren Hals abzielte. Dass sie kurz ins Wanken kam, versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen.
 

„Hey, willst du hören, wie ich drei Männer zugleich besiegte?“, fragte sie, das Grinsen etwas zittrig, während sie sich mit aller Kraft gegen seinen Schwertarm drückte.
 

Threepwood gähnte ausgiebig und hielt sich die freie Hand vor den Mund. „Willst du mich mit deinem Geschwafel ermüden?“ Er stieß sie von sich, doch verringerte sogleich erneut ihren Abstand mit wenigen Schritten. Wollte er ihre Beinarbeit testen? Das konnte er haben.
 

„Niemand wird mich je verlieren sehen“, verkündete der blonde Pirat, während er Kiara ähnlich einem ausladenden Walzer über die großzügige freie Fläche führte. Jeder Schritt wurde mit einem Aneinander-Klirren der Klingen begleitet und bot keine Gelegenheit für eine Atempause, geschweige denn Raum für Fehltritte.
 

Spöttisch lachte Kiara auf und sprang auf den nächstgelegenen Tisch, während das herannahende Schwert sie nur um Zentimeter verfehlte. „Du kannst so schnell davonlaufen?“
 

Eilig nahmen Yasopp und Lou ihre Getränke in die Hände, als Kiara vorbei an Kerzen und Geschirr zum anderen Ende wich, denn ihr Gegner folgte ihr motiviert auf die höhere Ebene. Erneut trafen sich ihre Klingen auf Augenhöhe. Das war ihr deutlich zu nah, wenn sie Pech hatte könnte der nächste Hieb ihr die Nase abschneiden.
 

Die junge Piratin riskierte einen Blick zur Seite und zeigte ablenkend an die gegenüberliegende Wand. „Sieh nur, hinter dir!“
 

Unbeeindruckt schüttelte Threepwood den Kopf. „Ja, ja, ich weiß. Ein Dreiköpfiger-Affe.“
 

Die Ablenkung war ihr zwar nicht geglückt, trotzdem konnte Kiara die Chance nutzen und sich mit einem weiteren Sprung vom Tisch wieder etwas Entfernung aufbauen. Egal, wohin sie auswich, der blonde Pirat war ihr stets auf den Fersen. Ihre wilde Jagd trieb sie rüber auf den Tresen. Das Schellen ihrer Klingen war taktvoll wie ein einstudiertes Lied. Beim nächsten Hieb ging die Hälfte der Alkoholvitrine zu Bruch. Kiara taumelte auf der schmalen Planke und trat ungelenk auf einen Vorhang, der halb über der Theke drapiert lag. Plötzlich verlor die Piratin den Halt, als das Stück Stoff ruckartig unter ihren Füßen weggezogen wurde. Mit einem Schrei landete sie in der restlichen Alkoholvitrine und stürzte mitsamt Brettern und Flaschen zu Boden. Die Gäste johlten ungehalten und klatschten amüsiert Beifall. Die Piraten der Rothaarbande sprangen hingegen alarmiert auf und auch Guybrush wandte sich entrüstet dem Störenfried zu. Gelassen ließ Thomas Tew den roten Vorhang aus seinen Händen gleiten und hob achselzuckend die Hände.
 

„Warum mischt du dich ein, Tew?“, blaffte der Blonde ihn an und hob drohend das Schwert in seine Richtung.
 

„Du hast lang genug mit ihr gespielt, jetzt gib ihr endlich den Rest“, tönte der hagere Mann unbeeindruckt.
 

Währenddessen waren Beanie und Snakes hinter den Tresen gesprungen, um Kiara aus dem Trümmerhaufen aufzuhelfen. Wirsch klopfte sie sich die Scherben aus dem Mantel und funkelte den Schummler ebenfalls boshaft an. Der Mistkerl war offenbar so niederträchtig, wie er aussah. Sein Blick traf auf ihren und er zeigte seine schwarzen, lückenhaften Zähne für ein hämisches Grinsen. Kiara knüppelte das Verlangen nieder, eine Flasche in seine Fresse zu schmeißen.
 

„Wirst du auf deine alten Tage etwa ungeduldig?“, höhnte Guybrush. Er steckte den Säbel weg und kam ebenfalls von der Theke runter. Schwungvoll öffnete er die Klappe durch die man sich Zutritt hinter die Bar verschaffte und holte die Piratin behutsam aus dem nassen, scharfkantigen Chaos heraus.
 

Der Rothaarige hingegen fixierte die Gründer weiterhin argwöhnisch. Es roch gehörig nach Ärger. Wenn sie vorhatten, irgendwelche weiteren Dummheiten zu begehen, müssten sie sich erst mit ihm anlegen. Seine Hand schloss sich fest um den Griff seines Schwertes. Er war jederzeit bereit es zu ziehen.
 

„Sag mal, Guybrush“, begann Avery langsam und erhob sich schwermütig von seinem Platz. Er hakte die Daumen in seine feuerrote Scherpe ein, welche mit Pistolen bestückt war. „Ist das nicht die Kleine, die unerlaubt in New Devon rumgeschlichen ist?“
 

Kiaras Herz rutschte ihr in die Hose. Sie war der festen Überzeugung gewesen auf ihrem Streifzug unentdeckt geblieben zu sein. Unsicher trat sie näher an ihren Kapitän. Averys Finger waren für ihren Geschmack zu nah an einer der Knarren und die warnenden Worte des Stadtschreibers hallten in ihren Ohren wider. Auch der Rest der Crew bäumte sich auf, für den Fall einer Eskalation gewappnet.
 

„N-nun. Das…“, stotterte sie, ohne Aussicht auf irgendwelche sinnvollen Ausflüchte.
 

„Ich hab‘ sie eingeladen“, warf der Blonde ohne mit der Wimper zu zucken ein.
 

„Du hast was?“, lachte Tew spöttisch auf. „Als ob! Du kriegst doch keinen hoch, wenn sie nicht rothaarig ist und Elaine heißt!“
 

Erneut brachen die Gäste in jubelndem Beifall aus. Lediglich die anderen Gründer am Tisch hielten sich bedeckter, als wussten sie nicht so genau, ob sie zustimmen sollten oder es lieber sein ließen. Eine unangenehme Stimmung legte sich über das Kneipenzimmer.
 

Ein müdes Lächeln formte sich auf Averys Lippen. „Guybrush, Guybrush“, tadelte er kopfschüttelnd. „Ich habe besseres von dir erwartet.“ Er beäugte die junge Piratin und das verschlagene Funkeln in seinen Augen gefiel ihr gar nicht. Aber er machte keine Anstalten ihr eine Kugel Blei durch den Kopf zu jagen. „Aber wenn sie extra zu deiner Belustigung gekommen ist.“ Er ließ sich jedes Wort auf der Zunge zergehen, ehe er in tiefes, donnerndes Gelächter ausbrach.
 

„Lasst uns verschwinden“, murmelte Kiara, deren Kopf so heiß und rot angelaufen war, dass sie ihrem Kapitän damit Konkurrenz machte. Sie knirschte mit den Zähnen, aber versuchte sich selbst zu belehren, dass es besser war, nur beleidigt, statt getötet zu werden.
 

„Ich bringe euch raus“, stimmte Guybrush zu. Bedacht legte er eine Hand auf Kiaras Schulter und drückte sie in Richtung der Gaststättentür. Je eher er die Situation auflösen konnte, desto besser.
 

Tew grinste hämisch und warf noch hinterher: „Gutes Gelingen noch mit der kleinen Piratenschlampe. Aber denk an unser Treffen nachher.“
 

Beinahe wäre die Piratin herumgewirbelt und dem schmierigen Gründeraffen an die Gurgel gesprungen, hätte Guybrush sie nicht fester gepackt und mit Nachdruck hinaus buchsiert. Sie stellte sich als ein solches Leichtgewicht heraus, er könnte sie sich ohne Probleme unter den Arm klemmen, sollte sie zu aufmüpfig werden und sich wehren. Glücklicherweise gab sie nach. Jedoch hörte er einige unverkennbare Flüche aus ihrem Mund zischen.
 

„Ignorier den Kerl, er ist es nicht wert“, riet Shanks, wenn auch mürrisch, der mit seiner Mannschaft ebenfalls die Chance nutzte und die Kneipe schnurstracks verließ.
 

„Das war erniedrigend!“, fauchte Kiara und wand sich ruckartig aus dem Griff an ihrer Schulter.
 

„Tut mir leid, dass du das hören musstest“, setzte Guybrush nach. „Irgendwas musste ich sagen, bevor Avery auf die Idee kommt, dich abzuknallen.“
 

Der Rote schnaufte wütend. „Das hätte er sich mal trauen sollen.“ Er war bereit gewesen, den Laden in Schutt und Asche zu legen, wenn sie ihr auch nur noch ein Haar gekrümmt hätten.
 

Die kühle Nachtluft peitschte in ihre Gesichter und zog an ihren Kleidern. Der Wind hatte sich gedreht und mit ihm die Atmosphäre des augenscheinlichen Paradieses. Die Straßen, die vorher noch warm und belebt waren, zeigten sich nun leer und karg. Es war zu ruhig.
 

„Ihr müsst noch heute Nacht Libertalia verlassen“, sprach Guybrush an die Piratencrew gewandt.
 

„Warum? Was ist hier los?“, fragte Yasopp skeptisch, dem die fehlenden Bewohner und Schiffe ebenfalls suspekt vorkamen.
 

„Eine Gruppe Rebellen hat einen Aufstand geplant. Sie werden heute Nacht die Stadt stürmen. Wer nicht daran beteiligt sein möchte sollte besser verschwinden“, erklärte er. „Ich werde schauen, ob ich noch irgendetwas verhindern kann.“
 

Kiara sah ihn fassungslos an. „Was gibt es da noch großartig zu verhindern? Willst du dich vor den wütenden Mob stellen und sie bitten doch lieber nach Hause zu gehen?“
 

Er schüttelte den Kopf. „Sie wollen ihre Schätze zurück. Vielleicht kann ich Avery überreden, die Schatzkammern zu öffnen, damit sich jeder seinen Anteil herausnehmen kann.“
 

„Pochst du ernsthaft auf Vernunft? Bei diesen Kakerlaken?! Den würde ich nicht mal so weit trauen, wie ich sie werfen kann!“
 

Guybrush legte erneut beschwichtigend die Hände an ihre Schultern um sie zu beruhigen. „Tue ich auch nicht.“
 

Sie sah ihn mit Nachdruck an, brachte aber zwischen den zusammengepressten Lippen kein Wort mehr hervor.
 

„Man baut nicht über zwölf Jahre eine Kolonie auf, ohne dabei das ein oder andere zu lernen. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich bin schließlich Guybrush Threepwood, mächtiger Pirat.“ Achtsam fischte er aus einer seiner schier bodenlosen Manteltaschen ein Medaillon hervor. Er drückte es der Piratin in die Hand und schloss ihre Finger fest um das runde Edelmetall. „Unser Beleidigungsfechten hat mir viel Spaß gemacht. Behalt das hier als Dank.“ Etwas ungelenk richtete er ihr noch den Mantel und schmunzelte insgeheim über den Fakt, dass er genauso blau war wie der, den er seit über zwanzig Jahren trug. Er räusperte sich. „Hat mich gefreut dich getroffen zu haben, Kiara.“
 

Der Kapitän zog eine Augenbraue hoch.
 

Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Guybrush auch vom Rest der Bande. „Ich muss dann los. Gute Reise!“ Und mit diesen Worten drehte sich der mächtige Pirat auf den Absätzen um und eilte die menschenleeren Straßen von Libertalia hinab, bis er in die nächste Gasse abbog und verschwand.
 

Yasopp sah dem Blonden hinterher. Misstrauisch verschränkte er die Arme. „Du hast ihm deinen Namen doch nie verraten, oder? Woher weiß er, wie du heißt?“
 

Kiara griff das Medaillon fester in ihren Händen und sah ebenfalls zu dem Fleck an dem der Pirat gerade verschwunden war, als könnte er es sich vielleicht doch noch einmal anders überlegen und zurückkehren.
 

„Er weiß es, weil er mir den Namen gegeben hat.“
 

Eine gespannte Stille legte sich über die Gruppe. Die verblüffte, ungeteilte Aufmerksamkeit welche der Piratin zuteilwurde, war ihr sichtlich unangenehm. Offenbar erwartete man nach dieser überraschenden Enthüllung wenigstens noch den Ansatz einer Erklärung.
 

„Ich dachte, du wärst einfach nur sowas wie sein größter Fan!“, durchbrach Yasopp schließlich entrüstet das Schweigen.
 

Kiara rollte leicht mit den Augen. „Das habe ich wohl bemerkt.“ Natürlich hatte sie die Worte ‚Guybrush Threepwood‘ und ‚mein Vater‘ absichtlich niemals im selben Zusammenhang verwendet. Der eine war eine Person, die sie nur aus Erzählungen kannte – je nach Quelle egozentrisch aufgebauscht, oder welche die nicht ganz so glorreiche Wahrheiten offenbarten – und der andere, eine Person an die sie nur vage Erinnerungen hatte. Sie wollte diese Chance nutzen und sich ihr eigenes Bild von dem selbsternannten mächtigen Piraten machen. Und sie war immer noch unsicher, was sie von ihm halten sollte.
 

Vorsichtig lockerte sie den Griff ihrer Hand, in welche Guybrush das Medaillon gedrückt hatte. Etwas unbeholfen friemelte sie mit den Fingerspitzen am Verschluss um es zu öffnen. Das Innere verbarg ein winziges eingerahmte Foto, welches vor langer Zeit geschossen wurde. Es zeigte ein junges Paar am Tag ihrer Hochzeit. Die Braut strahlte ihr entgegen, die rötlichen Haare wehten im Wind und ihre zierliche Figur wurde vom blonden Bräutigam mit stolz geschwellter Brust an sich gedrückt. Kiara presste die Lippen zusammen. Ehe jemand anderes einen Blick auf das Bild werfen konnte, klappte sie den Anhänger wieder zu und vergrub ihn tief in ihrer Manteltasche.
 

„Von wegen ‚keine Sorgen‘ machen. Er weiß genau, dass ihn die Aktion ins Grab bringen kann. Mal wieder!“, zischte sie zwischen den Zähnen hindurch.
 

Ein ohrenbetäubender Knall aus der Stadtmitte riss sie aus ihren Gedanken. Es folgte lautes, angestacheltes Brüllen, welches den Lärm von zerschellendem Glas und den Krach allgemeiner Zerstörungswut beinahe gänzlich übertönte.
 

„Das dürfte der versprochene Aufstand sein“, murmelte Beckman, sein Blick konzentriert in der Richtung aus welcher die Furore erklangen gerichtet.
 

„Den Zutritt zur Schatzkammer werden sie sich wohl ganz alleine verschaffen“, pflichtete Yasopp bei.
 

„Dann gibt es für uns hier nichts weiter zu tun. Wir sollten aufbrechen“, beschloss der Kapitän bestimmt.
 

Zustimmendes Murren ging durch die Runde. Lediglich die junge Piratin sah unsicher zu ihm auf. Natürlich hatte er recht, aber – nein, sie konnte ihm nicht widersprechen. Die Bande setzte sich in Bewegung um Libertalia zu verlassen und zu ihrem geliehenen Schoner zurückzukehren. Während ihres Aufenthalts hatten sie einen ungefährlicheren Pfad gefunden, welcher sie um die Insel herumführte. Es sollte sich als gefährlich genug herausstellen, die Strömungen im Dunkeln zu durchqueren, da schien es unnötig den Schwierigkeitsgrad vorsätzlich noch einmal zu erhöhen, um überhaupt das Schiff zu erreichen. Im stockfinsteren Dschungel an Treibsandgruben vorbei zu manövrieren, konnten sie sich definitiv sparen.
 

Der Pfad um die Insel herum führte am höchsten Berg entlang. Er bot eine fantastische Aussicht auf den sternenklaren Himmel und dessen glitzernde Spiegelung im Meer. Die Atmosphäre war einladend genug, um den Kopf auf andere Gedanken zu bringen, sich einfach in dieser Weite zu verlieren – doch dann riskierte Kiara einen Blick zurück und der Anblick, welcher sich ihr bot, ging ihr durch Mark und Bein. Dort, in der Ferne, wo sie vor kaum einer Stunde noch gestanden hatten, erkannte sie lodernden Flammen und schwarze Rauchschwaden, welche aus der Stadt emporstoben. Erstarrt blieb sie stehen, unfähig sich abzuwenden. In den Fenstern der kürzlich noch so sauberen Fachwerkhäuser flackerte orangegelbes Feuer. Wo sie auch hinsah, alle Häuser waren hell erleuchtet. Noch nie hatte sie so etwas gesehen.
 

Eine Hand legte sich vertrauensvoll auf ihre Schulter. „Es sind halt immer noch Piraten“, sagte Shanks ruhig.
 

„Hätten wir uns mit ihnen angelegt, wäre es vielleicht nicht dazu kommen“, murmelte Kiara. Sie fühlte sich, als würde das Gewicht eines gigantischen Felsens auf ihre Brust drücken.
 

„Dazu hatten wir keinen Grund“, entgegnete er langsam. „Es ist nicht unsere Aufgabe, Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Wir sind genauso Piraten wie sie.“
 

Kiara ließ den Blick sinken. Wie verquer konnte man eine Kolonie führen, sodass sie auf ein solches Handeln zurückgreifen mussten? Am Rande des Abhangs unter ihr erhoben sich die geschützten Mauern von New Devon. Noch hatten die brandschatzenden Piraten das Gründerviertel nicht erreicht.
 

„Er hat zumindest dafür gesorgt, dass ich nicht erschossen werde. Ich… will ihm eigentlich nichts schuldig sein.“
 

„Das bist du nicht.“ Shanks löste seine Hand von ihrer Schulter. „Komm weiter. Wir sollten das Schiff erreichen, bevor das Feuer auf die Bäume überschlägt.“ Er wollte sich umdrehen und ihren Weg fortsetzen, als er spürte, wie plötzlich etwas an seinem Hemd zog. Shanks sah hinab und bemerkte, dass Kiara sich an ihm festkrallte. Zwar brachte sie kein Wort mehr hervor, doch ihre Augen sprachen Bände, auch wenn sie ihn nicht direkt ansah. Er blies den Atem aus und seine Lippen spannten sich zu einem winzigen, nachgiebigen Lächeln. „Leute, was meint ihr? Das da unten sind doch zweifelsohne Piraten, oder nicht?“, ließ er zum Rest seiner Crew verlauten.
 

Die Männer nickten mehr oder weniger einstimmig und sahen ihren Kapitän aufmerksam an.
 

„Dann müssen wir doch nicht leer ausgehen. Schließlich gibt es hier noch einen Schatz, den man ihnen wegnehmen kann.“

Für Gott und Libertalia

Zitternd presste Guybrush die linke Hand an die vor Schmerz pochende Seite. Eine warme Nässe benetzte den Stoff seines Hemdes. Mit schwindender Kraft zog er sich zur Wand des großen Festsaales. Er könnte sich am Fenstersims hochziehen, um wieder auf die Beine zu kommen, welche ihn so schamlos im Stich gelassen hatten. Er musste sich lediglich eine kleine Pause gönnen, eher er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, denn jede Bewegung verlangte zu viel kostbare Energie und mit jeder verstrichenen Minute wurde ihm zunehmend schwindeliger. Unter Stöhnen hievte sich Guybrush in eine Sitzposition und lehnte den Rücken an das kalte Gestein. Sein Blick wanderte über den Ort des Geschehens. Vor noch einer Stunde hatten sich die zwölf Gründer am großen Mahagonitisch niedergelassen und rege über den weiteren Verlauf der Kolonie diskutiert.
 

„Vertrauen ist wichtig“, hatte Henry Avery betont und bedeutsam in die Runde gesehen. „Daher sollten wir den Bürgern entgegenkommen und ihnen zeigen, dass es nichts zu befürchten gibt.“
 

Sie waren sich alle einig gewesen, dass man das Steuer noch herumreißen könnte, wenn sie den Forderungen der Rebellen nachkämen und die Schätze, gemäß ihrer Einzahlung, herausgeben würden. Die oberste Priorität war es, die Auseinandersetzung friedlich zu beenden. Das pöbelnde Verhalten in der Kneipe war eine Sache; Eine Kolonie zu führen erforderte hingegen diplomatisches Handeln, ein offenes Ohr und den Willen Kompromisse einzugehen. So hatten sie in den letzten zehn Jahren jedes politische Problem auf der Insel lösen können. Libertalia war ein sicherer Hafen für alle Raubeine, die zu ihren Pforten fanden.
 

Guybrush versuchte durchzuatmen. Ein zunehmend stechender Schmerz ließ ihn stoppen und er biss die Zähne zusammen. Ein prüfender Blick hinunter zu seiner Hand bestätigte, was er eh schon wusste. Blut floss von seiner Handfläche und tropfte in seinen Schoß. Eilig presste er sie erneut an die rot befleckte Stelle an seinem Hemd. Dumpf konnte er aus einem Nebenraum laute Stimmen wahrnehmen. Es klang nach einem Streit. Plötzlich wurde es wieder ruhig. Guybrush horchte auf. Er hörte Tew zögerlich lachen. Weitere zu einem unverständlichen Brummen gedämpfte Worte drangen durch die Wand. Dann fielen mehrere Schüsse. Totenstille legte sich wie ein Schleier über das Gründerhaus.
 

„Für Gott und Libertalia!“, toasteten die zwölf Gründer im Chor und erhoben ihre silbernen Kelche. Sie stießen auf ihre Einigung an und leerten die Behälter in wenigen Zügen. Doch der edle, teure Brandwein schmeckte anders als gewöhnlich. Noch bevor einer der Gründer realisieren konnte, was dies zu bedeuten hatte, stockte bereits dem ersten Piraten die Luft. Acht weitere versuchten sich die Krägen zu lockern, nach Atem zu schnappen, doch auch sie husteten und röchelten bald. In ihrer Verzweiflung krallten die Opfer sich in das Holz des Tisches und hinterließen blutige Kratzspuren, sie schlugen das Geschirr zu Boden und krümmten sich auf ihren Stühlen. In ihren letzten Sekunden war jeder mit sich selbst beschäftigt. Fluchte, flehte, betete. Seelenruhig beobachteten Avery und Tew wie ihre Kameraden einer nach dem anderen verendeten. Bis auf einen.

Seit Jahren tauschte Guybrush den Alkohol in seinem Kelch stets mit einem großzügigen Schluck Beinahe-Grog aus. Der Rachenputzer den Avery an alle verteilte, hatte ihm bei ihrer ersten Versammlung das Bewusstsein gekostet und er sah es nicht ein als Schwächling dazustehen, der keinen Hochprozentigen vertrug. Dass es ihm einmal das Leben retten würde, hätte er nicht gedacht. Wenn sie ihn hintergehen wollten, nahm er an, dass sie ihm direkt mit einem Messer in den Rücken stechen würden. Naja. Oder eine Kugel verpassten.
 

„Guybrush, Guybrush“, tadelte Avery enttäuscht. “Wo ist dein Vertrauen geblieben?“
 

Ein mächtiger Pirat vertraute niemandem außer sich selbst. Er war im Leben oft genug enttäuscht worden. Von seinen Crews, die binnen kürzester Zeit anfingen zu meutern, und sogar von seiner Geliebten, die seinen größten Erfolg für sich selbst beanspruchte. Doch ihr konnte er niemals böse sein. Sie war die Liebe seines Lebens. Das hübscheste Gesicht, das er je sah. Eine Frau mit Charakter, die sich durchzusetzen wusste. Mit einem Seufzen schloss Guybrush die Augen. Die Lider wurden ihm immer schwerer und mit jedem rasselnden Atemzug sank er mehr in sich zusammen. Oh, wie er seine süße Geliebte vermisste. War er dazu verdammt auf dieser Insel zu sterben, ohne ihr Gesicht noch ein einziges Mal wiederzusehen? Ohne ihre Stimme noch ein einziges Mal zu hören? Er konnte sie in seiner Erinnerung seinen Namen rufen hören. Der wundervolle Klang ihrer bezaubernden Stimme hallte in seinen Ohren.
 

„Guybrush!“
 

Verwirrt runzelte er die Stirn. Er konnte sie tatsächlich rufen hören. Sollte sein Vorstellungsvermögen in seinen letzten Moment derart aufblühen? Vorsichtig blinzelte er die Augen wieder auf, aber das Sichtfeld war zu verschwommen um mehr als Schemen erkennen zu können. Weiche Hände legten sich an seine Wangen und hoben seinen Kopf an.
 

„Elaine?“, fragte er. Seine eigene Stimme war rau und leise, als könnte sie jeden Augenblick versagen.
 

„Nicht ganz. Aber wenn du sie wiedersehen willst, musst du gefälligst durchhalten!“, wies ihn die Stimme forsch an.
 

Er blinzelte erneut und erkannte jetzt die brünette Gestalt, die vor ihm kniete und sich nun bemühte seine Wunde zu verarzten.
 

„Ich hab‘ euch doch gesa-“, seine Belehrung fand ein jähes Ende, als er versuchte sich aufzusetzen und einen weiteren Schmerzschrei unterdrücken musste.
 

„Spar dir deine Kräfte. Und wehe du stirbst!“, funkelte ihn die Piratin vorwurfsvoll durch meerblaue Augen an.
 

Im hinteren Teil des Festsaals erkannte Guybrush den Rest ihrer Bande umherlaufen. Sie hatten eine Tür zu einem Raum geöffnet, von dem er sich nicht bewusst war, dass er existierte. „Was macht ihr hier?“, ächzte er.
 

„Na, was wohl? Plündern. Die Schatzkammer ist leer, also kam uns der Einfall, dass das ganze Gold wohl hier gelagert wird.“ Sie knotete den provisorischen Verband zusammen. Guybrush verzog erneut das Gesicht.
 

„Dafür seid ihr zurückgekommen?“
 

Kiara hob die Brauen und sah ihn nüchtern an. Ihr Blick offenbarte, dass es sich absolut nicht um den wahren Grund für ihr Aufkreuzen handelte. Sie wischte sich die blutbefleckten Hände an der Hose ab und machte Anstalten aufzustehen.
 

„Boss, wir haben so viel wie wir tragen können“, verkündete einer der Piraten, bis zur Nasenspitze bepackt mit Truhen und Säcken voller Gold und Juwelen. Trotzdem hielt er in einer Hand eine massive, angebissene Fleischkeule.
 

Mit einer fließenden Bewegung schlang sich Kiara seinen rechten Arm über die Schulter und half ihm auf die Beine. „Ich auch“, presste sie hervor, nicht gänzlich in der Lage das Gewicht eines mächtigen Piraten zu stemmen. „Kannst du laufen?“ Kiara lächelte entschuldigend. Sie war einen Kopf kleiner als er und daher als Stütze eher unqualifiziert. Trotzdem hielt der Arm an seinen Schulterblättern ihn wacker im Gleichgewicht, solange sie ihn an sich gedrückt hielt.
 

Guybrush richtete sich mit Mühe auf und nickte zuversichtlich, auch wenn sein Lächeln wankte. „Kein Problem.“ Er fühlte wie neue Kraft durch seine Glieder pulsierte. Nicht nur die Verschnaufpause hatte ihm gutgetan, auch die Hoffnung seine geliebte Elaine wiederzusehen bestärkte ihn. Kiara hatte recht, für sie musste er durchhalten! Für einen Moment stockte Guybrush und sah erneut zur Piratin neben sich. Nicht nur für Elaine musste er durchhalten.
 

„Tja, jetzt wird es allerdings schwierig zum Schiff zu gelangen. Der Dschungel brennt inzwischen“, informierte der Mann mit dem langen schwarzen Pferdeschwanz und der Zigarette im Mund. Er stand an der Tür Wache und beobachtete das Geschehen außerhalb der Mauern von New Devon.
 

Der Kapitän presste die Lippen zu einer schmalen Linie. „Das hatte ich bereits befürchtet. Liegen im Hafen noch Schiffe?“
 

„Hinter New Devon liegt eine Bucht, da ankert meins“, ließ Guybrush verlauten. „Es gibt einen Tunnel der direkt dorthin führt.“
 

Die Screaming Narwhal war ein besonderes Schiff. Guybrush war nun seit über fünfzehn Jahren ihr Kapitän und in dieser Zeit hatte sie ihm stets treue Dienste erwiesen. Sie war vielleicht nicht das imposanteste oder nobelste Schiff, das die Welt je gesehen hatte, jedoch vermutlich die bemerkenswerteste aller Karavellen. Das Segel war aus den verschiedensten Stofffetzen genäht, der Mast bestand aus einem Gummibaumstamm, jegliche Verzierungen waren krumm und schief und das zusammengeklöppelte Steuerrad enthielt unter anderem ein Bowling Pin, eine Weinflasche und ein Holzbein.
 

„Wat‘n ditte, Frankensteins Schiff, oda watt?!“, stieß einer der Männer fassungslos aus. Zweifelnd begutachtete er die ungleichmäßig geschliffenen Planken des Decks, als befürchtete er, dass ein falscher Tritt ihn geradewegs ins Lager durchbrechen ließ.
 

„Das ist unsere Fahrkarte hier raus, also maul nicht rum!“, entgegnete ein anderer, dessen Stirnband den Namen ‘Yasopp‘ verkündete. Sie hatten die kostbare Fracht an Bord gebracht und die Planke eingezogen. Überrascht stellten die Seeleute fest, dass sie vergeblich nach einem Anker suchten, den sie lichten konnten. Der Rest einer verrosteten schweren Kette baumelte sinnlos an der Bordwand.
 

„Das ist eine lustige Geschichte. Ich hab‘ sie damals auf Flotsam Island gewonnen, als ich-“
 

Der Vize blies ungerührt einen Schwall Rauch aus dem Mundwinkel. „Vielleicht sparst du dir das lieber für später auf, bis wir Kurs auf Sabaody gesetzt haben“, unterbrach er den mächtigen Piraten in seiner Erzählung.
 

„Oh, richtig. Die Strömungen haben’s in sich.“ Mit diesen Worten erklomm Guybrush die Stufen zur Kommandobrücke. Er hatte in den letzten Jahren genug über diese raue See und das Navigieren gelernt, um so gut wie jedes Schiff manövrieren zu können. Und auf diesem hier hatte er quasi Heimvorteil. Verheißungsvoll nahm er das Steuerrad in die Hände.
 

„Solltest du dich nicht besser ausruhen?“, rief Kiara entrüstet zu ihm hinauf.
 

„Ich kann schlafen, wenn ich tot bin!“ Wenn er es sich genauer überlegte, jedoch… „Oder später heute Nacht.“ Mit einem kräftigen Tritt gegen die Reling löste er das Seil, welches das Segel gerefft hielt. Schwungvoll entfaltete es sich und zeigte die volle Pracht der bunt gemusterten Stoffflicken.
 

Der Anblick war wenig vertrauenserweckend und unten an Deck rieb sich Kiara die Schläfen in einem Anflug von Migräne. „Und ich dachte die alte Schaluppe von Captain Dread wäre abgetakelt gewesen“, nuschelte sie ungläubig.
 

Der kühle Wind war auf ihrer Seite und wölbte die Laken mit voller Spannkraft, sodass sich das Frankenstein-artige Schiff allmählich in Bewegung setzte.
 

„Ett lebt!“, rief der Pirat mit der Mütze unheilvoll in die Bucht hinaus.
 

Stück für Stück ließen sie das lodernde Libertalia hinter sich, während der Ruf noch an der steilen Küste widerhallte. Die eine Hand fest am Steuer, nutzte Guybrush die Gelegenheit solange sie sich noch im ruhigen Gewässer befanden, mit der anderen Hand in den Untiefen seiner Manteltasche zu wühlen. Irgendwo zwischen seiner Ansammlung an Ramsch und Kleinigkeiten sollte sich etwas befinden, das ihre Reise erleichtern sollte. Geschickt schlängelten sich seine Finger durch den Inhalt seiner Tasche. Ein vorläufiger Büchereiausweis, ein Magnet, ein Flachmann mit Beinahe-Grog, Wachslippen, eine Dose Holzbeinpolitur – aha! Seine Hand umschloss eine hölzerne Fassung, welche einer Sanduhr ähnelte. Triumphal zog Guybrush einen Eternal Pose hervor, welcher die Beschriftung ‚Sabaody Archipel‘ eingraviert hatte. Die in eine gläserne Kugel eingelassene Kompassnadel zitterte mit Bestimmung nach Backbord. Gezielt drehte Guybrush das Steuerrad und setzte Kurs auf die Strömung, welche sie auf dem schnellsten Weg zum nächsten Festland bringen sollte.
 

Die Holzplanken der gewundenen Treppe knarzten leise, während sie unter dem Gewicht des Rothaarigen leicht nachgaben. Mit einem Auge auf die tückische See gesellte er sich zum mächtigen Piraten auf die Brücke. „Du scheinst dich gut auszukennen“, kommentierte er beiläufig.
 

Guybrush nickte. „Ich bin in den letzten Jahren oft genug zum Archipel gesegelt. Da lebt ein Bekannter von mir. Wir treffen uns in einer Bar und tauschen Piratengeschichten aus. Dabei versuchen wir uns ständig gegenseitig zu übertreffen. Ich muss schon zugeben, seine Himmelsinseln können es mit meiner Verfluchten Klinge des Kaflu aufnehmen.“
 

Der Kapitän hob interessiert die Augenbrauen. Ein wissendes Schmunzeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Ich glaube, ich kenne deinen Bekannten.“ Gelassen lehnte er sich mit dem Schiff zur Seite, als Guybrush das Ruder hart herumriss um auf eine andere Meeresströmung zu wechseln. Unten stolperten Kiara zwei der anderen Crewmitglieder unbeholfen umher. Die Hand des Rothaarigen wanderte in den schwarzen Mantel den er trug und zog ein angegilbtes, sich wölbendes Papier hervor. „Ich nehme an, dieses G20 sollten deine Initialen darstellen?“, fragte er.
 

Guybrush erlaubte sich den Blick vom Horizont abzuwenden und das Papier eingehend zu betrachten. „Hey, das ist die Karte nach Libertalia, die ich vor Ewigkeiten angefertigt habe! Damit habt ihr zur Insel gefunden?“ Er lachte auf. „Ich bin beeindruckt, dass ihr mein Rätsel lösen konntet.“
 

„Nun, eigentlich war Kiara diejenige, die es gelöst hat. Im Alleingang und in Rekordzeit“, räumte der Rothaarige ein.
 

Mit einem zufriedenen Lächeln beobachtete Guybrush die junge Piratin, welche am Bug mit ihrem Mützentragenden Kameraden über die vaycaylianische Wetterfahne philosophierte. Stolz erfüllte seine Brust. Und Sauerstoff, den er inbrünstig in sich aufsog. Jedenfalls bis seine heimtückische Wunde erneut mit einem Schwall aus Schmerz auf sich aufmerksam machte. Er versuchte seinen Zustand mit einem halbwegs musikalischen Summen zu überspielen. „Und du bist also ihr…?“, setzte er ablenkend an und musterte den Piraten aus den Augenwinkeln.
 

„Käpt’n“, entgegnete der Angesprochene sachlich.
 

„Oh, na dann! Sehr erfreut, Käpt’n –“ Er hielt inne. Zwar kam ihm sein Gesicht schon seit der Auseinandersetzung in der Kneipe irgendwie vertraut vor, jedoch konnte er es einfach nicht zuordnen.
 

„Shanks. Die Freude ist ganz meinerseits.“
 

Da ging Guybrush ein Licht auf. „Ha! Ich wusste doch, dass du mir bekannt vorkommst! Du warst einer der Super Rookies damals auf Sabaody! Ich hab‘ gehört, ihr hättet ein gewaltiges Chaos angerichtet.“ Er erinnerte sich vage daran, dass angeblich ein eskalierender Schwertkampf mit einem anderen Super Rookie für hellen Aufruhr gesorgt hatte. Er selbst war einige Tage später für eine kleine Tour auf die Insel gekommen und konnte die Überbleibsel des Ausmaßes begutachten. Die Tageszeitungen und zahlreichen Aushänge hatten seinen Steckbrief über den gesamten Ort verteilt. Ob dieser Kerl einen ordentlichen Umgang für seine Tochter darstellte? „Ehrlich gesagt, hätte ich erwartet, dass sie sich ihre eigene Crew sucht.“
 

Shanks schmunzelte leise. „Sie wollte keine Erfahrung mit Meuterern machen, meinte sie mal.“
 

Die Sorge konnte Guybrush sehr gut nachvollziehen.
 

„Außerdem hätten sie mich zuhause eh nur ausgelacht, wenn ich da Leute zum Anheuern gesucht hätte“, ertönte plötzlich Kiaras Stimme hinter ihnen und ließ den mächtigen Piraten erschrocken zusammenfahren.
 

„Yikes! Schleich dich doch nicht so an.“
 

Sie unterdrückte ein Lachen. „Entschuldige. Hey, wir haben das Bett in der Kabine fertig gemacht. Du legst dich hin, wenn die See wieder ruhig ist, ja?“ Zwar klang sie entgegenkommend und hilfsbereit, doch ihre Augen sahen ihn eindringlich und auffordernd an. Es war schwer bei diesem Gesicht Nein zu sagen.
 

„Keine Sorge, Kapitän Threepwood, wir kriegen den Kahn schon geschaukelt“, pflichtete auch der Rothaarige mit bei.
 

Nichtsdestotrotz Guybrush winkte ab. „Macht euch keine Umstände. Ich hab‘ das hier alles voll im Griff.“
 

„Was du vor allen Dingen hast, ist immer noch eine klaffende Schusswunde. Dass du überhaupt noch aufrecht stehst ist ein Wunder!“, zeterte Kiara. Von aufrecht konnte kaum noch die Rede sein, er hatte das Gefühl sich inzwischen am Steuerrad festzuklammern, statt es zum Lenken zu verwenden. Doch er wollte sich nichts anmerken lassen, also lächelte er tapfer weiter. Mit Nachdruck setzte sie hinzu: „Übertreib es bitte nicht, sonst führt dich die Reise doch noch zum Scheideweg.“
 

„Tatsächlich war ich da schon“, bemerkte Guybrush, so munter, wie es ihm gelang.
 

„Hm??“, machte Kiara ungläubig.
 

„Es hat damit angefangen, dass so ein verrückter Wissenschaftler meine Hand abschneiden wollte, weil sie von Voodoo-Pocken besessen war.“
 

Die Crew des Roten Shanks wurde hellhörig. „Voodoo-Pocken?“, wiederholte der Mann, dessen Name wohl Yasopp lautete. „Und ich dachte, Kiara hätte sich diese übertriebenen Geschichten nur ausgedacht.“
 

Guybrush blickte verwirrt zwischen den Piraten umher. „Welche Geschichten?“
 

Verlegen fuhr sich die Angesprochene durch die Haare und fand plötzlich reges Interesse daran, durch die brünetten Strähnen zu kämmen, während sie versuchte Sternzeichen am Himmel zu erkennen. „Och, öhm. Die üblichen halt. Wie du LeChuck besiegt und Big Whoop gefunden hast.“
 

Ein heiteres Lachen wanderte durch die Crew. „Ja. Wie war das? Jetzt bist du dran, du klitschiger Klumpen Karpfen-Köder!“, imitierte der Pirat mit einem Schlangen-Tattoo am Oberarm.
 

„Ick verkoofe diese feinen Kleider in Pink, wa?“, stimmte sein Kumpel mit ein.
 

Ein beinahe tonloses Lachen entfloh der Kehle des mächtigen Piraten. „Ha! Dabei war das erst der Anfang meiner Karriere!“ Er schob sich vom Steuer weg und griff beherzt mit beiden Händen an den dunkelroten Besatz seines blauen Mantels. Selbstgefällig sah er in die Runde. „Ich hab‘ noch Tonnen an piratigen Geschichten auf Lager!“, verkündete er und wollte gerade ausholen, als er bemerkte, dass er deutlich mehr schwankte, als der Wellengang im vorgab. Mit einem Mal wurde ihm furchtbar schwindelig und flau im Magen. Sein Kopf verlor jeglichen Gedanken, die Sicht verschwamm und das letzte was er mitbekam war, wie sich hektisch Arme um ihn schlangen und seinen Fall zu Boden abbremsten.

Zweifel und Zuversicht

Heitere Musik und lautes, fröhliches Stimmengewirr schallten dumpf durch die Mauern der Rip-Off Bar. Die Kneipe schien gut besucht, obwohl das Schild an der Tür verkündete, dass die Gastronomie heute geschlossen war. Geschlossen war vielleicht nicht das passende Wort. Vielmehr handelte es sich bei der illustren Runde um eine Geschlossene Gesellschaft.
 

Die Rückkehr des Libertalia-Sonderkommandos wurde mit einem ordentlichen Festmahl gebürtig gefeiert. Nicht nur hatten die Piraten Beute gemacht und konnten ihr Repertoire um eine neue spannende Geschichte erweitern; Der Gründervater, welchen sie mitsamt seiner sonderbaren Karavelle mitgebracht hatten, war ebenfalls wieder einigermaßen wohlauf. Die inzwischen von ihrem Schiffsarzt deutlich professioneller behandelte Wunde an seiner Seite hielt ihn keineswegs davon ab ordentlich mitzufeiern.
 

„Mit lautem Rattern rollte das Kettenrad und ließen den Kartographen und mich hinab in die gurgelnde, glühende, grüne Säuregrube, wo sich unser Fleisch von den noch lebenden Knochen pellte und – “
 

„Moment mal!“, unterbrach einer der Piraten die imposante Erzählung. „Du stehst hier und willst uns erzählen, du seist in einer Säuregrube verendet?“
 

„Nun, äh. Vielleicht war das zu viel der dramatischen Übertreibung“, druckste Guybrush und kratzte sich verlegen am Bart. „Jedenfalls hingen wir über der Säuregrube, Zentimeter von unserem Tod entfernt, unser Leben abhängig von einem langsam durchbrennenden Seil und dem schwachen Auftrieb eines Ballons!“
 

Mit einem amüsierten Lächeln lehnte Kiara an der Theke und lauschte der Geschichte, von der sie jede neue Nuance interessiert in sich aufsog. Zwischenzeitlich erhaschte sie sich dabei, seine Worte stumm mitzusprechen, wenn er vertraute Formulierungen rezitierte.
 

„So sehr habe ich Threepy noch nie aufleben sehen“, gluckste die Barbesitzerin Shakky.
 

Rayleigh gesellte sich zufrieden zu den beiden Damen an den Tresen, dicht gefolgt vom Kapitän und dem Vize der Rothaarbande. „Sein Publikum fordert ihn auch gehörig. Eine gute Dynamik kann aus einem Erzähler noch einiges herauskitzeln.“
 

Shakky schnippte die Asche ihrer Zigarette in eine kleine Schale und legte den Stummel ab, um mit den freien Händen ihrem Mann eine neue Flasche Alkohol anzubrechen.
 

„Nun, Kiara, ich möchte dich zu deiner erfolgreichen Suche beglückwünschen“, lächelte der Dunkle König die junge Piratin süffisant an und prostete ihr mit seinem frisch aufgefüllten Glas Brandwein zu.
 

Die Angesprochene blickte aufmerksam zum alten Mann neben sich. Sie nickte langsam. „Du hast es gewusst, huh?“
 

Rayleigh lachte. „Nun, es war nicht sonderlich schwierig eins und eins zusammenzuzählen, wenn der Gute keine Gelegenheit auslässt, um zu bemerken, dass er mit der schönsten Gouverneurin der ganzen Karibik verheiratet sei.“
 

„Es war auch nicht schwer zu verstehen, dass es sich bei diesem Guybrush Threepwood um ihren Vater handelt“, bemerkte Beckman beiläufig und tat es Shakky gleich, in den kleinen Keramikbecher zu aschen.
 

„Ach?“, entgegnete Shanks entrüstet. Ihm schien das bis zuletzt nicht ganz klar gewesen zu sein.
 

Der Vize zuckte gelassen mit den Schultern. „Ein bisschen zwischen den Zeilen lesen…“
 

„Beckman ist halt klug, hört aufmerksam zu und hat eine sehr gute Beobachtungsgabe. Er hat auch das Kartenrätsel weit vor mir gelöst. Nicht wahr?“ Kiara schmunzelte den Vize wissend an.
 

Dieser blies Rauch aus seinem zum Lächeln gekräuselten Mundwinkel, blieb aber ansonsten verschwiegen.
 

„Und wie seid ihr aus dem Folterkeller entkommen?“, tönte die Frage des gespannt lauschenden Publikums.
 

„Ja! Kiara konnte die Frage nie beantworten! Also! Wie konntet ihr euch aus den Ketten über der Säuregrube befreien?“, stimmte ein anderer mit ein.
 

„Tja, ähm, das war so-!“
 

„Untote Zombiepiraten, Voodoopuppen und Schreistühle. Bei euch im South Blue gibt es ja allerhand kuriose Dinge“, sinnierte Rayleigh während er die Erzählungen des blonden Piraten so reflektierte.
 

„Oder ist das alles nur Effekthascherei eures kleinen Piratenfreizeitparks?“, fügte Shanks hinzu und beugte sich schelmisch grinsend zu seiner Sitznachbarin.
 

„Hör auf das zu sagen, ich zweifle selbst schon langsam daran!“ Kiara verschränkte missmutig die Arme um das Verlangen niederzuknüppeln ihrem Kapitän aus Ärger in die Wange zu kneifen. Dieser hingegen lachte vor Belustigung nur laut auf.
 

„Wobei ich auch aus anderen Meeren gehört habe, dass dort Tode unter den Lebenden wandeln sollen“, bemerkte Rayleigh. Seine Hand strich nachdenklich über den buschigen Kinnbart und richtete sich dabei einige herausstehende Haare.
 

Kiara lief bei dem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken. „Oder denk an den Nebel durch den wir gefahren sind, um nach Sabaody zu kommen. Dieser gruselige Gesang da stammte doch definitiv von einem Geist!“
 

„Ich bin immer noch dafür, wir hätten zurücksingen sollen“, entgegnete Shanks unbekümmert.
 

„Aber was ist dann passiert?! Was hat es mit diesem Jahrmarkt auf sich?“, klang es hysterisch aus dem Piratenpublikum.
 

„Um ehrlich zu sein, habe ich keinen Schimmer. Ich erinnere mich an nichts mehr, außer dass ich in einem Autoscooter auf dem Meer trieb und damit irgendwie nach Plunder Island geschippert bin.“
 

„Verdammt!“ Entrüstet schlugen einige mit der Faust auf die Tischplatte. Am Höhepunkt der Geschichte wurden sie einfach so hängen gelassen. Kiaras Hand schnellte ebenfalls mit einem dumpfen Aufprall auf den hölzernen Tresen. „Verdammt!“ Sie wartete bereits viel zu lange auf die Auflösung dieser Erzählung, denn auch sein Logbuch hinterließ nur ein offenes Ende.
 

„Amnesie hin oder her, zu meinem absoluten Glück war Plunder Island die damalige Residenz meines Plünderhäschens, Gouverneurin Elaine Marley!“
 

Das Publikum jubelte wohlwollend auf, so wie sie es immer taten, wenn die Gouverneurin in einer Erzählung auftauchte. Rayleigh warf der Piratin wortlos einen genugtuenden Blick zu, deutlich auf seine vorherige Bemerkung anspielend. Diese zuckte mit den Schultern und nickte zustimmend. Sie hatte seine Aussage nie auch nur annähernd bezweifelt.
 

„Hey, Guybrush! Ist es nicht langsam an der Zeit, dass du sie wiedersiehst?“
 

„Ganz genau! Deshalb habe ich den Entschluss gefasst, so bald wie möglich nach Mêlée Island zu segeln!“
 

„Ick gloob’s ja nich‘! Mit dem Frankenstein Schiff? Wie willste datt denn machen?“
 

„Oh, das ist kinderleicht!“
 

Kiara prustete unwillkürlich. „Wenn es so kinderleicht ist, wo warst du dann dreizehn Jahre lang?“
 

Die Stimmung stürzte schneller in den Keller, als es ihr lieb war. Mit einem Mal war es still in der Bar und die Blicke wanderten gespannt zwischen Vater und Tochter umher. Eilig hob Kiara die Hände und fügte hinzu: „Nicht, dass du dich rechtfertigen sollst, oder so. Ich… es würde mich nur interessieren.“ Sie hatte nicht gedacht, dass ihre spöttische Bemerkung so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Aber mit einem Blick durch die Runde, erinnerte sich Kiara, dass es mehrere unter ihnen gab, die ihre Frauen und Kinder für das Piratenleben zurückgelassen hatten und sich deshalb vielleicht unterschwellig angesprochen fühlten.
 

Guybrush blies merklich die Luft aus, die energetische Ausstrahlung klang allmählich ab und seine Schultern und stolz geschwellte Brust sanken niedergeschlagen in sich zusammen. Die Performance war zu Ende. „Ich hatte schon viel eher vorgehabt zurückzukehren. Aber es kam immer etwas dazwischen. Aufgaben und Probleme die mir auferlegt wurden – und plötzlich verging die Zeit so unsagbar schnell.“
 

Kiara versuchte möglichst gelassen abzuwinken, doch ein leichtes Zittern in der Stimme konnte sie nicht verbergen. „Ist okay. Ich kann auch verstehen, dass dir dein Ego und dein Vermächtnis einfach wichtiger sind.“
 

Sie hegte keinen Zweifel an ihrer Aussage. Auch ihr Gegenüber teilte scheinbar ihre Auffassung, denn er wirkte keinen Deut verwundert, als er interessiert nachfragte: „Wie kommst du darauf?“
 

„Weil es das doch schon immer war.“ Sie musterte den Piraten vor sich, von dem sie so viel wusste und der ihr doch so fremd war. „Dir war es unheimlich wichtig, dass jeder erfährt, wie du LeChuck besiegt hast. Und dann wolltest du deine Berühmtheit aufrechterhalten und die nächste Schippe drauflegen, indem du Big Whoop findest und zur Legende für alle kommenden Generationen wirst.“
 

Sie wusste, dass der soziale Druck und die daraus resultierende Angeberei und das fragwürdige Machogehabe dafür gesorgt hatten, dass ihre Mutter zeitweise getrennte Wege von ihm gegangen war. Und sie wusste ebenfalls, dass er sich bei ihrem Wiedersehen kein Stück gebessert und durch absolutes Unverständnis und reine Taktlosigkeit seine zweite Chance rasant aus dem Fenster katapultiert hatte – ähnlich wie Elaine das von ihm angefragte Kartenstück.
 

„Hey, der Wortlaut kommt mir bekannt vor.“
 

Kiara lächelte trüb. „Es sind ja auch exakt deine Worte.“ Worte, welche sie Jahr für Jahr akribisch gelesen hatte und dessen Bedeutung sich mit der Zeit für sie veränderten. Er war einst ihr Held gewesen, jemand, auf den sie stolz war. Doch irgendwann verstand sie, was hinter seinen Taten und Formulierungen steckte. „Wie gesagt, es ist okay. Mir ist das gleich. Aber tu mir den Gefallen, sollte dir Mum noch eine Chance geben, verscherz es dir bitte nicht direkt wieder mit ihr.“
 

Nun hatte sie es doch geschafft ihren Vater zu verwundern. Er legte fragend den Kopf schief und sah sie zweifelnd an. „Warum sollte ich denn noch eine Chance brauchen?“
 

„Och, ich weiß nicht. Du beschreibst in deinen Memoiren seitenweise, wie sehr sie die Liebe deines Lebens ist, du hast jede mögliche Hürde genommen um mit ihr zusammen zu sein und wieder mit ihr zusammen zu kommen – und dann verschwindest du einfach? Auf so gesehen beinahe Nimmerwiedersehen?“
 

„Wenn das Meer und die Freiheit rufen, kann man nicht wiederstehen, Kleine!“, warf Yasopp ein. „Auch wenn man eine Familie hat, die man liebt.“
 

Kiara nickte matt. „Ich weiß.“
 

„Eine echte Piratenbraut versteht das! Sie wartet und sie vergibt einem alles“, pflichtete nun auch Lou bei.
 

Argwöhnisch runzelte Kiara die Stirn. „Der Spruch kommt auch noch aus einer Zeit, wo es hieß, dass Frauen an Bord Unglück bringen.“
 

„Honigkeks“, setzte Guybrush schließlich an und wollte die Entfernung zwischen ihnen überbrücken.
 

Doch sie schauderte leicht und verzog das Gesicht. „Bitte nenn mich nicht so.“
 

Er blieb abrupt einige Schritte vor ihr stehen. „Entschuldige.“ Er wusste nicht sonderlich gut, wie man sich in diesen Situationen am besten verhielt. Überhaupt, hatte er nicht daran gedacht, dass dieses Thema jemals ein Problem darstellen würde. Ganz zu schweigen, dass ihm die Übung in solchen Vater-Tochter Gesprächen fehlte. Unwohl rieb er sich den Nacken. „Weißt du, Elaine und ich haben damals darüber geredet. Wir haben viel durchgemacht und sie kennt mich wirklich gut genug, sodass sie mit meiner Entscheidung einverstanden war.“
 

„Sie ist definitiv eine Piratenbraut“, nickte Yasopp anerkennend.
 

Den Zwischenruf beflissen ignorierend, seufzte Kiara leise und hob unsicher die Schultern an. „Auf mich wirkte sie nie so, als wäre sie mit deiner Entscheidung zufrieden gewesen.“ Sie wog ihren Kopf. „Aber anders herum wollte sie auch nicht, dass ich Pirat werde, also wäre es wahrscheinlich hypokritisch gewesen, dich gehen zu lassen aber es mir verbieten oder ausreden zu wollen.“
 

Guybrush sah sie aufmunternd an. „Aber sie hat dir letztendlich ihren Segen gegeben, oder?“
 

Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Nein, dazu war es nie gekommen. Schließlich war es auch niemals Kiaras Absicht gewesen für beinahe ein ganzes Jahr und so weit weg zu sein… Schuldbewusst sank sie auf ihrem Hocker in sich zusammen.
 

„Oh“, machte Guybrush.
 

„Wie willst du also nach Mêlée Island kommen?“, griff Beckman die Frage von vorhin in abgeänderter Form erneut auf. „Der Calm Belt ist eine Todeszone. Und selbst wenn der Rumpf deines Schiffes zufällig mit Seestein bestückt wäre, ist es eine gefährliche Angelegenheit.“
 

„Ich dachte da an das Mittel, was mich nach Monkey Island gebracht hat!“, offenbarte der mächtige Pirat seinen ausgeklügelten Plan. „Die Zutaten sollten schließlich kein Problem darstellen. Was brauchte ich denn nochmal? Etwas Grog, einen Oktopus, Knochenmehl…“ Seine Hände wanderten suchend in die schier bodenlosen Taschen seines Mantels.
 

"Eine Zimtstange, vier Atemauffrischer, eine Flagge, etwas Tinte, einmal Wein, ein Hähnchen, etwas Schwarzpulver und Müsli“, unterbrach ihn Kiara und korrigierte seine Aufzählung, ohne mit der Wimper zu zucken.
 

Ein begeistertes Funkeln leuchtete in Guybrushs Augen auf. „Du kannst wirklich jedes Wort auswendig.“
 

Beschämt winkte Kiara ab. „Ach. Manche Sachen bleiben halt im Kopf, ob man will oder nicht.“ Und vielleicht erwies es sich irgendwann mal als nützlich das obskure, substitutive Rezept einer Voodoosuppe auswendig zu kennen. Als ob. „Ich kann mir einfach generell viel merken.“
 

„Außer Namen“, kam es unverhohlen grinsend von der Crew.
 

Mit einem tiefen Atemzug blies Kiara ihre Wangen auf und zog entrüstet eine Schmolllippe. „Die Spitznamen sind ein Zeichen meiner Zuwendung, jawohl!“
 

„So? Und warum hat der Boss dann keinen?“
 

„Woher willst du wissen, dass er keinen hat?“, schoss sie zurück.
 

Er hatte keinen. Es war ihr genug, ihn bei seinem Namen zu nennen, wenn sie zu zweit waren. Dafür hatte sie sich hingegen die von der Crew üblicherweise genutzte Anrede bewusst antrainieren müssen.
 

„Habe ich einen?“, schmunzelte Shanks leise und lehnte sich interessiert zu ihr. Eine Antwort bekam er jedoch nicht, sondern lediglich ein rotglühendes Gesicht, welches ihm demonstrativ abgewandt wurde. Kiara drehte sich stur zum Tresen und beschäftigte sich mit ihrem längst vergessenen Getränk. Sie hatte für heute genug ungewollt im Rampenlicht gestanden.
 

„Na, jedenfalls kriege ich die Seekuh schon geschaukelt“, schloss Guybrush mehr oder weniger galant mit dem Thema ab. „Und für euch geht es dann weiter in die Neue Welt, nehme ich an?“
 

„Richtig, wir werden Paradise für eine ganze Weile hinter uns lassen“, nickte der Rothaarige.
 

„Paradise?“
 

Dieses Mal war es Rayleigh, der eine Erklärung bot. „So nennt man die erste Hälfte der Grand Line.“ Ein unheilvolles Lächeln zog sich über seine Lippen. „Zumindest dann, wenn man die Neue Welt betreten hat und sich nach den ruhigeren Gefilden zurücksehnt.“
 

Und mit einem Mal war sich Kiara ihrer selbst gar nicht mehr so sicher.

Bon Voyage

„Geht es dir nicht gut, Spätzchen?“ Shakkys filigrane Hand legte sich sanft auf die Schulter der jungen Piratin. Die Wärme und der leichte Druck holten die Angesprochene aus den Tiefen ihrer Gedankenwelt. Fragend blickte sie zur Barbesitzerin auf. „Du wirkst etwas durch den Wind.“
 

Vielleicht hatte sie etwas zu lange regungslos in ihr Getränk gestarrt, während um sie herum unbekümmert und voller Eifer gefeiert wurde. Kiara saß inzwischen alleine und etwas abseits am Tresen saß und ließ die Party an sich vorbeiziehen. Die Crew hatte gelernt, dass man sie guten Gewissens einfach ein bisschen in Ruhe lassen konnte – oder auch sollte – wenn ihr das Treiben zu bunt wurde. So schien ihnen das Verhalten nicht sonderbar genug, um die Piratin mit Erkundungen über ihr Wohlsein zu belästigen.
 

Kiara nickte daher matt und versuchte es mit einem dankbaren Lächeln. „Ist gerade nur ein bisschen viel, das ist alles.“
 

Shakky drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und ergriff Kiaras auf dem Tresen liegende Hand. „Komm mit, ich helfe dir den Kopf frei zu bekommen.“
 

Im ersten Moment musste Kiara über das vermeintlich fragwürdig formulierte Angebot stutzen. Nichtdestotrotz erhob sie sich vom Barhocker, bereit der älteren Dame zu folgen. Etwas Abstand war genau das, was sie gerade brauchte. Mit Bestimmung führte Shakky sie zur geheimnisvollen Tür hinter dem Tresen und zog sie an der Hand über die Schwelle und die dahinter liegende schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort befand sich die Wohnstube, ein gemütlich eingerichtetes Zimmer mit Sitzbereich, mehreren Regalen voller Bücher, einem Esstisch mit zwei Stühlen und einer großzügig ausgestatteten Küchenzeile. Die Einrichtung roch nach Zigarettenqualm. Trotz der vielen Fenster in der kreisrunden Stube hatte sich die Mischung aus Tabak und Nikotin an den Möbeln und Wänden festgesetzt. Kiara bemerkte, dass sie zwar einige Schiffe und deren Kabinen betreten hatte, jedoch noch nie die private Behausung einer anderen Person.
 

„Setz dich ruhig, Liebes. Brauchst du etwas? Ein Glas Wasser vielleicht?“
 

„Oh, ich ähm-“ Mit der Situation überfordert ließ sich Kiara auf das weiche Sofa plumpsen und versank beinahe darin. „Gerne“, gab sie schließlich kleinlaut von sich.
 

Shakky lachte gutherzig auf und kümmerte sich sogleich darum, dass ihr Gast nicht verdursten sollte. Mit Vorsicht reichte sie ihr das kühle Glas an und nahm in einer fließenden Bewegung neben ihr auf dem Sofa Platz. Ein fürsorglicher Arm legte sich um Kiaras Schultern und zog sie behutsam an sich heran. „So. Und jetzt erzählst du Tante Shakky, was du auf dem Herzen hast.“
 

Kiara blinzelte sie perplex an. „Bin ich so durchschaubar?“
 

„Intuition.“ Sie zwinkerte. „Wer selber empathisch ist, bemerkt auch bei anderen leichter, wenn die Gefühlswelt Kopf steht.“
 

Sich einem anderen Menschen zu öffnen war eine ungewohnte Erfahrung. Stets hatte Kiara es bevorzugt, alle möglichen Dinge mit sich selbst abzuklären. Es fiel ihr schwer einen Anfang zu finden. Aber, auch wenn Shakky eine ihr im Grunde völlig fremde Person war, hatte sie das Gefühl, ihr vertrauen zu können. Sie drängte nicht oder löcherte sie mit Fragen. Stattdessen hörte sie achtsam zu, nickte verständnisvoll und strahlte eine geborgene Ruhe aus. Es war egal, wie lange Kiara nach den richtigen Wörtern suchte oder wie wirr ihre Gedankensprünge schienen, Shakky zeigte ehrliches Interesse und nahm ihr jede Unsicherheit oder Nervosität.
 

„Ich weiß nicht. Es fühlt sich wie ein Fehler an weiterzureisen“, seufzte Kiara schließlich und starrte auf den niedrigen Tisch vor ihren Füßen, welcher etwas unordentlich übersäht war mit Zeitungen, Zigarettenschachteln und Untersetzern. „Ich möchte es wirklich gerne. Aber ich kann nicht.“
 

Shakky neigte fragend den Kopf. „Weil du das Gefühl hast etwas zurückzulassen? Oder fühlst du dich nicht gewappnet?“
 

„Ja. Auch.“ Sie stockte. „Es würde deutlich schwieriger werden nach Hause zurückzukehren. Überhaupt, könnte ich das noch, wenn ich ein Kopfgeld habe?“ Glücklicherweise war sie die letzten Monate völlig unter das Radar der Marine gefallen. Zwar hatte sie sich mit einigen ihrer Soldaten im Kampf gemessen, jedoch war sie so unscheinbar oder dermaßen ungefährlich, dass niemand nach ihr fahnden wollte.
 

„Möchtest du denn nach Hause?“
 

Kiara ließ den Kopf zu Shakkys Schulter rollen. Auch wenn sie das Gesicht beinahe an ihrer üppigen Brust vergrub, konnte Shakky erkennen, dass ihre Lippe zitterte. Ohne Umschweife vergrub sie eine Hand in den braunen Haaren und tätschelte zärtlich den Kopf der Kleinen. „Meine Mum… ich… tue ihr Unrecht, wenn ich…“
 

Abermals stockte sie, unfähig sich vernünftig zu erklären. Sie wollte, dass es Sinn ergab, wenn sie sich schon ausschüttete. Mit Mühe versuchte sie den androhenden Knoten in ihrem Hals herunterzuschlucken und setzte erneut an. „Als ich losgesegelt bin, hatte ich nicht vor einfach zu verschwinden. Ich wollte die Gegend erkunden, aber nie so weit weg, dass ich nicht mehr nach Hause finden würde. Also. Nicht für den Anfang.“ Auch der tiefe Atemzug, mit dem sie ihre Lungen füllte, zitterte ungehalten. Fest vergruben sich ihre Zähne in der Unterlippe, das Beben nur zeitweise stoppend, während sie nach Kraft rang wieder deutlich zu sprechen. „Bevor ich wirklich auf große Reise gehe, wollte ich mich wenigstens verabschieden.“ Eine erste Träne kullerte ihre Wange hinab und benetzte Shakkys Oberteil. „Und mich ordentlich bei ihr bedanken.“
 

Die Schwarzhaarige seufzte mitfühlend. „Oh, Schätzchen. Sag bloß, das trägst du schon die ganze Zeit mit dir herum?“ Die Piratin in ihren Armen nickte kaum merklich.
 

Es hatte ihr immer im Hinterkopf gepocht, aber Kiara entschied sich dieses Schuldgefühl zugunsten heiterer Stimmung zu ignorieren. Es bremste sie nur aus und verhinderte, dass sie neue Orte entdecken konnte. Für sie alleine gab es keinen Weg zurück und die Rothaarbande sah keinen Umweg durch den South Blue vor. Jedoch sie hatte ihre Sorgen auch nie angebracht, da sie diese als zu klein und entbehrlich empfand. Es wäre lächerlich gewesen. Die letzten Tage und Gespräche rissen diese kleine Wunde jedoch auf und der Schmerz pochte nun scharf genug, dass es ihr schwerfiel ihn zu ignorieren.
 

Mit einem unschönen Schniefen zog Kiara die Nase hoch, in einem vergeblichen Versuch die verstopften Atemwege frei zu kriegen. Sie richtete sich etwas auf und rieb sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Außerdem… will ich nicht zur Last fallen. Ich will nicht, dass man mich beschützen muss. Aber die Gegner bis hierhin sind schon… über meinem Limit.“
 

„Die Kampfkraft der Crew hat bereits ein ordentliches Level erreicht und dir fehlten die Gelegenheiten um aufzuschließen“, pflichtete Shakky verständnisvoll bei. Sie wusste eine Menge über diese Bande. Zum einen da Rayleigh genügend Geschichten über ihren Kapitän erzählte, zum anderen, weil sie sich stets selbst schlau machte, welche Piraten dieses Nadelöhr an Archipel erreichte. Die Rothaarbande ankerte außerdem keineswegs zum ersten Mal an diesem Hafen. Sie hatte also bereits einige Gelegenheiten diese Mannschaft persönlich kennenzulernen.
 

„Ich will auf eigenen Beinen stehen. Aber offenbar kann ich nicht einmal auf mich selbst aufpassen. Wäre Rayleigh nicht gewesen, hätten mich die Sklavenhändler wahrscheinlich erwischt. Und auf Libertalia eine Kugel, weil ich nicht aufmerksam genug war, oder ich es nicht geschafft habe, mich herauszureden.“ Kiara ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. „Nein, es hing an Guybrush. Oder Shanks. Und das ärgert mich so!“
 

Sanft nahm Shakky die geballten Hände in ihre. „Dein Verstand und dein Stolz vermitteln dir also deutlich, dass es nicht klug wäre weiter zu reisen.“ Sie neigte den Kopf tiefer, um in Kiaras gerötete Augen sehen zu können. „Aber dein Herz wünscht sich die Freiheit und sagt dir, dass du loyal deinen Freunden gegenüber sein möchtest.“ Ein wissendes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. „Und gegenüber deinem Käpt’n.“
 

Kiara schnaubte aus einer traurigen Belustigung heraus. „Ich bin wirklich so durchschaubar, was?“
 

Das Lächeln wurde breiter und Shakky gluckste herzhaft. „Es steht dir ins Gesicht geschrieben.“
 

Schweigen legte sich über die beiden Frauen und eine nachdenkliche Stille erfüllte die sonst so leere Stube. Einzig das leise Ticken einer Küchenuhr erinnerte, dass die Zeit unermüdlich voranschritt.
 

„Ich bin ein Kopfmensch“, sagte Kiara langsam. „Daran ist nichts zu rütteln.“
 

Als die ersten Sonnenstrahlen das Sabaody Archipel in morgentlicher Röte erhellten war der Tag in der Schiffswerft auf Grove 55 bereits längst angebrochen. Eifrig wurden Kisten mit frischen Vorräten in den Bauch der fertig beschichteten Red Force verfrachtet und das Schiff zum Ablegen bereit gemacht. Der rothaarige Kapitän beobachtete die halbwegs koordinierten Abläufe vom Steg aus.
 

Eine Frühstückskeule verspeisend trat Lucky Lou zu ihm heran. „Wo ist denn die Kleine?“
 

„Ich nehme an, noch bei Shakky“, antwortete der Kapitän ruhig, ohne den Blick von den Ladevorgängen abzuwenden.
 

„Soll das mit, Boss?“ Lou deutete auf einen gefüllten Seemannssack zu den Füßen seines Kapitäns.
 

Der Rothaarige zupfte beiläufig seinen schwarzen Umhang zurecht. „Sehen wir dann.“
 

Es dauerte nicht lange, bis schließlich nur noch einige Fässer mit Alkohol, sowie Säcke voller Obst und diversen Gemüsesorten an Bord getragen werden mussten. Ein brünetter Haarschopf tauchte neben dem Kapitän auf.
 

„Hey“, gab Kiara von sich. Sie schob die Hände in die Hosentaschen, und tat es dem Rotschopf gleich, der Crew beim Arbeiten zuzusehen. Er sah aus den Augenwinkeln zu ihr hinab und erkannte, dass sie den blauen übergroßen Mantel abgelegt hatte. Ihr weißes Shirt war noch befleckt von der Alkoholdusche des gestrigen Abends und einigen verschmierten Blutspuren, die nicht ihr gehörten.
 

Der Kapitän atmete einmal tief durch und wandte sich schließlich zu ihr, um das unumgängliche Gespräch anzustoßen. „Shakky hat mir alles erzählt“, informierte er sie. Tatsächlich war die ehemalige Piratin in den frühen Morgenstunden ohne die Kleine in die Bar zurückgekehrt und hatte ihn beiseite genommen.
 

Er müsste lügen, würde er behaupten, er habe nicht eine leichte Vorahnung gehabt, dass etwas nicht ganz mit ihr stimmte. Aber er verstand auch ihr Dilemma, sich Entscheidungen nicht widersetzen zu wollen, während sich ihr eigener Kopf unermüdlich versuchte durchzusetzen. Es gefiel ihr nicht, ihre persönlichen Probleme in den Vordergrund zu schieben, aber sie konnte ihre Moralvorstellungen auch nicht aufgeben. Es war ihm unlängst aufgefallen. Deshalb hatte er ihr auf Libertalia einen Gefallen getan, den sie nicht wagte auszusprechen.
 

Sie nickte langsam. „Ich schätze, die Neue Welt ist noch nicht bereit für mich.“
 

Ein amüsiertes kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Ach so.“ Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Seine Hand fischte in der Innentasche seines Umhangs nach einem weißen Stück Papier, welches er ihr überreichte. „Wenn du das Gefühl hast, dass sie bereit für dich ist, findest du uns damit wieder.“
 

Zögerlich nahm sie das Papier entgegen und musterte es mit Skepsis. Anschließend kniff die Augen zusammen und sah zum Kapitän hoch.
 

„Das ist eine Vivre Card. Sie zeigt dir die Richtung, wo ich bin“, erklärte er sachlich.
 

Sie prustete. „Ach, aber Voodoo ist Effekthascherei.“ Sorgfältig steckte sie das kompassartige Papier in ihre Tasche und verharrte einen Moment in dieser Position. Deutlich leiser fuhr sie fort: „Wenn nicht, kommst du mich dann in meinem Piratenfreizeitpark besuchen?“
 

„Versprichst du mir eine riesige Faschingsfete auf Booty Island?“
 

Die Erinnerungen an ihre Gespräche und musikalischen Einlagen mit der Band kitzelten ein heiteres Lachen aus Kiara heraus. „Natürlich. Die größte, die wir jemals veranstaltet haben!“
 

Freundschaftlich legte er die Hand an ihre Schulter und drückte sanft zu. Verabschiedungen lagen ihm nicht sonderlich. Besonders solche, die man nicht leichtfertig abtun sollte. Am liebsten hätte er ihr auf die Schulter geklopft oder kurz umarmt und gesagt „wir sehen uns bestimmt wieder“ und damit wäre die Sache gegessen. Er war zuversichtlich, dass es so sein würde. Allerdings schien ihm das angesichts ihrer Beziehung nicht sehr taktvoll.
 

„Shanks?“ Kiaras blaue Augen sahen zu ihm auf und suchten seinen Blickkontakt. Er brauchte kein Haki um zu wissen, was in ihr vorging. Aufmerksam erwiderte er ihren Blick. Das Herz schlug ihr bis in den Hals und ihr Brustkorb hob und sank schnell mit ihren Atemzügen. Kurz presste sie die Lippen zusammen. „Misch die da drüben ordentlich auf, ja?“
 

Liebevoll zog er sie zu sich heran und neigte den Kopf zu ihr herab. Der Hauch eines Kusses streifte ihre Stirn, ehe sich ihre Arme um seinen Hals schlangen und ihn fest an sich drückten. Shanks schloss den Arm um sie und hielt ihre schmale Gestalt an seiner Brust. Er genoss noch einmal ihre Wärme, ihre Nähe, ihren wunderbaren Duft und die weiche Haut an seiner. Er würde ihre Zuwendungen, ihr Lachen und ihre Sprüche vermissen. So lange es ihm möglich war, kostete er die Zärtlichkeit ein letztes Mal aus. Erst als Kiara Anstalten machte zu vermitteln, dass eine angemessene Zeit in die Umarmung geflossen und sie bereit war, löste er sich von ihr.
 

Kiara schulterte den am Boden liegenden Seesack mit neu gewonnener Entschlossenheit. „Ich will Schlagzeilen sehen, hörst du?“
 

Oh, die würde er ihr liefern. Sein Name sollte auf der ganzen Welt bekannt werden, das konnte er ihr versprechen.
 

Ein letztes Mal blickte der Rote Shanks zum Ufer, wo sich seine Freunde zum Ablegen des Schiffes versammelt hatten, um ihm und seiner Mannschaft herzlich zum Abschied zu winken. Beinahe zu schnell für seinen Geschmack versank die beschichtete Red Force in den Wellen und trat ihre gefährliche Reise unter dem Meeresspiegel an, welche sie an der Fischmenscheninsel vorbei in die weiteren Gefilde der Grand Line führte. Es erwartete sie Großes in der Neuen Welt. Er hatte sein Ziel klar vor Augen und niemand würde ihn auf dem Weg zur Spitze aufhalten.



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