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Das Geheimnis der Kleeblattinsel

von

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Prolog

Prolog

Es war ein kalter Oktobertag. An diesem Tag war Kevin mit einem merkwürdigen Gefühl aufgewacht. Seit Wochen wurde er nachts von merkwürdigen Träumen heimgesucht. Obwohl, es waren eigentlich keine Träume, es waren Visionen. Visionen von einem Ort, an dem Kevin noch nie zuvor in seinem Leben gewesen war. Er sah eine Insel, die durch ein gewaltiges Riff geschützt wurde. Sie hatte die Form eines vierblättrigen Kleeblatts. „Was ist bloß los?“, fragte sich Kevin. Doch das war jetzt erst mal zweitrangig. Er hatte einen harten Arbeitstag vor sich. Und Kevin wusste das. Zum Glück hatte er noch etwas Zeit, um zu frühstücken und um den Abstellraum seiner Wohnung etwas zu entrümpeln. Es würde zwar nicht viel werden, aber so ein oder zwei Kartons würden schon zusammen kommen.

Kevin hatte gerade einen Karton vollgepackt, als ihm ein Buch in die Hände fiel. Es war in dunkles Leder eingebunden und mit goldenen Ornamenten verziert. Er legte es auf die Seite. Ebenso die alte Schatulle aus feinstem Rosenwurzelholz. Sie besaß dieselben goldenen Ornamente wie das Buch. „Ob da ein Zusammenhang besteht?“, dachte Kevin. Doch es sollte nicht bei dem Buch und der Schatulle bleiben. Er fand noch einen DIN Lang-Umschlag ohne Fenster und einen versiegelten Leinenumschlag. „Was hat das alles zu bedeuten?“, murmelte Kevin vor sich hin.

Um 8:00 Uhr ging Kevin aus dem Haus. Zuvor hatte er anderthalb Kartons zum Abtransport vor die Tür gestellt. Die beiden Briefumschläge und das Buch hatte er in seine Aktenmappe gepackt.

Auf der Arbeit hatte Kevin erst mal genug damit zu tun, seine Präsentation für die spätere Konferenz vorzubereiten. Das Buch und die beiden Umschläge befanden sich in seiner Aktenmappe. Ihm gegenüber saß seine neue Arbeitskollegin Catherine Parsons. Sie war erst vor zwei Wochen neu eingestellt worden.

Als er mit seiner Präsentation fertig war fragte sie plötzlich: „Was hat es mit dem Buch auf sich, Kevin?“ „Bitte, wie meinen?“ „Das Buch in deiner Aktenmappe. Warum schleppst du es mit dir rum?“ „Hab ich heute Morgen beim Entrümpeln gefunden.“ „Sonst nichts?“ „Doch. Eine Schatulle aus Rosenwurzelholz und einen versiegelten Umschlag.“ „Hast Du heute Abend Zeit?“ „Bis jetzt ja. Warum fragst Du?“ „Ich würde so um 19:30 Uhr rüberkommen.“ „Darf ich nach dem Grund fragen?“, fragte Kevin. „Du darfst. Ich will dir etwas zeigen.“

In der Frühstückspause holte Kevin den fensterlosen DIN Lang-Umschlag aus seiner Mappe und öffnete ihn. Er fand einen handgeschriebenen Brief seiner verstorbenen Mutter. „Mein lieber Sohn, wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Wie dein Vater kann und will ich 01

mit dieser Lüge nicht länger leben. Du wirst jetzt sicher wissen wollen, warum ich von Lüge spreche. Du bist nicht unser leibliches Kind. Man hat dich vor unserer Tür ausgesetzt und dich deinem Schicksal überlassen. Das Buch und den versiegelten Umschlag hat man ebenfalls bei dir gelassen. Vielleicht findest du dort die Antwort auf die Frage nach deiner Herkunft. Wie auch immer, mein Mann und ich haben dir die ganzen Jahre etwas vorgelogen, als wir dir versicherten, dass wir deine Eltern sind. Wir wussten nicht, wer Du bist, oder woher Du kamst, als wir dich bei uns aufgenommen haben. Aber wir haben dich so geliebt, als wärest Du unser leibliches Kind. Wir wussten, dass Du etwas Besonderes bist. Deshalb haben wir dir alles ermöglicht. Ich merke, wie meine Hand schwächer wird. Es geht zu Ende mit mir. Doch bevor ich von dieser Erde gehe, möchte ich, dass Du weißt, dass ich sehr, sehr stolz auf dich bin. Finde, und erfülle dein Schicksal, mein Junge. Pass auf dich auf und möge Gott dich beschützen. In aller Liebe Mutter.“

Kevin verstand die Welt nicht mehr. Wieso hatte seine Mutter in den letzten Augenblicken ihres Lebens von Lüge gesprochen? Er holte den versiegelten Umschlag aus seiner Aktenmappe und sah sich das Siegel an. Es zeigte einen Skorpion.

Bei der Konferenz gelang es Kevin zwar seine Nervosität und seine Unsicherheit zu verbergen, aber seine Augen sprachen eine andere Sprache. Doch er schaffte es, die Präsentation vorzustellen und auf Nachfragen kompetente Antworten zu geben. Schließlich war die Konferenz vorbei. „In Ordnung, Ladies and Gentlemen. Das wars für den Augenblick. Heute Nachmittag setzen wir uns noch mal zusammen. Sie können wieder an die Arbeit gehen.“, sagte Kevins Chefin Melissa Conway. Kevin und seine Kollegen verließen den Raum. Doch Melissa rief ihn zurück. „Ach Kevin. Würden Sie bitte noch einen Moment bleiben?“, sagte sie. Kevin drehte sich in der Tür um. „Ja, Miss Conway?“ „Schließen Sie bitte die Tür.“ Kevin ahnte schlimmes. Dennoch kam er dem Wunsch seiner Chefin nach.

„Waren Sie mit meiner Arbeit… unzufrieden?“, fragte er unsicher. „Wenn dem so wäre, hätte ich dich in mein Büro gerufen, Kevin. Mir ist aber aufgefallen, dass dich etwas beschäftigt. Du weißt, Du kannst mit mir über alles reden.“ „Ich habe heute Morgen meine Abstellkammer etwas entrümpelt. Dabei habe ich ein paar merkwürdige Gegenstände gefunden.“ „Und was waren das für Gegenstände?“ „Ein Buch, eine Rosenwurzelholzschatulle, ein versiegelter Leinenumschlag und dann dieser Umschlag hier.“ Mit diesen Worten händigte Kevin seiner Chefin den DIN Lang-Umschlag aus. „Was ist das?“, fragte Melissa Conway. „Ein Abschiedsbrief, den meine verstorbene Mutter im Augenblick ihres Todes geschrieben hat. Lies ihn, dann wirst Du verstehen.“

Nachdem Kevins Chefin den Brief gelesen hatte, nickte sie langsam. „Ich 02

versteh dich, Kevin. Du musst das Gefühl haben, als hätte man dir den Boden unter den Füßen weggezogen. Diese Nachricht hat deine heile Welt in einen Scherbenhaufen verwandelt. Aber was ist mit dem versiegelten Umschlag?“ „Ich habe mir nur das Siegel angesehen. Es zeigt einen Skorpion.“ „Wie sieht er aus?“ Ich glaub wie ein Kaiserskorpion.“

„Es ist jetzt 12 Uhr mittags. Ich würde dir empfehlen, zu Mittag zu essen. Und danach möchte ich dich gerne in meinem Büro sehen. Vergiss bitte nicht, den versiegelten Umschlag mitzubringen. Ich will mir das Siegel gerne mal näher ansehen. Vielleicht kann ich dir dann näheres sagen.“ „Mach ich Melissa.“, sagte Kevin und wollte gerade den Raum verlassen. „Ach Kevin!“ „Ja?“ „Du solltest dich vielleicht mit Catherine Parsons kurzschließen.“ „Wir treffen uns heute Abend.“ „Gut. Aber jetzt sieh zu, dass du deiner Kauleiste Arbeit gibst.“

In der Kantine holte sich Kevin an der Essensausgabe einen Cesar Salat und eine Flasche Orangensaft. Er war gerade am Essen, als Catherine Parsons zu ihm kam. „Was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?“, fragte sie. „Setz dich ruhig.“ „Ist das etwa dein ganzes Mittagessen?“ „Hab nicht so einen großen Hunger.“ „Oh.“ „Der Abschiedsbrief meiner Mutter hat mir den Appetit verdorben.“ „War das der Inhalt des DIN Lang-Umschlags?“ Kevin nickte. „Ob Du es glaubst oder nicht, aber mich hat man auch ausgesetzt. Ja. Ich habe wie du ein Buch, eine Schatulle und zwei Umschläge gefunden. Einer davon war ein versiegelter Leinenumschlag. Der andere war ein C6-Umschlag ohne Fenster. Auch er hat einen Abschiedsbrief meiner Mutter enthalten, den sie kurz vor ihrem Tod verfasst hat. Ich bringe alles heute Abend mit und dann werden wir sehen, ob wir das Geheimnis um die uns hinterlassenen Artefakte nicht lösen können.“

Nach der Mittagspause schnappte Kevin den versiegelten Leinenumschlag und ging in Melissa Conways Büro. „Hi Kevin. Schön, dass du da bist. Hast du den Umschlag mitgebracht, um den ich dich gebeten habe?“ „Hier ist er.“, sagte Kevin und gab seiner Chefin den Leinenumschlag. Melissa Conway sah sich das Siegel genau an. Es zeigte einen Kaiserskorpion auf der Jagd. Der Stachel war zum tödlichen Stoß erhoben und die beiden Arme mit den gigantischen Scheren waren weit geöffnet. Nach einer Weile fragte Melissa: „Hast du schon mal was von der Kleeblattinsel gehört, Kevin?“ „Nicht das ich wüsste. Warum fragst Du?“ „Das Siegelwappen gehört einer der vier Königinnen.“ „Was meinst Du damit?“

Melissa nahm ein weißes Blatt Papier und einen Bleistift und begann ein vierblättriges Kleeblatt zu zeichnen. Als sie fertig war, schob Melissa ihrem Mitarbeiter die Zeichnung über den Tisch. „So sieht die Insel aus. Jedes der vier Blätter steht für ein Königreich.“ „Und was ist mit dem Stängel? Wem gehört dieses Land?“ „Da fragst Du mich leider zu viel, Kevin.“ „Also wenn ich das so richtig verstanden habe, gehört das Wappen auf meinem Umschlag zu einem 03

Landstrich auf dieser Insel.“ „Ganz genau. Aber wohin, das weiß ich leider auch nicht. Das musst Du selbst herausfinden.“

„Und wo liegt die Kleeblattinsel, Melissa?“, fragte Kevin. „Irgendwo im Pazifik. Die genaue Lage kennen nur wenige. Und wer dort war und wieder zurückkam, war ein an Leib und Seele gebrochener Mann.“ „Woher weißt Du von der Insel?“ „Mein Vater war der Letzte, der nach ihr gesucht hat. Er kam nie zurück.“ „Und wie hast Du von der Insel erfahren?“ „Vor drei Jahren habe ich auf dem Dachboden meines Elternhauses ein ungeöffnetes Päckchen gefunden. Neugierig wie ich war, habe ich es geöffnet und hielt das Logbuch meines Vaters in den Händen. Der letzte Eintrag war vom 20. März 1975.“ „Und weiter?“ „Man hat das Wrack seiner Maschine zwar gefunden, aber von meinem Vater fehlt jede Spur. Aber ich erinnere mich noch, dass er ein Unwetter erwähnt hat, durch das er geflogen ist.“ „Wann und wo wurde die Maschine gefunden?“. fragte Kevin. „Man hat die Maschine am 24. März 1978 gefunden. Das Wrack liegt in 30 Meter Tiefe auf dem Meeresboden.“ „Ich weiß es geht mich nichts an, aber welchen Flugzeugtyp hat dein Vater auf seinem letzten Flug geflogen?“ „Er war mit einer Cessna 421 Golden Eagle unterwegs.“

Um 18:00 Uhr machte Kevin Feierabend. Er hatte sich nach dem Gespräch mit seiner Chefin mit Catherine zum Abendessen verabredet. Er wollte Parmesan-Hähnchen machen. Ein Rezept, das seine Mutter immer gekocht hatte, als er noch ein Kind war. Kevin erledigte in einem nahegelegenen Supermarkt seine Einkäufe und hätte um ein Haar seine Aktenmappe an der Kasse vergessen, wenn die Kassiererin dies nicht bemerkt hätte. „Sie haben das hier vergessen, Mister!“, rief sie ihm nach und hielt die Mappe hoch. Kevin kam zurück und nahm die Mappe entgegen. „Vielen Dank. Sie haben was gut bei mir.“ „Nicht der Rede wert. Einen schönen Abend.“ „Wünsche ich Ihnen auch.“

In seinem Apartment lud Kevin seine Einkäufe in der Küche ab und fing mit den Vorbereitungen für das Abendessen an. Zuerst gab er ein bisschen Butter in die Pfanne. Danach wusch er den Salat und schnitt die Paprika. Um 19:00 Uhr schob Kevin die Hähnchenschnitzel in den Backofen. Und während das Abendessen im Backofen vor sich hin brutzelte, fuhr Kevin seinen PC hoch und sah sich die eingegangenen E-Mails an. Ein Teil davon war Werbung und war im Spam-Ordner gelandet. Doch eine E-Mail fiel ihm besonders auf. Sie war von seiner Chefin und mit einem roten Ausrufezeichen versehen. Den Text überflog Kevin und öffnete die Dokumente im Anhang. Es waren drei Seiten, die er ausdruckte. Kaum hatte er die letzte ausgedruckt, da klingelte es an der Tür.

„Wer ist da?“, fragte er durch die Gegensprechanlage. „Dean Douglas. Euer Fahrer.“ „Und was willst Du?“ „Miss Conway hat mir etwas für dich mitgegeben.“ „Stells mir vor die Wohnungstür.“ Nur kurze Zeit später hörte Kevin den Fahrstuhl und dann, wie etwas vor seiner Wohnungstür abgestellt wurde. Er 04

Staunte nicht schlecht, als er eine Pappröhre auf dem Flur stehen sah. Kevin stellte sie ins Wohnzimmer und verschwand wieder in der Küche. Der Backofen hatte durch ein Piepsignal das Ende der Garzeit verkündet. Kevin schaltete ihn ab und holte aus dem Geschirrschrank im Wohnzimmer zwei Gedecke, die er gegenüber liegend auflegte.

Um 19:30 Uhr klingelte es an Kevins Tür. Es war Catherine. Nach einer innigen Umarmung half Kevin seinem Gast aus der Jacke und geleitete sie ins Wohnzimmer. Er rückte Catherine Parsons den Stuhl zurecht und verschwand kurz in der Küche, um mit dem Abendessen zurückzukehren. Zum Parmesanhähnchen gab es einen italienischen Rotwein zum Trinken und einen gemischten Salat.

Nach dem Abendessen sagte Catherine: „Bevor wir uns mit unseren Fundstücken beschäftigen, möchte ich dir mein Kompliment aussprechen. Du kochst wirklich gut.“ „Danke für die Blumen.“ Schließlich öffnete Catherine ihre Tasche und holte ein Buch und einen versiegelten Leinenumschlag heraus. Als letztes holte sie eine Schatulle aus der Tasche. Doch im Gegensatz zu Kevins Exemplar war dieses Stück aus edelstem Mahagoniholz gefertigt. Kevin legte seine Fundstücke dazu. Zuerst sah er sich das Siegel auf Catherines Leinenumschlag an. Es zeigte einen Delfin. „Wir sollten mal nachsehen, welches Geheimnis die Schatullen verbergen.“, schlug Kevin vor. „Keine schlechte Idee.“

Als erstes öffneten Kevin und Catherine die Mahagonischatulle. Sie erwarteten, darin den entsprechenden Siegelring zu finden, der zum Siegel auf Catherines Umschlag passte. Umso größer war die Überraschung, als beide den Siegelring mit dem jagenden Kaiserskorpion entdeckten. Doch der Ring war nicht der einzige Gegenstand in der Schatulle. Als nächstes förderte Kevin eine mit einem roten Brokatband zusammengebundende Pergamentrolle zu Tage. Catherine löste das Band und öffnete vorsichtig die Rolle. „Sieh dir das mal an.“, sagte sie und reichte ihrem Gastgeber das Pergament. Zu sehen war eine Karte der Kleeblattinsel. „Das ist eine Karte der Insel. Sehr detailliert. Lass uns meine Schatulle öffnen. Mal sehen was wir da finden.“, sagte Kevin.

Gesagt, getan. Kevin öffnete seine Schatulle und fand den Siegelring mit dem Delfin und ebenfalls eine Pergamentrolle. Als er sie aufrollte staunte er nicht schlecht. Auf dem Pergament waren fünf Wappen zu sehen. Darunter der Kaiserskorpion und der Delfin. „Ah ja! Daher weht der Wind.“, sagte Kevin. „Was meinst Du, Kevin?“ „Sieh dir dieses Pergament mal an. Der Skorpion und der Delfin sind Wappen. Siehst Du? Dein Delfin ist das Wappen von Königin Eliska. Der Skorpion gehört zu Königin Jelena.“ „Und was ist mit dem Weißkopfseeadler?“, wollte Catherine wissen. „Der gehört Königin Wioletta.“ „Und wessen Wappen ist der Hummer?“ „Der ist das Wappentier von Tosh Kamar. Königin Shakiras Wappen zeigt einen Mustang.“ „Alles sehr 05

verwirrend.“ „Mal sehen, was es mit den Leinenumschlägen auf sich hat. Vielleicht erfahren wir, wer wir wirklich sind.“, sagte Kevin. „Hm. Dein Wort in Gottes Ohr.“

Kevin öffnete mit einem Brieföffner das Siegel mit dem Skorpion und holte einen Brief aus Pergament aus dem Umschlag. Der Brief war mit einem Federkiel geschrieben, wies aber die Handschrift einer Frau auf. Den Brief legte er auf die Seite und sah noch einmal im Umschlag nach. Dabei fiel ihm eine leichte Parfümnote auf. Da er seine Pflegemutter oft in der Drogerie besucht hatte, in der sie tätig war, hatte Kevin gelernt, die einzelnen Düfte voneinander zu unterscheiden. „Weißer Jasmin.“, sagte er schließlich. „Und das erkennst Du einfach so?“ „Meine Pflegemutter hat jahrelang in einer Drogerie gearbeitet. Ich hab sie nach der Schule immer dort besucht. Und da habe ich gelernt, die Düfte voneinander zu unterscheiden.“

Doch zu Kevins größter Enttäuschung war der Leinenumschlag leer. Als nächstes öffnete er Catherines Umschlag. Wieder fand er einen Brief. Ansonsten war der Umschlag leer. Aber das Parfüm war ein anderes. „Was hat es mit den Briefen auf sich, Kevin?“, fragte Catherine. „Immer langsam. Und immer der Reihe nach. Ich bin sicher, dass zwischen den Briefen und zumindest der Karte ein Zusammenhang besteht.“ „Vielleicht finden wir ihn, wenn wir die Briefe lesen.“, schlug Catherine vor. „Das werden wir auch. Aber zuerst sollten wir die Briefe mal genauer unter die Lupe nehmen.“ „Und was versprichst Du dir davon?“ „Warts ab. Also das erste, was mir bei beiden Briefen auffällt, ist, das sie mit einem Federkiel geschrieben wurden.“ „Zeig mal.“

Kevin reichte Catherine ihren Brief. „Du hast Recht. Wie hast Du das nur gemacht?“ „Das Schriftbild eines Federkiels ist unverkennbar. In beiden Fällen wurde der Brief von einer Frau geschrieben. Die erste bevorzugt „Weißer Jasmin“ die andere trägt lieber „Flamingoblume“.“ „Du erstaunst mich heute Abend immer wieder, Kevin.“ „Die Firma dankt. Aber die Briefe wurden nicht von ein und derselben Person verfasst. Das Schriftbild der Handschriften weicht mehrfach voneinander ab. Die Schreiberin deines Briefes ist Linkshänderin, während mein Brief von einer Rechtshänderin geschrieben wurde.“ „Du hättest Privatdetektiv werden sollen, Babe.“ „Nee. Da wird mir Luft zu bleihaltig.“

„Jetzt mach es nicht so spannend, Kevin. Was hat es mit diesen Briefen auf sich?“ „Also schön, dann gib mir mal deinen. Ich lese ihn vor.“ Catherine reichte Kevin den Brief. „Catherine, meine liebe Tochter. Während ich hier an meinem Schreibtisch sitze und aus dem Fenster auf das Meer hinausblicke, schickt sich Tosh Kamar, unser aller Feind an, seine Gefolgsleute nach dir suchen zu lassen. Deshalb muss ich dich fortbringen. Ich werde dich wohl nie wiedersehen. Doch versprich mir eines. Versprich mir, dass Du wieder auf die Kleeblattinsel zurückkehren wirst, und einfordern, was dir von Recht her zusteht. Du bist 06

meine Tochter. Alles, was du wissen musst, findest Du in dem Buch, dass ich bei dir gelassen habe, als ich dich in die Obhut der Familie Parsons gab. Doch bevor ich meine letzten Worte an dich beende, möchte ich dir noch eines mitteilen. Es gibt im Zentrum der Insel eine magische Quelle. Sie hat die Eigenschaft, jedem, der in ihr badet, oder ihr Wasser trinkt, ewige Jugend zu verleihen. In dieser Quelle wurdest du am 12.06.1919 geboren. Wenn Du diese Zeilen liest, wirst du 102 Jahre alt sein, aber aussehen wie 28. Ich liebe dich. Mögen dir die Götter stets gewogen sein. In aller Liebe deine Mutter.“

„Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Ich soll 102 Jahre alt sein? Und ich soll eine Prinzessin sein? Was soll der Blödsinn?“ „Keine Ahnung. Aber erst mal sehen, was in meinem Brief steht.“, sagte Kevin und begann seinen Brief vorzulesen. „Mein lieber Sohn Kevin. Ich weiß, es war ein Fehler, dich fortzubringen, aber ich hatte keine andere Wahl. Tosh Kamar, der Feind deiner Heimat hat geschworen, die Insel zu vernichten. Nur wenn niemand mehr am Leben ist, wird die Kleeblattinsel für immer in den Fluten des Ozeans verschwinden. Glaube mir Kevin, es hat mir das Herz gebrochen, dich in die Obhut der Familie McDyne zu geben, denn ich konnte dich nie aufwachsen sehen. Ich konnte nicht für dich da sein, wenn du mich gebraucht hast. Ich hoffe, dass du mir vergibst. Ich liebe dich so sehr. Und ich vermisse dich. Doch bevor ich diese Zeilen beende gibt es noch etwas, dass ich dir sagen muss. Alles was du wissen musst, findest du in dem Buch, dass ich am Tage unserer Trennung bei dir gelassen habe. Und ich möchte noch die heilige Quelle im Herzen der Insel erwähnen. Jeder, der in ihr badet, oder aus ihr trinkt, wird auf ewig jung bleiben. In dieser Quelle habe ich dich am 24.06.1918 auf die Welt gebracht. Ich bete zu unseren Göttern, dass ich dich noch einmal sehen und Zeit mit dir verbringen kann. Ich liebe dich, mein Sohn. Mutter.“

„Was soll das alles?“, fragte Catherine erbost. „Ist dir nichts aufgefallen?“ „Ehrlich gesagt nein. Wahrscheinlich haben die beiden einen Joint zu viel gekifft.“ Kevin nahm die Karte zur Hand. „Mir schon. Beide Briefe berichten von einer Quelle, einer Art Jungbrunnen, die sich in der Mitte der Insel befindet. Das wäre also hier.“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf das Zentrum des Kleeblatts. „Jetzt wo du es sagst. Und sag jetzt nicht, dass ich überhaupt nicht aufgepasst hätte. Gerade wo Du den Jungbrunnen erwähnst, fällt es mir wieder ein. Wurde in beiden Briefen nicht behauptet, dass WIR BEIDE in dieser Quelle das Licht der Welt erblickt haben?“ „Doch. Und jetzt, wo ich den Brief von Königin Jelena gelesen habe, wird mir so einiges klar, was Tosh Kamar angeht.“ „Dann lass mich an deinem Wissen teilhaben.“ „Tosh Kamar dürfte scharf auf diese Quelle gewesen sein. Und das ist ihm zum Verhängnis geworden.“

„Mir ist noch etwas aufgefallen.“ „Und was wäre das, Kevin?“ „Königin Jelena und Königin Eliska haben in ihren Briefen geschrieben, dass wir alles, was wir müssen, in den Büchern finden, die man bei uns gelassen hat.“ „Dann sollten 07

wir sie lesen.“ „Dir kann es wohl nicht schnell genug gehen, Catherine. Unsere Chefin hat mir einige Dokumente überlassen. Und diese Karte hier.“ Mit diesen Worten breitete Kevin die Karte auf dem Wohnzimmertisch aus. Catherine hielt die Karte der Kleeblattinsel daneben. „Sieh dir das an! Das Riff auf der Karte, ist identisch mit dem, das die Kleeblattinsel umgibt. Auch die Positionen der vier Schiffswracks sind auf beiden Karten identisch.“ „Was für Wracks?“ „Vermutlich Kriegsschiffe. Hier im Nordosten liegt die SMS Goeben, ein Dreadnought-Kreuzer der deutschen kaiserlichen Marine. Im Nordwesten die Fylgia, ein schwedischer Panzerkreuzer. Im Südosten die HMS Glorious, ein großer leichter Kreuzer der Royal Navy, und im Südwesten die Diana, ein russischer geschützter Kreuzer.“ „Woher weißt du das alles?“ „Google macht’s möglich.“

„Und welches Schiff liegt hier?“, fragte Catherine und deutete auf eine Stelle hinter dem Riff. „Ich glaube, das ist kein Schiffs- sondern ein Flugzeugwrack.“ „Angenommen, Du hast Recht. Wessen Maschine könnte das sein?“, fragte Catherine. „Es kann sich nur um das Wrack der Maschine von Miss Conways Vater handeln.“ „Woraus schließt Du das?“ „Weil er der letzte war, der nach der Kleeblattinsel gesucht hat. Am 24. März 1978 hat man das Wrack gefunden.“ „Und was ist aus Melissas Vater geworden?“ „Das weiß man nicht. Seine Leiche wurde nie gefunden.“

Catherine sah auf die Uhr. „Hör zu, Kevin. Ich geh nach Hause. Ich bin todmüde. Lass uns morgen Abend um die gleiche Zeit bei mir treffen. Und vergiss nicht, dein Buch mitzubringen.“, sagte sie. Nachdem Catherine gegangen war, blieb er noch auf und sah sich im Fernsehen eine Late-Night-Show an, die von David Letterman moderiert wurde. Kurz bevor er ins Bett ging, sah sich Kevin noch einmal in der Abstellkammer um. Dabei fiel ihm ein Gemälde in die Hände. Als Kunstkenner erkannte er sofort, dass derjenige, der das Bild gemalt hatte, Ölfarbe verwendet hatte. Ein goldener Rahmen fasste das Gemälde ein. Das Bild zeigte eine Frau, die neben ihrem Thron stand. Zu ihrer Rechten saß ein weißer Tiger.

Bekleidet war die Dame auf dem Bild mit einem hautengen roten Satinkleid und roten Schuhen mit flachen Absätzen. Auf dem Kopf trug sie ein goldenes Diadem mit Diamanten verziert. Die braunen Augen im ovalen Gesicht sahen traurig aus. Der ganze Gesichtsausdruck verriet Kevin, dass die Frau traurig war. Ihre Mundwinkel waren nach unten gezogen und die Augen glänzten. Doch dann entdeckte er in der rechten unteren Ecke ein Datum. 24.07.1918 war dort zu lesen. Kevin holte das Bild noch aus der Abstellkammer und stellte es in den Flur.

Um 23:00 Uhr machte er sich fertig für die Nacht. Doch als Kevin sein Schlafzimmer betrat, staunte er nicht schlecht. Auf dem Bett saß eine Frau. Er schätzte ihre Größe auf 1,65 m. 08

Auffällig waren auch der schlanke, sexy Körper und die dazugehörigen sexy Beine. Das ovale Gesicht mit den sinnlichen Lippen und den wunderschönen braunen Augen war ebenfalls ein Hingucker. Die Nase war etwas breit, fügte sich aber dennoch harmonisch in das Gesicht der Frau ein. Ihre dunkelbraunen Haare trug sie offen, sodass sie bis zur Oberkante ihrer wohlgeformten Brüste reichten. Bekleidet war die unbekannte Besucherin mit einem schwarzen Kleid, das auf einer Seite einen großzügigen Blick auf ihre sexy Beine gewährte, und schwarzen High Heels. An ihrem linken Oberarm trug sie einen goldenen Armreif und auf ihrem Kopf ein goldenes Diadem, das mit Rubinen verziert war. Der Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht strahlte Freundlichkeit und Güte aus.

„Hallo Kevin.“, sagte sie mit einer warmen und wohlwollend klingenden Stimme. „Wer sind Sie denn?“, fragte Kevin etwas streng. „Entschuldige, aber ich habe ganz vergessen, dass Du mich das letzte Mal gesehen hast, als Du noch ein kleines Baby warst.“ Kevin runzelte die Stirn. „Ich bin Königin Wioletta, deine Patentante. Ich war damals dabei, als Du in der magischen Quelle auf die Welt kamst. Ich habe dich damals als erste im Arm gehalten.“ Kevin dachte nach. Und nach und nach kamen einige Erinnerungen in ihm hoch. Er erinnerte sich, dass er, seit die Visionen angefangen hatten, auch eine Quelle gesehen hatte und die Frau auf dem Bild. Doch die Frau, die nun vor ihm auf dem Bett saß, und ihn nun aus ihren braunen Augen ansah, hatte das Baby im Arm gehalten. Kevin erinnerte sich auch, dass die Frau die Stirn des Babys mit etwas Wasser aus der Quelle benetzt und eine magische Formel gesprochen hatte.

„Ich sehe, Du erinnerst dich.“, sagte Wioletta. „Was haben Sie damals mit mir gemacht?“ Die Königin verzog das Gesicht. „Kevin, seit wann ist es üblich, dass man seine Patentante siezt?“, fragte sie und hob eine Augenbraue. „Na schön. Also, was hast DU damals mit mir gemacht?“ „Ich habe dich gesegnet, so wie es bei uns auf der Kleeblattinsel Brauch ist.“ „Was meinst Du, Wioletta?“ „Auf der Kleeblattinsel ist es Brauch, dass die Patentante ihr Patenkind segnet.“ „Weißt Du, wer mein Vater war?“ „Ich dachte schon, Du fragst nie. Dein Vater war Phil Taylor, der einzige Überlebende des Untergangs der HMS Glorious.“ „Also der Engländer. Und wer ist dann der Vater meiner Kollegin Catherine Parsons?“ „Ich weiß zwar viel. Aber Dr. Allwissend bin ich trotz allem nicht, Kevin.“ „Ich habe in meiner Abstellkamer ein Bild gefunden. Datiert auf den 24.07.1918. Wer ist die Frau auf dem Bild?“ „Ahnst Du es nicht, Kevin?“ „Nein.“ „Das ist deine Mutter. Königin Jelena.“

„Beantworte mir noch eine Frage, Wioletta.“ „Schieß los.“ „Wie bist Du unbemerkt in meine Wohnung gekommen?“ „Siehst Du den Armreif an meinem linken Oberarm?“, sagte Wioletta. „Der ist ja nicht zu übersehen.“ „Er ermöglicht es mir, selbst durch die dicksten Wände zu wandern.“ „Reicht seine Kraft auch aus, um dich zur Kleeblattinsel zurückzubringen?“ „Wo denkst Du hin, Kevin? Um zur Insel zurückzukehren benutze ich den Umhang, der über deinem 09

Stuhl hängt.“ Erst jetzt bemerkte Kevin einen schwarzen Umhang, der über den Stuhl gehängt war, auf dem er normalerweise seine Kleider abzulegen pflegte, ehe er ins Bett ging.

„Gibt es sonst irgendetwas, dass ich noch wissen sollte, Wioletta?“, fragte Kevin. „Allerdings. Hast Du das Buch schon gelesen?“ „Das mach ich morgen zusammen mit Catherine. Aber ich habe Mutters Brief und den Abschiedsbrief meiner verstorbenen Pflegemutter gelesen. Und ganz ehrlich, ich werde einfach nicht schlau aus dem Ganzen. Catherine Parsons geht es ebenso.“ „Dann will ich versuchen, so gut es geht, Licht ins Dunkel zu bringen.“ „Dann bitte.“ „Als Du und Catherine geboren wurdet, haben wir Königinnen gleich beschlossen euch vor Tosh Kamar zu verstecken. Denn er wusste genau wie ich, sollten wir, die vier Königinnen, einmal Nachkommen haben, würden sie eine Gefahr für ihn und seine Pläne darstellen. Shakira und ich können keine Kinder kriegen. Wir sind durch einen Fluch von Tosh Kamar unfruchtbar geworden. Dieser Fluch wird erst aufgehoben, wenn Tosh Kamar stirbt.“ ´

„Und wieso konnten dann Jelena und Eliska Kinder auf die Welt bringen? Das passt irgendwie nicht zusammen.“ „Du kannst Fragen stellen, Kevin. Jemanden, der bereits ein Kind erwartet, kannst du nicht unfruchtbar machen. Zumindest nicht bei uns auf der Kleeblattinsel.“, sagte Wioletta. Kevin sah auf seine Uhr. „Ich will nicht unhöflich sein, Wioletta. Aber ich bin müde und will nur noch ins Bett. Ich hab morgen einen harten Tag vor mir.“ „Ist schon Ok. Schlaf gut, Kevin. Ich denke, dass wir uns bald wieder sehen werden. Hast du noch etwas auf dem Herzen, das Du loswerden willst, bevor ich mich auf den Weg zurück auf die Kleeblattinsel mache?“ „Eine Frage habe ich noch.“ „Dann frag.“ „Was ist mit Tosh Kamar? Wie passt der in die ganze Geschichte mit rein?“ „Das sind aber jetzt zwei Fragen.“, sagte Wioletta. „Ich schätze morgen Abend haben wir frei, dann lach ich darüber.“ „Spaß beiseite. Tosh Kamar ist sehr gefährlich. Nimm dich in Acht vor ihm. Er trachtet dir und Catherine nach dem Leben, seit ihr geboren seid.“

„Dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Und komm heil nach Hause.“ „Soll ich deiner Mutter was ausrichten?“ „Sag ihr, dass ich ihr verziehen habe. Und das es mir gut geht. Sag ihr auch, das ich mich freuen würde sie zu sehen.“ „Ich denke, das wird Jelena freuen. Gute Nacht, Kevin. Und bis bald.“

Am nächsten Morgen wachte Kevin mit einem heftigen Brummschädel auf. Er griff zu seinem Smartphone und rief in der Firma an. „Tut mir leid das hören, Kevin. Das Dumme ist nur, dass Catherine sich heute auch krank gemeldet hat. Deswegen hatte ich gehofft, dass Du wenigstens heute kommen würdest. Ich komm später mal bei euch beiden vorbei. Gute Besserung Kevin.“ „Danke Melissa.“ Kaum hatte er das Telefonat mit seiner Chefin beendet, rief Catherine an. „Hi Kevin. Ich wollte fragen, wie es dir geht und ob du auf der Arbeit 10

bist.“, sagte sie. „Ich hab mich auch krank gemeldet. Hab einen Brummschädel, als würde ein Güterzug durch meinen Schädel donnern.“ „Bei mir wars schlimmer. Ich hatte nicht nur Kopfschmerzen, mir war obendrein auch noch schwindelig.“, saget Catherine.

„Darf ich dich was fragen, Catherine?“, fragte Kevin. „Nur zu.“ „Hat dich gestern Abend eine Frau besucht?“ „Ja. Woher weißt Du das?“ „Sag ich dir gleich. Kannst Du mir die Dame beschreiben?“ „Sicher. Sie war 1,65 m groß und hatte braune Augen.“ „Und weiter?“ „Der Körperbau war schlank und die Beine waren auch sehr sexy. Das Gesicht war oval.“ „Sonst nichts? Komm schon, Catherine. Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“, sagte Kevin. „Die Haare hat sie offen getragen. Es war eine Dauerwelle. Die Farbe war ein helles braun. Von der Länge her bis zu den Titten reichend. Die Nase war etwas breit. Die Lippen waren schon sehr hübsch anzusehen. Was den Busen angeht, war die Frau wohl nicht ganz so üppig gesegnet.“ „Wie war sie gekleidet?“ „Auf dem Kopf hat sie ein goldenes Diadem mit Smaragden getragen. Dazu ein rotes Minikleid und rote High Heels. Am rechten Handgelenk trug sie ein Perlenarmbändchen.“ „Das war vermutlich Königin Shakira.“ „Und was macht dich da so sicher, Kevin?“ „Die Beschreibung deiner Besucherin stimmt nicht mit meiner Besucherin überein.“ Kevin beschrieb seiner Kollegin, wie seine Patentante aussah. „Verrückt. Einfach nur verrückt.“, waren ihre Worte.

„Aber mal was ganz anderes. Hast du in deiner Abstellkammer ein Ölgemälde gefunden?“ „Ein Ölgemälde?“ „Ja ein Ölgemälde.“ „Und was soll darauf zu sehen sein?“ „Nicht was, sondern wer.“ „Also gut: Wer?“, sagte Catherine leicht genervt. „Auf dem Bild müsste deine vermeintliche Mutter, Königin Eliska, zu sehen sein.“ „Ich war seit 3 Wochen nicht mehr in der Kammer. Aber ich seh mal nach.“

Nach dem Telefonat ging Kevin unter die Dusche. Er duschte kalt, in der Hoffnung so seine Kopfschmerzen loszuwerden. Doch es half nichts. Die Kopfschmerzen wollten einfach nicht aufhören. Auch eine Kopfschmerztablette brachte nicht die ersehnte Wirkung. Als Kevin in die Küche kam, erlebte er die nächste Überraschung. An der Anrichte lehnte eine Frau. Es war die Frau auf dem Bild.

Sie war 1,56 m groß und hatte einen schlanken, sexy Körper mit einer 86er Oberweite. Ihre braunen Haare trug sie offen, sodass sie hinten über die Schulter fielen. Auch ihre sexy Beine waren ein echter Hingucker. Das ovale Gesicht mit den braunen Augen war ebenfalls hübsch anzusehen. Auch die sinnlichen Lippen mochten Kevins Vater zu manchem Kuss verleitet haben. Die Nase war guter Durchschnitt, passte aber irgendwie in das hübsche Gesicht. Ihre wunderschönen braunen Augen strahlten Freundlichkeit und Güte aus. Bekleidet war die unbekannte Schönheit mit einem roten Paillettenkleid und roten Plateauschuhen. Auf dem Kopf trug sie das Diadem mit den Diamanten. 11

Um den Hals trug sie eine Kette mit einem schwarzen Band und einem Herzanhänger. An ihrem rechten Oberarm trug sie einen goldenen Armreif.

„Guten Morgen, Kevin.“, sagte die Frau mit einer weichen, warmen Stimme. „Guten Morgen, Mutter. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“ „Ich dachte, ich komm dich mal besuchen. Geht es dir gut mein Sohn? Du bist leicht blass im Gesicht.“ „Hab Kopfschmerzen. Ganz ehrlich, ich hab das Gefühl, als würde ein Güterzug durch meinen Schädel donnern.“ „Wie lange hast Du geschlafen?“, fragte die Königin. „Wenn’s hoch kommt, 3 Stunden.“ „Du hättest früher ins Bett gehen sollen, mein Sohn.“ „Dann hätte ich ja Tante Wioletta mit ins Bett nehmen müssen.“ „Sie hat mir von eurem Gespräch erzählt. Und deswegen bin ich auch gekommen. Denn deine Patentante hat dir nicht alles erzählt. Zugegeben, vieles von dem, was sie dir gestern verschwiegen hat, konnte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.“ „Worauf willst Du hinaus, Mutter?“

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich. Welche willst du zuerst hören?“ „Fang mit der schlechten an, dann haben wir die schon hinter uns.“ „Tosh Kamar ist noch am Leben.“ „Wieso überrascht mich das nicht?“ „Die gute Nachricht ist, dass es mit diesem hinterhältigen, kriminellen Schleimbeutel zu Ende geht.“ „Es gibt doch bestimmt eine Möglichkeit für ihn, seinen Tod hinauszuzögern.“ „Die gibt es tatsächlich. Aber der Gedanke daran bringt mich fast um den Verstand.“ „Was müsste Tosh Kamar tun, um sein Ableben zu verhindern, Mutter?“ „Er müsste eine Frau finden, die bereit ist, sich mit ihm zu paaren.“ „Es gibt genug Bitches auf der Welt, die für einen guten Fick alles tun würden.“ „Und genau das macht mich krank. Ich mach schon seit Tagen kein Auge mehr zu, mein Sohn.“

Kevin wollte etwas sagen, als ihn ein kurzer Schwindelfall ereilte. Er schüttelte kurz den Kopf. Königin Jelena war dies nicht entgangen. „Ist alles in Ordnung, Kevin?“, fragte sie besorgt. „Geht schon wieder. Mir war nur kurz schwindelig.“ „Dann leg dich noch mal hin und schlaf etwas. Wenn Du willst, bleibe ich bei dir.“ „Ich würde mich freuen.“, sagte Kevin. Jelena begleitete ihren Sohn ins Schlafzimmer und half ihm sich hinzulegen. Dann deckte sie ihn zu und sagte: „Schlaf gut.“ „Wie schön sie ist.“, dachte Kevin, ehe ihm die Augen zufielen. Jelena fing an zu singen und schon bald schlief ihr Sohn tief und fest.

Um 10:30 Uhr wurde Kevin wach. Zuerst war sein Blick noch etwas getrübt. Doch nach und nach sah er klarer. „Geht es dir besser?“, hörte er die Stimme seiner Mutter. Ganz langsam wendete er den Kopf. Jelena stand in der Tür. Der besorgte Ausdruck in ihrem Gesicht entging Kevin nicht. „Die Kopfschmerzen und der Schwindel sind weg. Aber jetzt hab ich Hunger.“ Der Königin entfuhr ein Seufzer der Erleichterung.

In der Küche stand eine Papiertüte auf der Anrichte. Kevin wusste sofort, dass es sich um seine Brötchenlieferung aus seiner Lieblingsbäckerei handelte. „Hast 12

Du Lust mit mir zu frühstücken, Mutter? Du würdest mir damit eine Freude machen.“, sagte Kevin. „Wenn ich schon so charmant zum Frühstück eingeladen werde, wie könnte ich da ablehnen?“ Später saßen sich Kevin und seine Mutter gegenüber. Vor jedem stand ein noch halbvoller Kaffeebecher. „Ich finde es schön, dass wir beiden ein bisschen Zeit miteinander verbringen können, wo wir uns ein Jahrhundert und 3 Jahre nicht gesehen haben.“ „Das stimmt wohl, Mutter. Aber ich hätte dich unter angenehmeren Umständen wiedergesehen.“ „Ich weiß. Aber es ist nun mal nicht zu ändern, Kevin.“

„Und wie geht es nun weiter?“ „Das hängt einzig und allein von dir ab.“ „Inwiefern, Mutter?“ „Ob Du dein Erbe annimmst und den Stamm führen wirst, der im Westen lebt.“ „Und wenn ich das nicht kann?“ „Ich wusste, dass Du mir diese Frage stellen würdest, mein Junge. Und deshalb merke dir meine Worte. Ein guter Mann zieht einen Kreis um sich herum, und kümmert sich um alle, die darin sind. Andere Männer ziehen einen größeren Kreis, und kümmern sich um ihre Brüder und Schwestern. Aber manche Männer müssen einen Kreis um sich ziehen, der viele, viele mehr einschließt. Dein Vater war einer von diesen Männern. Nun musst du selbst entscheiden, ob Du auch so einer bist.“, sagte Jelena.

Kurz vor der Mittagsstunde machte sich Königin Jelena auf den Weg zurück zur Kleeblattinsel. „Darf ich dich was fragen, bevor Du gehst, Mutter?“, wollte Kevin wissen. „Was willst Du wissen?“ „Was ist aus Arthur Conway geworden?“ „Warum fragst Du mich das Kevin?“ „Er ist der Vater von Melissa Conway, meiner Vorgesetzten.“ „Ach so. Aber warum interessiert dich das Schicksal dieses Mannes?“, fragte Kevins Mutter. „Ganz einfach. Weil Melissa ein Recht darauf hat zu erfahren, was aus ihrem Vater geworden ist. Das ist zumindest meine Meinung.“ „Arthur Conway ist tot. Er wurde von einem großen weißen Hai angegriffen und getötet.“ „Jede Wette, da steckt Tosh Kamar dahinter, Mutter.“ „Du irrst dich, mein Sohn. Die Lagune hinter dem Riff, das die Insel umgibt, birgt viele Gefahren.“ „Und warum hat man dann seine Leiche nicht gefunden?“ „Wir haben das, was von Arthur Conway übrig war, in allen Ehren bestattet. Allerdings geht der Absturz der Maschine auf das Konto von Tosh Kamar. Ich werde später noch einmal vorbeikommen.“

Kaum war Jelena gegangen, klingelte es an der Haustür. Kevin betätigte den Türöffner. Dann hörte er den Aufzug heraufkommen. Keine 5 Minuten später klingelte es an Kevins Wohnungstür. Es war seine Chefin. „Ich hab ja heute morgen am Telefon gesagt, dass ich vorbeikomme.“, sagte sie. „Ja, ich weiß. Kommst Du direkt aus der Firma?“ „Nein. Ich war bis vor 10 Minuten bei Catherine.“ „Und wie geht es ihr?“ „So lala. Die Kopfschmerzen sind zwar weg, aber ihr ist immer noch schwindelig.“ „Ich ruf nachher mal an.“ „Ich denke, sie wird sich freuen.“ „Setz dich doch Melissa.“ Melissa Conway nahm auf dem Sofa Platz, auf dem am Abend zuvor Kevin und Catherine das Geheimnis um ihre 13

Fundstücke zu enträtseln versucht hatten.

„War Catherine eigentlich allein?“ „Nein. Eine Frau war bei ihr. Ihr Name war Eliska. Zumindest glaube ich, den Namen so verstanden zu haben.“ „Pass auf, wenn das alles wahr ist, was in den Briefen steht, dann hast du Catherines leibhaftige Mutter Königin Eliska, die vierte Königin der Kleeblattinsel getroffen.“ „Das würde defacto bedeuten, dass Catherine eine Prinzessin ist.“ „Sieht fast so aus, Melissa. Meine Mutter ist Königin Jelena, die erste der vier Königinnen.“ „Ist das die Dame auf dem Bild, das im Flur steht?“ „Ja.“ „Du siehst ihr sehr ähnlich. Die Nase, das Gesicht, sogar die Augen hast Du von ihr geerbt.“ „Danke für das Kompliment.“ „Habt ihr zwei ein gutes Verhältnis?“ „Dafür, dass wir uns heute zum ersten Mal nach 103 Jahren gesehen haben, ja.“ „Es ist immer gut, wenn man ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hat. Ich hatte zu meinem Vater ein besseres Verhältnis, als zu meiner Mutter. Ich war gerade 5 geworden, als Vater zu seinem letzten Flug aufgebrochen ist. Als man drei Jahre später das Wrack seiner Maschine entdeckt hat, hat Mutter nicht lange gefackelt und alles veräußert, was nicht niet- und nagelfest war. Sogar vor meinen Sachen hat sie nicht halt gemacht. Sie hat mir jede Erinnerung an ihn genommen.“ „Bis auf das Logbuch.“ „Wäre es nach ihr gegangen, hätte ich das Buch nie gefunden. Als ich das Päckchen gefunden habe, war sie im Krankenhaus.“

„Hast Du sie gleich aufgesucht, nachdem du das Logbuch gefunden hattest?“ „Wo denkst Du hin, Kevin? Dann hätte sie mir das Buch gleich abgenommen. Nein. Ich habe es erst in meiner Wohnung in meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer eingeschlossen. Erst danach bin ich ins Krankenhaus gefahren.“ „Wie hat deine Mutter reagiert, als Du ihr gesagt hast, dass du deines Vaters Logbuch in deinem Besitz hast?“ „Sie war fuchsteufelswild. Hat mich gefragt, wie ich es wagen könne auf so schändliche Weise Verrat an ihr zu üben.“ „Und was hast Du ihr geantwortet?“ „Das nicht ich, sondern Sie Verrat begangen hat, in dem sie alles verkauft hat, was irgendwie an Vater erinnert hat. Danach hat sie angefangen zu schreien.“ „Und wie ist dieses Drama ausgegangen?“, wollte Kevin wissen. „Mutter ist an einem Hirnschlag gestorben.“

„Mich würde vor allem noch eines interessieren, Melissa.“ „Und was, Kevin?“ „Was hat sich nach dem Verschwinden deines Vaters ereignet?“ „Wieso interessiert dich das?“ „Weil es etwas mit dem Verschwinden deines Vaters zu tun haben könnte.“ „Wenn Du mich so fragst, da war etwas. Unmittelbar nachdem man meinen Vater als vermisst gemeldet hat, ist ein Mann bei uns aufgetaucht.“ „Kannst Du dich an seinen Namen erinnern?“ „Ja. Der Name dieses Mannes war Toshiro Kamaru. Wieso fragst Du mich das?“ „Das will ich dir gerne sagen. Meine Heimat, die Kleeblattinsel wird von einem bösen Herrscher namens Tosh Kamar bedroht. Es ist nur eine Vermutung, aber im Moment die logischste Erklärung. Toshiro Kamaru könnte in Wirklichkeit Tosh Kamar sein.“ „Und was hat er mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun?“ „Ich habe 14

meine Mutter nach dem Schicksal deines Vaters befragt. Ich habe damit die traurige Pflicht auf mich genommen, dir mitzuteilen, dass dein Vater nicht mehr am Leben ist.“ „Danke Kevin. Irgendwie habe ich es geahnt, als ich das Logbuch gefunden hatte. Wie ist er gestorben?“ „Ein großer Weißer hat ihn gehapst.“ „Und was ist mit Dads Leiche?“ „Das was von ihm übrig war wurde in allen Ehren bestattet. Aber frag mich nicht, wo sich das Grab befindet.“ „Wenigstens hat er ein ordentliches Begräbnis erhalten. Ich würde gerne auf die Insel reisen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Das bin ich meinem Vater schuldig.“

In diesem Augenblick durchdrang etwas die Wand. Und als hätte Kevin es geahnt, trat seine Mutter, Königin Jelena ins Wohnzimmer. „Da bin ich wieder mein Sohn. Und ich habe dir etwas mitgebracht.“ „Jetzt machst Du mich aber neugierig. Was hast du denn für mich?“ „Diese Schriftrolle. Es ist ein Zauberspruch, der ein magisches Portal öffnet, durch das Du auf die Kleeblattinsel gelangst. Aber sei gewarnt, sobald sich das Portal schließt, wirst Du nie wieder in diese Welt zurückkehren können.“ „Das hängt davon ab, ob ich überhaupt in diese Welt zurück will.“ Melissa Conway räusperte sich.

„Darf ich bekannt machen, meine Vorgesetzte Melissa Conway, meine Mutter, Königin Jelena. Erste Königin der Kleeblattinsel.“ Jelena nahm Arthur Conways Tochter genau in Augenschein. Melissa Conway war 1,64 m groß und hatte einen sexy Körper, der kein Gramm Fett zu viel aufwies, aber an den entsprechenden Stellen etwas über Modelmaß lag. Ihre 88er Oberweite konnte sich ebenfalls sehen lassen. Das ovale Gesicht mit den braunen Augen war auch nicht von schlechten Eltern. Ihre sinnlichen Lippen hatte Melissa Conway mit einem hellen Rot-Ton hervorgehoben. Ihre dunkelbraunen Haare trug sie offen, sodass sie hinten bis zu ihren Brüsten reichten. Ihre grazile Nase fügte sich harmonisch in ihr Gesicht ein. Bekleidet war Melissa Conway mit einem schwarzen, eng anliegenden Minikleid, das an einigen Stellen transparent war und einen Blick auf ihre schwarzen Dessous gewährte. Dazu trug sie schwarze halterlose Nylonstrümpfe mit X-Muster und schwarze High Heels.

„Ich sehe Kummer in Ihren Augen. Hat mein Sohn Ihnen die traurige Nachricht übermittelt?“ „Ja. Ich würde gerne sein Grab besuchen, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Ich danke Euch, dass Ihr ihm ein ehrenvolles Begräbnis ermöglicht habt. Darf ich fragen, wo sich sein Grab befindet?“ „Es befindet sich in der Nähe der heiligen Quelle. Sein Geist fungiert nun als Wächter. Solange seine sterblichen Überreste nicht entfernt werden, wird er über die Quelle wachen.“

„Was gibt es sonst neues, Mutter?“ „Wioletta macht sich große Sorgen. Tosh Kamar hat seinen Riesenkalmar wieder aus den Tiefen in die oberen Schichten geholt.“ „Weißt Du zufällig, ob er schon mal hier gesehen wurde?“ „Ja. Es gab mehrere Sichtungen von ihm.“ „Weißt Du auch wann und wo?“ „Er wurde im März 1975 in Long Beach gesehen.“ „Etwa in der Orange Avenue 64?“ „Ja. 15

Woher wissen Sie das so genau?“ „Weil ich lange dort gelebt habe. Immerhin war dieses Haus mein Elternhaus.“ „Unter welchem Namen kennt man Tosh Kamar hier?“, wollte Kevin wissen. „Er tritt hier als Toshiro Kamaru in Erscheinung.“ „Und damit hast Du meine Theorie bestätigt, Mutter. Toshiro Kamaru ist in Wirklichkeit Tosh Kamar.“ Dann wandte sich Kevin an Melissa. „Er ist für den Absturz der Maschine verantwortlich, mit der dein Vater auf seinem letzten Flug unterwegs war.“ „Dieses Ungeheuer.“ „Ein Ungeheuer unter vielen Ungeheuern.“ „Eins will mir nicht ganz in den Kopf. Wieso hat Tosh Kamar ausgerechnet meine Familie ausgesucht?“, fragte Melissa. „Es gibt eine Prophezeiung, dass der Sohn der ersten Königin eine Frau aus der modernen Welt ehelichen und mit ihr ein Kind zeugen wird.“ „Hör ich mit Interesse, Mutter. Sagt die Prophezeiung sonst noch etwas?“ „Ja. Sie sagt weiter, dass der zukünftigen Königin unglaublich starke magische Kräfte innewohnen.“

„Und diese Frau soll ich sein?“, fragte Melissa. „Das werden wir feststellen. Tu, was ich von dir verlange. Und das ohne wenn und aber.“ Melissa nickte. Jelena, die erste Königin der Kleeblattinsel, kniete sich vor sie und hielt ihre Hand an ihre Stirn. „Schließe deine Augen.“, sagte sie. Melissa Conway tat, was Kevins Mutter von ihr verlangte. Jelena schloss nun ebenfalls ihre Augen und begann Melissa zu prüfen. Doch schnell stieß sie auf eine Mauer des Wiederstands. „Öffne deinen Geist.“, sagte die Königin deshalb. Melissa gab auf und erlaubte der ersten Königin der Kleeblattinsel die Sondierung fortzusetzen.

Nach 15 Minuten öffnete Jelena die Augen und zog ihre Hand zurück. „Du kannst deine Augen wieder öffnen, ich bin fertig.“, sagte sie zu Melissa. Diese sah sie fragend an. „Es besteht kein Zweifel. Du bist die Frau aus der Prophezeiung. Deine magischen Kräfte sind unglaublich stark.“ „Ich glaube, ich fange an, die Zusammenhänge zu sehen.“, sagte Kevin. „Dann bitte.“ „Tosh Kamar weiß von Melissas magischen Kräften.“ „Es geht in die richtige Richtung, aber es erklärt nicht die häufigen Besuche bei Melissas Mutter.“ „Der Grund liegt doch glasklar auf der Hand. Tosh Kamar will verhindern, dass Melissa die Insel findet.“

„Aber warum?“, fragte Melissa. „Es hängt bestimmt mit der magischen Quelle zusammen, dem Jungbrunnen.“ „Du überraschst mich schon wieder, mein Sohn. Einen solchen Scharfsinn hätte ich bei dir nicht erwartet.“ „Ich habe noch mehr Eigenschaften, die Du mir nicht zutraust. Aber es muss doch irgendwie dokumentiert sein, was zu tun ist, wenn die Auserwählte die Insel erreicht.“ „Melissa muss in die Quelle steigen und dort ein Bad nehmen. Dann erst kann sie ihre magischen Kräfte voll entfalten. Im Moment reicht es nur zu einfachen Zaubersprüchen.“

„Nun, wenn so einfach ist, dann sollten wir das Portal öffnen.“, schlug Melissa vor. „Nicht so schnell. Erst müsst Ihr die Bücher lesen. Vorher würdet Ihr die Insel nicht lebend erreichen. Denn es gibt einen Wächter, der jeden tötet, der 16

versucht unvorbereitet durch das Portal zu schreiten.“ „Und alles was wir wissen müssen steht in den Büchern.“, sagte Kevin. „Ganz genau. Und je eher Ihr mit dem Lesen anfangt, umso eher könnt Ihr ohne Probleme durch das Portal auf die Insel und Melissa kann ihr Schicksal erfüllen.“

Dann war es für Jelena an der Zeit, zur Kleeblattinsel zurückzukehren. Mit einer innigen Umarmung verabschiedete sie sich von ihrem Sohn. Von ihrer zukünftigen Schwiegertochter mit einem Küsschen auf die rechte Wange und einem auf die linke, das von Melissa erwidert wurde. „Sehen wir uns noch mal, bevor wir unsere Reise zur Kleeblattinsel antreten?“, fragte Melissa. „Wenn Ihr das erste Buch gelesen habt. Denn ich bin sicher, dass Ihr viele Fragen haben werdet.“ Dann verschwand die erste Königin der Kleeblattinsel genauso geheimnisvoll, wie sie gekommen war.

Kevin beschloss sich frisch zu machen. Als er aus der Dusche kam, staunte er nicht schlecht. Melissa hatte ihr Kleid ausgezogen und saß nun auf der Couch und hatte die Beine lasziv übereinander geschlagen, so dass man ihre unrasierte Scham sehen konnte. „Was soll das denn werden, Melissa?“, fragte er. „Das erfährst Du gleich.“ Dann forderte Melissa Conway Kevin auf, sich zu ihr auf die Couch zu setzen.

10 Minuten später hatte sie sich auf erotische Weise auf Kevins Schoß gesetzt und hielt ihn in ihren Armen. Ihren Kopf hatte Melissa an seine Schulter gelegt. Dann sah sie ihn aus ihren braunen Augen an. „Catherine möchte, dass ich heute Abend mit dabei bin.“, sagte sie. „Ich bin der letzte, der etwas dagegen einzuwenden hätte.“

Später am Abend, es war 19:30 Uhr, fanden sich Melissa und Kevin bei Catherine ein. Die beiden hatten nicht nur das Buch, sondern auch alle anderen Dokumente mit eingepackt. Als Kevin an Catherines Tür klingelte, hörte er ihre Stimme. „Ich komme sofort!“, rief sie. Keine 2 Minuten später öffnete Catherine Parsons die Tür. „Kommt rein.“, sagte sie und ließ Kevin und Melissa eintreten. Kaum war die Tür zu, führte Catherine die beiden in das Wohnzimmer ihrer Wohnung. Dort staunte Kevin nicht schlecht. Auf der Couch saß eine Frau.

Sie war 1,68 m groß und hatte ein ovales Gesicht. Der schlanke, sexy Körper mit der üppigen Oberweite fiel Kevin natürlich sofort auf. Auch die sexy Beine der Dame waren nicht zu übersehen. Ihre hellbraunen Haare trug sie offen, sodass sie bis zu ihren Brüsten reichten. Catherines Mutter hatte braune Augen. Allerdings waren ihre einen Ticken heller als Melissas. Ihre Nase war etwas breit, aber nicht zu breit. Ihre sinnlichen Lippen hatte sie mit einem rosefarbenen Lippenstift hervorgehoben. Bekleidet war Königin Eliska mit einem schwarzen Minikleid und schwarzen High Heels.

Nun sah Kevin seine Arbeitskollegin an. Catherine glich ihrer Mutter wie 17

ein Ei dem anderen. Nur mit dem Unterschied, dass sie 3 cm größer war. Doch im Gegensatz zur vierten Königin trug sie ein nachtblaues Satinkleid mit goldenen Sonnen und silbernen Monden bestickt und dunkelblaue Sandaletten mit goldenen und silbernen Ornamenten. Um den Hals trug sie eine Goldkette mit einem nach unten gekehrten Fächer in den mehrere kleine Tansanitsteine eingearbeitet waren.

„Schön dich zu sehen, Neffe.“, sagte Königin Eliska. „Wieso Neffe?“ „Ich bin die Schwester deiner Mutter, Kevin. Und Catherine ist deine Cousine.“ „So schlau bin ich auch, stell dir vor.“ Die Königin schmollte. „Sei nicht so bärbeißig, Neffe. Diese Art von Sarkasmus kannst Du dir erlauben, wenn Ihr eure Aufgabe erledigt habt.“ „Sag nichts. Wir sollen Tosh Kamar in die ewigen Jagdgründe schicken.“ „Ganz genau, Kevin. Habt Ihr das Buch mitgebracht?“ „Na selbstverfreilich.“, sagte Kevin und holte das Buch und die übrigen Dokumente aus seiner Aktenmappe.

„Gibst Du mir bitte das Buch, Neffe? Die übrigen Dokumente leg bitte auf den Tisch.“, sagte Catherines Mutter. Kevin gab Königin Eliska das Buch, während Melissa Conway die Dokumente auf den Tisch legte. Eliska setzte sich in einen Sessel und holte aus einem Etui eine Brille. „Seit wann trägst Du eine Brille, Mutter?“, fragte Catherine. „Ich muss mich langsam daran gewöhnen, dass ich älter werde. Mit der Brille fängts an.“

Dann schlug Königin Eliska die Beine übereinander und öffnete das Buch. „Glaubst Du es jetzt?“, fragte Kevin. „Jetzt schon. Und um deiner Frage zuvor zu kommen. Mein Vater war der Russe. Aber eine Frage an dich. Ab wann hast Du die Geschichte geglaubt?“ „Seit ich das Bild in der Abstellkammer gefunden habe.“ „Ich habe heute mal nachgesehen. Du hattest Recht. Ich habe ein Bild meiner Mutter gefunden.“ Königin Eliska räusperte sich. „Eure Unterhaltung solltet Ihr ein andermal fortsetzen. Aber jetzt möchte ich gerne eure ungeteilte Aufmerksamkeit.“ 18

Buch 1 - Kapitel 1

Buch 1 – Kapitel 1

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Das Meer mag zuweilen ruhig erscheinen, und dich in Sicherheit wiegen. Doch kann es sich von einem auf den anderen Augenblick gegen dich wenden. So höre nun, Reisender, der Du kommst von weit her. Und wisse um die Gefahren, die die See mit sich bringt. Mögen sie dich nun an der Oberfläche heimsuchen, oder in den unendlichen Tiefen des Ozeans auf dich lauern. Doch am meisten, o Reisender fürchte dich vor dem… was unter der Wasseroberfläche auf dich wartet.“

15.März 1712 zwei Monate vor dem Raub des großen Feueropals

„Du weißt, was Du zu tun hast?“ Keoga nickte. „Ja, Herr.“, sagte er. „Dann wiederhole es.“ „Ich soll am Ufer der heiligen Quelle euer Wappen in den Boden brennen und verkünden, dass die Quelle von nun an Euer ist und ihr jeden töten werdet, der es wagt sie zu betreten. Mein Herr und Gebieter.“ „Sehr gut. Aber pass auf. Die Häscher der vier Königinnen sind Tag und Nacht auf Patrouille. Wenn sie dich fangen, werden sie mein Versteck aufspüren und mich verhaften. Du musst schweigen, Keoga. Hast Du mich verstanden?“ „Ihr könnt euch auf mich verlassen, Tosh Kamar, mein Herr und Meister.“ „Wirklich?“ „Niemand kriegt was von mir raus. Ich schweige wie ein Grab.“, sagte Keoga. „Das will ich hoffen, Keoga. Denn wenn Du mich verraten solltest, geht es dir an den Kragen. Und nun geh! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wer auf der Suche nach Perlen ist, darf nicht schlafen.“ „Ich gehorche, Meister.“, sagte Keoga und ging.

Tosh Kamar sah ihm nach, bis er im hohen Gras verschwunden war. „Hoffentlich versagt er nicht.“, dachte er. Unzählige Male hatte der böse Herrscher Tosh Kamar versucht, die heilige Quelle in seinen Besitz zu bringen, verhieß sie doch unumschränkte Macht. Doch jedes Mal hatten ihm die vier Königinnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem sie seine Getreuen in einen Hinterhalt gelockt und dann getötet hatten. Als erstes hatte er einen fliegenden Homunkulus geschickt, doch dieser war im Netz einer Kreuzspinne gelandet und von dem Insekt getötet worden. Seinen Gnom hatte Königin Jelenas Wappentier, ein gigantischer Kaiserskorpion durch einen gut gezielten Stich in die Brust vergiftet.

Nun hatte Tosh Kamar von einer der Nachbarinseln, die die Kleeblattinsel umgaben, den Außenseiter Keoga geholt. Der Junge war ihm gerade recht gewesen, da dessen Stamm ihn auf Lebenszeit verbannt hatte. Der böse Herrscher Tosh Kamar hatte sich die Verzweiflung des Jungen zunutze gemacht und ihm versprochen, dass er ihm helfen würde, die Herrschaft über seine Heimatinsel an sich zu reißen und seine Feinde im Staub des Schlachtfelds sterben zu sehen. Doch in Wirklichkeit, hatte er vor, Keoga seinem Riesenkalmar zum Fraß vorzuwerfen. Denn wenn einer über die 19

Kleeblattinsel und ihre Nachbarinseln regierte, dann er, Tosh Kamar. Wehe dem, der es wagen sollte, seine Pläne zu durchkreuzen.

Keoga schlich indessen durch das hohe Gras in Richtung der Quelle. Er dachte an Liasanya, sie war die schönste Frau in seinem Dorf gewesen. Liasanya hätte eigentlich jedem Mann im Dorf ihr Herz schenken können. Aber nein. Sie hatte ihn, Keoga den Außenseiter erwählt. Sehr zum Missfallen von Walbur, der seinen Rivalen abwertend „Zweiauge“ nannte. Denn dieser hatte ein blaues und ein braunes Auge. Keoga liebte Liasanya und sie ihn. Doch Walbur, der stärkste Krieger im ganzen Dorf, beanspruchte sie für sich. Die meisten jungen Männer im Dorf akzeptierten seinen Anspruch auf Liasanya. Alle, bis auf Keoga. Seine Weigerung, Walburs Ansprüche auf das Mädchen anzuerkennen, brachte diesen auf die Palme. Eines Abends, die Sonne war gerade untergegangen, kam Walbur in Keogas Hütte. „Du weigerst dich immer noch, meinen Anspruch auf Liasanya anzuerkennen?“ „Das tu ich in der Tat. Solange ich lebe, werde ich deinen Anspruch auf sie niemals anerkennen.“ „Ganz wie Du willst, Keoga. Dann mache ich von meinem Recht Gebrauch und fordere dich zum Zweikampf heraus.“ „Wie du meinst.“ „Du kennst das Gesetz des Dorfes. Wer verliert, muss die Insel verlassen. Und zwar für immer.“

Ein diabolisches Grinsen trat in Walburs Gesicht. Keoga schluckte als Walbur die Hütte verlassen hatte. Unmittelbar nachdem Keogas Rivale dessen Hütte verlassen hatte, war Liasanya durch den Hintereingang hineingeschlüpft und hatte sich ihm hingegeben. Doch dabei wollte sie dann aber doch nicht belassen. „Morgen vor dem Kampf werde ich Walbur vor allen Dorfbewohnern zurückweisen und dich erwählen.“, hatte Liasanya Keoga ins Ohr geflüstert.

Am nächsten Morgen staunte Walbur nicht schlecht, als er alle seine Geschenke, die er Liasanya gemacht hatte, auf einem kleinen Teppich fein säuberlich aufgereiht liegen sah. Ihm war klar, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte ihn zurückgewiesen! Sofort war Walbur klar, wen sie erwählen würde. Liasanyas Wahl würde natürlich auf Zweiauge fallen. Er beschloss Keoga so übel zuzurichten, dass sein Rivale unweigerlich hinüber in die Endwelt gehen musste.

Keogas Erinnerungen verblassten. Das nächste woran sich Keoga erinnerte, war seine erste Begegnung mit Tosh Kamar. Denn unmittelbar, nachdem Liasanya, eingehüllt in grünes Feuer spurlos verschwunden war, hatte Walbur sich selbst zum Großkönig gekrönt, und seinen Rivalen sofort in die Verbannung geschickt. Bis an den Strand hatten er und seine Krieger Keoga gejagt. Doch dort fand die Jagd ein jähes Ende. Ein Fremder hatte aus dem Nichts eine magische Barriere hinter ihm errichtet, die weder Walbur noch seine Krieger durchdringen konnten. Auch ihre Speere prallten an der Mauer ab. Walbur kochte innerlich vor Zorn. „JA, HAU NUR AB KEOGA! ABER DU ENTKOMMST MIR NICHT! DU KANNST DICH NICHT EWIG VERSTECKEN! IRGENDWANN 20

FINDE ICH DICH! UND DANN WERDE ICH DICH TÖTEN!“, rief er Keoga nach.

Auf dem Weg zu Kleeblattinsel hatte der Fremde sich dann vorgestellt. „Mein Name ist Tosh Kamar.“, hatte er gesagt. „Ich bin Keoga.“ „Wer Du bist, ist mir vollkommen egal. Ich habe dich vorhin vor deinen Feinden beschützt. Jetzt sollst Du mir helfen.“ „Was soll ich tun?“ „Du sollst eine magische Quelle für mich annektieren. Wenn Du das schaffst, werde ich dich bei deinem Feldzug gegen deinen Rivalen Walbur unterstützen. Ich werde dir eine Streitmacht zur Verfügung stellen, wie es sie kein zweites Mal gibt.“

Die Erinnerung verblasste erneut, denn ein leises Plätschern drang an Keogas Ohr. Das musste die Quelle sein, die er für seinen Herrn und Meister in Besitz nehmen sollte. Doch drang ein weiteres Geräusch an sein Ohr. Es war das Brüllen einer Raubkatze. Keoga legte sich flach auf den Boden und atmete leise. Dann teilte sich zu seiner Rechten das Gras und ein Tiger erschien auf der Bildfläche. Der Junge blieb regungslos liegen.

Das Tier schnupperte an ihm und machte zu seiner Überraschung kehrt und verschwand wieder im Gras. Keoga war erleichtert. Er blieb noch eine Weile liegen, denn es konnte durchaus möglich sein, dass sich noch mehr wilde Tiere hier draußen rumtrieben. Dann setzte Keoga seinen Weg fort.

Unterdessen verfolgte Tosh Kamar in seinem Versteck mit Hilfe seiner magischen Glaskugel das Geschehen. Er bekam einen ordentlichen Schreck, als der Tiger aus dem Gras auftauchte. Doch bis jetzt lief alles wie am Schnürchen. Wenn Keoga auch weiterhin genug Vorsicht walten ließ, dann würde er Erfolg haben und er, Tosh Kamar, hätte sein Ziel erreicht. Doch der böse Herrscher war sich auch darüber im Klaren, dass sein Plan auch in allerletzter Sekunde scheitern konnte.

Keoga hatte inzwischen ein weiteres Stück des Weges zurück gelegt. Doch dann merkte er, dass er Hunger hatte, denn sein Magen fing an zu knurren. Er sah in seiner Tasche nach und musste feststellen, dass trotz seiner Sparsamkeit ein Teil seiner Vorräte fehlte. Keoga hatte sofort Walbur im Verdacht, denn wer sonst hätte ein Interesse an seinem Ableben haben sollen. Das sich Tosh Kamar heimlich daran bedient hatte, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht. Als er ein paar Grasbüschel beiseite schob, sah er ein Reh und dessen Kitz. Die Mutter lag auf dem Boden und atmete kaum noch. Nun befand sich Keoga in einem Gewissenskonflikt. Auf der einen Seite wollte er das Muttertier erlösen und würde dadurch neue Nahrungsvorräte bekommen. Auf der anderen Seite wollte er nicht, dass das Kitz ohne Mutter aufwuchs. Ganz langsam näherte sich der junge Krieger der Stelle, um das Rehkitz nicht zu erschrecken.

Als er Mutter und Kind erreicht hatte, sah sich Keoga das Muttertier 21

genauer an. Und was er entdeckte, stimmte ihn traurig. Denn Keoga besaß eine spezielle Fähigkeit. In seinen Gedanken konnte er in jeden Körper reisen und jede Art von Wunde oder Krankheit aufspüren und benennen. So hatte er erfahren, dass die Lunge der Mutter stark angegriffen war. Er hatte Mitleid mit dem Tier und wollte schon zum Messer greifen, um die Reh-Mutter von ihrem Leid zu erlösen. Doch er brachte es nicht übers Herz, das Muttertier zu töten. „Du kannst ihr ruhig den Gnadenstoß versetzen. Du würdest ihr damit eine Menge Leid ersparen.“, sagte eine Frauenstimme. Keoga drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau.

Auffällig waren ihre roten Haare. Die Frau war 1,65 m groß und hatte einen schlanken, sexy Körper. Die dauergewellten Haare trug sie offen, sodass sie bis zu ihren üppigen Brüsten reichten. Das ovale Gesicht mit den blauen Augen und der grazilen Nase war ebenfalls hübsch anzusehen. Auch die sinnlichen Lippen gefielen Keoga. Bekleidet war die unbekannte Frau mit einem magentafarbenen Kleid, trug jedoch keine Schuhe. Offenbar zog sie es vor barfuß durch die Natur zu wandern.

„Wer sind Sie?“, fragte Keoga zaghaft. „Ich bin Jardanka. Die Hüterin des Waldes und allen Lebens auf der Insel. Und wer bist Du, du schöner Jüngling?“ „Ich heiße Keoga.“ „Sei willkommen.“ „Ich würde das Muttertier gerne von seinem Leid erlösen, aber ich bringe es nicht übers Herz.“ Jardanka kniete sich vor Keoga, legte eine Hand auf seine Schulter und sah ihn aus ihren blauen Augen an. „Was hindert dich daran?“, fragte die Hüterin des Waldes. „Würde ich die Mutter töten, wäre das Kitz ganz auf sich allein gestellt. Wenn ihm jetzt etwas zustößt, weiß ich nicht, ob ich mir das verzeihen würde.“ „Um das Kitz mach dir keine Sorgen, ich werde mich seiner annehmen.“ Keoga fasste sich ein Herz und stieß sein Jagdmesser in das Herz des Muttertieres.

Tosh Kamar in seinem Versteck war indes außer sich vor Wut. Dieser dumme Junge hatte sich ablenken lassen! „Er hat nur ein Reh getötet. Wer weiß wofür es gut ist. Vielleicht ist das Fleisch des Rehs für Keoga noch von Nutzen, wenn er die Quelle erreicht.“, dachte er. Doch auf der anderen Seite konnte es sein, dass die Hüterin den Jungen verführen und seine Mission vereiteln würde. Keoga war unterdessen in Begleitung von Jardanka auf dem Weg zu einem kleinen Wäldchen. Unterwegs klärte ihn die Hüterin des Waldes über Tosh Kamar auf. „Du kannst noch umkehren, indem Du fliehst, und dich irgendwo versteckst.“, hatte sie gesagt. „Wo soll ich mich verstecken? Tosh Kamar bringt mich um, wenn ich seinen Befehl nicht ausführe.“ „Was verlangt er von dir?“ „Die Eroberung der heiligen Quelle.“

„Was hat er dir als Gegenleistung versprochen, wenn du ihm hilfst?“ „Er wollte mir eine Streitmacht zur Verfügung stellen um auf meiner Heimatinsel meinen ärgsten Rivalen niederzuwerfen.“ „Tosh Kamar hat dich belogen. Ehe er dir 22

auch nur einen Soldaten zur Verfügung stellt, wirft er dich lieber seinem Riesenkalmar zum Fraß vor.“ „Was meint Ihr damit?“ „Das will ich dir sagen, Keoga. Tosh Kamar will nicht nur die Kleeblattinsel sondern auch deren Nachbarinsel beherrschen. Er will sich anstelle der obersten Göttin, Iduna, setzen. Er hat sich deine missliche Lage zunutze gemacht um sein Ziel zu erreichen. Hör auf mich und flieh.“ „Wo soll ich hin? Tosh Kamar kennt jeden Quadratmeter der Insel.“ „Moment. Es gibt einen Ort, an dem Du sicher vor ihm bist. Denn dort kann er nicht hin.“

„Ich verstehe nicht ganz. Von welchem Ort sprecht ihr?“ „Ich spreche von Amelias Reich.“ „Wer ist Amelia?“ „Idunas Halbschwester. Ihr Reich liegt unter der heiligen Quelle. Doch eines musst Du wissen, Keoga. Der Eingang ist nicht leicht zu finden. Außerdem musst Du noch den Tiger besänftigen, der auf dem Felsen über der Quelle Wache hält.“ „Ich verstehe. Aber wieso kann Tosh Kamar Amelias Reich nicht betreten? Das habt Ihr mir noch gar nicht gesagt.“ „Weil Du nicht gefragt hast. Der Eingang ist durch einen Bannzauber geschützt, der nur sehr schwer zu überwinden ist. Und selbst wenn es Tosh Kamar gelingen sollte, den Zauber zu überwinden, so muss er immer noch an Amelias Riesenbasilisk vorbei, der in der Dunkelheit lauert.“, sagte Jardanka.

Am Rand des Wäldchens nahm Jardanka von Keoga Abschied. Sie hatte ihm erlaubt, das Fleisch des toten Muttertieres als Nahrungsvorräte zu behalten. „Die Quelle ist nicht mehr weit. Halte dich in diese Richtung.“, sagte die Hüterin und wies nach Westen. „Danke für das Fleisch.“ „Ist schon in Ordnung. Weißt Du, wer sich an deinen Vorräten bedient hat?“ „Nein. Aber ich bin mir sicher, es war Walbur, mein Rivale.“ „Auch wenn es der naheliegendeste Schluss ist, so irrst Du dich. Es war Tosh Kamar, der dich bestahl.“, sagte Jardanka.

„Ich danke euch für eure Hilfe und eure Aufrichtigkeit.“ „Hab ich gern gemacht. Und nun mach dich auf den Weg.“, sagte Jardanka. Keoga ging. Blieb jedoch stehen und drehte sich noch einmal um. Die Hüterin winkte ihm noch einmal zum Abschied und verschwand dann im Wäldchen. Er selbst setzte seinen Weg fort. Während er so dahin wanderte, kamen dem jungen Krieger Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns. Doch Keoga fragte sich auch, ob Jardanka ihn nicht doch angelogen hatte, um ihn daran zu hindern, Tosh Kamars Befehl zu befolgen. Er entschied, dem bösen Herrscher in den Rücken zu fallen und ihn ans Messer zu liefern. Tosh Kamar indessen tobte vor Wut. Jardanka hatte ihn verraten! Für diesen Verrat sollte sie teuer bezahlen. Aber zuerst würde er sich Keoga vornehmen.

Als dieser die Quelle erreichte, sah er auf dem Felsen, von dem aus sich das Wasser in den See ergoss, den Tiger sitzen. Keoga legte seine Tasche auf den Boden und holte einige Fleischstücke heraus, die er auf dem Boden ausbreitete, ohne das Raubtier aus den Augen zu lassen. Mit zwei gewaltigen Sätzen 23

Sprang der Tiger von seinem Sitzplatz und schnupperte zuerst an dem Fleisch. Dann legte sich die Raubkatze der Länge nach und begann seelenruhig die ihr dargebrachte Mahlzeit zu verspeisen. Keoga selbst hatte sich auf den Boden gesetzt, die Augen geschlossen und seine Hände zum Gebet gefaltet. Zumindest sah es so aus. Doch in Wirklichkeit suchte er mit seinem geistigen Auge die Umgebung nach möglichen Gefahren ab. Ein Rascheln erregte seine Aufmerksamkeit. Als er seinen Kopf nach links wandte, tauchte aus dem Gras ein Löwe auf. Auch ihm gab er etwas von dem Fleisch des Rehs.

Der Löwe hatte gerade seine Mahlzeit beendet, da erschien Tosh Kamar auf der Bildfläche. Doch bevor der böse Herrscher irgendetwas gegen Keoga unternehmen konnte, hatten sich die beiden Raubkatzen zwischen ihn und sein Opfer gestellt. Beide fletschten die Zähne und ließen ein lautes Brüllen ertönen. Tosh Kamar wich zurück. Doch Tiger und Löwe gingen ihm nach. Die beiden Großkatzen trieben den Bösen vor sich her. Der böse Herrscher hatte genug damit zu tun, diese beiden Fleischfresser in Schach zu halten, und merkte nicht, wohin er ging.

Erst als er in 2 Metern Höhe in einem Netz zappelte wurde ihm bewusst, dass der Tiger und der Löwe ihn in diese Falle getrieben hatten. Und er wusste genau, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Soldaten der vier Königinnen ihn gefangen nehmen würden. Tosh Kamar musste Keoga wohl oder übel um Hilfe bitten, wenn er nicht verhaftet und bis zu seiner Verurteilung im Kerker landen wollte. „Keoga! Hey Keoga!“ „Was ist?“ „Hol mich hier raus! Schneide mit deinem Messer das Netz auf.“ „Du bleibst schön da, wo Du bist.“ „Ist das der Dank dafür, dass ich dich vor deinen Feinden beschützt habe?“ „Du hast mich hintergangen! Und beklaut hast Du mich auch noch! Und da erwartest Du von mir, dass ich dir weiterhin vertraue und dich befreie?“ „Ich weiß, es war ein Fehler, sich an deinen Vorräten zu vergreifen. Aber ich werde mein Unrecht wieder gutmachen.“ „Ich glaube dir kein Wort.“ „Aber es ist die Wahrheit!“ „Hör zu, Tosh Kamar! Ich will deine Hilfe nicht. Ich werde nach Tangaroa zurückkehren und Walbur stürzen.“ „Ohne mich ist deine Mission zum Scheitern verurteilt. Verstehst Du das nicht? DU BRAUCHST MICH!!!“

Keoga stieß ein lautes, höhnisches Lachen aus. „Ich dich brauchen? Träum weiter, Tosh Kamar. Ich schaffe es auch ohne dich.“ „Du bist ein Narr, Keoga.“, sagte Tosh Kamar. Doch mehr konnte er nicht sagen, denn ein Trupp Soldaten war aufgetaucht und hatte ihn eingekreist. Auf ihren Schilden konnte Keoga einen Weißkopfseeadler erkennen. „Holt ihn runter!“, befahl einer der Soldaten, der offensichtlich der Anführer war, denn er hatte einen Helm mit einem roten Federbusch auf dem Kopf. „Jawohl Herr Hauptmann!“ Einer der Bogenschützen durchtrennte mit einem gut gezielten Schuss das Seil, und das Netz stürzte zu Boden. Tosh Kamar wurde die Luft aus den Lungen gepresst als das Netz aufprallte. Die Soldaten öffneten das Netz und zerrten den Bösen auf 24

die Füße. „Du wirst es noch bereuen, dass Du mich verraten hast, elender Hundsfott. Ich werde mich an dir rächen. So wahr ich…“ „Du hältst jetzt erst mal das Maul!“, sagte ein Soldat und stopfte Tosh Kamar einen Knebel in den Mund.

Tosh Kamar wurde in Ketten gelegt. Doch bevor sich die Soldaten auf den Rückweg machten, wandte sich der Hauptmann an Keoga. „Du bist nicht von hier, stimmt’s? Denn sonst hätte ich dich hier schon gesehen. Wie ist dein Name?“ „Keoga.“ „Und woher kommst Du?“ „Von der Insel Tangaroa.“ Der Hauptmann nickte kurz. „Verstehe. Hat Tosh Kamar dich hergebracht?“ „Ja. Er wollte, dass ich ihm helfe die Quelle in Besitz zu nehmen. Als Gegenleistung hat er mir versprochen, mich bei meiner Mission zu unterstützen.“ „Worin besteht deine Mission?“, fragte der Hauptmann. „Ich will Tangaroa zurückerobern und Walbur, den amtierenden Großkönig stürzen.“ „Ein gewagtes Unterfangen. Du wirst Hilfe brauchen.“ Dann gab der Hauptmann den Soldaten den Befehl zum Abmarsch. Er drehte sich zu Keoga um und sagte: „Du solltest zur Quelle zurückkehren. Denn dort wartet jemand auf dich!“

Als die Soldaten mit Tosh Kamar abgezogen waren, kehrte Keoga zur magischen Quelle zurück und sah sich noch einmal um. Der Tiger und der Löwe waren verschwunden. Doch am Ufer stand eine Frau. Ihre braunen Haare trug sie offen, sodass sie sanft im Wind flatterten. Auch das ovale Gesicht bot einen hübschen Anblick. Auffällig war natürlich auch der schlanke und grazile Körper. Die Brüste waren nicht gerade üppig, aber auch nicht zu klein. Ihre Lippen hatten auch etwas Sinnliches an sich, ebenso die schmale und grazile Nase. Ihre grünen Augen strahlten Freundlichkeit und Güte aus. Bekleidet war Amelia mit einem grünen Kleid, war aber barfuß. Um das Kleid und ihren Körper bewegten sich weiße Bänder, die aus dem See zu kommen schienen.

Als Idunas Halbschwester den jungen Krieger erblickte, schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln. „Willkommen, Keoga.“, sagte Amelia. „Ihr wisst, wer ich bin?“ „Ich weiß mehr, als Du denkst. Aber jetzt möchte ich dich bitten, mir zu folgen. Auch wenn Tosh Kamar nun seiner gerechten Strafe zugeführt wird, so kann er dir immer noch gefährlich werden. In meinem Reich bist Du sicher.“ Amelia ging voran und Keoga folgte ihr. Vor einem Loch in der Erde blieb Idunas Halbschwester stehen. Sie drehte sich zu ihm um und hielt ihm ihre Hand hin. „Gib mir deine Hand, Keoga.“, sagte sie sanft. Doch Keoga zögerte. „Hab keine Angst. Ich beiße nicht.“ Wieder lächelte sie. Zaghaft streckte der junge Krieger seine Hand aus und legte sie in Amelias.

Die Herrin der Welt unter dem See führte ihn über eine gewundene Treppe hinab in ihr Reich. Als sie die magische Barriere passierten, spürte Keoga ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut. Hinter der Barriere entzündete Amelia ein Irrlicht, das vor ihnen herflog. Links von sich vernahm Keoga ein dumpfes Grollen, das aus der Dunkelheit kam. Der junge Krieger aus Tangaroa bekam einen Schreck, 25

als er in der Dunkelheit zwei diabolische rote Augen aufleuchten sah. Doch Amelias Stimme beruhigte ihn. „Hab keine Furcht. Der Basilisk wird dir nichts tun, solange Du meine Hand hältst.“

Immer tiefer führte Amelia Keoga in ihr Reich. Und je tiefer sie vordrangen, desto heller wurde es. Keoga konnte nun zwei mächtige Säulenreihen erkennen, die die Decke über ihnen stützten. Schließlich erreichten sie einen großen, weiträumigen Saal. „Hier lebe ich, Keoga. Und dies wird auch erstmal dein Zuhause sein. Tosh Kamar wird dich jagen, sobald Du dich an die Oberfläche wagst. Deswegen bleibe bitte hier. Außerdem würde ich mich über etwas Gesellschaft freuen. Ich fühle mich hier unten die meiste Zeit sehr einsam, musst Du wissen.“ „Ich weiß nicht, ob ich euch ein guter Gesellschafter sein werde, Mylady.“ „Keoga, bei mir brauchst Du nicht so förmlich sein. Das müssen nur Gäste sein, denen ich nicht gerade wohl gesonnen bin. Aber dich mag ich. Nimm meine Hand, als Zeichen ewiger Freundschaft.“ Mit diesen Worten hielt Amelia Keoga die Hand hin. Er ergriff sie und fand sich in einer freundschaftlichen Umarmung wieder. „Erzähl mir von deiner Heimat. Mich interessiert, woher du kommst.“, sagte Amelia.

Unterdessen waren Wiolettas Soldaten mit ihrem Gefangenen auf der Burg ihrer Herrin angekommen. Tosh Kamar wurde sofort ins Verlies gebracht, wo man ihn in eine Zelle sperrte, die von einem magischen Bannzauber zusätzlich gesichert wurde. Königin Wioletta hatte diese Maßnahme befohlen. In Amelias Reich saßen Idunas Halbschwester und Keoga beim Abendessen zusammen. Der junge Krieger erzählte seiner Gastgeberin gerade von Liasanya. Als er geendet hatte, brach er in Tränen aus. Amelia legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn aus ihren grünen Augen an.

„Ich verstehe, dass Du traurig bist. Vor mir brauchst Du dich deiner Tränen nicht zu schämen. Walbur war eure Liebe immer ein Gräuel.“ „Was meinst Du damit?“ „Hast Du dich nie gefragt, warum Liasanya am Tag, an dem Du und Walbur um ihre Gunst kämpfen wolltet, spurlos verschwunden ist?“ „Nicht nur das. Ich habe so viele Fragen, die ihr Schicksal betreffen. Lebt Sie noch? Wenn ja, wo? Geht es ihr gut? Denkt sie an mich? Oder hat sie mich vergessen?“ „Ich weiß, wo Liasanya ist.“, sagte Amelia. „Bitte sag es mir.“ „Sie ist in Idunas Palast. Meine Halbschwester hat sie dorthin geholt, als klar war, dass Walbur Tangaroas oberstes Gesetz brechen und ihre Wahl nicht akzeptieren würde.“ „Und wie geht es Liasanya?“ „Es geht ihr gut. Iduna kümmert sich liebevoll um sie.“ „Wenigstens das, Iduna sei Dank.“ „Allerdings darf deine Liebste erst wieder zurückkehren, wenn Walbur gestürzt ist.“ „Hilfst Du mir dabei, Amelia?“ „Du meinst, indem ich an deiner Seite auf dem Schlachtfeld kämpfe?“ „Ja.“

„Ich befürchte, in dem Punkt, kann ich dir nicht helfen. Aber ich kenne jemanden, der dazu in der Lage wäre.“ „Wer ist es?“ „Sie ist eine Amazone. 26

Wenn Du mein Reich wieder verlässt, dann frage nach Andelka.“27

Buch 1 - Kapitel 2

Buch 1 – Kapitel 2

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Die Quelle der Jugend ist ein Ziel, für das so mancher Reisende einen hohen Preis zu zahlen bereit ist. Doch wisse Fremder, nur wer reinen Herzens ist, wird sie erreichen. Allen anderen… Bringt sie Unglück. Überlege gut, Fremder, ob du bereit bist, den Preis den die Götter von dir fordern werden… auch zu bezahlen.“

15. April 1712 einen Monat vor dem Raub des großen Feueropals

Tosh Kamar saß in seiner Zelle. Der böse Herrscher kochte vor Zorn. Keoga hatte ihn verraten. Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte er sich Tosh Kamars Rache entzogen. Amelia, Idunas Halbschwester hatte ihn in ihr Reich gebracht, der einzige Ort auf der Kleeblattinsel, der für ihn, Tosh Kamar unerreichbar blieb. Solange Keoga dort weilte, konnte der böse Herrscher seine Rachepläne nicht in die Tat umsetzen.

In Amelias Reich saßen der junge Krieger und Idunas Halbschwester in der großen Bibliothek zusammen. Es regnete. Keoga erkannte dies daran, dass Wassertropfen auf die Oberfläche des Sees prasselten und das Wasser kräuselten. Amelia sah ihn an und musterte ihn. Keoga war 1,82 m groß und hatte einen athletischen Körperbau. Er hatte ein rundes Gesicht mit braunen Augen und einem schwarzen Kinnbart. Über der Oberlippe deutete sich ganz sanft ein Oberlippenbart an. Seine schwarzen Haare hatte der Krieger aus Tangaroa zu Dreadlocks geflochten. Seine Nase war etwas breit, aber das störte Amelia nicht. Keogas Lippen waren nicht gerade lang, aber auch nicht zu kurz. Bekleidet war Keoga mit einer braunen Lederhose und Lederstiefeln in derselben Farbe.

„Was hast Du, Keoga?“, fragte Amelia. „Ich denke mal wieder an Liasanya. Ich würde so gerne mit ihr sprechen, und wenn es nur ein kurzes „Hallo“ wäre. Das würde mir schon genügen.“ „Ich denke, das lässt sich einrichten. Komm mit mir, Keoga.“, sagte Amelia und ging voraus. Sie führte ihn durch einen Gang in eine riesige Grotte. In ihrer Mitte befand sich eine Empore, die auf eine durchsichtige Wand ausgerichtet war, durch die man aber dennoch nichts sehen konnte. Amelia betrat die Empore und bedeutete Keoga zu ihr zu kommen.

Als er neben ihr stand, sprach Idunas Halbschwester eine magische Formel und die Wand veränderte sich. Statt der durchsichtigen Barriere konnte Keoga nun einen riesigen aus feinstem Marmor errichteten Palast erkennen. Die Säulenreihe bestand aus sieben identisch gefertigten Säulen auf denen ein Giebeldach ruhte. Der Ausschnitt veränderte sich und Walburs Rivale befand sich im Thronsaal. Es war ein Raum mit großen Fenstern, die viel Licht hereinließen. Der Boden war mit einem roten Brokatteppich mit 28

goldenen Streifen ausgelegt, der direkt auf den Thron zuführte. Am Ende des Raumes stand Idunas Thron, der aus purem Gold gefertigt worden war. In die Lehne waren ein Rubin, ein Amethyst und ein Topas in der Größe eines Taubeneis eingelassen. Doch die oberste Göttin war nirgends zu sehen.

„Wahrscheinlich ist meine Halbschwester in der Bibliothek oder im Garten.“, sagte Amelia. Zuerst steuerte sie die Bibliothek an. Erneut veränderte sich der Ausschnitt. Keoga konnte einen elliptischen Raum erkennen, der zu beiden Seiten von riesigen Bücherregalen flankiert war, die 2 zwei Stockwerke hoch waren. Er bemerkte, dass Amelias Bibliothek Idunas bis ins kleinste Detail glich. „Hier ist sie auch nicht. Bleiben also nur noch der Garten, das Arbeitszimmer, oder das Badezimmer.“ Als nächstes ging es in den Garten. Keoga erkannte kunstvoll geschnittene Hecken und akribisch gestaltete Rasenflächen, zwischen denen sich kunstvoll geschnittene Bäume befanden. Es gab auch mehrere Teiche. Einer davon war mit zahlreichen Lotusblüten bepflanzt worden. Vor dem Hintereingang zum Palast befand sich ein riesiger aus Marmor errichteter Brunnen.

An diesem Brunnen saßen zwei in weiß gekleidete Frauen. Die eine hatte dunkelbraune Haare und trug keine Schuhe, während die andere blonde Haare hatte und goldene Sandaletten mit silbernen Ornamenten trug. Beide trugen ihre Haare offen. Bei der Blondine reichten sie bis zu ihren Brüsten und waren dauergewellt. Bei der dunkelhaarigen fielen sie hinten über die Schultern und waren durch ein dunkelgraues Kopftuch bedeckt. Um den Hals trug die Brünette eine Kette aus Gold mit einem riesigen Smaragd in Herzform. Keoga fiel auch auf, dass beide Frauen braune Augen hatten. Allerdings war das Gesicht der dunkelhaarigen Frau oval geschnitten, während ihr blondes Pendant ein volleres Gesicht besaß. Um die Taille trug die Brünette einen Gürtel aus Efeublättern. Die Blonde trug weiße Handschuhe, die bis zur Armbeuge reichten. Auch um die Handgelenke der Dunkelhaarigen rankten sich Efeublätter. Die Blondine trug einen weißen Umhang und auf dem Kopf einen Reif dessen vorderes Ende eine fünfzackige Krone andeutete. Die Nase der Frau mit den dunkelbraunen Haaren war schmal und elegant, die der Blonden an der Spitze etwas knubbelig. Die Lippen der beiden Frauen konnte man getrost als sinnlich bezeichnen.

Offenbar hatte die dunkelhaarige Frau gerade eine lustige Bemerkung gemacht, denn ihre blonde Gesprächspartnerin fing an zu lachen. Keoga kannte dieses Lachen. „Liasanya!“, entfuhr es ihm. Die Brünette wendete den Kopf. Schnell senkte Amelias Gast den Blick. „Na sowas aber auch. Meine liebe Halbschwester sucht meinen Rat. Wo drückt der Schuh?“ „Keoga möchte gerne mit Liasanya sprechen.“ „Ich habe eine bessere Idee, Amelia. Kommt doch zu mir rauf.“

Ein magisches Portal öffnete sich. „Komm mit, Keoga. Und habe keine Angst, es wird dir nichts geschehen.“ Hand in Hand gingen Idunas Halbschwester 29

und Liasanyas große Liebe durch das Portal. Die junge Frau freute sich, ihren Liebsten wiederzusehen, denn sie warf sich in Keogas Arme, kaum dass dich das Portal hinter ihm und Amelia geschlossen hatte. Die Herrin der Welt unter dem Quellsee nahm ihr Halbschwester auf die Seite. „Lassen wir den beiden ein bisschen gemeinsame Zeit. Ich denke, wir beide haben auch was zu besprechen.“, sagte Amelia. „Tosh Kamar?“ „In der Tat. Er wurde zwar von Königin Wiolettas Soldaten gefangen genommen und wartet in seinem Verlies auf seinen Prozess, aber ich habe das ungute Gefühl, dass er etwas im Schilde führt.“ „Ich werde die Zeichen deuten, Amelia.“, sagte Iduna.

Unterdessen hatten sich Keoga und Liasanya unter einem Baum auf eine Bank gesetzt. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelegt. „Ich bin so froh, dass Du gekommen bist. Du fehlst mir jeden Tag. Weißt Du das, mein Liebster?“, sagte sie. „Du fehlst mir auch, dass kannst Du mir glauben. Warum kommst Du nicht mit mir in Amelias Reich?“ „Weil es nicht geht. Walbur würde mich aufspüren und nach Tangaroa bringen. Dort würde er mich zur Ehe zwingen. Du weißt, was das bedeutet, Keoga.“ „Ja ich weiß es. Aber ich werde nach Tangaroa zurückkehren und ihn von seinem Thron stoßen. Das Versprechen gebe ich dir.“ „Daran zweifle ich keine Sekunde. Tu, was getan werden muss. Um unserer Liebe Willen.“ „Allein schon um unserer Liebe Willen werde ich Walbur stürzen.“

In den Verliesen von Königin Wiolettas Schloss lag Tosh Kamar auf seiner Pritsche und starrte an die Decke. Er drehte den Kopf, als der Riegel der Tür zurückgezogen und das Schloss aufgesperrt wurde. Die Tür öffnete sich und der Hauptmann der Garde trat ein. Einen Augenblick lang musterte er den Gefangenen. Tosh Kamar war 1,64 m groß und hatte einen spindeldürren Körper, der von einem dunkelblauen Gewand mit braunem Lederkragen verdeckt wurde. Aus den Ärmeln ragten die Klauenhände des bösen Herrschers. Dessen Haut spannte sich wie Pergament über die Knochen und verlieh dem Dämonenfürst ein grausiges Aussehen. Links und rechts ragten die Hörner eines Mufflons aus dem Kopf. Die knöchernen Wirbel traten besonders intensiv unter der weißen Haut des Dämonen hervor und waren blau gefärbt. Das bedeutete, dass Tosh Kamar nur äußerlich ruhig war. Er sah den Hauptmann aus seinen roten Augen an. Hass loderte darin. Die breite Nase passte irgendwie in das Gesicht dieses Scheusals. Dann lächelte er und entblößte eine Reihe messerscharfer Zähne.

„Kommst Du um mich zu holen?“, fragte Tosh Kamar. „Es ist in der Tat soweit. Dir wird noch heute Abend der Prozess gemacht.“ „Was meinst Du Golban? Welches Strafmaß wird man mir auferlegen?“ „Schwer zu sagen. Aber bei der Liste deiner Verfehlungen, wird es wohl auf Verbannung auf Lebenszeit hinauslaufen.“ „Immer noch besser als der Tod, Golban.“ „Freu dich nicht zu früh, Tosh Kamar. Du weißt, wie gnadenlos die Königinnen gegenüber so verdorbenen Individuen wie dir sind.“, sagte Golban. „Ja, das weiß ich. 30

Aber eines ist sicher. Ich komme wieder, Golban. Und dann wird Idunas Reich fallen.“ „Da wäre ich mir nicht so sicher. Und jetzt komm mit. Der Delator wartet nicht gern.“

Tosh Kamar bekam magische Fesseln um die Handgelenke gelegt. Als er und Golban in Richtung des Gerichtssaales gingen sah er sich den Befehlshaber von Königin Wiolettas Garde noch einmal an. Golban war 1,80 m groß und kräftig gebaut. Sein markantes Kinn wurde von einem dichten rotbraunen Vollbart bedeckt, das die kurzen geschwungenen Lippen noch stärker hervorhob. Das runde Gesicht mit den braunen Augen verriet keinerlei Gefühlsregung. Seine lockigen Haare hatte Golban unter seinem Helm verborgen. Bekleidet war der Hauptmann mit einer aus braunem Leder gefertigten Rüstung, die mit vielen Messingplättchen bestückt war einer kurzen Hose aus demselben Material, sowie schweren Lederstiefeln.

Und während Tosh Kamar auf der Kleeblattinsel zu seinem Prozess ging, saß Keogas Rivale in seinem Palast auf Tangaroa auf seinem Thron und ließ sich von seinem persönlichen Schamanen aus Runen lesen, die aus den Knochen von getöteten Tieren gefertigt worden waren. Der alte Mann sah seinen Regenten genau an. Walbur war 2,00 m groß und hatte einen extrem starken Körperbau. Seine Arme waren so dick wie drei Lianen. Seine Beine waren so wuchtig wie Säulen. Der Torso war eine gestählte Waffe, deren Brustmuskulatur sich deutlich abzeichnete. Seine Haare hatte Walbur bis auf einen Streifen in der Mitte komplett entfernen lassen. Das restliche Haar war in blau, weiß und rot gefärbt. Das ovale Gesicht mit den braunen Augen verriet Anspannung, denn der Großkönig Tangaroas litt seit einiger Zeit an Schlafstörungen. Bekleidet war Walbur mit einer roten Hose aus Büffelleder und einem Wams aus demselben Material, das rot und blau gefärbt war und verschiedene Stammessymbole trug. Unter den Knien trug der Großkönig Bänder aus Hirschleder. An seinen Füßen trug Walbur leichte Lederschuhe.

„Was sagen die Runen Astar?“, fragte Walbur den alten Mann. Der Schamane drehte die Knochenstücke mit der Klaue eines Falken um. „Es wird Krieg geben, mein König. Ein übermächtiges Heer wird landen.“ „Ist das alles?“ „Die Runen sagen, dass alle Häuptlinge vor dem feindlichen Heerführer auf die Knie gehen und sich ihm freiwillig anschließen.“ „Was siehst Du sonst noch?“ „Der fremde Heerführer wird euch stürzen und euren Platz einnehmen. Und Liasanya wird an seiner Seite regieren.“ „Was sagst Du da? Ist der feindliche Anführer etwa Keoga?“ „Das verschweigen mir die Runen, mein Gebieter.“

In Idunas Reich war es spät geworden. Es war an der Zeit, dass Amelia und Keoga wieder in das Reich unter dem See zurückkehrten. Doch vorher wurde verabredet, dass die nächste Zusammenkunft an einem Ort namens London stattfinden sollte. „Glaubst Du, Walbur findet Liasanya in London?“, fragte 31

Keoga Amelia, nachdem sich das Portal hinter ihnen geschlossen hatte. „Das wage ich zu bezweifeln. Walbur hat Tangaroa noch nie verlassen. Deshalb wird er London nicht kennen. Und da er diesen Ort nicht kennt, kann er auch nicht wissen, wo er ist.“

In Wiolettas Schloss hatten sich inzwischen alle versammelt. Auch Iduna hatte sich eingefunden. Liasanya war im Palast geblieben. Die oberste Göttin fungierte auch als oberste Richterin. Zu beiden Seiten saßen die vier Königinnen. Auf einen Befehl von Königin Jelena brachte man Tosh Kamar herein. Als sich die Tür hinter dem Gefangenen geschlossen hatte verneigten sich alle vor dem Gremium. Bis auf Tosh Kamar, der Iduna den ihr zustehenden Respekt verweigerte, indem er vor der Empore auf den Boden spuckte.

Die oberste Göttin eröffnete die Verhandlung mit den drei obligatorischen Hammerschlägen auf das Richterpult. „Die Verhandlung ist eröffnet.“, sagte Iduna mit einer lauten und kräftigen Stimme. „Tosh Kamar, Herrscher der dunklen Lande, Ihr werdet beschuldigt, das oberste Gesetz unserer Welt gebrochen zu haben, das besagt, dass kein Herrscher der Kleeblattinsel nach dem Platz der obersten Göttin trachten darf. Ihr wolltet die heilige Quelle in euren Besitz bringen, um mich aus meinem Reich zu vertreiben. Wie plädiert ihr?“ „Nicht schuldig.“ „Dann möchte ich jetzt den ersten Zeugen hören.“, sagte Iduna. Aus Amelias Reich wurde mit Hilfe einer magischen Formel Keoga zugeschaltet. Pontius Pilatus, der Delator begann die Befragung. „Ihr Name ist Keoga?“, fragte er. „Ja.“ „Sie stammen von der Insel Tangaroa?“ „Das ist richtig.“ „Sie sind mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert?“ „Glücklicherweise bin ich es nicht.“ „Würden Sie dem Gericht freundlicherweise schildern, wie Sie hierher auf die Kleeblattinsel gekommen sind?“ „Sehr gerne. Der Angeklagte hat mich hergebracht. Er versprach mir, mir zu helfen, meinen Rivalen Walbur, den amtierenden Großkönig von Tangaroa von dessen Thron zu stoßen.“ Als Gegenleistung verlangte er, dass ich ihm helfe, die magische Quelle hier auf der Insel unter seine Kontrolle zu bringen.“

Nach Keoga wurde Liasanya verhört. Ihrer Aussage nach hatte Tosh Kamar vor, sie für sich zu beanspruchen, sobald er Gott aller Götter war. Zuerst sollte Keoga sterben und als Futter für Tosh Kamars Haustier, den Riesenkalmar enden. Walbur selbst sollte bei einem Erdbeben auf der Insel Tangaroa ums Leben kommen. Danach wollte der schändlich Böse Idunas Reich stürmen und sie vom Thron stürzen um dann Liasanya zu ehelichen.

Die Verhandlung dauerte drei Tage. Nachdem alle Zeugen gehört worden waren, zogen sich Iduna und die vier Königinnen zur Beratung zurück. Und es kam, wie es kommen musste. Tosh Kamar wurde auf Lebenszeit in die Tiefen der Ozeane verbannt. Das Urteil sollte am 21.04.1712 vollstreckt werden.

Als an jenem schicksalhaften Donnerstag der Morgen anbrach, wurde der 32

Verurteilte an den Strand geführt. Dort lag ein kleines Skiff. „Setzt den Verurteilten ins Boot.“, befahl Königin Jelena. Golban und zwei weitere Soldaten brachten Tosh Kamar zu dem Boot. Doch bevor er einstieg drehte sich der böse Herrscher noch einmal um und sagte: „Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Krieg und Zwietracht sollen ab sofort auf der Kleeblattinsel herrschen. Ihr werdet den Tag noch verfluchen, an dem Ihr euch meinen Zorn zugezogen habt.“ „Das dürfte etwas schwer werden. Denn Du wirst das Tageslicht nie wieder erblicken. Du sollst auf ewig in deinem Kerker eingesperrt bleiben.“

Man setzte den bösen Herrscher in das Skiff und schob es ins Wasser. Von unbekannten Kräften gezogen, glitt das Boot hinaus aufs offene Meer. Tosh Kamar passierte das Riff und spürte bald, wie ihm der Wind Meerwasser ins Gesicht wehte. Er war auf hoher See. Nun hatte er endgültig Gewissheit, dass sein Plan, Iduna zu stürzen gescheitert war. Doch er würde wiederkommen und es noch einmal versuchen. Er würde sich auf die furchtbarste Art und Weise rächen, die man sich nur vorstellen konnte.

Als das kleine Boot mit dem Verbannten die tiefste Stelle, es war ein Tiefseegraben der 5.500 Meter tief war erreichte, brach ein Unwetter los. Der Wind peitschte das Meer auf und aus den kleinen Wellen waren nun riesige Brecher geworden. Tosh Kamars Augen weiteten sich vor Schreck, als sich vor ihm eine gewaltige Wasserwand auftürmte. Eine Monsterwelle! Mit einem lauten Krachen brach die Welle über dem Skiff herein und begrub es unter sich. Tosh Kamar wurde unter Wasser gedrückt.

Als der Sturm sich gelegt hatte, trieben auf der Oberfläche die Trümmer des zerstörten Bootes. Von Tosh Kamar war nichts zu sehen. Er befand sich auf dem Grund des Grabens in einem Palast aus Korallen. Doch es gab eine magische Barriere, die ihn an der Flucht hinderte. Noch. Denn Tosh Kamar hatte viel Zeit. Eines Tages, so schwor er sich, würde er die Barriere überwinden und an die Oberfläche zurückkehren. 33

Buch 1 - Kapitel 3

Buch 1 – Kapitel 3

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Der große Feueropal ist ein heiliger Stein. Er ist der Garant für Frieden und Harmonie. Du darfst ihn ansehen, Du darfst ihn berühren. Aber eines darfst Du nicht… ihn mitnehmen. Ihn aus dem Allerheiligsten zu entfernen ist ein großer Frevel, für den es nur eine Strafe gibt: … DEN TOD!!!“

15. Mai 1712 der Raub des großen Feueropals

Ein Monat war seit Tosh Kamars Verbannung vergangen. Keoga hatte Amelias Reich verlassen und erkundete nun die Insel. Jardanka, die Hüterin allen Lebens auf der Kleeblattinsel begleitete ihn oft bei seinen Wanderungen. An einem schönen, warmen Frühlingstag wanderte er zusammen mit ihr durch ein Moorgebiet. Am Tag zuvor hatte ein Unwetter mit Starkregen die Insel heimgesucht. Amelias beste Freundin wusste um die Gefahren, die jetzt im Moor auf jeden lauerten, der es wagte die sicheren Wege zu verlassen. Vor allem wusste sie um die Moorgeister, die nun aktiv waren, und die gnadenlos Jagd auf jeden machten, der ungebeten ihr Reich betrat. Bei Keoga blieben sie friedlich, da sie den Krieger von Tangaroa bereits kannten.

Bei ihrer ersten Begegnung mit ihm hatten die Geister schmerzhaft feststellen müssen, dass sich Keoga nicht vor ihnen fürchtete. Sie hatten versucht, ihn vom Weg abzubringen, um ihn in ein Moorloch zu treiben. Doch das Resultat war erbärmlich. Ein Schlag auf den Hinterkopf und eine doppelte Ohrschelle in Kombination mit einem Schlag auf den Kopf waren das magere Ergebnis.

Seit dem begegneten die Moorgeister Keoga mit Respekt. Viel mehr noch. Sie trainierten mit ihm und halfen Walburs Rivalen, seine Fähigkeiten im Nahkampf zu verbessern. So brachte ein Geist, sein Name war Demiros, Keoga bei, wie man richtig mit dem Kampfstock umging. So kämpften sie unter anderem auf einem schmalen Mauerstück. Dort sollte Keoga lernen, das Gleichgewicht zu wahren. Doch der junge Mann kam immer wieder ins Straucheln. „Gleichgewicht, Keoga. Achte auf die Füße.“, mahnte Demiros. Ein anderer Geist lehrte den Krieger aus Tangaroa den Kriegstanz seines Stammes.

Während seiner vielen Aufenthalte im Moor hatte Keoga auch die Bekanntschaft eines weiblichen Geistes gemacht. Ihr Name war Elenia. Doch sie war kein Moorgeist wie die anderen. Sie war eine Banshee, ein Naturgeist. Es war an einem Abend nach dem Training mit Demiros, als Keoga Elenia auf einem Hügel unweit der Abteiruine, in der immer zu trainieren pflegte, erblickt hatte. Sie war ganz in weiß gekleidet und hatte weißes Haar. Das ovale Gesicht mit den braunen Augen war ebenfalls hübsch anzusehen. Ihre Haare trug sie offen, sodass bis zu ihren Brüsten reichten. Ihre Haut war weiß, als wäre sie 34

aus allerfeinstem Marmor gefertigt.

Elenia machte zu Beginn mehr als deutlich, dass sie Keogas Anwesenheit verabscheute. Sie versuchte sogar, ihn zu sich zu locken, wohl wissend, dass zwischen ihr und Keoga ein Moorloch lag, in dem er versinken würde. Sie fing an, mit einer süßen und verführerischen Stimme Lieder zu singen. Doch der Krieger aus Tangaroa war zu diesem Zeitpunkt in tiefster Meditation versunken, dass er Elenias Gesang gar nicht hörte. Ohne es zu wissen, hatte Keoga ihren Verführungskünsten widerstanden.

Eines Abends, der junge Krieger hatte sich gerade zum meditieren auf den Boden gesetzt, stand Elenia plötzlich vor ihm. „Du bist hartnäckig, weißt Du das?“, sagte sie mit einer kalten Stimme. Keoga blickte auf und der Banshee direkt in die Augen. Und normalerweise wäre es jetzt aus mit ihm gewesen. Denn wer einer Banshee in die Augen sieht, stirbt auf der Stelle. Doch Elenia musste feststellen, dass Keoga sogar ihrem Blick ohne mit der Wimper zu zucken standhalten konnte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand sie wieder. Doch am nächsten Abend kam sie wieder. Dieses Mal setzte sich die Banshee gegenüber Keoga ans Feuer. Ihre Blicke trafen sich erneut. Doch an diesem Tag sah sie ihn mit ein sanften Lächeln auf ihren sinnlichen Lippen freundlich an.

„Wie heißt Du?“, fragte sie mit einer warmen und verführerischen Stimme. „Keoga. Und wer seid Ihr?“ „Ich bin Elenia, die große Banshee. Ich sehe Dinge, die anderen verborgen bleiben. Seit Du hier bist, habe ich dich beobachtet. Du scheinst keine Angst zu haben und Du scheinst ein absoluter Meister der Selbstbeherrschung zu sein.“, sagte Elenia. „Da wo ich herkomme, hat man nur davor Angst, dass der große Berg anfängt, Feuer zu spucken.“ „Woher kommst Du, Keoga?“ „Ich komme von der Insel Tangaroa. Und über meine Heimat regiert mein Erzrivale Walbur.“ „Ich weiß. Seit dem ich dich das erste Mal hier gesehen habe, habe ich die Zeichen gedeutet. Du wirst Walbur vernichten. Du wirst der neue Herrscher von Tangaroa sein, und Liasanya wird deine Frau werden.“

„Amelia, die Herrin des Reiches unter der magischen Quelle, sagte mir, dass ich nach Andelka suchen soll, sobald ich ihr Reich wieder verlassen habe.“ „Verstehe. Aber bevor Andelka sich dir anschließt, musst Du sie in einem Duell auf Augenhöhe bezwingen.“, sagte Elenia. „Wo finde ich sie?“ „Hier im Moor. Die alte Abtei, in der wir uns gerade befinden, dient ihr als Lager. Aber sie lebt in einem anderen Teil des Hauses.“

Während Keoga und Jardanka im Moor unterwegs waren, erzählte er der Hüterin von Elenia. „Wann bist Du ihr begegnet?“, fragte Jardanka. „Zuletzt gestern.“ „Und das erste Mal?“ „Vor fünf Tagen.“ „Hat sie auch versucht, dich zu sich zu locken?“ „Wenn sie es versucht hat, dann habe ich davon nichts bemerkt.“ „Dann bist Du der erste, dem es gelungen ist, Elenia zu widerstehen.“, sagte Jardanka. Keoga blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. 35

„Wie muss ich das verstehen?“, fragte er. „Ganz einfach. Elenias Macht ist gebrochen. Denn es steht geschrieben, dass nur derjenige ihre Macht zu brechen vermag, dem es gelingt ihr zu widerstehen.

„Das heißt, dass Elenia mir nun bedingungslosen Gehorsam schuldig ist?“ „Nein, dass heißt es nicht. Es bedeutet, dass sie zumindest über dich keine Kontrolle ausüben kann. DIR kann sie nichts mehr anhaben.“, sagte Jardanka. Die beiden erreichten die alte Abteiruine. Dort wartete Elenia. Jardanka ahnte nichts Gutes. „Wo ist Andelka? Wir sollten uns hier mit ihr treffen?“, fragte sie. „Sie war auch hier. Aber eine Bande marodierender Halsabschneider hat sie angegriffen und zur Flucht gezwungen.“ „Kannst Du uns führen?“ Elenia nickte stumm. „Folgt mir.“, sagte sie.

Die Banshee führte Keoga und Jardanka über einen ausgetretenen Pfad ins Moor. An einem Moorloch blieb die Gruppe stehen. Elenia hob die Hand. Ein Zeichen dafür, dass ihre Begleiter schweigen sollten. Keoga hörte es als erster. Es war ein höhnisches Gelächter. „Ich seh mal nach.“, sagte er leise. „Keoga, das ist Selbstmord. Wenn diese Banditen dich entdecken, werden sie dir die Kehle durchschneiden.“ „Elenia hat Recht. Bleib hier.“

Wie aus dem Nichts erschien Demiros. „Ihr bleibt in Deckung. Ich seh nach.“, sagte er. Nach 5 Minuten kam er zurück. Keoga sah ihn fragend an. „Sieht nicht gut aus. Die Bande besteht aus mindestens 40 Mann. Die Hälfte davon sind Bogenschützen.“ „Und Andelka?“ „Ist umzingelt. Der Anführer scheint zu allem entschlossen.“ „Wie sieht er aus?“ „Viel hab ich nicht erkennen können. Aber der Bursche hatte lange schwarze Haare.“ Kaum hatte Demiros diese Worte ausgesprochen, da stellte Jardanka fest, dass Elenia verschwunden war. „Wo ist sie hin?“, fragte sie. „Ich seh nach.“ Demiros verschwand wieder. Doch schon nach 5 Minuten kehrte er zurück. „Elenia steht im Moorloch. Sie hat die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet. Die Handinnenflächen hat sie nach oben gedreht. Außerdem hat Elenia den Kopf in den Nacken gelegt.“ „Was bedeutet das?“ „Das bedeutet, dass es gleich laut wird. Hast du schon mal den Klagelaut einer Banshee gehört?“ „Ehrlich gesagt nein.“ „Glaub mir, Du willst ihn nicht hören. Und jetzt halt dir die Ohren zu. Denn der Klageschrei einer Banshee geht einem durch Mark und Bein.“

Und wie Recht Demiros haben sollte, konnte man bald hören. Ein lauter langgezogener Schrei ertönte, der gegen Ende in ein Kreischen überging. „Jetzt will ich aber wissen, was Elenia gemacht hat.“, sagte Keoga und schlich vorwärts. Als er einige Grasbüschel beiseite schob, sah er, dass die meisten der Banditen tot auf dem Boden lagen. Ihre Gesichter waren vor Entsetzen zu einer grotesken Fratze verzerrt. Ihr Anführer kniete auf dem Boden und schüttelte sich. Offenbar hatte ihn Elenias Schrei nicht zu Tode erschreckt. Auch ein paar der Bogenschützen standen noch, die nun ihre Pfeile auf die Banshee 36

schossen. Doch die Geschosse gingen einfach durch sie hindurch. Keoga wartete gespannt, was als nächstes passieren würde.

Eine Nebelwand bildete sich über dem Moorloch. Aus diesem Nebel schwebte eine Kreatur heran. Die Bogenschützen feuerten nun auf sie. Der Neuankömmling wendete seinen knochigen Kopf und sah einen Bogenschützen an. Ein diabolisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Wesens. Dann streckte es eine seiner Klauenhände aus. Der Bogenschütze hatte gerade einen neuen Pfeil in seinen Bogen gespannt, als er einen lauten Schrei ausstieß und tot zu Boden sank. Dort wo normalerweise sein Herz sein sollte klaffte nun ein faustgroßes Loch. Keoga sah, dass die Kreatur das Herz des Bogenschützen in ihrer Hand hielt. Nun wandte sie sich einem weiteren Banditen zu. Es war ein Lanzenträger. Die unheimliche Kreatur schwebte auf den Mann zu und durch ihn hindurch. Auch er brach tot zusammen. An Stelle eines jungen Kriegers lag die Leiche eines Greises auf dem Boden.

Keoga hatte genug gesehen. Er erhob sich und trat aus dem Gras. „Lass die Frau in Ruhe!“, herrschte er den Anführer der Banditen an. Dieser drehte sich zu ihm um und starrte ihn mit einem bitterbösen Blick aus seinen kalten blauen Augen an. „Wer bist Du denn, dass du es wagst, so mit mir zu reden?“ „Keoga von Tangaroa. Und ich rede mit dir, wie es angebracht ist.“ „Das wirst Du noch bereuen, Du Grünschnabel. Meine Krieger werden dir eine Lektion erteilen, die Du nicht vergessen wirst.“ An seine Männer gewandt sagte er: „Schnappt euch diesen vorlauten Lümmel!“

Zwei der Soldaten stürmten auf Keoga zu. Der erste schwang seinen Säbel, doch der junge Krieger wich ihm aus und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. „Komm her, dir werde ich auch einen vorn Ständer kleistern.“, sagte Keoga und verpasste dem zweiten Soldat auch einen Schlag ins Gesicht. Ein weiterer Soldat griff mit seinem Säbel an, doch Keoga parierte den Hieb mit seinem Katana. Ein Schlag ins Gesicht folgte. Wieder versuchte der Mann einen Hieb, doch sein Gegner parierte auch diesen. Dieses Mal verpasste Keoga dem Banditen einen Schlag mit dem Handrücken und dann einen Schlag ins Gesicht. Zwei weitere Krieger stürzten sich mit gezückten Säbeln auf Keoga. Doch der duckte sich weg. Die Klingen der beiden trafen auf einander. Wieder versuchten die beiden einen Angriff, und wieder duckte sich ihr Gegner weg. Wieder prallten die Säble mit einem lauten Klirren auf einander. Als Antwort schlug Keoga beiden Kriegern ins Gesicht. Ein weiterer Krieger griff mit gezücktem Säbel an, während ein anderer einen dicken Ast aufgenommen hatte, mit dem er dem jungen Krieger eins überbügeln wollte. Doch Walburs Rivale fing den Schlag ab und der zweite Soldat hieb mit seinem Säbel in den Ast. Zu dessen Pech blieb die Klinge im Holz stecken.

Keoga gab dem Ast einen Stoß und der Säbel kam frei. Doch nun schlug 37

der junge Krieger den beiden Soldaten den Ast in den Unterleib und warf diesem einen dritten Soldaten, der gerade mit gezücktem Säbel angestürmt kam mitten ins Gesicht. Dann packte er die beiden Soldaten am Kragen ihrer Hemden und drehte sie um. „Komm her! Ab mit euch, gemischtes Doppel!“, sagte Keoga und warf die beiden Banditen gegen einen Baum an dem ein Wespennest hing. Das Nest ging kaputt und die wütenden Insekten fielen über die Männer her und stachen auf sie ein.

Dann wandte sich Keoga wieder dem Anführer der Bande zu. Dessen ovales Gesicht war von Hass und Wut verzerrt. Auffällig war auch sein schwarzer Schnurr- und Spitzbart. Keoga bemerkte, dass der Mann einen Teil seines Haares zu einem Zopf geflochten hatte. Bewaffnet war er mit einem Katana, wie der Krieger aus Tangaroa es führte. Seine Rüstung bestand aus einem weißen Leinenrock, über den ein lederner Brustpanzer mit silbernen Verzierungen gespannt war. Auf der oberen Brustplatte war ein silberner Adler eingearbeitet. Der Bandenführer trug blaue Stoffhosen und schwere dunkelbraune Reitstiefel.

„Du bist ja schlimmer als ne Schmeißfliege.“, sagte er zu Keoga. „Du kannst mich gern haben!“ Der Mann zog sein Katana. „Deine letzten Sekunden sind angebrochen. Gleich ist es aus mit dir!“ „Du stinkst ja geradezu vor Überheblichkeit, Du Pappnase!“ Keoga und der Anführer der Banditen umkreisten einander. Wie zwei Raubtiere, die zum alles entscheidenden Angriff ansetzten, bewegten sie sich im Kreis, ohne den anderen aus den Augen zu lassen, um den bestmöglichen Zeitpunkt zum Angriff zu finden. Elenia, Andelka, das Geisterwesen, Demiros, Jardanka und die übrigen Banditen beobachteten die Szenerie. „Verrätst Du mir noch deinen Namen, damit ich weiß, was ich auf deinen Grabstein meißeln lassen soll?“, fragte Keoga. „Zoltan. Ich heiße Zoltan. Aber das tut nichts zur Sache. Ich töte dich sowieso.“

Der Anführer der Banditen stürmte los um Keoga den Schädel zu spalten. Doch der Krieger aus Tangaroa war mit allen Wassern gewaschen. Kein Wunder hatte er doch oft mit Walbur trainiert, als sie noch Freunde waren. Walburs Rivale riss seine Klinge nach oben und wehrte Zoltans Hieb ab. Damit nahm er seinem Gegner den Angriffsschwung. Als Keoga selbst zum Schlag ausholte, drehte er die Klinge seines Katanas leicht nach unten, nur um sie dann von unten nach oben zu ziehen. Damit landete er einen Volltreffer. Keogas Klinge riss den linken Arm bis zur Armbeuge auf. Zoltan schrie laut auf, als er den Schmerz auf seinem Arm spürte. „Das wirst Du mir büßen! ICH BRING DICH UM!“, sagte er. „Ah ja? Dafür, dass ich schon einen Treffer landen konnte, während Du mir noch nicht einmal einen Kratzer beigebracht hast, schätze ich meine Chancen besser ein.“ „Anfängerglück und nichts weiter.“

Zoltan griff wieder an und täuschte einen Schlag auf der linken Seite. Fast hätte er Keoga erwischt. Doch dieser roch den Braten im letzten Moment und 38

riss seine Klinge nach oben. Zoltans Klinge traf die seines Gegners und brach. Denn Keogas Schwertklinge war aus dem wesentlich robusteren und flexibleren Damaststahl geschmiedet worden, was sie widerstandsfähiger gegen Risse und Brüche machte. Zoltan machte ein verblüfftes Gesicht, bis ihn ein Faustschlag Keogas ins Gesicht traf. Er taumelte rückwärts und achtete nicht darauf, wohin er ging.

In seiner Unachtsamkeit rempelte der Bandit die Amazone an und stieß sie in das Moorloch. Schon bald steckte sie bis zu den Hüften im Morast. Keoga fackelte nicht lange und befestigte ein Seil, das er aus seinem Trainingslager mitgenommen hatte, an einer Sumpfeiche und warf es Andelka zu. Sie fing es und Keoga und Demiros zogen sie heraus. Zoltan kreischte vor Zorn laut auf. „Was fällt dir ein? Erst machst Du mein Schwert unbrauchbar, dann rettest Du Andelka das Leben. Dafür werde ich mich an dir rächen.“ „Du redest mir entschieden zu viel, Du Armleuchter.“ „Werde bloß nicht frech. Aber eins sollst du wissen, bevor du stirbst. Während wir hier reden, ist ein Trupp Piraten auf der Kleeblattinsel gelandet. Es ist Captain Blackbeard. Sein Schiff die „Queen Anne’s Revenge“ liegt in der nordwestlichen Bucht vor Anker. Und genau in diesem Augenblick sind sie in den großen Tempel eingedrungen. Sie werden den großen Feueropal stehlen. Und dann wird Krieg ausbrechen. Die Insel wird im Meer versinken.“

Keoga sagte nichts sondern zog einen Dolch aus seinem Stiefel und warf ihn aus der Drehung heraus auf Zoltan. Die Waffe traf ihr Ziel. Dieser zog den Dolch aus seiner Brust und warf ihn auf den Boden, ehe er in das Moorloch fiel und sofort versank. Seine Gefolgsleute heulten vor Wut, als sie hilflos den Tod ihres Anführers mit ansehen mussten. Sie wollten sich gerade auf Keoga stürzen, als sich aus dem Nichts eine schwarze Wolke bildete. Aus dieser Wolke trat eine Frau. Sie war ganz in schwarz gekleidet und hielt in ihrer linken Hand einen Stab aus Eichenholz. Auf diesem saß ein Rabe. Die fremde Frau streckte den Arm aus und ein zweiter Rabe setzte zur Landung an. Sie wandte ihren Kopf nach rechts und sah einen Armbrustschützen aus ihren braunen Augen an. Keoga fragte sich, wer die Fremde war und welche Art von Magie sie verwendete. Der Armbrustschütze bekam ihre Magie am eignen Leib zu spüren, als aus seinem rechten Auge eine braune Flüssigkeit troff. Verdutzt tastete er die Stelle ab und erkanntem dass er Lehm an seinen Fingern hatte. Der Mann riss die Armbrust nach oben, doch es gelang ihm nicht mehr, auf die fremde Frau zu zielen. Denn nun quoll überall Lehm aus dem Körper. Dort, wo eben noch ein lebender Mensch gestanden hatte, stand nun eine Tonstatue.

Und während im Moor Keoga mit den Banditen kämpfte, hatte sich ein Landungstrupp vom Strand zum Tempel aufgemacht. Unter den Mitgliedern befand sich Iwan Grigorovitsch, ein 38jähriger Russe aus Sankt Petersburg. Ferner gehörten dem Trupp James Beatle, ein 45jähriger Engländer aus Plymouth, und Leif Ericsson, ein 47jähriger Schwede aus Helsingborg. Leif war der Steuermann auf der „Queen Anne’s Revenge“. Der letzte im Bunde war Hans Langsdorff, ein 35jähriger Deutscher aus Hamburg. 39

Der Landungstrupp bestand aus 15 Mann. Neben dem Kapitän und den vier befreundeten Offizieren waren noch 10 kampferprobte Piraten mitgekommen. An einem Bach machte die Gruppe Rast. „Hoffentlich stimmen die Informationen, die uns der alte Schamane gegeben hat.“, sagte der Schwede zu Blackbeard. „Wenn er gelogen haben sollte, dann wird diese miese Kröte dafür bezahlen.“ Das der alte Schamane in Wirklichkeit Tosh Kamar war, wusste keiner an Bord der „Queen Anne’s Revenge“. Blackbeard befahl seinen Männern, ihre Pistolen und Musketen zu laden. Dann setzte sich der Landungstrupp wieder in Bewegung.

Im Moor gab die Fremde erneut eine beeindruckende Demonstration ihrer Macht zum Besten. Sie ließ ihre beiden Raben fliegen, warf ihren Kopf in den Nacken und rief mit lauter, kräftiger Stimme eine Zauberformel in den Himmel. „SALMEI! DALMEI! ADOMEI!“, sagte sie. Im Nu vervielfältigten sich die Raben, sodass bald ein ganzer Schwarm über dem Moor kreiste. Auf ein Zeichen der Frau, deren offen getragene, dunkelbraune Haare im Wind flatterten, griffen die Vögel die restlichen Banditen an. Zoltans verbliebene Krieger ergriffen die Flucht. Einer stolperte über die Wurzel einer Sumpfzypresse. Die Raben stießen auf ihn herab und schon bald war der Mann nicht mehr zu sehen. Seine Schreie konnte man aber noch hören. Ein weiterer Bandit packte die unbekannte Frau unsanft am Arm. Und ebenso unsanft befreite sie sich. Ein lauter Donnerschlag ertönte. Schlagartig änderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet. Als er seine linke Hand nach oben drehte, öffnete sich die Haut einen Spalt breit und eine Riesenschabe kam zum Vorschein. Er wollte schreien, doch er fiel mit dem Rücken auf den Boden und sein Torso öffnete sich.

Keoga hatte genug gesehen. So schnell er konnte, machte er, dass er fortkam. Normalerweise hatte Walburs Rivale vor nichts Angst, aber vor dieser Frau fürchtete er sich. In der alten Ruine brach er sein Trainingslager ab und floh zum nordöstlichen Strand, wo er einst mit Tosh Kamar gelandet war. Keoga wollte so schnell wie möglich weg von dieser Insel, egal ob sich Andelka ihm anschloss oder nicht. Unterdessen hatte Blackbeards Landungstrupp den Tempel entdeckt. Doch der Piratenkapitän ging kein Risiko ein. „Mr. Ericsson. Sehen Sie mal nach, wie das Gebäude beschaffen ist. Wir wollen keine bösen Überraschungen erleben.“, befahl der Kapitän seinem schwedischen Steuermann. „Aye, aye, Captain.“

Leif Ericsson verschwand. Er war ein Mann mit langen blonden Haaren und einem kräftigen Körperbau. Trotz seiner Größe von 1,80 Metern war der Schwede behändig wie eine Katze. Seine Haare hatte Leif Ericsson mit einem weißen Stoffband zusammengebunden. Außerdem trug er einen gelben dreieckigen Strohhut. Seine braunen Augen blickten wachsam. Das runde Gesicht des Schweden war um das Kinn von einem blonden Drei-Tage-Bart bedeckt. Als Kleidung trug er ein weißes Leinenhemd, eine weiße Leinenhose und schwarze Schuhe.

Leif schob einige Farnblätter beiseite, als er eine Lichtung erreicht hatte. Der Tempel bot einen beeindruckenden Anblick. Das Gebäude war 30 Meter hoch und besaß neun Stufen. Auf jeder der vier Seiten gab es eine Treppe. Drei dieser 40

Aufgänge besaßen 91 Stufen. Die vierte Treppe auf der Nordseite jedoch 92 Stufen. Die Grundkantenfläche des Gebäudes betrug 55 m. Auf der neunten und letzten Plattform befand sich das Allerheiligste. Der Tempel mit dem Feueropal. Auf der Nordseite waren am unteren Ende der Treppe zwei Schlangenköpfe aus dem Stein gehauen. Doch Leif Ericsson musste enttäuscht feststellen, dass die Pyramide bewacht war. Denn am Fuß der Treppenaufgänge standen zwei bewaffnete Wächter. Und an den Eingängen zum Tempel ebenfalls zwei. Das waren keine günstigen Voraussetzungen den Opal zu stehlen. Leif machte sich auf den Rückweg.

Am Strand hatte Keoga etwas Treibgut gefunden. Auch den Stamm einer umgestürzten Palme hatte er entdeckt. Sofort erkannte der junge Krieger die Möglichkeiten seines Fundes. Wenn er es geschickt anstellte, würde aus dem Stamm und dem restlichen Treibgut ein robustes und seetaugliches Kanu werden. Keoga fand noch ein Stück Rinde. So konnte er zumindest eine Skizze anfertigen, denn er hasste es, blind drauf los zu arbeiten. Für ihn war eine sorgfältige Planung das A und O. Keoga entschied sich für ein Kanu mit zwei Auslegern. Der Krieger aus Tangaroa nahm das Rindenstück und seinen Dolch und fing an, einen Entwurf in die Rinde einzuritzen. Mit dem Rumpf fing er an. Keogas Kanu sollte einen langen, schmalen Rumpf bekommen, doch Keoga entschied sich, den Rumpf etwas breiter zu gestalten. Die beiden Ausleger wollte er mit zwei Stangen am Rumpf festbinden, entschied sich dann aber doch dagegen. Stattdessen wurden die Ausleger über drei gebogene Streben direkt mit dem Rumpf verbunden.

Im Lager der Piraten erstattete Leif Ericsson Bericht. Blackbeard hörte aufmerksam zu. Er war ein Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren und einem kräftigen Körperbau. „Das passt mir gar nicht. Wir müssen den Opal noch vor Sonnenuntergang hier weggeschafft haben. Mister Hunt! Mister Gibbons! Ihr zwei schaltet die Wachposten an der Südseite aus!“, befahl der Kapitän und sah die beiden Männer aus seinen kalten, braunen Augen an. Seine linke Gesichtshälfte war durch eine Narbe entstellt. Dort hatte den Piratenkapitän die Klinge eines seiner erbittertsten Feinde, René Duguay-Trouin, einem französischen Korsaren aus Saint-Malo, in einem hitzigen Gefecht am Kopf getroffen. Um noch furchteinflößender zu wirken hatte Blackbeard seinen schwarzen Bart, der ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte, an einigen Stellen mit Holzperlen zusammengebunden. Auf dem Kopf trug er einen dreieckigen schwarzen Hut aus Leder auf dessen rechter Seite ein Totenkopf angebunden war. Dazu trug er ein rotes Hemd, eine schwarze Hose und schwarze, schwere Lederstiefel.

Unterdessen hatten die beiden Piraten sich an die Wächter herangeschlichen und sie mit einem gezielten Dolchstoß in den Hals unschädlich gemacht. Aldrin Hunt gab mit seiner Pistole das verabredete Signal. Im Nu stürmten, angeführt von Blackbeard, die übrigen Mitglieder des Landungstrupps aus ihrem Versteck und schossen ohne Vorwarnung auf die ahnungslosen Verteidiger. Am Ende lebte nur noch einer. „Also Bürschchen. Jetzt hör mir mal gut zu. Ich hasse es nämlich mich zu wiederholen. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann führst Du uns jetzt zum großen Feueropal. Andernfalls wäre ich dazu gezwungen, dich zu töten.“, sagte 41

Blackbeard. Der Indio nickte stumm. „Mr. Beatle! Nehmen Sie vier Mann und gehen Sie in den Tempel. Merken Sie sich alle markanten Punkte. Denn ich will nicht ohne Sie fahren.“ James Beatle, ein 1,85 m großer Mann mit blonden Haaren und einem athletischen Körperbau schritt die in Reih und Glied stehenden Piraten ab. Dabei sah er jeden aus seinen braunen Augen an. Seine Haare hatte er zu einem Zopf gebunden und an den Schläfen zu Locken gedreht. „Mr. Grigorovitsch, Mr. Langsdorff, Black Caesar und Mr. Marsdoke. Sie kommen mit mir.“, sagte er mit einer rauen Bassstimme. Sein rundes Gesicht mit der breiten Nase verriet Tatendrang. Auch James Beatle war daran gelegen, die Insel so schnell wie möglich zu verlassen. Bekleidet war er mit einer blauen Uniformjacke, weißen Hosen, weißen Strümpfen und schwarzen Schuhen. Dazu trug er ein weißes Hemd und auf dem Kopf einen schwarzen Hut in Dreiecksform.

Während James Beatle mit den vier ausgesuchten Männern die Pyramidentreppe emporstieg, suchte Keoga am Strand nach etwas, womit er das Holz bearbeiten konnte. Er durchsuchte das Treibgut, doch er fand nichts. „Wie wärs damit?“, fragte eine Frauenstimme und hielt ihm eine Axt hin. Keoga drehte seinen Kopf. Vor ihm stand Andelka, die Amazone. Ihre langen dunkelbraunen Haare flatterten im Wind und gaben einen großzügigen Blick auf ihr ovales Gesicht frei. „Wie hast Du mich gefunden?“ „Amelia hat mich hergeführt. Du warst so schnell verschwunden, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich bei dir für meine Rettung zu bedanken.“ „Ich will nur noch weg von hier. Ich hoffe, Du verstehst das.“ „Was veranlasst dich zu diesem Schritt?“ „Diese Frau in schwarz. Ich habe Angst vor ihr.“ „Das verstehe ich sehr gut. Zugegeben Keoga, ich habe auch Furcht vor ihr.“ Die Amazone sah den Krieger aus Tangaroa aus wunderschönen braunen Augen an, in denen Dankbarkeit zu sehen war. Keoga erhob sich. „Wollen wir es hinter uns bringen?“, fragte er. „Was?“ „Unser Duell auf Augenhöhe.“ „Wir werden uns nicht duellieren. Du hast mir das Leben gerettet, und laut dem Gesetz der Jägerinnen von Conacht stehe ich bis zum Rest meines Lebens in deiner Schuld. Ich gehe mit dir und kämpfe an deiner Seite. Außerdem bist Du mein Freund.“

Andelka hielt Keoga die ausgestreckte Hand hin. Er ergriff sie und fand sich gleich darauf in einer innigen Umarmung wieder. Ein Lächeln umspielte Andelkas sinnliche Lippen. Sie war mit 1,81 m etwas kleiner als Keoga, doch ihr kräftiger Körper glich diesen Makel aus. Keoga fielen die ganzen Stammesmerkmale am Körper der Amazone auf. „Haben die eine bestimmte Bedeutung?“, fragte er Andelka. „Was meinst Du?“ „Die ganzen Symbole auf deinem Körper.“ „Ach die. Sie spiegeln meinen Rang innerhalb der Schwesternschaft wieder. Ich gehöre zum innersten Zirkel der Jägerinnen. Wenn unsere Anführerin Afrodita erfährt, dass Du mir das Leben gerettet hast, wird sie dir ewig dankbar sein.“ Keoga bemerkte einen Armreif am linken Oberarm der Amazone, der mit einem Lederriemen befestigt war. Außerdem trug Andelka an jedem Arm eine Unterarmschiene. Ihre Scham war durch einen Lederschurz bedeckt, über den noch ein Lendenschutz aus Metall geknotet war. Ihre Brüste waren durch einen Oberkörperschutz aus Metall geschützt, unter den Andelka ein weißes Stofftuch geknotet hatte. Keoga sah ihr noch einmal ins Gesicht und bewunderte die breite Nase, die sich harmonisch in das Gesicht der 42

Amazone einfügte.

„Darf ich dich was fragen, Andelka?“ „Was immer Du wissen willst.“, beantwortete die Amazone Keogas Frage. „Was hat dich auf die Kleeblattinsel verschlagen?“ „Tosh Kamar hat mich aus meiner Heimat entführt.“, sagte Andelka. „Auch ich wurde von Tosh Kamar aus meiner Heimat fortgeholt. Allerdings muss man dazu sagen, dass ich ohne seine Hilfe jetzt nicht hier wäre. Ich würde wahrscheinlich tot am Strand von Tangaroa liegen.“ „Wer hätte ein Interesse daran, dich umzubringen und warum?“ „Walbur. Er hat sich selbst zum Großkönig gekrönt. Und der Grund ist eine Frau. Ihr Name ist Liasanya. Sie ist die schönste Frau in unserem Dorf.“ „Verstehe. Und Walbur beansprucht sie wohl für sich.“, sagte Andelka. „Das hast Du sehr richtig erkannt, Andelka. Aber jetzt sollten wir mit dem Bau des Kanus beginnen.“

Und während Keoga und Andelka miteinander sprachen, hatten James Beatle und seine Männer die 91 Stufen der Südtreppe des Tempels erklommen. Der Indio blieb stehen und drehte sich zu den Männern um. Zuerst blickt er dem Hamburger Hans Langsdorff ins Gesicht. Der Deutsche erwiderte den Blick aus seinen eiskalten blauen Augen. Hans Langsdorff entstammte einer Familie mit einer langen Seefahrertradition. Schon sein Vater und sein Großvater waren zur See gefahren. Aufgewachsen im Stadtteil St. Pauli war Hans bereits mit 13 Jahren zur See gefahren. Sein rundes, wettergegerbtes Gesicht verriet, dass der Deutsche schon viel von der Welt gesehen hatte. Hans Langsdorff hatte im Laufe seiner Jahre auf See viel gesehen und viel erlebt. Als 13jähriger Hänfling angefangen, hatte er im Laufe der Jahre ordentlich an Gewicht zugelegt und Muskelmasse aufgebaut. Seine blonden Haare hatte der Mann aus Hamburg kurz geschoren. Der Indio war zwar groß, doch der Deutsche war mit seinen 1,85 Metern einen Ticken größer. Seine Kleidung bestand aus einer weißen Uniformjacke, einer weißen Leinenhose und schweren, schwarzen Lederstiefeln. Dazu trug Hans Langsdorff ein weißes Hemd.

Der nächste im Bunde, dem der Wächter ins Gesicht sah, war der Russe Iwan Grigorovitsch. Der Mann aus Sankt Petersburg war 1,90 m groß und kräftig gebaut. Seine ganze Haltung und auch seine Ausstrahlung verrieten den Aristokraten in ihm. Dem Indio war klar, dass er gegen die Übermacht alleine nicht ausrichten konnte. Doch er hatte die Möglichkeit Alarm zu schlagen, sollten die Piraten mit dem heiligen Stein von der Insel fliehen. Er musterte den Russen weiter. Iwan Grigorovitsch hatte ein ovales Gesicht mit kalten, braunen Augen. In seiner linken Hand hielt der Russe einen langen Säbel und es bestand kein Zweifel, dass er nicht zögern würde davon auch Gebrauch zu machen. Der Indio sah dem Piraten weiter ins Gesicht. Sein dunkelbraunes Haar war Kinnlang und ab der Stirn dauergewellt. Unter seiner grazilen Nase trug der Russe einen Schnurrbart. Seine Kleidung bestand aus einer schwarzen Hose, schwarzen Schuhen mit Silberschnallen und einem weißen Hemd. Über dem Hemd trug Iwan Grigorovitsch eine grüne Uniformjacke.

„So, Briderchen. Du führst uns jetzt direkt zum Feueropal. Wenn nicht, mache ich dir Beine.“, sagte der Russe mit einer kalten und harten Stimme. Der Indio-Wächter sah ein, dass es keinen Sinn hatte, Widerstand zu leisten. 43

„Ich gehen voran! Ihr folgen!“, sagte er. Die Piraten entzündeten Fackeln um im Inneren des Tempels besser sehen zu können. Der Indio ging voran. Ihm folgte Iwan Grigorovitsch, dann kam James Beatle, während Hans Langsdorff die Nachhut bildete. Im Inneren des Tempels ging der Wächter einen langen Gang entlang. James Beatle, der Engländer, bestaunte die vielen Malereien an den Wänden zu beiden Seiten des Ganges. Eine davon zeigte einen Riesenkalmar, der ein Segelschiff in die Tiefe zog.

Der Gang endete in einem riesigen Raum. „Nun Ihr müsst lösen Rätsel.“, sagte der Indio. „Was für ein Rätsel?“ Der Indio-Wächter streckte den Arm aus. „Ihr sehen die Symbole an der Wand? Nur eines davon öffnet geheime Tür hinter der sich Raum befindet, in dem versteckt ist Feueropal. „Und wenn wir das Rätsel nicht lösen können?“, fragte Black Caesar. „Dann es ergeht euch wie jenem Unglückseligen, der verraten hat Hohepriester.“ Der Wächter betätigte einen geheimen Mechanismus und eine Tür öffnete sich. Zwei Uniformierte brachten einen jungen Mann in den Raum. Hans Langsdorff, der Seemann aus St. Pauli, erkannte, dass der Unglücksrabe ein Novizengewand trug. Der Indio, der ihn und die anderen geführt hatte, wandte sich nun an den Verurteilten. „Such Symbol aus und drücke darauf.“ Der junge Novize schritt durch den Raum und sah sich die Symbole an. Vor einem blieb er dann stehen. Es zeigte einen Skorpion. Der verurteilte Novize streckte seine Hand aus und drückte auf den Stein mit dem Symbol. Sofort glitt der Stein nach innen. Eine magische Barriere baute sich zwischen dem Verurteilten und den anderen auf. Ein großes, zweiteiliges Tor öffnete sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Im Raum dahinter sah man eine Nebelwand. In diesem Nebel konnten alle die Silhouette eines gigantischen Skorpions erkennen. Das Insekt war vorne etwas nach unten gegangen und hatte seinen Schwanz mit dem Giftstachel zur tödlichen Attacke erhoben. Dann griff der Skorpion an. Black Caesar erkannte, dass es sich um einen Kaiserskorpion handelte.

Das gewaltige Insekt stach zu und der Junge sank zu Boden. Danach verschwand der Kaiserskorpion wieder in dem Raum und das Tor schloss sich. Auch der Stein glitt wieder in seine alte Position zurück. Als letztes baute sich die magische Barriere ab. „In Ordnung, Männer. Seht euch die Symbole genau an. Ich will keine bösen Überraschungen erleben.“, sagte James Beatle.

Und während die Piraten im Tempel nach dem richtigen Symbol suchten, arbeiteten Keoga und Andelka am Strand fieberhaft an ihrem Kanu. Der Rumpf war schon fertig. Der Krieger aus Tangaroa hatte mit etwas getrocknetem See Gras die Sitzmulde den Palmenstamm gebrannt. Die Amazone hatte die Löcher in den Rumpf gebrannt, an denen die Ausleger montiert werden sollten. Nun waren die beiden dabei, die Ausleger zu bauen. Keoga hatte von einem umgestürzten Baum vom Stamm ein Stück abgetrennt und dieses noch mal halbiert. Von den beiden Hälften entfernte er die Rinde und schliff das Ganze noch einmal mit getrocknetem Seegras glatt. Aus den Ästen der Palme fertigten Keoga und Andelka die Streben, die die Ausleger mit dem Rumpf verbinden sollten.

Die beiden waren so mit dem Bau des Kanus beschäftigt, dass sie nicht 44

bemerkten, wie der Wald, der das Innere der Insel vom Uferbereich trennte, von einer schwarzen Wolke verschluckt wurde. Aus dieser Wolke erschien wieder die mysteriöse Frau in schwarz, vor der Sich Keoga seit ihrer ersten Begegnung im Moor fürchtete. Die Wolke löste sich auf und die Palmen wiegten sich nach ihrem Verschwinden wieder friedlich im Wind. Nur die Frau stand am Strand und starrte gedankenverloren auf die weite See.

Andelka entdeckte sie als erste. Sie beugte sich zu Keoga hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Dreh dich mal um. Aber langsam. Wir haben Gesellschaft.“ Keoga drehte langsam den Kopf und sah die mysteriöse Frau am Strand stehen und auf das Wasser blicken. Doch etwas fehlte. Ihr Stab und die Raben, denn die Unbekannte hatte ihre Hände vor ihrem Bauch gekreuzt. Keoga erhob sich. „Wer bist Du?“, fragte er gerade heraus. „Ich bin Tanet, die Tochter des Leird. Ich wurde geschickt, um dir zu helfen.“ „Deine magischen Fähigkeiten sind… beeindruckend.“ Tanet wandte Keoga ihren Kopf zu. „Furchteinflößend wolltest Du wohl sagen.“. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber nichts desto trotz habe ich Angst davor, dass Du mich vielleicht auch noch in die ewigen Jagdgründe schickst.“, sagte Keoga. Nun drehte sich Tanet vollständig zu ihm und Andelka um. Dem Krieger aus Tangaroa fiel auf, dass ihr Kleid ab dem Hüftbereich figurbetonter war und ihre Oberweite stärker zur Geltung brachte. Um ihren Hals trug Tanet ein Amulett in Form eines Totenkopfes.

Leirds Tochter ging mit anmutigen Schritten auf Keoga zu. Er bemerkte, dass auch sie es vorzog, barfuß zu gehen. Als sich beide gegenüberstanden, umspielte ein freundschaftliches Lächeln Tanets sinnliche Lippen. Die Tochter des Leird legte dem Krieger eine Hand auf die Schulter. „Vor mir brauchst Du dich nicht zu fürchten, Keoga. Ich bin auf deiner Seite.“, sagte Tanet. Dann entdeckte sie das Kanu. Auch wenn sie selbst von Bootsbau keine Ahnung hatte, erkannte sie dennoch, dass dies später einmal ein Auslegerkanu werden sollte. „Wann wollt Ihr in See stechen?“, fragte Tanet. „Wenn möglich vor den Piraten. Ich will nicht mehr hier sein, wenn sie absegeln.“ „Ich würde dich gerne begleiten. Vorausgesetzt, meine Gesellschaft ist dir willkommen.“ „Solange Du mir kein Haar krümmst, nehme ich dich überall hin mit.“ „Dann soll es so sein. Ich würde mich gerne nützlich machen und beim Bauen helfen.“, sagte Tanet. „Gern. Ich möchte aus den Palfasern Taue fertigen, die was aushalten.“ „Aber vorher muss ich noch meine Raben rufen.“ „Tu was Du nicht lassen kannst.“

Tanet blickte in den Himmel, breitete die Arme aus, drehte die Handinnenflächen nach oben und rief mit lauter, kräftiger Stimme: „ODIN! FRIGGA! Ich rufe euch! Kommt herbei! SALMEI! DALMEI! ADOMEI!“ Augenblicklich kamen die beiden Vögel angeflogen und landeten auf ihrem ausgestreckten Arm. Rasch gab sie den Tieren Anweisungen, was sie tun sollten, und setzte sie auf den Boden. Sofort begannen Odin und Frigga mit ihren Schnäbeln die Fasern aufzunehmen, die ihre Herrin von den Stämmen der abgestorbenen Palmen trennte, und sie geschickt zu einem kräftigen Tau zu weben. Keoga nahm ein kurzes Stück und versuchte es zu zerreißen. Doch so sehr er sich auch bemühte, das Tau, das Odin und Frigga geflochten hatten, hielt. Tanet sah sich unterdessen die Skizze an. „Wäre es nicht besser, wenn wir noch einen Mast anbringen? Dann könnten wir aus den Palmfasern ein Segel 45

weben.“, sagte sie zu Keoga.

Keoga ahnte, worauf die Tochter des Leird hinaus wollte. Auch Andelka war derselben Ansicht. „Die Idee ist gut. Dann wären wir in der Lage Windströme auszunutzen.“ Odin und Frigga hatten, während Keoga, Andelka und Tanet miteinander sprachen, einige dünnere Leinen geflochten und an den Enden der Streben befestigt. Das Männchen machte sich durch einen Krählaut bemerkbar. „Was will er?“, fragte Keoga. Tanet streckte ihren rechten Arm aus und Odin flog zu ihr. Mit einigen Krählauten erklärte er seiner Herrin was er wollte. „Odin schlägt vor, das harz der Bäume als Klebstoff zu benutzen, um die Ausleger mit den Streben zu verbinden.“ „Das ist ja ein richtiger Pfiffikus. Die Idee ist genial.“, sagte Andelka.

„Stellt sich nur noch die Frage, wie ihr das Harz auffangen wollt.“, sagte eine Frauenstimme. Diese Stimme kannte Keoga nur zu gut. Er drehte sich um. Am Rumpf des Kanus lehnte Elenia. Die Banshee lächelte, als Keoga sich zu ihr umdrehte. „Seit wann bist Du hier?“ „Bin gerade erst gekommen. Die Piraten suchen noch. Das sollte uns Zeit verschaffen.“ „Wollen wirs hoffen. Und dem Wort „UNS“ entnehme ich, dass Du mit uns gehen willst.“ „Wenn Du über Tangaroa herrschst, wirst Du einen Ratgeber brauchen.“, sagte Elenia. „Das ist wohl wahr. Aber Walburs Ratgeber wird sich ebenfalls Hoffnungen auf diesen Posten machen.“ „Letzten Endes triffst Du die Entscheidung, Keoga. Aber wäre ich an deiner Stelle, würde ich mich für Elenia entscheiden.“, sagte Andelka. „Mich interessiert erst einmal etwas anderes.“ „Was?“ „Ob Demiros mit uns kommt.“ Elenia schüttelte den Kopf. „Nein, Keoga. Sein Geist ist nun endgültig in die Endwelt eingezogen.“

Im Tempel hatte Aldrin Hunt einen Stein mit einem ovalen Edelstein entdeckt, der über einer Flamme schwebte. „Mr. Beatle! Ich glaub, ich hab was gefunden!“, sagte er. James Beatle kam dazu. „Gut gemacht, Mr. Hunt. Aber wieso sind Sie eigentlich hier? Ich dachte, Sie sind draußen bei den anderen.“ „Der Captain hat mich hinterher geschickt.“ Der Engländer drehte sich zu einem der Gefängniswärter um. „DU! KOMM HER!“ Der Wärter weigerte sich, dem Befehl des Piraten Folge zu leisten. Bis er die Pistole von Iwan Grigorovitsch in seinem Rücken spürte. „An deiner Stelle würde ich spuren, Briderchen. Denn wenn nicht, wird die Luft ziemlich bleihaltig.“, sagte der Russe.

Der Gefängniswärter gehorchte. Wenn auch nur widerwillig. „Drück auf den Stein!“, befahl James Beatle. Iwan Grigorovitsch, der russische Adlige verstärkte den Druck mit seiner Pistole. Der Indio drückte auf den Stein, der sofort nach innen glitt. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen Gang frei. „Du gehst voran!“, sagte James Beatle zu dem Wärter. Dieser sah zu dem Tempelwächter hinüber. Der Wächter nickte. Widerstrebend führte der Mann die kleine Gruppe den Gang entlang. Am Ende zweigte der Gang nach links ab. James Beatle merkte sich diesen Punkt. Doch am Ende wurde der Weg durch eine Flammenwand versperrt. Natürlich weigerte sich der Indio den Piraten zu verraten, wie man an den Flammen vorbeikam. Es war Hans Langsdorff, der das Rätsel löste. Der Deutsche entdeckte einen geheimen Mechanismus, mit dem man die Feuerwand zum Erlöschen bringen konnte. Der Gang, der nun 46

Frei war, führte geradeaus in einen kleinen Raum.

In der Mitte befand sich eine Empore, auf der in einer goldenen Schale der Opal ruhte. James Beatle ging voran um nachzusehen. Als er den Opal sah, staunte der Engländer nicht schlecht. Der Edelstein war 17 cm lang, 10 cm breit und hatte einen Durchmesser von 16 cm. James Beatle versuchte, den Stein anzuheben, doch er verbrannte sich die Finger. Erst dem Russen gelang dies, nachdem er den Feueropal in ein Leinentuch eingewickelt hatte, das er immer mit sich führte. Iwan Grigorovitsch nahm den Edelstein in seine Hände und trug ihn nach draußen. Der Gefängniswärter heulte vor Wut und warf seinen Speer nach den Piraten. Er rannte ihnen sogar nach. Doch als er die Stelle erreichte, wo normalerweise die Flammenwand loderte, sah er in das ernste Gesicht von Hans Langsdorff. Der Deutsche hatte seine Pistole gezückt und schoss dem Indio ins rechte Knie. Dann betätigte er den geheimen Mechanismus und die Feuerwand erschien wieder.

Am Strand hatten Keoga und die anderen den Mast des Kanus aufgestellt und mit den Tauen, die Odin und Frigga, Tanets Raben geflochten hatten an den Wänden des Kanus mit Keogas Seemannsknoten befestigt. Die Raben hatten unterdessen damit begonnen, aus den Palmfasern ein Segel zu weben. Der Krieger aus Tangaroa hatte mit seinem Katana eine Kokosnuss halbiert und beide Hälften mit seinem Dolch ausgehöhlt. In die Schalen hatte er das harz aus den umgestürzten Bäumen laufen lassen und das untere Ende der Streben darin getaucht, ehe er Streben und Ausleger miteinander verband. Um sicher zu stellen, dass sich die Streben nicht auf dem offenen Meer lösten, hatte Tanet mit einem selbst gemachten Pinsel die Schnittstellen zwischen Strebe und Ausleger mit Harz verklebt. Andelka hatte sich Gedanken gemacht, wie man das Kanu verbessern konnte, ohne die Seetauglichkeit zu beeinträchtigen. Zusammen mit Keoga und den anderen beriet sie sich. „Ein Ruder?“, fragte Elenia. „Macht aber Sinn. So können wir leichter steuern um eine Windbö zu erwischen.

Mit seinem Dolch ritzte Keoga drei Markierungen in das Holz am Heck und entfernte mit Andelkas Axt das Holz dazwischen. Danach brannte er Löcher in das Holz. Aus dem Holz des Baumes, aus dem er die Ausleger gefertigt hatte, schnitt Walburs Rivale ein Ruderblatt aus und schliff es mit getrocknetem Seegras glatt, ehe er es in die Auskerbung einpasste. Sein nächster Schritt bestand darin, eine Ruderpinne zu bauen, die er mit dem Zapfen zuerst durch das Loch am Heck schob. Odin und Frigga hatten inzwischen das Segel fertig gestellt, das nun am Mast befestigt wurde.

Andelka hatte mit der Axt, die ihr Demiros geschenkt hatte, bevor in die Endwelt eingezogen war, ein paar Paddel gefertigt und mit getrocknetem Seegras glattgeschliffen. Keoga hatte das Ruder mit Palmöl eingerieben, damit es sich leichter bedienen ließ. „Ich denke, wir können los. Die Piraten werden noch eine Zeit brauchen, bis sie wieder an Bord der „Queen Anne’s Revenge“ sind.“, sagte Andelka. „Hauen wir ab.“ Zu viert schoben sie das Kanu ins Wasser. Tanet ließ ihre Raben fliegen. Doch bevor sie aufbrachen, erschien Iduna. „Habt Ihr nicht was vergessen?“, fragte sie tadelnd. „Nicht das ich wüsste.“ „Wie weit werdet Ihr wohl kommen, ohne Vorräte?“ „Wir haben ein bisschen Kokosfleisch.“ „Und 47

was glaubst Du, wie lange ihr damit auskommt, Keoga?“

Der Krieger aus Tangaroa sah ein, dass die oberste Göttin Recht hatte. „Aber Ihr habt Glück. Da kommt ein Beutetier.“, sagte Iduna. Keoga drehte sich um. Aus dem Palmenhain, der den Strand säumte brach ein gewaltiger Grizzlybär. Tanet hatte unauffällig einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen herbeigezaubert. Keoga nahm ihn und spannte einen Pfeil in die Sehne. Dann legte er an und zielte auf das mächtige Raubtier. Als der Bär sich auf seine Hinterbeine stellte, und sich so zu seiner vollen Größe aufrichtete, schickte der junge Krieger den Pfeil auf seine todbringende Reise. Das Geschoss verfehlte sein Ziel nicht. Der Grizzly brach zusammen. Rasch schoben Keoga und Andelka das Kanu wieder auf den Strand, damit es von der Strömung nicht fortgetrieben wurde. Danach häutete die Amazone den Bären und schnitt das Fleisch in Portionen. Keoga hatte inzwischen ein Feuer entzündet. „Na hoffentlich werden die Piraten nicht darauf aufmerksam.“ Hörte er eine Rabenstimme. Auf der Ruderpinne saßen Odin und Frigga. „Blackbeard und seine Männer sind im Nordwesten an Land gegangen. Wir sind im Nordosten. Ich wage es zu bezweifeln, dass die Piraten das Feuer sehen werden.“ „Und was ist mit der Rauchfahne? Die sehen die Piraten doch meilenweit.“, sagte Frigga. „Meine Frau hat Recht, Keoga. Durch das Feuer hast Du uns alle in Gefahr gebracht.“

Iduna schaltete sich ein. „Nicht unbedingt. Es gibt hier auf der Kleeblattinsel einen Vulkan, der immer noch aktiv ist. Man könnte die Rauchfahne auch als Zeichen eines bevorstehenden Ausbruchs deuten.“, sagte sie. Keoga hatte inzwischen das Fleisch auf einen zugespitzten Ast gespießt und hielt diesen ins Feuer. Frigga erhob sich in die Lüfte und war bald außer Sichtweite.

Als sie zurückkam hatte Keoga das Feuer mit Sand gelöscht und das Fleisch in mehrere Beutel gepackt. „So. Jetzt aber nichts wie weg.“, sagte Andelka. Erneut wurde das Kanu ins Wasser geschoben. Keoga nahm den Platz an der Ruderpinne ein. Vor ihm saß Elenia, vor ihr Tanet, vorne am Bug Andelka. Odin hatte sich in die Lüfte erhoben, während Frigga neben dem Krieger aus Tangaroa auf der Bordwand Platz genommen hatte. Die Strecke bis zum Riff wurde gepaddelt. Auch die Passage über das Riff verlief ohne Probleme.

Als die Freunde das offene Meer erreicht hatten, warf Andelka das Segel los und Elenia drehte es in den Wind. Keoga legte das Ruder entsprechend und sah, wie sich das Segel mit Luft füllte. Im Nu nahm das kleine Boot Fahrt auf. Elenia blickte noch einmal zurück und sah, wie die Kleeblattinsel immer kleiner wurde. Doch was sie dann sah, mochte so manchem gestandenen Seemann das Blut in den Adern gefrieren lassen. Denn ein gigantischer Riesenkalmar durchbrach die Wasseroberfläche. Auf seinem Rücken konnte die Banshee klar und deutlich einen roten Hummer erkennen. „Tosh Kamar ist zurück. Und er schickt sich an, Rache zu nehmen.“, sagte sie. „Dann sollten wir schleunigst machen, dass wir wegkommen.“ „Aber wohin?“ „Segeln wir nach Conacht.“, schlug Andelka vor. „Keine schlechte Idee.“ Der Wind frischte auf und drehte auf Nordnordwest. Keoga drehte die Pinne, bis sich das Segel wieder füllte.

Auf der Kleeblattinsel waren die Piraten wieder an Bord der 48

„Queen Anne’s Revenge“. „Lassen Sie den Anker lichten, Mr. Ericsson.“, sagte Blackbeard. „Aye, Captain. HIEVT ANKER!“ Die Matrosen drehten das Spill und der Anker kam frei. „Segel setzen.“ „SEGEL SETZEN!“ Sofort enterten die Matrosen auf und warfen die Segel des Schiffes los. „Kurs Nordost, Mr. Ericsson.“ „Aye, aye. KURS NORDOST!“ Der Rudergänger drehte das Steuerrad, bis das Schiff auf dem neuen Kurs lag. Sofort füllten sich die Segel des Dreimasters. Auch Blackbeards Schiff schaffte die Riffpassage, nahm aber einen anderen Kurs. Die Piraten segelten erst nach Südosten und anschließend nach Süden. 49

Buch 1 - Kapitel 4

Buch 1 – Kapitel 4

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Der große Feueropal wurde uns geraubt. Wer auch immer ihn gestohlen hat, wollte uns Verderben bringen. Mögen uns die Götter in dieser dunklen Stunde beistehen und Rettung schicken.“

15. Juni 1712 einen Monat nach dem Raub des großen Feueropals

Es war ein nebliger Tag. Katka stand am Anleger, der zur Zitadelle von Conacht führte. Ihr 1,74 m großer und kräftig gebauter Körper bebte vor Anspannung. Von See her wehte eine etwas kräftige Brise, die dafür sorgte, dass ihre schwarzen Haare in ihr Gesicht wehten. Ihre etwas großzügig ausgefallene Oberweite hob und senkte sich in der Frequenz der Atemzüge. Ihre braunen Augen sahen angestrengt in den Nebel, doch es war zwecklos. Ihr ovales Gesicht mit den Pausbäckchen zeigte ebenfalls die Anspannung. Ein weiteres Mal atmete Katka durch ihre breite Nase ein und durch ihre sinnlichen Lippen wieder aus. In ihrer linken Hand hielt einen Speer.

Die Amazone trug eine leichte Lederrüstung und braune Lederhosen mit Fransen. Ihre Füße steckten in leichten Sandalen. Katka hatte sich gerade eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen, als sie ein leises Plätschern wahrnahm. Sofort packte sie ihren Speer und streckte ihn vor sich. Wieder ertönte das Plätschern. Und wieder. Und wieder. Katka erkannte, dass es Paddelschläge waren. Dann sah sie aus dem Nebel einen Schemen auftauchen. Offenbar war es ein Boot. Die Umrisse wurden schärfer und die Amazone erkannte, dass es sich um ein Auslegerkanu mit zwei Auslegern handelte. Vier Gestalten saßen darin.

„Kanu ahoi!“, rief Katka in den Nebel. „Andelka!“ Diese Stimme kannte sie. Sie gehörte ihrer besten Freundin Andelka. Dann tauchte das Kanu aus dem Nebel auf. Andelka saß vorne am Bug. Dahinter eine in schwarz gekleidete Frau. Hinter ihr saß eine Frau in weiß gekleidet, mit weißen Haaren und roten Augen. Dahinter saß ein junger Krieger, den Katka sehr attraktiv fand. Andelka ging an Land. „Willkommen zu Hause.“, sagte Katka. „Ich bin froh, wieder hier zu sein. Was hat sich seit meiner Entführung alles ereignet?“ „Seitdem Tosh Kamar dich von hier verschleppt hat, darf kein fremdes Schiff hier anlegen. Die Jägerinnen vertrauen keinem Fremden mehr.“ Andelka wies auf Keoga. „IHM kann man trauen. Es war Keoga von Tangaroa, der mir nicht nur das Leben gerettet, sondern auch zur Flucht verholfen hat.“ „Darüber hat Afrodita zu entscheiden.“, sagte Katka. „Gelten die Gesetze der Schwesternschaft denn gar nicht mehr? Es ist eines unserer obersten Gebote, dass man einen Menschen, der einer Jägerin von Conacht Hilfe leistet, zumindest mal anhört. Außerdem verbürge ich mich, Keoga, Elenia und Tanet.“ „Ich habe meine Befehle, Andelka. Und ich kann 50

mich nicht einfach darüber hinwegsetzen.“

„Wie Du willst. Dann gehen wir eben wieder. Leb wohl Katka. Und dieses Mal ist es ein Abschied für immer.“ Andelka wandte sich ab und stieg wieder ins Kanu. So hatte sie sich ihre Rückkehr in ihre Heimat nicht vorgestellt. „HALT!“, rief eine laute Frauenstimme. Keoga beobachtete die Szene sehr genau. Auf der Treppe stand eine Frau und sah Katka mit einem missbilligenden Blick aus ihren braunen Augen an. Ihre Haare, die so schwarz waren wie Katkas, reichten bis zur Hüfte. Anhand ihrer Körperhaltung und Ausstrahlung ahnte der Krieger aus Tangaroa, dass er zumindest die spirituelle Führerin der Jägerinnen von Conacht vor sich hatte. Und offenbar hasste sie es, wenn man ihren Befehlen nicht gehorchte. „Wieso wurde ich über Andelkas Rückkehr nicht informiert?“, fragte sie Katka streng. „Weil wir gerade eben erst angekommen sind. Aber nachdem Katka uns so unwirsch abgewiesen hat, wollten wir gerade wieder gehen.“ „Katka! Ich weiß zwar nicht, wer Andelkas Begleiter sind, aber was ich weiß, ist, dass sie unsere Gastfreundschaft genießen sollten. Immerhin haben sie uns unsere Schwester wieder zurück gebracht. Du bist in letzter Zeit ziemlich eigensinnig, was die Ausführung deiner Befehle angeht. Und ich war milde genug das zu verzeihen, weil Du noch jung und noch nicht lange bei uns bist.“

Keoga hatte sich bei dieser Frau getäuscht. Sie war offenbar nicht nur die spirituelle, sondern auch die militärische Führerin der Schwesternschaft. Obwohl Keoga ahnte, dass das dunkelblaue Kleid, das die Frau trug, und die Krone auf dem Kopf eher zu einer Schamanin oder Priesterin passten, als zu einer Kriegerin. Aber der Bogen in ihrer rechten und der Köcher in ihrer linken Hand verrieten die Kriegerin in ihr. Keoga fiel auf, dass das Kleid der unbekannten Frau an den Ärmeln mit vielen silbernen Sternen verziert war. Außerdem war es ab dem Oberkörper figurbetonter und brachte ihre Oberweite stärker zur Geltung. „Wer ist das?“, flüsterte Tanet Andelka zu. „Das ist Afrodita unsere Anführerin. Greift besser nicht zu euren Waffen, sonst sind wir alle tot.“

Frigga hüpfte auf der Ruderpinne herum und versuchte Keogas Aufmerksamkeit zu erhaschen. „Was hast Du?“ „Als Du am Strand das Fleisch gebraten hast, bin ich den Piraten gefolgt.“ „Und?“ „Es ist ihnen gelungen, den Feueropal auf ihr Schiff zu bringen.“ „Wohin sind sie gesegelt?“ „Das weiß ich leider nicht.“ Offenbar hatte das kurze Gespräch zwischen Keoga und Frigga Afroditas Aufmerksamkeit erregt. Denn sie drehte sich zu Andelka und den anderen um. Keoga konnte zum ersten Mal ihr Gesicht sehen. Sie hatte ein ovales Gesicht mit einer grazilen Nase und rot geschminkten sinnlichen Lippen. Der junge Krieger sah zum Himmel auf und sah einen Vollmond, der die Haut dieser Frau wie Alabaster schimmern ließ. Afrodita trug zu ihrem Kleid leichte Sandalen.

Afrodita richtete das Wort wieder an Katka. „Für die Zukunft merke dir eines Katka. Die Einhaltung der Gesetze der Jägerinnen von Conacht steht noch 51

vor deinen Befehlen. Nur in Momenten absoluter Gefahr für die Schwesternschaft darfst Du deine Befehle über den Codex stellen. Diese Fremden haben Andelka nach Hause gebracht. Und als Anführerin der Schwesternschaft heiße ich sie in unserer Mitte willkommen.“, sagte sie. Katka sagte kein Wort.

Eine weitere Frau kam die Treppe von der Zitadelle aus herunter. Den Krieger aus Tangaroa wunderte dies nicht, war der Körper der Frau doch schlank und grazil gebaut. Ihre Kleidung bestand aus einer leichten Lederrüstung, einem braunen Lederrock und leichten Lederstiefeln. Das Alter der Jägerin schätzte Keoga auf 38 Jahre. Das ovale Gesicht mit der etwas breiten Nase und den sinnlichen Lippen bot schon etwas fürs Auge. Keoga fiel auf, dass die Rüstung dieser Amazone ab der Taille etwas figurbetonter war und die Brüste der Frau stärker hervorhob. Das blonde Haar fiel in Strähnen bis zur Armbeuge. Die Frau sah Keoga aus eiskalten blauen Augen an. Er bemerkte, dass ihre rechte Hand bereits den Griff ihrer Waffe umfasst hatte.

Der Krieger erhob sich und ging an Land. Die fremde Amazone stellte sich ihm in den Weg. „KEINEN SCHRITT WEITER, FREMDER! ODER ICH SCHNEIDE DICH IN SCHEIBCHEN!“, sagte sie. Dann zog sie einen Säbel arabischen Typs. Die Klinge war gebogen und wies zahlreiche Gravuren auf. An der Spitze der Klinge war noch eine Sicke eingearbeitet. Der Griff war aus Messing und mit Stoff umwickelt. „ES REICHT JETZT!“, meldete sich Afrodita zu Wort. „Ist schon in Ordnung. Sie will einen Kampf, dann soll sie ihn auch bekommen.“ Keoga zog sein Katana.

Die Amazone stürmte mit einem lauten Schrei vorwärts und schwang ihren Säbel über ihrem Kopf. Keoga ging in die Knie und hielt das Schwert vor sich. Im entscheidenden Augenblick riss er sein Katana nach oben und parierte den Hieb der Amazone. Es klirrte laut, als die beiden Klingen aufeinander trafen. Keoga warf seinen Oberkörper nach vorne und stieß die Amazone nach hinten. Dann ging er in die Offensive und drängte seine Gegnerin mit kräftigen Schlägen immer weiter zurück. Die Amazone wehrte sich mit Leibeskräften, doch Keogas Entschlossenheit hatte sie nichts entgegenzusetzen. Am Fuß der Treppe stolperte sie und fiel nach hinten. Dabei fiel ihr der Säbel aus den Händen. Sofort war Keoga über ihr und zielte mit der Klinge seines Katana auf ihre Kehle. „Töte mich!“, sagte die Amazone. Keoga steckte sein Katana in die Scheide zurück. „Nein. Ich bin nicht wie Walbur. Ich schenke dir dein Leben.“ Katka räusperte sich. „Du hast Romi besiegt. Sie verlangt von dir, dass du sie tötest. Also bist Du dazu verpflichtet. So sagt es das Gesetz.“, sagte sie. Keoga schüttelte den Kopf. „Nein. Walbur würde so handeln, um seine Stärke und seine Macht zu demonstrieren. Das habe ich nicht nötig.“

„Ich finde, es reicht jetzt.“, sagte Afrodita. 52

„Romi. Keoga schenkt dir dein Leben. Warum willst Du dennoch den Tod?“

„Weil er mich nach dem Gesetz unserer Schwesternschaft besitzt.“

Keoga schüttelte erneut den Kopf. „Nein Romi. Kein menschliches Wesen sollte ein anderes besitzen dürfen.“, sagte er. Dann hielt er Romi die Hand hin. Die Amazone ergriff sie und ließ sich von ihm nach oben ziehen.

„Du kämpfst verdammt gut. Dafür, dass du noch nicht ganz trocken hinter den Ohren bist, ist das schon eine reife Leistung. Ich musste fast mein ganzes Können aufbieten.“, sagte Romi. Keoga zog ein mürrisches Gesicht. War sein Training zu Hause und auf der Kleeblattinsel hier auf Conacht denn gar nichts wert?

„Kommt. Gehen wir in die Zitadelle. Die Nächte auf Conacht können sehr kalt werden.“, sagte Afrodita und wandte sich zum Gehen. Die Anführerin der Jägerinnen von Conacht ging voran. Dann folgte Katka. Danach kamen Keoga, Andelka, Elenia und Tanet. Romi bildete die Nachhut. Die kleine Prozession erreichte den Hintereingang der Zitadelle. Eine kleine unscheinbare Tür, die in die Mauern eingelassen war, und die man erst auf den zweiten Blick erkennen konnte. Afrodita öffnete sie und ging hinein. Die anderen folgten. Romi hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, da brach draußen ein Unwetter los, wie es die Inselwelt noch nicht erlebt hatte.

Auf der Kleeblattinsel hatten die dort lebenden Stämme angefangen sich untereinander zu bekämpfen. Auch die vier Königinnen hatten sich zerstritten. Von Einigkeit und Harmonie war nun nichts mehr zu spüren. Die gemeinsamen Sitzungen fanden nicht mehr statt, weil keiner bereit war, in irgendeiner Form Kompromissbereitschaft zu zeigen. Die Fronten waren verhärtet.

Königin Jelena, die erste der vier Königinnen war gerade in der Bibliothek ihres Palastes, als ihr Diener erschien. „Mylady, euer Berater wünscht euch zu sprechen.“, sagte er.

„Ich lasse bitten.“ Der Diener nickte und verließ den Raum. Wenig später betrat Jelenas Ratgeber die Bibliothek. Die Königin drehte sich zu ihm um. „Ihr wünscht mich zu sprechen? Bitte, sagt was Ihr auf dem Herzen habt.“

„Meine Königin. Ich habe die Zeichen gedeutet.“, sagte Horatio, so hieß Jelenas Berater. Die Königin forderte ihn mit einer ungeduldigen Geste zum Weitersprechen auf. „Ich befürchte, ich bringe keine guten Nachrichten, Mylady. Unsere Heimat, die Kleeblattinsel ist dem Untergang geweiht.“ Die erste Königin sah Horatio entgeistert an.

„Was sagt Ihr da? Dem Untergang geweiht?“

„Ja, Mylady.“ 53

„Kann man denn gar nichts unternehmen, um dieses Schicksal von der Insel abzuwenden?“, fragte Jelena.

„Doch. Man muss nur den Feueropal wieder an seinen Platz im Tempel bringen.“

„Wer weiß, wohin Blackbeard unseren heiligen Stein gebracht hat.“, sagte Jelena. In diesem Augenblick erschien wieder ihr Diener. „Mylady, ein Bote ist soeben eingetroffen.“ Die Königin nickte kurz. Kurze Zeit später betrat Golban, der Hauptmann von Königin Wiolettas Garde die Bibliothek. „Golban! Was führt dich zu mir?“ „Mylady, meine Herrin, Königin Wioletta, bittet um ein Treffen mit euch und den anderen.“ Jelena verdrehte entnervt die Augen. Es war ihr zuwider, Eliska, Shakira und Wioletta zu treffen. „Muss das sein, Golban?“

„Bedauerlicherweise ja, Mylady.“

„Also schön. Horatio! Du wirst mich begleiten. Ich will, dass Du den anderen sagst, was du mir gerade berichtet hast. Sie sollen es aus deinem Mund hören.“ Horatio nickte. Die Königin ließ ihren Diener rufen. „Ihr habt mich rufen lassen, Mylady?“

„Ja. Gehe runter in die Ställe und sage dem Stallmeister er soll mein Pferd satteln.“ Der Diener nickte und wandte sich zum Gehen. „Warte! Ich bin noch nicht fertig. Der Stallmeister soll auch ein Pferd für Horatio satteln.“

„Sehr wohl, Mylady.“

Auf Conacht tobte indes immer noch der Sturm. Im Inneren der Zitadelle hatte sich die komplette Schwesternschaft versammelt. Afrodita saß auf dem Thron, der im Zentrum des Raumes stand. Andelka hatte berichtet, was ihr seit ihrer Entführung durch Tosh Kamar wiederfahren war. Als sie mit ihren Erzählungen fertig war richtete Afrodita das Wort an Keoga. „Du hast unserer Schwester Andelka das Leben gerettet. Dafür werden wir dir ewig dankbar sein.“, sagte sie.

„Ich wurde aus meiner Heimat vertrieben. Walbur, mein ärgster Feind, regiert nun auf Tangaroa. Als ich noch in Amelias Reich weilte, um vor Tosh Kamar sicher zu sein, ließ Idunas Halbschwester mich sehen, was sich auf der Insel zugetragen hat. Walbur tyrannisiert die Bevölkerung. Er verlangt hohe Abgaben. Die Bevölkerung lebt deswegen in Armut. Wer seine Steuern nicht bezahlen kann, wird enteignet. Allein schon deshalb muss ich ihn stürzen. Kann ich auf eure Hilfe zählen?“

Andelka stellte sich an Keogas Seite. „Ich bin dabei.“, sagte sie. Auch Romi gesellte sich dazu.

„Warum ausgerechnet Du, Romi?“, fragte eine Amazone mit roten Haaren.

„Weil er ein guter Kämpfer ist. Ich weiß, wovon ich rede. Denn ich habe mit 54

Keoga gekämpft. Er führt sein Schwert meisterhaft.“

„Mag sein, dass er dich besiegen konnte. Aber jetzt soll er zeigen, wie gut er mit dem Kampfstock umgehen kann.“, sagte die Rothaarige.

Eine Amazone mit braunen Haaren nahm zwei Kampfstöcke von der Wand und reichte einen davon Keoga. Die Rothaarige nahm den anderen. Dann bezogen beide vor Afroditas Thron Aufstellung. Die Amazone grinste. Und es war ein Grinsen der Überheblichkeit. Keoga ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken. Die Amazone stürmte auf Keoga zu und schwang den Kampfstock über ihren Kopf. „Die Standardattacke.“, dachte der Krieger aus Tangaroa.

Den Hieb parierte er mit Leichtigkeit. Die Amazone versuchte einen weiteren Angriff, und täuschte einen Schlag auf Keogas linke Flanke an. Doch durch das Training mit Demiros roch Keoga auch dieses Mal den Braten. Ein weiteres Mal konnte er den Hieb abwehren. Walburs Rivale bemerkte, wie die Amazone nervös wurde. Offenbar hatte er sie gründlich aus dem Konzept gebracht. Die Rothaarige machte sich zu einem dritten Angriff bereit. „Dieses Mal kriege ich dich. Bereite dich darauf vor, von einer Frau besiegt zu werden.“, sagte die Amazone.

„Du stinkst ja geradezu vor Überheblichkeit, Du Pappnase!“ Erneut stürmte die Amazone vorwärts, doch Keoga hatte genau dies vorausgesehen. Er duckte sich, und zog mit seinem Kampfstock der Rothaarigen die Beine weg. Unsanft landete sie auf dem Rücken. Doch ehe sie sich wieder aufrichten konnte, war Keoga bereits über ihr und fixierte sie mit seinem Kampfstock am Boden. Doch noch war die rothaarige Amazone nicht geschlagen. Sie rammte Keoga das Knie in den Hintern und zwang ihn so, den Griff zu lockern. Nachdem sie sich befreit hatte, wollte die Amazone den Tangaroaner weiter unter Druck setzen und ihn in die Enge treiben. Aber dieser war dank Demiros Nachhilfe mit allen Wassern gewaschen. Er duckte sich erneut unter einem Hieb weg, drückte seinen Stock an den Hals der Amazone und zwang sie in die Knie, ehe er sie mit seinem Knie auf dem Boden fixierte. „Gibst Du auf?“, fragte Keoga.

„Ja, ja ich gebe auf.“ Keoga stieg vom Rücken des Rotfuchses und half ihr auf die Beine. Sie hielt ihm die Hand hin. Keoga nahm sie und erwiderte ihren Händedruck. „Du kämpfst besser als ich dachte. Wer war dein Lehrer?“, fragte sie.

„Sein Name war Demiros.“ Die Amazone starrte Keoga entgeistert an. „Stimmt irgendwas nicht?“

„Demiros… war mein Vater. Er hat mich nach dem Tod meiner Mutter unter seine Fittiche genommen und mir alles beigebracht, was ich für den Nahkampf wissen musste.“ 55

„Wie heißt Du eigentlich?“

„Magdalena.“

„Was ist mit deinem Vater passiert, Magdalena?“

„Er wurde kaltblütig ermordet.“

„Warum denn dieses?“, fragte Keoga.

„Geht dich nichts an.“

Afrodita stand auf und nahm ihren Speer und ihren Schild, die immer an ihrem Thron gelehnt waren und trat vor Keoga. Dann Schlug sie mit dem Speer gegen den Schild. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Und schon bald erbebte der Saal in der Zitadelle von Conacht vom Stakkato der Amazonen, die ihre Speere gegen ihre Schilde schlugen. Afrodita legte Keoga eine Hand auf die Schulter. „Wenn Du gegen Walbur ins Feld ziehst, werden wir, die Jägerinnen von Conacht an deiner Seite stehen.“

In seinem Palast auf Tangaroa saß Walbur auf seinem Thron und hielt die tägliche Audienz ab. Ein Bauer war gerade vorgetreten. Dieser hatte hohe Schulden, die er unmöglich bezahlen konnte. Eigentlich hätte er nach Walburs Gesetz enteignet werden müssen. Doch der Mann war der Sohn eines mächtigen Stammesführers. Deshalb musste der Großkönig ihm wohl oder übel die Schulden erlassen. Doch ganz so einfach wollte er den Bauern doch nicht davonkommen lassen. „Teile deinem Großkönig dein Begehren mit.“, sagte Walbur.

„Mylord. Ich bitte euch um den Erlass aller unserer Schulden euch gegenüber. Wenn Ihr sie uns nicht erlasst, müssen wir verhungern.“

„Ich weiß. Und Du hast mir auch deine Felder gezeigt. Du hast mir nichts verheimlicht. Deswegen bin ich geneigt, deiner Bitte zu entsprechen.“

„Ich danke euch, Herr.“

„Nicht so voreilig. Ich bin dir entgegen gekommen. Für meinen Schuldenerlass erwarte ich von dir eine Gegenleistung.“

„Was wünscht Ihr, mein König?“

„Ich möchte eine deiner Töchter zur Frau.“, sagte Walbur.

„Welche, mein Gebieter?“

„Gib mir deine Tochter Kalinka zur Frau.“

„Euer Wunsch sei mein Befehl.“ 56

Auf der Kleeblattinsel war Königin Jelena zusammen mit ihrem Ratgeber Horatio auf Königin Wiolettas Schloss eingetroffen. Golban hatte beide in den großen Ratssaal geführt, wo bereits die anderen drei Königinnen warteten. Erst jetzt bemerkte die erste Königin, dass sie nicht auf ihren Thronen saßen, wie sonst üblich. Sie blickte zur Empore. Und was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Denn auf ihrem Thron saß Tosh Kamar. Der böse Herrscher zeigte ein diabolisches Grinsen.

„Nun, da ihr alle versammelt seid, wollt Ihr mich nicht wieder in eurer Mitte willkommen heißen?“, fragte Tosh Kamar.

„Mir wäre es lieber, Du würdest wieder dorthin gehen, wo du hingehörst. In die Tiefen des Ozeans.“ Tosh Kamar hob tadelnd den Zeigefinger. „Ich komme deinem Wunsch gerne nach, Jelena. Aber bevor ich gehe, möchte ich dass Ihr wisst, dass ICH derjenige war, der den Piraten das Versteck des Feueropals verraten hat.“

„Warum gibst Du unsere Insel dem Untergang Preis?“

„DAS FRAGST DU NOCH? DU UND DIE ANDEREN HABT MICH IDUNAS WILLEN AUSGESETZT! DAFÜR HABE ICH EUCH EWIGE RACHE GESCHWOREN!“

„Das heißt, wir bekommen keine zweite Chance?“

„Ich will mal nicht so sein, Wioletta. Wenn es euch gelingt, den Opal innerhalb von 5000 Monden wiederzufinden, und an seinen Platz im Tempel zurückzubringen, dann soll die Insel vom Untergang verschont bleiben. Gelingt es euch jedoch nicht, so wird mein Riesenkalmar die Insel, mit allem was sich auf ihr befindet in die Tiefe ziehen.“

Tosh Kamar erhob sich, breitete die Arme aus und warf den Kopf in den Nacken. „Vier Fremde müssen ausziehen und den Feueropal finden. Ein Deutscher, ein Engländer, ein Russe und ein Schwede. Doch soll der Weg voller Gefahren sein. Denn ich verhänge sieben Flüche darüber. Sieben Flüche über den, der diese dunkle Reise wagt. Und stirbt einer der vier, so soll der Opal auf immer verloren sein.“, sagte er.

Ein lauter Donnerschlag ertönte. Tosh Kamar verließ gemächlichen Schrittes den Saal. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: „Glaubt nicht, dass ich erlaube, dass die vier euch retten. Denn ich lasse mich nicht um meine Rache betrügen. Die Insel wird untergehen.“

Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Zurück blieben vier ratlose und hilflose Königinnen. „Iduna hilf uns.“, sagte Eliska.

„Hoffen wir, dass Iduna uns beschützt, bis Hilfe kommt.“

„Und wenn nicht?“ „Dann sind wir verloren. Tosh Kamar hat es ja selbst gesagt. Er lässt sich nicht um seine Rache betrügen. Er wird alles daran setzen, dass der Feueropal nicht gefunden wird.“

Auf Conacht hatte sich das Unwetter verzogen und hatte einen sternenklaren Himmel zum Vorschein gebracht. Keoga war nach draußen auf einen der Wehrgänge gegangen um ein bisschen frisch Luft zu schnappen und um nachzudenken. Eine der Jägerinnen von Conacht kam zu ihm. Es war Giulia, die Braunhaarige, die ihm und Magdalena die Stöcke für den Kampf gegeben hatte. „Hast Du Angst?“, fragte sie.

„Nicht unbedingt. Ich fürchte mich nicht davor auf dem Schlachtfeld zu sterben. Aber ich frage mich, warum Magdalenas Vater sterben musste.“

„Wusstest Du, dass Magdalena von der Kleeblattinsel stammt? Ihre Mutter war Tiziana, die engste Vertraute von Königin Jelena. Es war im Jahr 1542, als eine spanische Kriegsgaleone in der nordöstlichen Bucht geankert hat. Demiros hat mit den Spaniern gemeinsame Sache gemacht.“

„Was hat er getan?“

„Demiros hat den Spaniern von einem geheimen Gang erzählt, der von Wiolettas Palast direkt in Amelias Reich führt. Die spanischen Konquistadoren haben ihn sogar mit Gold überhäuft, als Belohnung dafür, wenn er sie führt. Aber bevor es soweit war, wurden die Spanier von Königin Jelenas Truppen vernichtend geschlagen. Es war Tosh Kamar, der Demiros verraten hat.“

„Der würde sogar Vater und Mutter an den Teufel verkaufen, solange es seinen Zwecken dienlich ist.“, sagte Keoga. Giulia nickte. „Darf ich dich was fragen, Giulia?“

„Gerne.“

„Was hat es eigentlich mit der magischen Quelle auf sich?“

„Es ist ein Jungbrunnen. Jeder, der in der Quelle badet, oder ihr Wasser trinkt, bleibt ewig jung.“

„Deswegen wollte Tosh Kamar die Quelle in seinen Besitz bringen.“

„Jetzt will ich dich etwas fragen.“

„Nur zu.“

„Wer ist die in weiß gekleidete Frau mit den weißen Haaren und den roten Augen?“

„Ihr Name ist Elenia.“ 57

„Sie ist eine merkwürdige Frau.“, sagte Giulia.

„Bis ich ihr begegnet bin, wusste ich noch nicht einmal, dass es Wesen wie sie überhaupt gibt. Bei uns auf Tangaroa kennt man keine Banshees.“

„Hast Du schon mal den Klageschrei einer Banshee gehört?“

„Nein. Demiros wollte, dass ich mir die Ohren zu halte. Der Schrei einer Banshee würde mir durch Mark und Bein gehen, hat er gesagt.“

„Und das stimmt auch. Ich habe einmal den Schrei einer Banshee gehört. Ich war damals noch ein kleines Kind. Diesen Schrei werde ich nie vergessen.“

„Was ist danach passiert? Ich meine nachdem Du den Schrei der Banshee gehört hast.“, wollte Keoga wissen.

„Bitte entschuldige, aber ich kann nicht darüber sprechen. Ich hatte nachdem ich den Schrei der Banshee gehört hatte, nächtelang böse Träume.“

Keoga beschloss nicht weiter nachzufragen.

Am nächsten Tag, es war Donnerstag, der 16. Juni 1712, trafen sich Keoga und Afrodita zu einem Gespräch unter vier Augen. „Wir müssen die anderen Stämme benachrichtigen.“, sagte Keoga.

„Das ist leichter gesagt, als getan.“

„Warum denn dieses?“

„Wir brauchen Boten, um alle Stämme zu erreichen. Und die Inseln liegen nicht gerade nah beieinander. Es würde Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern, bis der letzte Bote nach Conacht zurückkehrt.“, sagte Afrodita.

Unbemerkt hatte Elenia den Raum betreten. „Ich hätte eine Idee.“, sagte sie.

Afrodita und Keoga drehten sich zur Banshee um.

„Tanet soll ihre Raben losschicken. Die sind schnell und sehr gewitzt.“

Keoga schlug sich an die Stirn. „Mensch! Warum sind wir nicht gleich darauf gekommen?“

Afrodita war misstrauisch. „Tanet ist die Frau in schwarz. Habe ich Recht, Elenia?“

„Ja.“

„Ich will dir nicht zu nahe treten. Aber ich traue Tanet nicht. Eine Aura des unheimlichen umgibt sie.“ 58

„Ich finde, wir haben keine andere Wahl. Damals als ich Andelka im Moor das Leben rettete, war es Tanet, die durch ihr Eingreifen Andelkas Rettung begünstigt hat.“

„Ich glaube, Du versuchst gerade Tanet ein bisschen ins rechte Licht zu rücken. Wenn Andelkas Schilderungen stimmen, und ich habe keinen Zweifel daran, dann ist Tanet erst aufgetaucht, als Du unsere Schwester schon aus dem Moorloch gezogen hattest.“

„Ja, Du hast Recht, Afrodita. Aber Elenia hat doch auch irgendwo Recht. Wir sollten es zumindest versuchen. Ist zumindest meine Meinung.“

Elenia bemerkte, wie die Anführerin der Jägerinnen von Conacht mit sich rang. Ihr Misstrauen gegenüber Tanet war enorm. Schließlich nickte Afrodita. „Also schön. Versuchen wirs.“

Nach dem Frühstück stand Tanet am höchsten Punkt der Zitadelle. Odin und Frigga saßen auf der Brüstung. Sie hatte den beiden Raben eine Botschaft vorgesprochen, die beide den Regenten der Inseln überbringen sollten. Leirds Tochter ließ die beiden zu sich auf den Arm hüpfen, ehe sie ihn hob und die Tiere fliegen ließ. Dann warf sie ihren Kopf in den Nacken und rief mit lauter kräftiger Stimme ihren Zauberspruch. „SALMEI! DALMEI! ADOMEI!“, sagte sie. Im nu wurden die Raben wieder mehr. Tanet sah ihnen nach, wie sie davonflogen. „Fliegt, meine Freunde! Fliegt! Ruft die Fürsten zu den Waffen!“

Noch am selben Abend kehrten die Raben zurück. Jeder hatte eine schriftliche Antwort im Schnabel. Afrodita staunte. „Ich muss mich wohl bei dir für mein Misstrauen dir gegenüber entschuldigen, Tanet.“, sagte sie.

„Es gibt schlimmeres.“

Während des Gesprächs las Keoga die Dokumente der Stammesfürsten. Er war neben Walbur und Liasanya einer der wenigen auf Tangaroa, der Lesen, Schreiben und Rechnen konnte. Und was er bis jetzt gelesen hatte, stimmte ihn zuversichtlich. Bis jetzt hatten sich alle Regenten der Inseln auf seine Seite gestellt. Er nahm sich eine weitere Schriftrolle und brach das Siegel. Diese Nachricht stammte von Chiara, der Anführerin der Walküren und Regentin der Insel Tecura, der unmittelbaren Nachbarinsel von Tangaroa.

„Mylord Keoga, ich, Chiara, Anführerin der Walküren und Regentin von Tecura werde euch in eurem bevorstehenden Kampf gegen euren Landsmann Walbur unterstützen. Meine Kriegerinnen sind bereit. Wir erwarten eure Befehle.

Chiara, Königin von Tecura und Anführerin der Walküren“, hatte sie geschrieben.

„Ich bin schon auf Walburs blödes Gesicht gespannt, wenn er das erfährt.“, 59

sagte Keoga.

„Was meinst Du?“

„Ich habe gerade eine Nachricht von Königin Chiara, der Anführerin der Walküren gelesen. Sie regiert auf Tecura, einer Insel in der unmittelbaren Nachbarschaft von Tangaroa.“

„Und was schreibt meine Schwester?“, fragte Afrodita.

Keoga, Tanet und Elenia sahen die Anführerin der Jägerinnen von Conacht fragend an.

„Ihr habt schon richtig gehört. Die Anführerin der Walküren ist meine Schwester.“

„Und wieso regiert sie dann auf Tecura und ist nicht hier auf Conacht?“

„Als die ältere von uns beiden durfte sie wählen, welche der beiden Schwesternschaften sie führen und welche Insel sie regieren würde. Chiara hat sich für die Walküren und damit für Tecura entschieden. Aber jetzt spann uns nicht so lange auf die Folter, Keoga. Was schreibt meine Schwester?“

„Das sich die Walküren mir anschließen.“

In diesem Moment betrat Biljana, Afroditas rechte Hand den Saal. „Was gibt es, Biljana?“, fragte Afrodita.

„Das Flaggschiff der Walkürenflotte ist soeben in den äußeren Hafen eingelaufen, Herrin.“

„Was bedeutet das, Afrodita?“, fragte Keoga.

„Das bedeutet, dass meine Schwester uns einen Besuch abstattet.“

Es dauerte eine gewisse Zeit, ehe eine 1,81 m große Frau das Zimmer betrat. Keoga bemerkte, dass Afrodita die gleiche Körpergröße besaß. Es gab jedoch mehrere Unterschiede zwischen den beiden Frauen. Chiara hatte blondes Haar und braune Augen. Der junge Krieger bemerkte, dass Afroditas Schwester statt einer Krone einen geflügelten Helm trug. Und auch was die Kleidung anging, konnten die beiden Schwestern nicht unterschiedlicher sein. Während Afrodita dunkle Farben bevorzugte, trug die Königin von Tecura ein cremefarbenes Kleid und leichte Sandalen. Auch die Form der Gesichter war unterschiedlich. Während Chiara ein etwas runderes Gesicht hatte, war das ihrer Schwester oval geschnitten.

Die beiden Schwestern umarmten einander. „Willkommen auf Conacht, Schwester.“, sagte Afrodita. 60

„Ich bin gerne gekommen, Afrodita.“

Dann wandte sich Chiara zu Keoga um. „Ich nehme an, Ihr seid Keoga, Mylord.“, sagte sie mit einer sanften, gutmütigen Stimme.

„Ja, ich bin Keoga. Zu Euren Diensten, Mylady.“

„Keoga ist gestern Abend hier angekommen. Er hat Andelka nach Hause gebracht.“

„Hab ich etwa was nicht mitgekriegt?“, fragte Chiara.

„Ein böser Herrscher mit Namen Tosh Kamar hat erst Andelka, und dann mich von unseren Heimatinseln fortgeholt. Bei Andelka, war es sogar eine richtige Entführung.“

„Der Name ist mir nicht ganz unbekannt. Reden wir etwa über den bösen Regenten mit den Mufflonhörnern am Kopf?“

„Eben jenen.“

„Dass er aus seinem Gefängnis entkommen ist, wisst Ihr?“

„Das fehlte noch.“, sagte Elenia.

„Es kommt noch schlimmer.“

„Achtung, was kommt jetzt?“

„Es war Tosh Kamar, der den Piraten das Versteck des Feueropals verraten hat.“, sagte Chiara.

Elenia meldete sich zu Wort. „Mir fällt gerade etwas ein. Als wir von der Kleeblattinsel geflohen sind, habe ich einen gigantischen Riesenkalmar gesehen. Auf seinem Rücken hat er einen roten Hummer getragen. Das Wappentier Tosh Kamars.“

„Denkt Ihr, was ich denke?“

„Oh ja. Und mir ist noch etwas zu Ohren gekommen. Tosh Kamar hat den vier Königinnen eine Gnadenfrist gesetzt. Der Opal muss innerhalb von 5.000 Monden wieder im Tempel sein. Ansonsten zieht der Riesenkalmar die Kleeblattinsel für immer in die Tiefe.“

In seinem Palast auf Tangaroa ließ sich Walbur von seinem Schamanen Astar die Zukunft vorhersagen. „Was sagen die Runen?“

„Die Könige der umliegenden Inseln schließen sich eurem Feind an. Zuletzt Chiara, die Anführerin der Walküren und Regentin unserer Nachbarinsel 61

Tecura.“

„Sagen dir die Runen auch wer der feindliche Heerführer ist?“

„Sie verschweigen mir weiterhin seinen Namen. Nur soviel geben Sie mir preis. Er ist von hier.“

„Keoga! Es kann sich nur um Keoga handeln.“

„Was macht euch da so sicher, Herr?“

„Weil Keoga der einzige ist, der je Tangaroa verlassen musste. Du selbst hast mir vor einem Monat prophezeit, dass es Krieg geben wird. Und das ein übermächtiges Heer landen wird. Außerdem hast Du mir prophezeit, dass alle Häuptlinge vor meinem Feind kapitulieren und sich ihm freiwillig anschließen werden.“

In diesem Augenblick betrat Radnor, Walburs Mentat, den Raum. In seiner linken Hand trug er eine Schriftrolle. „Mylord, ich bringe Kunde von den Berserkern.“, sagte er.

„Und?“

„Die Berserker werden Aoraki in Kürze verlassen. Ich habe hier eine Antwort von König Nordin.“

„Was sagt Nordin, Radnor?“

„Er bestellt euch durch mich, dass die Blutrache, er benutzt in der Tat diesen alten Ausdruck, die Kunst von Kenley, durchaus noch lebendig ist. Und das er keinesfalls wünscht euch zu sprechen oder zu treffen.“

„Dann eben nicht.“

Astar hatte unterdessen ein paar weitere Runensteine umgedreht. Er räusperte sich. „Was gibt es, Astar?“

„Herr, die Runen sagen mir, dass alle Regenten euch ihre Unterstützung verweigern. Und nun haben sie mir auch den Namen eures Gegners offenbart.“, sagte Astar.

„Wer ist es?“

Astar schluckte. „Es ist… Keoga.“

„Also doch.“

Der Schamane drehte einen weiteren Runenstein um.

„Sagen dir die Runen auch etwas über deine eigene Zukunft, Astar?“, fragte 62

Radnor den Schamanen.

„Sie sagen, dass ich um meinen Posten als Seher und Ihr um euren Posten als Ratgeber bangen müsst.“

„Wieso denn das?“, fragte Radnor.

„Weil das Gesetz von Tangaroa es so vorschreibt. Ich wollte diesen Paragraphen ja streichen, aber der Ältestenrat hat seine Zustimmung verweigert.“

„Das ist nicht gut. Was wird aus uns, wenn Keoga, sich entschließt, einen neuen Ratgeber und einen neuen Seher zu benennen?“

„Ihr wärt arbeitslos.“

„So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.“

15. Juli 1712 zwei Monate nach dem Raub des großen Feueropals

Es war ein sonniger Morgen. Eine sanfte Brise wehte stetig aus nordwestlicher Richtung. Keoga stand auf dem Achterdeck des Flaggschiffs der Walkürenflotte, der „Tecura“ und ließ seinen Blick schweifen. An Backbord befand sich die „Astarte“, Afroditas Schiff. An Steuerbord konnte Keoga die „Olik“ sehen, Nordins Flaggschiff. Vor drei Tagen hatten sich die Flotten aller Königreiche in der Bucht von Tecura versammelt. Nun befanden sie sich auf ihrem Weg nach Tangaroa. Keoga wusste auch schon, wo er und seine Armee an Land gehen würden. Ein kleiner, unscheinbarer Kanal würde die Flotte in eine Bucht führen, die weder von der See, - noch von der Landseite aus zu sehen war.

In dieser Bucht lag das Dorf von Liasanyas Vater Atahualpa. Keoga wusste, dass der alte Häuptling alles andere als gut auf Walbur zu sprechen war. Deswegen würde es dort keine allzu großen Schwierigkeiten geben. Doch was, wenn Atahualpa nicht mehr lebte? Keoga wusste nur zu gut, dass Liasanyas ältester Bruder Montezuma dann das Dorf regieren würde. Und wie dessen Gesinnung gegenüber dem Großkönig aussah, wusste der Feldherr nicht.

Bei Einbruch der Dunkelheit ankerte die Armada vor der Küste von Atahualpas Dorf. Keoga war müde und wollte erst mal schlafen. Um Mitternacht löste er Tanet ab, die Wache gehalten hatte. „Alles ruhig. Aber am Strand hat man ein Feuer entzündet.“, sagte sie.

„Ja ich sehe es. Du kannst schlafen, wenn Du willst. Ich werde ab sofort Wache halten.“

„Danke. Ich bin ehrlich gesagt auch ziemlich müde. Ich lasse dir Odin und Frigga da. Sie sehen Dinge, die Du vielleicht nicht sofort siehst.“

Am nächsten Morgen, die Sonne ging gerade auf, sah Andelka, die Keoga 63

um 1:00 Uhr morgens abgelöst hatte, wie vom Strand ein kleines Boot ablegte. Zwei Personen saßen auf der Heckbank. Die Jägerin bemerkte, dass beide eine sonnenähnliche Krone trugen. Auch ihre Kleidung war farbenprächtig gehalten. Der ältere der beiden Männer trug ein buntes Gewand ohne Ärmel, während der Jüngere ein weißes Gewand mit Ärmeln bis zur Armbeuge trug. Andelka bemerkte beim genaueren Hinsehen dass beide Männer reichlich mit Goldschmuck geschmückt waren. Auch die Haar- und die Augenfarbe war unterschiedlich. Der Ältere hatte dunkelbraunes Haar und grau-blaue Augen, Sein jüngeres Pendant schwarze Haare und braune Augen.

Andelka weckte Keoga. „Wir kriegen Besuch.“, sagte sie.

„Dann wollen wir unsere Besucher nicht warten lassen.“

Als Keoga mit Andelka an Deck kam hatte das Boot die „Tecura“ fast erreicht. „Sieh an, sieh an. Vater und Sohn erweisen uns die Ehre.“, sagte Keoga.

„Was meinst Du?“

„Die beiden Männer, die uns ihre Aufwartung machen wollen, sind Atahualpa und sein Sohn Montezuma.“

Andelka sah, dass der Häuptling 1,80 m groß und kräftig gebaut war. Sein Sohn war gleich groß, war aber nicht so ein Muskelprotz, wie sein Vater.

„Boot ahoi!“, rief Andelka hinunter.

„Atahualpa und sein Sohn Montezuma!“

„Was hab ich gesagt?“

„Haben wir die Erlaubnis an Bord zu kommen?“

„Erlaubnis erteilt.“

Zuerst kam der Vater an Bord. Dann sein Sohn. Als der alte Häuptling Keoga sah, hellten sich seine Gesichtszüge auf. Auch sein Sohn freute sich, den Heimkehrer wiederzusehen.

„Keoga! Willkommen zu Hause mein Junge.“, sagte Atahualpa und drückte Keoga.

„Auch ich freue mich, dich wiederzusehen, mein Freund.“

„Hat sich in den vier Monaten seit meiner Verbannung irgendetwas wichtiges ereignet?“, fragte Keoga.

Atahualpa nickte. „Walbur hat geheiratet.“, sagte er. 64

„Ein Bauernmädchen, soviel ich weiß.“

„Wie heißt sie?“

„Kalinka.“, sagte Montezuma.

„Ist das nicht Huascars Enkelin?“

„Scharfsinnig wie immer, Keoga.“

„Aber in letzter Zeit ist Walbur gegenüber seiner Ehefrau ziemlich gewalttätig.“, sagte Montezuma.

„Und was ist der Grund?“

„Weil sie ihm eine Tochter statt eines Sohnes geschenkt hat. Deshalb hat Walbur das Mädchen sofort nach der Geburt von der Todesklippe ins Meer geworfen.“

„Das versteh wer will.“

„So lautet aber auf Tangaroa das Gesetz. Nur ein Sohn ist erbberechtigt. Walbur selbst hat es so veranlasst.“

„Und was sagt der Ältestenrat?“

„Der wurde gar nicht erst gefragt. Walbur hat erneut die Gesetze von Tangaroa gebrochen.“

„Das hat er in der Vergangenheit doch auch schon gemacht.“

„Ja. Allerdings wurde er damals auch für seine Taten bestraft. Jetzt ist er Großkönig und kann für seine Taten nicht bestraft werden.“

Am Mittag wehte am Fahnenmast, an dem sonst das Wappen Walburs, ein Königsgreif, wehte, eine neue. Sie zeigte einen weißen Pottwal auf rotem Untergrund. Keoga hatte sie sich als Wappen ausgesucht. In den umliegenden Dörfern sorgte das für einen riesen Tumult. Und am späten Nachmittag, als die Sonne ihren Zenit schon lange überschritten hatte, wehte in allen Dörfern auf Tangaroa Keogas Wappen stolz im Wind.

In seinem Palast bekam es Walbur mit der Angst zu tun. Ein weiterer Teil von Astars Weissagung hatte sich erfüllt. Alle Häuptlinge auf Tangaroa hatten sich Keoga unterworfen. Damit war klar, dass er der Großkönig, nach dem Gesetz eigentlich abdanken, und seinem Rivalen Platz machen müsste. Doch Walbur würde nicht abdanken und Zweiauge Tangaroa kampflos überlassen. Er wollte einen alles entscheidenden Zweikampf auf dem großen Platz vor dem Palast. Doch Walbur dachte nicht daran, nach irgendwelchen Regeln zu spielen. Für Keoga hatte dies zu gelten. Aber doch nicht für ihn, den Großkönig. Ein Bote sollte Keoga die Nachricht mit der Herausforderung Walburs überbringen. 65

Der Bote brach am nächsten Tag mit der Morgendämmerung auf. Um die Mittagszeit machte er an einem kleinen Teich Rast. Walbur hatte ihm keine Eskorte mitgegeben. „Dich wird schon niemand überfallen.“, hatte er behauptet. Na hoffentlich, dachte der Bote. Umso überraschter war er, als er am Rande eines kleinen Wäldchens zwei Frauen sah. Die eine hatte dunkle Haare und trug einen gehörnten Helm, die andere hatte blonde Haare und trug einen geflügelten Helm. Die dunkelhaarige zielte mit einem Bogen aus Elfenbein auf ihn. Die andere hielt ein Scottish Claymore in ihrer rechten Hand.

Dem Boten schlotterten beim Anblick der beiden Frauen die Knie. „I-Ich habe eine Nachricht für den F-Feldherren Keoga von meinem Herren, dem Großkönig W-Walbur.“, sagte er ängstlich. „Stottere nicht!“, herrschte ihn die dunkelhaarige an.

„Wie ist dein Name?“

„Tenryu.“

„Du hast also eine Nachricht für Keoga. Was will Walbur von ihm?“, fragte ihn die Blondine.

„Das steht alles in der Nachricht, die ich eurem Anführer überbringen soll. Ich weiß nicht, was drinsteht.“

Die beiden Frauen tauschten einen Blick. „In Ordnung komm mit.“, sagte die dunkelhaarige.

Die Jägerin und die Walküre nahmen Tenryu in ihre Mitte und ritten mit ihm durch das Wäldchen. „Wie heißt Ihr eigentlich?“, fragte Walburs Bote.

„Afrodita. Ich befehlige die Jägerinnen von Conacht. Die Frau rechts von dir ist meine Schwester Chiara, die Anführerin der Walküren.“

Tenryu wurde kreidebleich. Die wohl berühmtesten Geschwister der westlichen Hemisphäre standen auf Keogas Seite. Er fragte sich, welche Auswirkungen dies wohl auf seine Mission haben würde. Doch seine Sorgen waren unbegründet. Als er Keoga gegenüberstand, bemerkte er, dass dieser von einer Frau in weiß und einer Frau in schwarz flankiert wurde.

„Ah! Tenryu. Afrodita hat mir berichtet, dass Du eine Nachricht von Walbur für mich hast.“, sagte Keoga und streckte seine Hand aus. Walburs Bote gab ihm die Pergamentrolle. Keoga öffnete sie und fing an sie zu lesen.

„Das sieht Walbur ähnlich. Versucht mal wieder sich über geltendes Recht hinwegzusetzen.“

„Ich bitte um Erlaubnis offen sprechen zu dürfen, Mylord Keoga.“, sagte 66

Tenryu.

„Dann bitte.“

„Herr, ich muss euch warnen. Mein Herr und Gebieter will euch Regeln auferlegen, sich selbst aber davon ausnehmen. Außerdem plant er, euch mit einem vergifteten Dolch zu töten, solltet Ihr ihn im Stockkampf besiegen.“

„Sieh an, sieh an. So läuft der Hase also. Nun gut. Kehre zu deinem Herrn zurück und bestelle ihm von mir, dass ich mich seiner Herausforderung stelle. Morgen um die Mittagsstunde, werde ich auf dem großen Platz erscheinen.“, sagte Keoga.

Als Tenryu außer Sichtweite war, sagte Elenia: „Keoga, ich hoffe, Du weisst, was Du tust.“

„Wenn ich mir nicht sicher wäre, dann hätte ich die Herausforderung niemals angenommen, Elenia.“

„Du hast die Warnung des Boten gehört.“, sagte Tanet.

„Ja ich weiß. Und ich sag dir was, Tanet. Walbur hat Angst. Er weiß, dass er laut dem Gesetz abdanken, und seinen Thron an mich abtreten muss. Dass Walbur genau das verhindern will, habe ich geahnt. Ich würde es genauso machen. Aber macht euch um mich keine Sorgen.“

Am nächsten Tag, es war Sonntag, der 17. Juli 1712, standen sich Keoga und Walbur auf dem großen Platz vor dem Herrscherpalast zu ihrem Duell gegenüber. „So, so. Du bist also wieder da, Zweiauge.“, sagte er.

„Überrascht, was?“

„Ein bisschen. Aber Astar hat vorausgesagt, dass Du mich stürzen würdest. Ich will ihm zeigen, dass er sich zumindest in diesem Punkt geirrt hat. Ich herrsche über Tangaroa. Das war so. Das ist so. Und das wird auch so bleiben.“

Doch Walburs Provokation zeigte keinerlei Wirkung. Keoga blieb ruhig und gelassen. Er gähnte sogar gelangweilt, um seinen Rivalen aus der Reserve zu locken. Und was Walbur nicht geschafft hatte, gelang Keoga umso leichter. Der Großkönig stürmte vorwärts und schwang den Kampfstock über seinem Kopf. Genau darauf hatte Keoga gewartet. Im allerletzten Moment riss er den Stock nach oben und raubte seinem Gegner den Angriffsschwung.

Und nun ging Keoga zum Gegenangriff über. Mit schnellen und kräftigen Hieben drängte er seinen Gegner immer weiter zurück. Doch Walbur gab nicht auf. Noch hatte er nicht verloren. Er stieß seinen Rivalen zurück, und hätte diesen beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. Bei Walburs nächstem Angriff 67

Duckte sich Keoga weg, und zog seinem Gegner die Beine weg. Der Länge nach stürzte der Großkönig der Länge nach auf den Boden.

Sofort war sein Herausforderer um die Herrschaft über Tangaroa über ihm und drückte ihn mit dem Kampfstock in den Staub. Zusätzlich drückte er ihm das Knie ins Kreuz. Walbur schrie vor Schmerzen. „Gibst Du auf?“, fragte Keoga.

„Nein.“

Keoga intensivierte den Druck. „Gibst Du jetzt auf?“

Walbur schüttelte den Kopf.

Erneut verstärkte Walburs einstiger Weggefährte den Druck.

„Und was ist jetzt?“

„Schon gut, schon gut! Ich gebe auf! Du hast gewonnen.“

Doch sobald Walbur wieder auf den Füßen stand, zeigte er sein wahres Gesicht. „Du hast mich vor meinem Volk gedemütigt, Keoga. Dafür wirst Du sterben, Zweiauge.“

„Das werden wir sehen.“

„Warum willst Du das unvermeidliche verzögern? Ich werde dich töten.“

Zuerst umkreisten sich Keoga und Walbur, wie zwei Raubtiere, die auf Beute lauern. „Bereite dich darauf vor, in die Endwelt einzuziehen. Dann gehört Liasanya endgültig mir!“

„Du stinkst ja geradezu vor Überheblichkeit, Du Pappnase!“, sagte Keoga ruhig.

Walbur stürmte heran und verpasste seinem verhassten Rivalen einen Tritt an den Brustkorb.

„Keoga!“, rief Elenia vor Schreck.

Als sich Keoga von dieser überraschenden Attacke erholt hatte, sagte Walbur: „Wer ist die Kleine denn? Ist sie vielleicht dein Liebchen? Ich bin sicher, dass sie auch meine Wünsche erfüllen wird.“

Dieses Mal hatte der junge Krieger den Braten gerochen und ging nicht auf die Bemerkung ein. Doch ihm fiel auf, dass Walbur nun einen anderen Dolch in der Hand hielt.

„Eine vergiftete Klinge!“, schoss es Keoga durch den Kopf. Walbur hieb mit dem Dolch nach seinem Widersacher und hätte diesen um ein Haar erwischt, doch sein ehemaliger Freund duckte sich nach unten weg. Wieder griff der 68

Großkönig an. Und dieses Mal sah es so aus, als würde er triumphieren.

„Sieh deinem Tod ins Auge. Mein Dolch wird dich erledigen.“, sagte Walbur und versuchte den Solch für einen gut gezielten Stoß in Position zu bringen.

„Ich werde mich biegen, wie das Schilf im Wind.“, dachte Keoga und ließ noch ein bisschen nach hinten sinken. Dann trat er Walbur in den Steiß und drehte sich weg um dem Stoß des Tyrannen zu entgehen. Der Dolch bohrte sich in den Sand. Schnell war Keoga zur Stelle und stieß dem Großkönig den Dolch in die Brust.

Ein magisches Portal öffnete sich. Und aus diesem Portal trat zuerst Iduna, dann Liasanya. Die oberste Göttin lächelte. „Gut gemacht, Keoga. Du sollst ab sofort der neue Großkönig auf Tangaroa sein.“

Mit diesen Worten legte Iduna Keoga den Mantel aus Kamelhaar um die Schultern. Liasanya eilte auf ihren Liebsten zu und warf sich in seine Arme. „Ich bin so stolz auf dich.“, sagte sie zwischen zwei Küssen.

Keoga lächelte. „Danke.“

Ein alter Mann, der auf einem stabilen Eichenstock gestützt war erhob nun seine Stimme.

„Mein König. Laut unseren Gesetzen steht es euch frei, euren Ratgeber frei zu wählen.“, sagte er.

„Ich habe meine Wahl bereits getroffen.“

Astar und Radnor warteten gespannt auf Keogas Entscheidung. „Ich habe diese Entscheidung schon getroffen, als ich noch auf der Kleeblattinsel weilte. Und Kraft meines Amtes ernenne ich meine Vertraute Elenia zu meiner Ratgeberin.“

Astar heulte vor Wut auf. „Jahrelang habe ich am Königshof die Zeichen gedeutet und die Runen gelesen. Ich lasse mich nicht einfach austauschen. Elenia muss sich mit mir im Zweikampf auf Leben und Tod messen.“

Tanet wollte etwas erwidern, doch Keoga gebot ihr mit einer gebieterischen Geste zu schweigen. „Es tut mir leid, Tanet. Aber Astar und auch Radnor haben das Gesetz auf ihrer Seite. Elenia muss sich einem von ihnen zum Zweikampf stellen.“

Dann nahmen Astar und Elenia Aufstellung. Zuerst war Astar an der Reihe. Der Schamane schickte der Banshee eine Todeswelle entgegen. Doch Elenia wehrte sie geschickt ab und stattdessen traf der Zauber Radnor, der tot am Boden lag. Keoga hatte alle angewiesen sich die Ohren zuzuhalten, denn er wusste, was jetzt unweigerlich folgen musste. Als der langgezogene, laute Schrei ertönte, fing Astars Herz an zu verkrampfen. Sein Gesicht wurde kalkweiß. 69

Schweißüberströmt brach er zusammen und rührte sich nicht mehr.

„Hat sonst noch jemand etwas gegen meine Wahl? Wenn ja, dann möge er jetzt vortreten, oder für immer schweigen.“, sagte Keoga.

Keiner sagte ein Wort. Stattdessen stampften alle mit den Speeren auf den Boden, dass das Stakkato der Stöße über die ganzen Inseln zu hören war.

Am Abend wurde dann Hochzeit gefeiert, zu der auch Amelia gekommen war. Iduna selbst hatte die Trauzeremonie vorgenommen. Nun war es Nacht und Keoga und Liasanya lagen im königlichen Schlafgemach. Sie hatte sich an ihn gekuschelt und sah ihn aus ihren wunderschönen braunen Augen an.

„Was wirst Du als erstes tun?“, fragte sie.

„Zuerst werde ich den ganzen Scherbenhaufen zusammenkehren, den mein Vorgänger hinterlassen hat. Ich werde einige Gesetze zurücknehmen.“

„Was immer Du vorhast. Du hast meine volle Unterstützung, Liebling.“

„Ich danke dir.“

Keoga und Liasanya umarmten einander und küssten sich noch einmal, bevor sie friedlich einschliefen. 70

Buch 1 - Kapitel 5

Buch 1 – Kapitel 5

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Der Sand der Zeit hat begonnen gegen uns zu rieseln. 5.000 Monde bleiben uns Zeit um den Feueropal zu finden Gelingt dies nicht… Wird Oamaru für immer den Tiefen des Ozeans versinken.“

15. August 1712 drei Monate nach dem Raub des großen Feueropals

Es war ein schöner, warmer Sommertag. Ein paar kleine Wolken hingen am Himmel. Und ein leichter aber beständiger Wind wehte über das Meer. Am Morgen war eine Fregatte aus Tangaroa mit 48 Kanonen in der nordöstlichen Bucht vor Anker gegangen. Es war die „Elenia“, das jüngste Schiff der Flotte. Sie war, wie auch der Rest von Tangaroas Marine, auf Aoraki, der Insel der Berserker, gebaut worden. König Nordin hatte die Schiffe dem Königspaar von Tangaroa zur Hochzeit geschenkt.

Nun waren Keoga und Liasanya auf die Kleeblattinsel gereist. Begleitet wurden sie von Elenia und Tanet. Die Tochter des Leird besaß die seltene Gabe, die Anwesenheit von Menschen mit Hilfe ihrer empathischen Kräfte wahrzunehmen. „Wir werden beobachtet.“, sagte sie zu Liasanya. Die Königin nickte. Das Signal eines Muschelhorns ertönte.

Aus den Büschen zu beiden Seiten des Weges erschienen urplötzlich Dutzende von Kriegern. Sie überwältigten Keoga und die anderen und brachten sie in ihr Dorf. Keoga ahnte nicht, dass Tosh Kamar auf einem Berghang gestanden, und alles beobachtet hatte. Der böse Herrscher hatte nämlich auch noch mit ihm eine Rechnung zu begleichen. Tosh Kamar hatte nicht vergessen, dass er seine Verhaftung Keoga zu verdanken hatte. Also sollte der neue Großkönig von Tangaroa sterben. Doch bevor er an der Reihe war, sollte er, an einen Baum gefesselt, mit ansehen, wie seine geliebte Frau im Moor versank. Der Herrscher mit den Mufflonhörnern hatte vor kurzem ein heftiges Unwetter über Oamaru niedergehen lassen, sonst wäre sein Plan zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn im Sommer sind Moore derart trocken, dass ein Mensch, der in ein Moorloch gerät, nicht tiefer als bis zu den Hüften einsinkt.

Doch bevor er sich mit Liasanya befassen konnte, musste Tosh Kamar sich etwas einfallen lassen, was mit den beiden Frauen passieren sollte, die Keoga und seine Frau begleitet hatten. Der böse Herrscher ahnte, dass von den beiden eine Gefahr ausging. Besonders von der Frau in weiß.

Im Dorf angekommen nahm einer der Krieger Tanet ihren Eichenstab weg und brach ihn in der Mitte durch. Die beiden Hälften warf er ins Feuer. Offenbar hatte er gehofft, sie so ihrer magischen Kräfte berauben zu können. Keoga, seine Frau Liasanya, Elenia und Tanet wurden an Pfähle gebunden. Der 71

Medizinmann ging an den Gefangenen vorbei und sah zuerst Keoga ins Gesicht. „VERRÄTER!“, sagte er kalt.

Dann ging er weiter zu Liasanya.

„VERRÄTERIN!“

Danach stand er vor Elenia.

„VERRÄTERIN!“

Als letztes stand er vor Tanet.

„VERRÄTERIN!“, schrie er auch ihr ins Gesicht.

Doch wenn er gehofft hatte, einen der Gefangenen in irgendeiner Form aus der Reserve locken zu können, dann hatte sich der Medizinmann gründlich geirrt. Als er dies merkte wandte der Medizinmann das Wort an alle vier. „Habt Ihr irgendetwas zu eurer Verteidigung zu sagen?“, fragte er.

„Warum soll ich mich für irgendwas rechtfertigen, wenn ich nichts getan habe? Kannst Du mir das mal erklären, Du Schwachkopf?“

„Ich muss doch sehr bitten! Die Anklage lautet auf Hochverrat. Und den Schwachkopf verbitte ich mir.“

„Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“, sagte Keoga.

Nebel bildete sich. Und aus diesem Nebel trat Tosh Kamar. „Weißt Du, Keoga, eigentlich müsste ich dir dankbar sein, weil Du die Drecksarbeit für mich erledigt hast. Walbur sollte ohnehin sterben. Aber Du hast mich vor vier Monaten verraten, als Du mich den Soldaten ausgeliefert hast.“, sagte der böse Herrscher.

„Selber Schuld. Hättest Du deine Finger von meinen Vorräten gelassen, hätte ich dich vielleicht gerettet.“

„Moment. Nicht so voreilig. Ich bin noch nicht fertig. Die Verhaftung und das damit verbundene Gerichtsverfahren, das zu meiner Verbannung geführt hat, hätte ich ja noch ertragen, wenn ich Liasanyas Gesellschaft hätte genießen dürfen. Aber Du musstest sie ja unbedingt selber heiraten. Weißt Du, wie sehr Du mich damit gekränkt hast, Keoga?“

„Soll ich mal alle deine Verfehlungen aufzählen? Mal sehen, wie Du dich dafür rechtfertigen willst.“

„Ach Papperlapapp! Du hast doch von nichts eine Ahnung. Du bist für Liasanya nicht würdig genug.“, sagte Tosh Kamar. 72

„Was muss man denn tun, um deiner Meinung nach Liasanyas würdig zu sein?“

„Nun es reicht nicht, wenn man wie Du „NUR“ Großkönig ist. Liasanya hat etwas Besseres verdient.“

Nun meldete sich zum ersten Mal Liasanya zu Wort. „Ich hab was Besseres verdient? Besser als jetzt kann ich es doch gar nicht treffen. Ich bin die Großkönigin von Tangaroa.“

„SCHWEIG! DICH HAT KEINER GEFRAGT! Aber da Du schon gesprochen hast, und kund getan hast, dass Du mit dem was Du hast zufrieden bist, dann will ich dir sagen, was Du dir entgehen lässt. Wärest Du meine Frau, würde dir, wenn ich Iduna als oberste Göttin ablöse, der Status einer GÖTTIN zustehen. Du wärest UNSTERBLICH. Und das alles, lässt Du dir entgehen. Nur wegen einem Gefühl, dass Ihr Sterblichen LIEBE nennt.“

„Lieber bin ich sterblich und Großkönigin, als unsterblich und Göttin, wenn der Preis dafür ist mit so einem Ekel wie dir verheiratet zu sein.“, sagte Liasanya entschieden.

„Ich wusste, Du würdest so etwas sagen. Deshalb habe ich mir ein Ende für dich ausgesucht, das deiner würdig ist. Du sollst vor den Augen deines Gatten im Moor versinken. Ach ja noch etwas. Nur so nebenbei. Dein Keoga wird selbstverständlich an einen Baum gefesselt. Na, was hältst Du davon?“

„Gar nichts.“

„Eine Frage noch.“, sagte Keoga.

„Bitte, ich bin ganz Ohr.“

„Wie ist es möglich, dass Du dein ozeanisches Verlies verlassen konntest?“

„Eine etwas unangenehme Frage, wie ich zugeben muss. Aber da Du sie mir gestellt hast, sollst Du auch eine Antwort erhalten. Es war Golban, der den Zauberspruch zitiert hat, mit dem mir die Flucht geglückt ist.“

„Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, wenn Königin Wioletta das erfährt.“, sagte Liasanya.

„Sie weiß es längst. Und sie hat getobt, das kann ich euch sagen. Sie war eine regelrechte Furie. Sie sie ist so hübsch, wenn sie vor Wut kocht. Aber nun zurück zu euch. Du Liasanya wirst, wie schon dargelegt im Moor dein Ende finden. Du Keoga, wirst in das Land der ewigen Schatten verbannt. Was nun aber euch beide angeht.“, wandte Tosh Kamar sich an Elenia und Tanet, „Ich weiß ja nicht mal eure Namen.“

„Elenia.“ 73

„Tanet.“

„Zwei sehr hübsche Namen. Gerade deiner, Elenia. Doch was seid Ihr nur für merkwürdige Personen.“

„Schon mal was von einer Todesfee gehört, Du taube Nuss?“, fragte Tanet.

Tosh Kamar fing an mit den Knien zu schlottern. Ausgerechnet eine Todesfee! Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Ich bin eine Banshee.“

Nun wich alle Farbe aus Tosh Kamars Gesicht. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch er fing sich schnell wieder.

„Nun, für euch beide muss ich mir noch etwas einfallen lassen. Aber vorher muss ich mich um eure Freunde kümmern. Und wenn ich mit euch fertig bin, werde ich warten. Warten, bis der fünftausendste Mond aufgeht. Und dann wird mein Riesenkalmar Oamaru in die Tiefe ziehen.“

„Was macht dich da so sicher?“, fragte Keoga.

„Normalerweise würde ich dir diese Frage nicht beantworten. Aber da Du mit diesem Wissen ohnehin nicht viel anfangen kannst, sollst Du es ruhig erfahren. Ich werde verhindern, dass die vier Helden den Opal finden. Ich will meine Rache. Und die werde ich kriegen.“

Tosh Kamar hatte im Angesicht seines bevorstehenden Triumpfes nicht auf die beiden Raben geachtet, die nun von der Nordseite angeflogen kamen. Ihre Herrin Tanet hatte sie jedoch gesehen.

„SALMEI! DALMEI! ADOMEI!“, rief sie mit lauter, kräftiger Stimme.

Im Nu wurden die Raben wieder mehr. Im Sturzflug kamen sie von oben und griffen Tosh Kamar und die Stammeskrieger an. Die Tiere hackten mit ihren spitzen Schnäbeln auf den Köpfen der Krieger herum und verursachten zum Teil üble Wunden. Auch Tosh Kamar wurde von den Vögeln ziemlich übel zugerichtet. Ein Rabe, es war Frigga, hatte ihm sogar ein Auge ausgehackt. Der böse Herrscher fluchte. Er wollte einen Fluch gegen Tanet wirken, doch ein lauter, langgezogener Schrei, der in einem Kreischen endete, sorgte dafür, dass sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Keoga ahnte, dass Elenia diesen Schrei losgelassen hatte. Jetzt verstand er, warum Demiros damals im Moor wollte, dass er sich die Ohren zuhielt.

Der Krieger, der Tanets Eichenstock zerbrochen hatte, wollte fliehen. Doch weit kam er nicht. Denn als er losrennen wollte, versperrte ihm ein fremder Krieger den Weg. Der Mann hatte schulterlange, blonde Haare und einen kinnlangen 74

Schnurrbart. Tanet, die dem Geschehen am nächsten stand, betrachtete den Neuankömmling genauer. Das runde Gesicht und der kräftige, muskulöse Körper waren über und über mit verschiedenen Symbolen bemalt. In den braunen Augen des Mannes brannte pure Mordlust. Tanet fiel auf, dass der blonde Krieger eine Hose aus Schaffell und Stiefel aus demselben Material trug. Doch es war der Ausdruck im Gesicht des Mannes, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Dieser Gesichtsausdruck grenzte an Wahnsinn. Tanet wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Der Fremde war ein Berserker im Blutrausch!

Ihr Vater hatte sie oft genug davor gewarnt. „Hüte dich vor den Berserkern, wenn sie sich im Blutrausch befinden. Denn dann sind sie nicht in der Lage zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.“, hatte er gesagt.

Der Berserker hob seine schwere Kriegsaxt, die er in den Händen hielt und holte zum Schlag aus. Mit einem lauten Krachen spaltete er seinem Gegner den Schädel. Der Schrei, den der Berserker dann zum Besten gab, ließ sogar Elenia erschauern.

Der Berserker riss seine Axt in die Höhe und stieß einen Schlachtruf aus. „GNALI!“, rief er. Wie aus dem Nichts erschienen mehr von seiner Sorte. Die Berserker umzingelten die Krieger des Stammes. Tanet erkannte, dass es Nordins Männer waren. Der Anführer der Berserker tauchte hinter ihr auf.

„Halt jetzt still. Nicht, das ich dich verletze, wenn ich dir die Fesseln durchschneide.“, flüsterte er.

Dann schnitt er Tanet die Fesseln durch. Danach war Elenia dran. Als nächste Liasanya. Keoga kam ganz am Schluss.

Tosh Kamar passte dies gar nicht. Irgendwer musste ihn verraten haben. Golban war es nicht, denn der hatte ihn ja aus seinem Gefängnis befreit. Er stand zwar noch in Wiolettas Diensten, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die dritte Königin Oamarus dahinter kommen würde, dass es ausgerechnet der Hauptmann ihrer Garde war, der Tosh Kamar geholfen hatte. Und der böse Herrscher wusste nur zu gut, was Verrätern blühte, die mit ihm, Tosh Kamar, gemeinsame Sache machten. Sollte Golban als Verräter enttarnt werden, dann würde er Nagoromoto, dem Vulkangott geopfert werden.

Außer sich vor Schmerzen, suchte der Böse das Weite. Golban wartete auf ihn am Fuße des Berghangs, auf dem Tosh Kamar gestanden hatte. „Herr! Ihr seid ja verletzt!“, sagte er.

„Das war einer von Tanets Raben. Das Mistvieh hat mir ein Auge ausgehackt.“

„Da sind aber noch mehr Wunden in eurem Gesicht, Herr!“

„Tanet, dieses Miststück, hat einen ganzen Schwarm Raben auf 74

uns losgelassen. Und als wäre das noch nicht genug, sind die Berserker Keoga und Liasanya zu Hilfe gekommen. Irgendwer hat den Berserkern unsere Pläne verraten.“

„Da fällt mir nur einer ein, Herr.“

„Wer?“

„Beowulf, mein Herr und Gebieter. Im Palast kursiert das Gerücht, dass er eine Liebesaffäre mit Giselle, Königin Wiolettas Zofe hat.“

„Hast Du ihn befragt?“

„Wir haben sogar seine Kammer in der Kaserne auf den Kopf gestellt. Aber nichts gefunden. Allerdings muss ich ehrlich einräumen, dass Beowulf nicht der Einzige ist, den ich in Verdacht habe.“

„Wen noch?“

„Einen Soldaten mit Namen Batista. Er ist zur Hälfte ein Berserker. Und noch etwas macht ihn zum Hauptverdächtigen.“

„So. Und was, wenn ich fragen darf.“

„Als eure Pläne, Keoga und seine Frau gefangen zu nehmen, entdeckt wurden, ist Batista sofort desertiert und nach Aoraki zurückgekehrt. Wir haben seine Kammer von oben bis unten durchsucht und ein Notizbuch gefunden. In dem sämtliche Wege, und Standorte der Kula-Krieger verzeichnet waren.“

„Hat er Aoraki erreicht?“

„Nein, Herr. Wir konnten ihn abfangen. Aber bevor wir seiner habhaft werden konnten, hat er einige Dokumente in eine Flasche gepackt, und diese ins Wasser geworfen. Und zwar genau an der Stelle, an der eine separate Strömung nach Aoraki abzweigt.“

„Und Du glaubst, dass die Flaschenpost Nordin erreicht haben könnte?“

„Ich bin mir sogar ziemlich sicher, Herr. Denn sonst wären die Berserker nicht so schnell hier gewesen. Sie kamen, noch bevor Keoga und Liasanya auf Oamaru eintrafen.“

„Nun gut. Lass uns verschwinden. Und sieh zu, dass Du nicht auffliegst.“, sagte Tosh Kamar.

„Habt keine Furcht, Herr. Ich weiß unser Geheimnis zu hüten.“

„Wie ist Batista eigentlich gestorben?“, fragte der böse Herrscher nach. 75

„Wir haben ihn an die Haie verfüttert.“

„Eine gerechte Strafe für diesen Verrat.“

Im Dorf der Kula hatten deren Krieger die Waffen gestreckt. Denn gegen die überlegenen Berserker war jeder Widerstand zwecklos. Der Schamane des Dorfes, ein loyaler Gefolgsmann Tosh Kamars, war alles andere als zufrieden. Er hätte es lieber gesehen, wenn die Krieger der Kula gekämpft hätten. Doch der Schamane wusste genau, dass die Berserker die Krieger des Dorfes im Handumdrehen aufgerieben hätten.

„Seit wann seid ihr hier?“, fragte Keoga Nordin.

„Seit vier Tagen.“

Liasanya runzelte die Stirn. „Wieso denn das?“, wollte sie wissen.

„Vor einer Woche erreichte mich eine Nachricht per Flaschenpost. Offenbar war der Absender auf dem Weg zu uns, damit wir euch warnen. Aber so wie die Dinge stehen, wurde er gefasst.“

„Deshalb hat er die Dokumente in die Flasche gesteckt und diese dem Meer übergeben.“, sagte Elenia.

„So ungefähr. Aber es dürfte euch interessieren, wer den Verfasser der Nachricht abgefangen hat.“

„Lass mich raten: Tosh Kamar?“, sagte Tanet.

„Es war zumindest sein Schiff, das meine Spione beobachtet haben. Aber er selbst war nicht an Bord.“

„Wer dann?“

Liasanya hatte diese Frage gestellt.

„Meine Spione haben mir berichtet, dass Golban auf dem Achterdeck der „Walbur“ gestanden hat.“

Keoga machte ein überraschtes Gesicht.

„Wie sicher ist die Information?“

„Golbans Wuschelkopf ist unverkennbar und seine Gesichtsmatratze auch.“, sagte Nordin.

„Mich würde vor allem eines interessieren.“

„Was denn, Liebling?“, fragte Liasanya.

„Was in den Dokumenten stand, die Nordin zugespielt wurden.“

„Ganz einfach. Aus den Dokumenten ging hervor, dass Golban Tosh Kamar aus seinem Gefängnis befreit hat. Der unbekannte Informant hat außerdem herausgefunden, dass unser böser Freund, die Kula, so heißt der Stamm, in dessen Dorf wir uns gerade befinden auf seine Seite gezogen hat. Er hat dem Schamanen sogar einen Platz in seinem Kabinett angeboten, wenn er auf der Kleeblattinsel herrscht. Dafür sollten euch die Kula gefangen nehmen.“

„Tosh Kamar war ja auf Rache aus.“, warf Tanet ein.

„Das ist richtig. Aber weil Keoga ihm Liasanya vor der Nase weggeschnappt hat, wollte er sich zuerst an ihm rächen. Wenn er Liasanya nicht haben kann, soll sie Keoga auch nicht bekommen.“

Der Schamane der Kula meldete sich zu Wort.

„Es ist doch sowieso schon alles verloren. Oamaru wird im Meer versinken. Tosh Kamar wird nicht zulassen, dass der Opal wieder zurück gebracht wird.“, sagte er.

„Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?“

„Nein.“

„Dann halt gefälligst den Mund.“, fuhr ihm Nordin über den Mund.

„Golban ist doch der Hauptmann von Königin Wiolettas Garde.“

„Ja. Warum fragst Du, Elenia.“ Tanet hatte die Banshee angesprochen.

„Wenn er Tosh Kamar wirklich befreit hat, ist das Verrat. Und laut Tosh Kamars Aussage weiß Königin Wioletta bereits davon. Stellt sich die Frage, warum sie Golban nicht gleich hat verhaften lassen.“, sagte Keoga mit einem Stirnrunzeln.

Die Antwort auf seine Frage lieferte der Schamane der Kula.

„Weil sie keinen besseren Krieger hat.“, sagte er.

„Dich hat keiner gefragt!“ Elenia hatte den Schamanen angeschnauzt.

Es war Abend geworden und Keoga, seine Frau Liasanya, seine Beraterin Elenia und Tanet, seine beste Spionin und Späherin, hatten Nordins Einladung, in seinem Lager zu übernachten, angenommen. Der Häuptling der Berserker wollte nach dem Überfall der Kula kein Risiko mehr eingehen. Am nächsten Morgen ging die Reise weiter. Der Weg der Gruppe führte durch das Gebiet eines anderen Stammes. Als Keoga und seine Begleiter eine Schlucht erreichten, standen auf den Felsen die Krieger des Stammes, ihre Speere auf die Fremden gerichtet. Keiner traute sich zu bewegen.

Jeder wusste, dass eine unbedachte Bewegung einen Speerhagel der Krieger bedeuten würde, den keiner überleben würde.

Der Stammesführer stand auf einem kleinen Hügel am Eingang der Schlucht. Er war ein großgewachsener, muskelbepackter Mann mit dunkler Haut. Keoga sah ihm in sein markantes Gesicht. In seinen Augen konnte der Großkönig von Tangaroa Misstrauen erkennen. Auffällig waren auch der weiße Stern auf der Brust des Häuptlings und die blonden Haare, die der Anführer zu einem Zopf gebunden hatte. Liasanya fiel die breite Nase des Häuptlings auf, über die ein weißer Strich bis zum Nasenbein verlief. Am Haaransatz trug der Stammeshäuptling ein aufgezeichnetes weißes Dreieck.

Während seine Krieger barfuß ihre Posten bezogen hatten, trug der Häuptling leichte Ledersandalen. Der Lendenschurz aus Büffelleder war mit dem seiner Krieger identisch. Allerdings waren beim Anführer goldene Ornamente eingenäht und den Seiten Fransen aus Büffelhaar. Tanet fiel der kurz geschnittene, blonde Kinnbart des Häuptlings auf.

Schließlich erkannte Keoga, wen er da vor sich hatte. Es war Quina, der Häuptling der Hoda. Er war ihm bei seiner Flucht vor Tanet begegnet. Und offenbar hatte Quina ihn ebenfalls erkannt, denn ein breites Lächeln trat in sein Gesicht. Dann schlug er mit seinem Speer gegen seinen Schild. Ein zweites Mal, wie Afrodita vor zwei Monaten. Und bald hallte das Stakkato der Krieger, die ihre Speere gegen ihre Schilde schlugen von den Wänden der Schlucht wieder.

Begleitet von den Hoda setzte die Gruppe ihren Weg fort. Quina ging neben Keoga. „Vor drei Monaten hattest Du noch Angst vor dieser Frau.“, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf Tanet.

„Da wusste ich noch gar nicht, wer sie ist, und was sie für Fähigkeiten hat.“

„Aber jetzt weißt Du es.“

„Allerdings. Tanet ist die beste Spionin und Späherin in diesen Breiten.“

Nun meldete sich Liasanya zu Wort.

„Stimmt es eigentlich, dass Königin Wioletta Golban nicht los wird?“, fragte sie.

„Bedauerlicherweise ja. Golban weiß, was ihn erwartet, wenn er seinen Posten als Hauptmann der Garde verliert.“

„Nehmen wir mal an Königin Wioletta würde es gelingen, Golban von seinem Post abzuberufen, was würde passieren?“, fragte Liasanya Quina.

„Er würde Nagoromoto, dem Vulkangott geopfert.“

„Könntest Du dir vorstellen, Golbans Posten zu übernehmen, wenn man 76

ihn dir anbieten würde?“, fragte Elenia den Anführer der Hoda.

„Nein. Aber mein Sohn wäre der ideale Mann für den Posten. Allerdings braucht er noch Nachhilfe in Sachen Schwertkampf. Er weiß zwar, was ein Schwert ist, aber er kennt die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schwertarten nicht.“

„Wenn es weiter nichts ist. Ich helfe ihm, wenn er es wünscht.“, sagte Keoga.

„Du nimmst mir echt eine Last von der Schulter, Keoga.“

„Habt ihr einen Übungsplatz bei euch im Dorf?“

„Leider nein. Der Platz reicht einfach nicht aus. Aber ich weiß, dass es im Palast von Königin Wioletta einen solchen Platz gibt.“, sagte Quina.

„Und dort wird sich Golban aufhalten.“

„Woher weißt du das nur, Schatz?“, fragte Keoga seine Frau.

„Golban ist ein Krieger durch und durch. Ich habe ihn beobachtet, als ich bei Iduna zu Gast war. Er hat jede freie Minute damit verbracht um zu trainieren.“

Es war Abend geworden, als man das Dorf der Hoda erreicht hatte. Keoga, Liasanya, Elenia und Tanet bekamen drei Zimmer im oberen Stockwerk des Gästehauses zu gewiesen, während die Berserker auf eigenen Wunsch im unteren Stockwerk untergebracht wurden.

In der Kaserne in Wiolettas Palast saß Golban in seinem Quartier. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis seine Herrin einen geeigneten Kandidaten für seinen Posten gefunden hätte. Dann würde sie ihn ohne mit der Wimper zu zucken als Hauptmann abberufen und durch seinen Nachfolger ersetzen. Und danach würde er unverzüglich Nagoromoto geopfert. Bisher hatte Golban dieses Schreckensszenario abwenden können, indem er alle Anwärter im direkten Zweikampf besiegt hatte. Doch der Hauptmann wusste, dass Quinas Sohn durchaus die Fähigkeiten besaß um die Garde seiner Herrin anzuführen. Doch er war ungeübt im Schwertkampf. Hier lag vielleicht seine Chance, Akushi zu schlagen.

Außerhalb des Hoda-Dorfes hatte Keoga einen Platz gefunden, an dem er mit Akushi, Quinas Sohn trainieren konnte. Einige der Berserker hatten ihm ihre Schwerter geliehen, damit er seinem Schüler die Unterschiede erklären konnte.

Zuerst ließ der Großkönig von Tangaroa Quinas Sohn die Waffen in die Hand nehmen, um herauszufinden, welche vom Gewicht und von der Balance am Besten zu Akushi passte. Ein Schwert mit langer, dünner und gerader klinge und einem Griff aus reinstem Elfenbein passte perfekt. Die Klinge war aus dem flexiblen aber dennoch robusten Damaststahl geschmiedet. Dieses Schwert 77

hatte Keoga in der Waffenkammer seines Palastes gefunden. Einst hatte es Walbur gehört. Sein Nachfolger wollte Walburs Andenken auf ewig auslöschen. Nichts sollte an den verhassten Großkönig erinnern. Und da war es für Keoga naheliegend, auch das alte Schwert seines Vorgängers aus den Händen zu geben, was ihm nicht besonders schwer fiel.

Quinas Sohn Akushi war fasziniert von der Waffe. „Willst du es haben?“, fragte ihn Keoga.

„Wenn es euch nichts ausmacht.“

„Ich schenke es dir.“, sagte Keoga

„Danke, Mylord Keoga.“

„Nichts zu danken, Akushi. Ich trenne mich freiwillig davon.“

Das überraschte den jungen Hoda. „Herr, Ihr schenkt mir… ein so kostbares Schwert. Werdet Ihr es nicht bereuen?“, fragte er verlegen.

„Ich würde es bereuen, wenn ich es behalten würde.“

„Verbindet Ihr… schlechte Erinnerungen mit dem Schwert?“, fragte Akushi.

„Vielmehr mit seinem Besitzer. Einst war er mein Freund. Zuletzt war er mein Feind.“

„Denkt Ihr, dass ich dieses Schwertes würdig bin?“, fragte Akushi Keoga.

Liasanya erschien auf dem Trainingsplatz. Sie hatte Akushis Frage an ihren Gatten mitgehört.

„Ich wüsste niemanden, der dieses Schwertes würdiger wäre als du.“, sagte sie.

15. September 1712 vier Monate nach dem Raub des großen Feueropals

Keoga und Nordin hatten Quinas Sohn Akushi im Schwertkampf unterwiesen und all ihr Wissen und Können an ihn weitergegeben. Auch Andelka, Mitglied der Schwesternschaft der Jägerinnen von Conacht und Königin Chiara, die Anführerin der Walküren hatten den Häuptlingssohn unterrichtet, sodass er es nun ohne Weiteres mit Golban aufnehmen konnte. Nach der Abfahrt des Flaggschiffs der Walküren, waren Keoga und die anderen aufgebrochen. Quinas Sohn hatte sich ihnen angeschlossen. Der Häuptling der Hoda war traurig, dass sein Sohn das Dorf verließ. Doch Quina war sich bewusst, dass es für Akushi an der Zeit war, seinen eigenen Weg zu gehen und sich weiterzuentwickeln.

Der Weg zu Königin Wiolettas Palast führte die Gruppe durch einen dichten Wald. Ab hier hieß es Vorsicht walten zu lassen und die Augen offen zu halten. Denn hier trieben marodierende Schurken ihr Unwesen. Tanet hatte Odin 78

Und Frigga, ihre Raben, aufsteigen lassen. Sobald einer von den beiden zweimal krächzte, war Gefahr im Verzug. Die Gruppe hatte den Wald zur Hälfte durchquert, als Frigga das Signal gab. Keine zwei Minuten später sprangen 86 Schurken aus dem Unterholz. Ihr Anführer trug einen Piratensäbel mit gravierter Klinge, die eine Länge von 72 cm hatte.

Der Bandenchef blickte aufmerksam vom einen zum anderen. Elenia und Tanet schenkte er keine Beachtung. Doch ausgerechnet an Liasanya blieb sein Blick haften. Dann zeigte er mit dem Finger auf sie.

„Sie! Sie will ich haben! Gebt mir die Frau und ich gewähre euch freien Abzug.“, sagte er mit einer tiefen Reibeisenstimme.

Doch Keoga dachte gar nicht daran, auf die Forderung des Schurken einzugehen. Energisch schüttelte er den Kopf.

„Ich denke gar nicht daran, dir Tangaroas Großkönigin zu übergeben. Ich Keoga, Großkönig von Tangaroa habe gesprochen!“

„Sieh an! Sieh an! Da verweigert uns jemand den Tribut. Männer! Wir wollen ihm zeigen, was es heißt uns zu verweigern, was uns zusteht!“

Die Schurken zogen ihre Waffen. Doch in dem Augenblick stieß Nordin den Schlachtruf der Berserker aus.

„GNALI!“, rief er.

Die Berserker machten mit den Schurken kurzen Prozess. Die, die überlebten, suchten schleunigst das Weite. Nur der Anführer blieb zurück. Dieser war in keinster Weise bereit, sich zu ergeben. Er bebte vor Zorn.

„Ich ziehe meine Tributansprüche auf deine Frau nicht zurück! Rück sie raus, oder stirb!“, sagte der Schurke.

„Das hat schon mal jemand versucht. Und weißt du was? dieser Jemand betrachtet sich die Radieschen von unten.“

Keoga wollte sein Schwert ziehen. Doch Akushi hielt ihn zurück. „Lass stecken. An dem Rotzlutscher brauchst du dir nicht die Finger schmutzig zu machen.“, sagte er.

Quinas Sohn zog, das Schwert, das Keoga ihm geschenkt hatte.

„Netter Tortensäbel. Wem hast du den denn geklaut?“

„Ich habe ihm die Waffe geschenkt. Sie hat meinem Vorgänger Walbur gehört.“, sagte Keoga.

„Ist das der Bursche, den du getötet hast?“ 79

„Ja. Und er war einer wie du. Einer, für den Gesetze gar nichts bedeuten.“

„Schluss mit dem Gequatsche. Jetzt wird gekämpft.“, sagte der Schurke.

Dann stürmte er, seinen Säbel über dem Kopf schwingend, mit einem lauten Brüllen auf Akushi zu und somit in sein Verderben. Denn der junge Hoda hatte erkannt, dass sein Gegner ihm eine offene Angriffsfläche bot. Quinas Sohn wirbelte das Schwert ein paar Mal durch die Luft, ehe er einen diagonalen Hieb von rechts nach links auf die Kehle seines Kontrahenten setzte. Dann wiederholte er die Attacke von links nach rechts. Und wieder ein Treffer. Akushi beobachtete, wie sich die Augen des Schurken brachen, ehe er zur Seite stürzte und tot liegen blieb.

Die Reise ging weiter. Am Rande des Waldes entdeckte Elenia die Pferde der Räuberbande. „Vielleicht sollten uns die Pferde nehmen, denn dann würden wir schneller voran kommen.“, schlug sie vor.

Doch es war Tanet, die einen Einwand vorzubringen hatte.

„Ich will deinen Vorschlag nicht schlechtreden. Wir wären in der Tat schneller, wenn wir reiten würden. Allerdings wäre es ratsam, die Tiere vorher noch einmal zu überprüfen. Vielleicht tragen sie ja Brandzeichen.“

Elenia sah sie mit einem Stirnrunzeln an.

„Tut mir leid, aber ich kann dir nicht ganz folgen.“

„Tragen die Pferde ein Brandzeichen, dann gehören sie jemandem.“, sagte Tanet.

Bei Liasanya fiel der Groschen. „Du meinst, diese Pferde könnten Diebesgut sein?“, fragte sie Tanet.

„Möglicherweise. Haben sie ein Brandzeichen, sollten wir die Tiere nur bis zum nächsten militärischen Außenposten mitnehmen und dort dann abgeben.“

„Und wenn sie keins haben?“, fragte Elenia.

„Dann haben wir nichts zu befürchten. Immer vorausgesetzt, dass die Zeichen nicht durch einen Zauber vor unseren Augen verborgen sind.“

Nachdem Tanet die Herde genau untersucht, und keine Brandzeichen entdeckt hatte, gab sie Entwarnung. „Die Tiere sind nicht markiert. Wir können sie nehmen.“, sagte sie.

Nun ging die Reise zu Pferd weiter. Leirds Tochter hatte wieder ihre Raben aufsteigen lassen. Und dieses Mal war sie im Geist mit den Vögeln verbunden. Der Weg führte über eine weite Graslandschaft. Vereinzelt waren Bäume zu sehen. Gegen Mittag machte die Gruppe an einem Bach Rast. In der Ferne 80

war eine Stadt zu sehen. Odin und Frigga waren dorthin geflogen und beobachteten das Geschehen von verschiedenen Plätzen aus. Durch die Augen ihrer Raben wusste Tanet, dass sich Golban in der Stadt aufhielt. Doch sie erfuhr noch weit mehr als das. Golban traf sich mit einem Fremden auf dem großen Marktplatz. Ohne es zu wissen, bewegten die beiden sich in Friggas Blickfeld. Das Rabenweibchen legte den Kopf schief und hörte aufmerksam zu.

Durch ihre geistige Verbindung zu Odin und Frigga konnte Tanet sogar hören, was Golban, der Verräter, und der Fremde miteinander sprachen.

„Ihr solltet doch nicht herkommen, mein Herr und Gebieter.“, sagte Golban zum Fremden, der sein Gesicht unter einem beigen Kapuzenmantel verborgen hielt.

„Ich weiß Golban. Aber ich habe wichtige Neuigkeiten für dich. Zu wichtig, um einen Boten zu schicken.“

„Was meint ihr, Herr?“

„Ich meine, dass Keoga und Nordin Quinas Sohn Akushi im Schwertkampf unterwiesen haben. Der Junge trägt das ehemalige Schwert von Walbur, dem ersten Großkönig von Tangaroa. Keoga hat es ihm geschenkt.“, sagte der Fremde.

„Ich verstehe, Tosh Kamar, mein Herr und Meister.“

„Du sollst mich doch nicht öffentlich mit meinem Namen ansprechen, du Pflaume. Du weißt doch, dass Wiolettas Spione überall lauern.“, sagte Tosh Kamar.

„Bitte um Vergebung, Herr.“

„Das Keoga und der Häuptling der Berserker den jungen Hoda im Schwertkampf unterwiesen haben, kann nur eines bedeuten, Golban.“

„Was Herr?“

„Akushi soll dich als Hauptmann von Wiolettas Garde beerben. Denn nur so kann sie dich aus deinem Amt drängen. Und welche Konsequenzen sich für dich daraus ergeben, brauche ich ja nicht extra zu erwähnen, Golban.“

„Was wünscht Ihr, soll ich jetzt tun, Herr?“, fragte Golban.

„Ich nehme an, dass Königin Wioletta dich von allen Sitzungen der Garde mit ihr ausgeschlossen hat.“

„So ist es, Herr. Sie lässt mich keine Sekunde mehr aus den Augen. Und jeden Tag fällt es mir schwerer, mich dieser Überwachung zu entziehen.“, sagte Golban.

„Das ist ärgerlich. Aber jetzt hör gut zu. Du hältst weiterhin im Palast die 81

Augen offen. Schick mir wie immer einen schriftlichen Bericht.“

„Das wird nicht mehr möglich sein, mein Herr und Gebieter.“, sagte Golban.

Tosh Kamar sah ihn erstaunt an.

„Wieso nicht?“, fragte er.

„Weil Königin Wioletta erst heute Morgen per Erlass angeordnet hat, dass die Schreibstube ab sofort für mich tabu ist. Sie schränkt meine Bewegungsfreiheit im Palast immer weiter ein.“

„Das ist alles andere als erfreulich. Aber jetzt geh zurück, damit die Königin keinen Verdacht schöpft.“

Tanet hatte genug gehört. Doch sie wollte ihre beiden Raben noch nicht zurückbeordern, da sie befürchtete, Tosh Kamar, könnte zumindest Frigga etwas antun, als Rache für das ausgehackte Auge. Sie wartete noch ab, wie der böse Herrscher in einer Wolke aus Nebel verschwand. Denn Golban war schon in der Menschenmenge untergetaucht. Erst als sie sicher sein konnte, dass keine Gefahr mehr für ihre beiden Vögel bestand, rief Tanet Odin und Frigga zurück.

Mit ihren magischen Fähigkeiten beschleunigte sie die Rückkehr der beiden. Als Odin und Frigga auf Tanets linkem Arm gelandet waren ging die Reise weiter. Liasanya ritt neben Tanet. „Hast du irgendwas wichtiges erfahren?“, fragte Tangaroas Großkönigin ihre engste Vertraute.

„Ich habe ein Gespräch zwischen Tosh Kamar und Golban, diesem Verräter belauschen können. Königin Wioletta misstraut dem Hauptmann ihrer Garde. Seit heute darf Golban die Schreibstube nicht mehr betreten. Wioletta selbst das dies per Erlass angeordnet.“

Elenia meldete sich zu Wort.

„Golban war sicher nicht der einzige Verräter.“, sagte sie.

„Was macht dich da so sicher?“

„Weil vier Leute notwendig sind, um diesen Bannzauber aufzuheben.“

„Dann dürften die anderen drei Verräter unter den anderen drei Königinnen dienen. Habe ich Recht, Elenia?“, sagte Keoga.

„Genau so ist es. Jeder hat den Rang des Hauptmanns der Garde inne.“

„Jetzt wird mir einiges klar. Als Hauptmann der Garde gehören diese Bastarde zum innersten Zirkel der Königinnen.“, sagte Liasanya.

„Ob Königin Jelena, Königin Shakira und Königin Eliska wissen, dass 82

ihre engsten Vertrauten Verräter sind?“

„Wenn Tosh Kamar es ihnen gestanden hat, dann ja. Aber wenn er es den verbliebenen drei Königinnen verschwiegen hat, und davon gehe ich aus, dann werden sie im Dunkeln tappen.“, sagte Tanet.

Am Abend, die Sonne hatte angefangen am Horizont unterzugehen, erreichten die Reisenden ein Landhaus, das am Rande eines Waldes lag. Tanet schickte dieses Mal jedoch Geisterraben als Späher zu dem Haus. Auch mit ihnen war Liasanyas engste Vertraute im Geist verbunden. Durch die Augen der Geisterraben sah Tanet das Innere des Hauses. Dort war alles in schwarz gehalten. Überall an den Wänden hatte man rote Spinnensymbole aufgemalt. „Loki, flieg nach oben und sieh in den dortigen Gemächern nach. Heimdall, du übernimmst den Keller.“, sagte Tanet.

„Wie Ihr befehlt.“

Doch die beiden Geisterraben konnten nichts Verräterisches entdecken, was in irgendeiner Form auf Gefahr hingewiesen hätte. Allerdings waren Loki und Heimdall auch nicht davon überzeugt, dass überhaupt keine Gefahr drohte. Der erste der beiden Geisterraben, Loki, beschloss noch einmal unter dem Dach nachzusehen. Er setzte sich auf einen Dachbalken und begann mit seinem geistigen Auge die Umgebung abzusuchen. Er fand eine geheime Tür. Doch was sich dahinter verbarg, wurde durch einen starken Bannzauber vor seinen Blicken verborgen.

Frustriert verließ Loki seinen Beobachtungsposten. Gerade noch rechtzeitig. Denn von unten kletterte eine andalusische Trichternetzspinne nach oben um den Vogel zu stellen. Das Insekt hatte den Vogel fast erreicht, als sich dieser in die Lüfte erhob und durch das Dachfenster entkam. Die Spinne stieß einen lauten Wutschrei aus.

„Verdammt! Dieser Vogel ist mir entwischt!“, fluchte sie.

Loki und Heimdall waren inzwischen zu Tanet ihrer Herrin zurückgekehrt.

„In dem Haus ist irgendwas faul.“, sagte Loki.

Heimdall ergänzte: „Überall wurden starke Bannzauber gewirkt. Wer auch immer dort wohnt, hat etwas zu verbergen.“

Tanet verstand die versteckte Warnung und erschuf mit ihren magischen Kräften einen Schutzwall, der das Lager umschloss. Nach dem Abendessen machte sich die Gruppe fertig für die Nacht. Einige der Berserker patrouillierten im Lager, andere waren als Wachtposten eingeteilt. Nordin übernahm die erste Wache und wurde nach Einbruch der Dunkelheit von Elenia abgelöst. Kurz vor Mitternacht löste Tanet die Banshee ab. „Alles soweit ruhig. Zu ruhig für 83

meinen Geschmack.“, sagte Elenia.

„Hat sich im Haus nichts gerührt?“

„Die räuspern sich nicht mal. Ehrlich gesagt wärs mir lieber, wenn sie Theater machen würden.“

„Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, Elenia. Dein Wunsch könnte nämlich schneller in Erfüllung gehen, als dir lieb ist.“

Auch Tanets Wache blieb ruhig. Odin und Frigga, ihre beiden Raben, behielten den Wald im Auge, während Loki und Heimdall, die beiden Geisterraben das Haus beobachteten.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging und den Boden wärmte wehte eine leichte und warme Brise die Gerüche des Waldes in die Nasen der schlafenden Reisenden. Es duftete nach Ahorn, Pinie, Tanne und Buche. Ein paar Sonnenstrahlen berührten Liasanyas Haut und spendeten Wärme. Die junge Großkönigin erwachte und sah sich aufmerksam um. Sie entdeckte eine Frau, die ebenso in schwarz gekleidet war, wie Tanet. Allerdings hatte sie schwarze Haare, statt braune wie ihre Freundin und engste Vertraute. Rasch weckte sie die anderen.

„Los aufwachen! Wir haben Besuch!“, sagte sie leise.

Tanet war als erste wach. „Wer beehrt uns denn schon so früh mit seiner Anwesenheit?“

„Eine Frau. Sie ist genauso in schwarz gekleidet wie du. Es sieht aus, als ob sie wartet.“

Schließlich waren auch die anderen wach.

„Ihr wartet hier. Ich werde unserer unbekannten Besucherin mal auf den Zahn fühlen.“, sagte Tanet entschieden.

Odin und Frigga ihre Raben, sowie Loki und Heimdall ihre Geisterraben, begleiteten sie.

„Willkommen in der Heimat, Tochter. Du warst sehr lange weg.“, sagte die unbekannte Besucherin.

„Wer bist du?“

„Ich bin Estra, deine Mutter.“

„Und was willst du?“, fragte Tanet distanziert.

„Du hast dich verändert. Früher hättest du nicht so mit mir gesprochen.“ 84

„Ich bin älter geworden. Und reifer. Ich habe Dinge gesehen, die kein normal sterblicher je sehen wird. Und ich weiß jetzt was es bedeutet, Freunde zu haben.“

Estra runzelte die Stirn. „Aber hier hattest du doch auch Freunde.“

„Spielgefährten vielleicht. Aber keine Freunde. Liasanya, Keogas Gemahlin und Großkönigin von Tangaroa vertraut mir bedingungslos. Und ich vertraue ihr.“

Tanet wandte sich zum Gehen.

„Warte!“, rief Estra ihr nach.

Ihre Tochter drehte sich noch einmal um.

„Was ist denn noch?“, fragte Tanet.

„Ich wollte dich nicht kränken. Du hast deinen Weg gewählt. Und nur du allein weißt, warum.“

„Und ich bereue es nicht, Oamaru verlassen zu haben. Ich habe meinen Platz gefunden.“, sagte Tanet.

Estra verstand, was Tanet meinte. Ihr fiel die alte Prophezeiung ein, in der es hieß, dass ihre und Leirds Tochter, dem Weg des Spinnenkultes nicht folgen, sondern ihren eigenen gehen würde. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt. Tanet war ihren eigenen Weg gegangen. Und sie war glücklich damit.

Doch so einfach wollte sie ihre Tochter Tanet dann doch nicht ihres Weges ziehen lassen. „Was ist mit deinem Eichenstab passiert?“, fragte Estra Tanet.

„Ein Krieger der Kula hat ihn zerbrochen und ins Feuer geworfen.“

„Nun denn. Ich sehe, dass du und deine Freunde weiter ziehen wollt. Euer weiterer Weg führt euch durch den Wald. Doch wisse Tanet, dass die Krieger der schwarzen Spinne von jedem eine Prüfung fordern, der ihr Reich durchqueren will.“

Die Reise ging weiter. Die Gruppe hatte gerade den Rand des Waldes erreicht, als eine Patrouille von Spinnenkriegern den Weg versperrte. Der Anführer verneigte sich leicht. „Ich nehme an, dass ihr durch unseren Wald reisen müsst.“, sagte er.

„Das hast du sehr richtig erfasst.“

„Ihr seit mit unseren Gesetzen vertraut?“

„Zumindest ich kenne sie.“, beantwortete Tanet die Frage.

„Dann weißt du auch, dass wir eine Prüfung einfordern können, Tanet.“ 85

„Sicher. Und ich nehme diese Prüfung auf mich.“

„Nein, Tanet. Wir haben jemand anderen für diese Aufgabe ausgewählt.“, sagte der Soldat.

Keoga wurde hellhörig.

„Wen?“, fragte er.

„Wir haben entschieden, dass die Großkönigin von Tangaroa sich dieser Aufgabe zu unterziehen hat. Sie muss mit bloßen Händen, und ohne den Einsatz magischer Kräfte mit der schwarzen Spinne kämpfen.“

In Keogas Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. „Da steckt doch Tosh Kamar dahinter.“, sagte er.

Doch wieder war es Tanet, die das Wort ergriff. „Nicht so hastig. Ein anderes Gesetz besagt, dass einem Reisenden seine Prüfung erlassen wird, wenn er in der Lage ist, der schwarzen Spinne ein Opfer darzubringen.“

„Das ist wahr. Doch wen wollt ihr opfern?“, fragte der Soldat.

Keoga wandte sich nun an ihn. „Muss das Opfer denn nun menschlich sein, oder geht auch etwas Tierisches?“

„Die schwarze Spinne akzeptiert nur Menschenopfer.“, beantwortete Tanet seine Frage.

Keoga dachte angestrengt nach. Er konnte es unmöglich zulassen, dass Liasanya starb. Das Knacken eines Zweiges riss ihn aus seinen Gedanken. Tangaroas Großkönig wechselte einen Blick mit seiner Ratgeberin. Elenia, die Banshee, nickte. Leise glitt sie von ihrem Pferd und gab Nordin unauffällig ein Zeichen. Der Berserker nickte kurz. Als sich die Zweige eines Busches bewegten war er schnell zur Stelle und zerrte einen der verbliebenen Räuber aus dem Gebüsch. Er drückte den Mann an einen Baum.

„Wer hier schmult, wird angenagelt.“, sagte er grob.

„Da habt Ihr euer Opfer.“

Der Soldat wollte etwas erwidern, doch Elenia kam ihm mit einer gebieterischen Geste zuvor.

„Entweder ihr akzeptiert das Opfer, oder der Zorn Elenias wird euch treffen.“, sagte sie mit Nachdruck.

Auf ein Zeichen des Patrouillenführers nahmen zwei Soldaten den Räuber in ihre Mitte. An ihren Gesichtern erkannte Liasanya, dass sie alles andere als begeistert waren. Der Zorn Tosh Kamars würde über diese Männer kommen, 86

weil sein Befehl, Liasanya im Kampf der schwarzen Spinne zu opfern, nicht befolgt worden war. Doch Gesetz blieb nun mal Gesetz. Und auch der böse Herrscher musste diesen Umstand akzeptieren.

Die Patrouille verschwand im Wald, während der Anführer zusammen mit zwei weiteren Soldaten die Gruppe auf dem Hauptweg durch den Wald führte, wo sich ihre Wege trennten. Es war Mittag, als Keoga und Liasanya zusammen mit den anderen Königin Wiolettas Palast erreichten. Am Haupttor erwartete sie nicht Golban, wie Keoga eigentlich erwartet hatte, sondern die Königin höchstpersönlich.

„Ihr habt aber lange gebraucht. Aber besser ihr kommt spät, als gar nicht.“, sagte sie.

„Wir wurden leider ein wenig aufgehalten, Mylady.“

„Ich habe es gehört. Ihr habt richtig entschieden, ausgerechnet Quinas Sohn im Schwertkampf zu unterweisen. Er ist der einzige, der es mit Golban aufnehmen kann.“, sagte Wioletta.

„Wo steckt diese miese Kanalratte eigentlich?“

„Auf dem Übungsplatz, wo sonst?“, konterte Tanet mit einer Gegenfrage.

„Bitte folgt mir.“

Mit diesen Worten ging Königin Wioletta voran. Keoga, Liasanya, Akushi, Elenia, Tanet und Nordin folgten ihr. Der Rest der Berserker hatte sich bereits auf dem Übungsplatz eingefunden. Golban war nicht sichtlich überrascht, als er Akushi sah.

„Also auf Hilfe kann man hier offenbar nicht hoffen.“, sagte er biestig.

Der junge Hoda trat ihm gegenüber und zog das Schwert, das Keoga ihm geschenkt hatte. Golban sah ihn geringschätzig an. „Du bist ein Narr, dass du mich herausforderst. Ich werde dich in Scheibchen schneiden und an die Haie verfüttern.“

„Du stinkst ja geradezu vor Überheblichkeit, du Pappnase.“, hielt Akushi dagegen.

Die beiden umkreisten einander, wie zwei rivalisierende Raubtiere, die sich um ein Stück Beute stritten. „Na was ist, Akushi? Greifst du endlich an, oder hast du schon die Hosen voll?“, sagte Golban.

Doch wenn er gehofft hatte, Quinas Sohn mit diesem Spruch aus der Reserve zu locken, dann ging seine Rechnung nicht auf. 87

„Wieso sollte ich Angst vor dir haben? Aber so wie ich die Sache sehe, geht dir der Arsch auf Grundeis.“

Der Hauptmann von Wiolettas Garde stürmte nach vorn. Aber er schwang das Schwert nicht über dem Kopf, sondern führte es seitlich. Aber Akushi erkannte die List. Er drehte den Oberkörper leicht nach links und führte sein Schwert in einer vertikalen Aufwärtsbewegung nach oben. Ein lautes Klirren wurde hörbar, als die Klingen der beiden Schwerter aufeinander prallten.

Akushi richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Na? Was ist? War das etwa schon alles?“, fragte er spöttisch.

„Oh nein! Das war noch lange nicht alles. Solange ich ein Schwert zu führen vermag, wirst du meinen Posten nicht bekommen. Das schwöre ich bei meiner Ehre.“

„Bei deiner Ehre? Hast Du überhaupt noch eine Ehre, die du verteidigen kannst?“

Golban knirschte mit den Zähnen. Erneut war es diesem jungen Hoda gelungen, ihn zu provozieren. Er wusste genau, dass Quinas Sohn ihn so zur Weißglut treiben wollte, dass er einen entscheidenden Fehler machte, der ihm die Niederlage bescheren würde. Also atmete Golban ein paar Mal tief ein und aus. Akushi ärgerte sich darüber. Doch Keoga hatte ihn genau davor gewarnt.

„Lass dich durch eine Taktikänderung deines Gegners nie aus der Ruhe bringen. Denn dann weiß er, wo deine Schwachstelle ist. Und dann wird er dort gnadenlos ansetzen.“, hatte Walburs Nachfolger gesagt.

Der Kampf dauerte bis zum frühen Abend. Golban verlangte Akushi alles ab. Doch irgendwann war sein innerer Frust größer, als seine Disziplin. „Deine letzten Sekunden sind angebrochen! Gleich ist es aus mit dir!“, schrie er Quinas Sohn ins Gesicht.

„Du stinkst ja geradezu vor Überheblichkeit, du Pappnase!“

Nun verlor der Hauptmann von Wiolettas Garde endgültig die Beherrschung. Er stürmte auf seinen Gegner zu, sein Schwert zum tödlichen Hieb erhoben. Akushi wusste genau, was Golban vorhatte. Er wollte ihm den Schädel spalten. Im letzten Augenblick riss er sein Schwert nach oben. Golbans Klinge zerbrach, als sie auf die Klinge von Walburs altem Schwert aufprallte. Verblüfft schaute er die kläglichen Reste von dem an, was von seinem Schwert noch übrig war. Doch noch ehe sich Golban so richtig von seinem Schock erholt hatte, war Akushi schon da und hielt ihm sein Schwert an die Kehle.

„Ich würde sagen, du hast verloren.“, sagte Quinas Sohn. 88

„Nenne mir deinen Namen, junger Hoda.“

„Akushi, Mylady.“

„Kraft meines Amtes, ernenne ich dich, Akushi, Sohn von Quina, zum neuen Hauptmann meiner Garde.“, sagte Wioletta.

Golban wusste, dass es vorbei war. Er hatte hoch gepokert, und am Ende stand er vor einem Scherbenhaufen. Auf Befehl der dritten Königin wurden ihm alle Abzeichen von der Uniform gerissen, die ihn als Hauptmann kennzeichneten. Danach wurde er mit Händen und Füßen an einen Bambusstock gebunden.

Die zwei stärksten Krieger trugen den Stock, als sich die Prozession, die von Königin Wioletta angeführt wurde, auf den Weg zum Gipfel des Vulkans machte. Tosh Kamar, der sich in seinem unterirdischen Reich aufhielt sah dies mit Sorge. Golban war aufgeflogen und wurde nun seiner gerechten Strafe zugeführt. Doch er wusste genau, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Königin den Schamanen der Kula nach den übrigen Verrätern befragen würde.

Am Krater des Vulkans angekommen wurde Golban losgebunden. Königin Wioletta trat noch einmal vor ihn und sah dem Verräter ins Gesicht. „Wie konntest du mich nur so hintergehen? Du warst der beste Hauptmann den ich je hatte. Du hättest es bis zum General bringen können. Aber all das hast du weggeworfen.“

Keoga trat vor und spuckte vor Golban auf den Boden. „Grüß Walbur von mir, wenn du ihm in der Hölle begegnest.“, sagte er und rammte dem Verräter mit voller Wucht den Ellenbogen in die Magengrube.

Golban taumelte nach hinten und fiel mit einem lauten Schrei in die Tiefe. Nagoromoto war besänftigt. Doch noch war Tosh Kamar am Leben und solange das so blieb, war Oamaru, die Kleeblattinsel in Gefahr. 89

Im 21. Jahrhundert 1

Im 21. Jahrhundert 1

Königin Eliska klappte das Buch zu und setzte die Brille ab.

„Nun?“, fragte sie in die Runde.

„Mich würde vor allem eines interessieren.“

„Ich höre, Neffe.“, sagte Eliska

„Wer waren die drei anderen Flachpfeifen, die bei diesem Verrat mitgeholfen haben?“

„Wen meinst Du, Neffe?“

„Na wen wohl? Golban war ja nicht der einzige Verräter. Da waren ja mehrere Leute dran beteiligt. Und seine Mittäter werden in euren Garden hohe Positionen inne gehabt haben, die es ihnen ermöglicht haben, sich ungehindert in euren Schlössern zu bewegen.“, sagte Kevin.

„Das ist wohl wahr. Keine zwei Tage, nachdem Golban Nagoromoto, dem Vulkangott, geopfert wurde, wurde Jandrasch, der Hauptmann von Jelenas Garde enttarnt.“

„Und er wurde auch durch einen anderen ersetzt, und dann diesem Nagoromoto geopfert.“, sagte Catherine.

„Ganz recht. Aber die anderen beiden wurden erst Ende 1712 als Verräter entlarvt. Auch der Schamane der Kula wurde erst im Januar 1713 gefasst.“

„Ich finde es wird langsam spät. Wir sollten uns schlafen legen. Catherine und ich müssen morgen wieder arbeiten. Man muss ja sein täglich Brot verdienen.“, sagte Kevin.

Zu Hause hatten Kevin und Melissa gerade noch soviel Energie um sich auszuziehen und sich in Bett zu legen. Die beiden waren rasch eingeschlafen. Doch im Traum standen beide Tosh Kamar gegenüber. Der böse Herrscher grinste diabolisch.

„So, so. Du bist also Königin Jelenas Sohn. Und du bist wohl dann die Auserwählte.“, sagte er.

„Und wenn schon. Was hat dich das zu kümmern?“

„Es hat mich in sofern was zu kümmern, dass Ihr beide und Königin Eliskas Tochter meinen Racheplänen im Weg steht.“

„Oamaru wird nicht untergehen. Dafür werde ich sorgen, und wenn es das letzte ist, was ich tue.“, sagte Kevin. 90

Tosh Kamar hob tadelnd den Zeigefinger.

„Na, na, na. Dir hat man wohl nicht beigebracht, dass man mir meinen Willen nicht vorenthalten sollte. Dein Vater war so ein Dummkopf. Und auch seine Freunde waren Dummköpfe. Dummerweise leben noch zwei von ihnen. Der Deutsche und der Schwede.“

„Pech für dich, du Armleuchter. Von mir aus kannst du krepieren. Dir weint bestimmt keiner eine Träne nach.“, sagte Melissa.

„Den Armleuchter verbitte ich mir, junge Dame.“

„Es trifft den Nagel aber auf den Kopf, Tosh Kamar. Oder sollte ich lieber sagen, Toshiro Kamaru?“, sagte Kevin und zog süffisant eine Augenbraue nach oben.

Doch den Bösen hatte er damit nicht aus der Reserve locken können.

„Du weißt also wer ich bin. Und wie ich in deiner Welt heiße. Wenigstens bist du nicht so schlecht möbliert in der Denkstube wie dein Vater.“, sagte Tosh Kamar.

Doch auch sein Konter verpuffte wirkungslos.

„Mich würde eines interessieren, Tosh Kamar.“, sagte Kevin.

Der Böse Herrscher zeigte eine seiner Klauenhände.

„Bitte, ich höre.“, sagte er.

„Wer waren die beiden anderen Verräter neben Golban und Jandrasch?“

„Was nützen dir die Namen? Sie sind tot. Nagoromoto, dem Vulkangott, geopfert.“

„Einfach nur interessehalber.“

„Also schön. Aber dieses Wissen wird dir nichts nützen. Der Hauptmann in der Garde deiner Tante hieß Mandrak. Und der Verräter in Shakiras Reihen hieß Lord Haart.“, sagte Tosh Kamar.

„Und wie viel musstest du ihm versprechen?“

„Zugegeben, Lord Haart musste ich schon ein bisschen mehr bieten, als nur einen Sack Gold und einen Posten in meinem Kabinett.“

„Was wollte er denn?“, fragte Melissa.

„Er hat von mir einen Thron gefordert.“

„Und welchen?“

„Den von Tecura.“ 91

„Also das Walkürenreich.“, sagte Kevin.

„Ganz Recht. Das Walkürenreich. Aber leider wurde Lord Haart verhaftet, ehe er sich dorthin absetzen konnte.“

„Pech gehabt, Tosh Kamar. Und das gilt für jeden, der bisher mit dir gemeinsame Sache gemacht hat.“, sagte Melissa.

Tosh Kamars Gesichtszüge verdüsterten sich. „Einmal wurde ich schon um meine Rache betrogen. Ein zweites Mal wird das nicht passieren.“

Mit diesen Worten verschwand der schändlich Böse in einer Nebelwand.

Am nächsten Morgen klingelte um 7:00 Uhr der Wecker. Kevin war sofort wach. Er stand auf und ging ins Bad. Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, ging Kevin in die Küche. Dort erwartete ihn seine Mutter, Königin Jelena. Nach einer innigen Umarmung sah sie ihrem Sohn in die Augen.

„Ich sehe Fragen über Fragen in deinen Augen.“, sagte Jelena.

„Da hast du nicht ganz Unrecht. Aber ich sollte mich heute mal auf der Arbeit blicken lassen, nachdem ich gestern durch permanente Abwesenheit geglänzt habe.“

In diesem Augenblick betrat Melissa Conway die Küche.

„Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Wir haben für die nächsten zwei Tage frei. In der Firma ist das komplette Netzwerk zusammengebrochen.“, sagte sie.

„Weiß man schon, was genau passiert ist?“

„Der Hauptserver ist ausgefallen und der Reserveserver ist überlastet. Mister Crowell meint, dass es zwei bis drei Tage dauern kann, bis alles wieder läuft.“, sagte Melissa zu Kevin.

„Weiß Catherine schon bescheid?“

„Ich sags ihr gleich. Aber vorher wollte ich dich informieren.“, sagte Melissa.

Als sie im Bad verschwunden war, wandte sich Jelena an ihren Sohn.

„Eine unerwartete Wendung.“, sagte sie.

„Ja. Allerdings kommt mir diese Zwangspause etwas ungelegen. Ich hab noch eine Menge Arbeit vor mir um mein Soll für den Monat zu erreichen.“ 92

„Kannst du nicht von zu Hause aus arbeiten? Dann hättest du nicht den ganzen Zeitdruck.“, schlug die Königin vor.

Kevin verdrehte die Augen. Offenbar wusste seine Mutter nicht, welchen

Druck die Bonzen in den oberen Etagen auf die einfachen Mitarbeiter auszuüben pflegten.

„Möglich ist es schon, aber es hängt davon ab, ob die Herrschaften ganz oben da auch mitspielen.“

Jelena sah ihren Sohn fragend an.

„Die Sache ist die. Die Leute in der Führungsriege erwarten von den Mitarbeitern auf den unteren Ebenen, dass diese im Monat eine bestimmte Anzahl an Kunden akquirieren. Ich arbeite in einer Werbeagentur, musst du wissen. Und in der Werbebranche ist der Leistungsdruck enorm. Und der Kampf um potenzielle Neukunden ist mörderisch. Das ist so, als würdest du einen Goldfisch in ein Haifischbecken werfen.“, sagte Kevin.

„Sind deine Chefs so streng?“

„Melissa ist ganz in Ordnung. Sie macht nicht ganz so viel Druck. Aber wenn der alte Duke da ist, ist der Leistungsdruck enorm. Und das Schlimmste ist, wenn man nach seiner Meinung zu langsam ist, dann wird man von ihm angebrüllt und auf, achtung ich übertreibe bewusst, Streicholzgröße zusammengefaltet.“

„Wen meinst du?“, fragte Königin Jelena.

„Randolph Duke. Er ist Melissas Vorgesetzter. Ein echter Leuteschinder. Jedes Mal wenn er da ist, erleidet einer meiner Kollegen einen Burnout.“

„Was ist denn das, ein Burnout?“, fragte Jelena.

Doch die Antwort auf ihre Frage von Kevins Mutter lieferte Melissa Conway, die gerade aus dem Bad kam.

„Ein Burnout tritt ein, wenn man seinem Körper zu wenig Schlaf gönnt. Man hat dann das Gefühl, man wäre innerlich ausgebrannt. Warum willst du das wissen, Jelena?“, sagte sie.

„Kevin hat mir von Randolph Duke erzählt.“

„Ach der Sklaventreiber. Dieser klingonische Vollpfosten ist schlimmer als eine Kompanie gallischer Schwiegermütter.“, sagte Melissa. „Weiß Catherine eigentlich wegen dem Serverproblem Bescheid?“, wollte Kevin wissen. „Ja, ich hab es ihr gesagt. Sie kommt gleich rüber.“ „Ich bestell noch ein paar Brötchen zusätzlich, dann kann meine Cousine mit frühstücken.“ Kevin setzte gerade 93

das Wasser für den Kaffee auf, als es an seiner Wohnungstür klingelte. „Ich geh schon.“, sagte Melissa. Nur kurze Zeit später kam sie mit Catherine Parsons in die Küche. Kevin erkannte, dass Catherine eine Tüte mit frisch gebackenen Brötchen dabei hatte. Also verschwand er kurzerhand im Wohnzimmer und kam wenig später mit einem Brotkorb aus Bast zurück.

Später saßen die vier beim Frühstück beisammen. „Was ist eigentlich aus Keoga und Liasanya geworden, nachdem sie mitgeholfen haben, Golban dem Vulkangott zu opfern?“, wollte Melissa wissen.

Jelena nippte an ihrem Kaffee.

„Sie sind beide sehr alt geworden. Liasanya wurde sagenhafte 115 Jahre alt. Und Keoga sogar 116. Die Linie, die beide begründet haben, herrscht noch heute auf Tangaroa.“

„Und was wurde aus Elenia und Tanet?“, fragte Kevin seine Mutter.

„Elenia dient heute noch als Ratgeberin. Tanet wurde von Iduna mit der Unsterblichkeit belohnt und zur Schutzgöttin der Nachbarinseln von Oamaru ernannt.“

Kevin biss in sein Brötchen.

„Was ist eigentlich aus den Kula geworden?“, stellte Catherine die nächste Frage.

„Nordin und seine Männer haben das Dorf überfallen und den Stamm ausradiert. Das Dorf haben sie niedergebrannt.“

Kevin stutzte. „Moment. Irgendetwas kommt mir Spanisch vor. Hieß der Anführer der Berserker nicht Olik?“, fragte er.

„Ja, das ist richtig, mein Sohn. Olik ist zwei Tage vor Keogas Rückeroberung von Tangaroa an einer mysteriösen Krankheit verstorben. Nordin hat deshalb seinen Platz eingenommen.“

„Wieso ausgerechnet er?“, fragte Melissa.

„Nordin ist, oder war, Oliks Bruder.“

Nach dem Frühstück half Jelena ihrem Sohn beim Abräumen.

„Dich beschäftigt etwas, mein Junge.“, sagte Jelena zu Kevin.

„Es gibt einiges, dass mir Kopfzerbrechen bereitet.“

„Was ist es, Kevin?“, wollte die Königin wissen. 94

„Tosh Kamar ist mir und Melissa heute Nacht im Traum begegnet.“

Königin Jelena ließ vor Schreck beinahe eine Kaffeetasse fallen.

„Das ist kein gutes Zeichen.“, sagte die Königin.

Kevin entging nicht, dass in ihrer Stimme ein angstvoller Unterton mitschwang. Außerdem bemerkte er, dass ihre Hand zitterte.

„Alles in Ordnung, Mutter?“, fragte er besorgt.

„Nein. Jetzt da ich weiß, dass Tosh Kamar in der Lage ist, sich Zugang zu deinen Träumen zu verschaffen, habe ich Angst um dich.“

„Mach dir um mich keine Sorgen, Mutter. Ich weiß mich zu verteidigen. Wer sich Sorgen machen sollte, ist Tosh Kamar, diese miese kleine Kakerlake.“

„Kevin! Um Idunas Willen! Tosh Kamar trachtet dir und Catherine nach dem Leben! Er kann dich töten ohne Hand an dich legen zu müssen!“, sagte Königin Jelena eindringlich.

„Mein Gott, jetzt hab dich mal nicht so! Du klingst ja wie meine Pflegemutter.“

„Ich bin deine Mutter. Schon vergessen, Kevin?“, sagte Jelena.

Catherine Parsons kam in die Küche.

„Kommt ihr zwei Hübschen mal kurz? Da ist etwas, dass ihr euch ansehen solltet.“, sagte sie.

Als Kevin und seine Mutter ins Wohnzimmer kamen, blieb die erste Königin der Kleeblattinsel wie angewurzelt stehen. Draußen hatte sich eine Nebelwand gebildet, in der sich blaue Blitze entluden. In dem Nebel erkannte Kevin die Umrisse einer Frau. Auch wenn er das Gesicht nicht sehen konnte, wusste Jelenas Sohn, dass dort im Nebel Elenia stand. Die Gestalt bewegte sich, und stand bald auf dem Balkon von Kevins Apartment. Und er hatte Recht. Draußen stand Elenia. Kevin McDyne öffnete die Balkontür und ließ die Banshee herein. Doch kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, änderte sich die Farbe des Nebels. Statt dem milchigen weißen Nebel färbte sich der Nebel nun schwarz. Doch die blauen Blitze entluden sich weiter. Jelenas Sohn wusste zwar nicht, was genau vor sich ging, doch eines war ihm klar, der Nebel war eine Art Tor durch das man zwischen den Welten reisen konnte. Eine weitere Silhouette erschien. Und wieder waren die Umrisse weiblich. „Ob das Tanet ist?“, dachte Kevin. Doch als noch die Umrisse zweier Raben auftauchten, hatte er Gewissheit. In der schwarzen Nebelwand stand Tanet. Und genau wie Elenia stand auch sie bald auf dem Balkon von Kevins Apartment. 95

Jelenas Sohn ließ auch sie ein, schloss aber sofort die Tür, als auch der letzte der beiden Raben durch geflogen war.

„Was verschlägt euch denn ins 21. Jahrhundert?“, wollte er wissen.

„Tosh Kamar will Conacht angreifen, um euch zu einer vorschnellen Aktion

zu verleiten.“

Es war die Banshee, die Kevins Frage beantwortet hatte.

Doch es war Catherine, die die nächste Frage stellte.

„Was genau hat dieses Scheusal vor?“

„Ich kann euch zumindest sagen, welches Schicksal Tosh Kamar euch zugedacht hat, Lady Catherine.“, sagte Tanet.

„Bitte, ich höre.“

„Ihr sollt beim Angriff auf Conacht das Leben verlieren. Tosh Kamars Riesenkalmar soll für euren Tod sorgen, indem er euch in die Tiefe zieht.“, sagte Tanet.

„Wie wichtig ist Conacht überhaupt?“, stellte Melissa Conway eine nicht ganz unerhebliche Frage.

„Warum willst du das wissen?“

Königin Jelena hatte sich an sie gewandt.

„Ganz einfach. Vielleicht will Tosh Kamar, dass wir die Panik kriegen und versuchen durch das Portal zu gelangen, ohne den zweiten Folianten gelesen zu haben.“

Kevin nickte.

„Klingt einleuchtend.“, sagte er.

„Was macht euch da so sicher?“

„Tosh Kamar ist hinterhältig und verschlagen. Das wissen wir mittlerweile. Wenn er gezielt Falschinformationen streut, dann könnte er sein Ziel erreichen. Und Oamaru, meine und Catherines Heimat würde doch noch in den Fluten des Ozeans versinken, so wie er es von Anfang an geplant hat.“

In seinem Versteck kochte Tosh Kamar vor Wut. Tanet und Elenia hatten zwar seine Falschmeldungen überbracht, doch Melissa Conway und Jelenas Sohn Kevin hatten seine Absicht durchschaut. Er musste verhindern, dass Kevin, Catherine und Melissa den zweiten Folianten lasen. Doch das war gar nicht 96

so leicht. Und dummerweise hatte Melissa Conway auch das Logbuch ihres Vaters in ihrem Besitz. Keine guten Vorzeichen. Er hatte zwar die Logbücher, der vier gestrandeten Kreuzer in seinem Besitz. Aber die waren nichts wert. Wichtig waren der zweite Foliant und Arthur Conways Logbuch.

In Kevins Apartment brach Elenia das Schweigen.

„Es gibt noch etwas, dass ihr Wissen solltet. Tosh Kamar hat die Logbücher der vier gestrandeten Kreuzer in seinem Besitz.“, sagte sie.

Königin Jelena zuckte vor Schreck zusammen.

„Wie wichtig sind die Logbücher?“, fragte Kevin.

Tanet beantwortete die Frage.

„Eigentlich kann Tosh Kamar mit den Logbüchern nichts anfangen. Wichtig sind der zweite Foliant, der die Geschehnisse aus dem Jahr 1916 enthält und Arthur Conways Logbuch.“, sagte sie.

„Der zweite Foliant wurde mir überlassen.“

Catherine hatte diese Worte ausgesprochen.

„Und ich habe Dads Logbuch.“, sagte Melissa.

„Sie sind Arthur Conways Tochter?“

„Stört dich das etwa, Elenia?“, fragte Königin Jelena.

„Nein, Hoheit.“

„Eines steht jedenfalls fest. Uns rennt die Zeit davon.“

„Dann sollten bald den zweiten Folianten lesen. Wo hast du das Logbuch deines Vaters versteckt?“, wollte Catherine von Melissa wissen.

„Bevor ich auf diese Frage antworte, muss ich sicher sein, dass Tosh Kamar uns nicht belauscht. Er ist nämlich unheimlich scharf auf Dads Logbuch. Und ich will nicht, dass dieses Buch in falsche Hände fällt.“

„Was auch verständlich ist.“, sagte Jelena.

Frigga hatte den Kopf schief gelegt und lauschte.

„Tosh Kamar belauscht uns nicht. Der Bannzauber meiner Herrin hindert ihn daran.“, sagte sie.

„Diesem Rotzlutscher muss man sogar das unmögliche zutrauen.“ 97

„Tosh Kamar ist zwar mächtig. Aber selbst seiner Macht sind Grenzen gesetzt.“, sagte Odin.

„Wer wäre in der Lage, Tanets Bannzauber zu überwinden?“, fragte Catherine.

„Nur Iduna. Tosh Kamar ist sterblich, deshalb sind seine magischen Kräfte begrenzt. Nur ein Gott kann den Bannzauber einer Schutzgöttin überwinden.“

„Und Tosh Kamar ist kein Gott.“, sagte Melissa.

„Ganz Recht. Und so lange es sich irgendwie verhindern lässt, wird er auch keiner werden.“

„Ich finde, jetzt wo das geklärt ist, kannst du uns das Versteck des Logbuchs verraten, Melissa.“, sagte Kevin.

„Einverstanden. Ich habe Dads Logbuch in der alten Kommode versteckt, die im Flur steht. Zweites Fach von oben.“

Tanet schickte Heimdall und Loki, ihre Geisterraben los. Es dauerte nicht lange, und die beiden kamen zurück. Heimdall hatte Arthur Conways Logbuch im Schnabel.

„Perfecta Mundo. Das läuft ja wie am Schnürchen.“, sagte Kevin.

In seinem Versteck fluchte Tosh Kamar wie ein Rohrspatz. Jelenas Sohn und Eliskas Tochter hatten Arthur Conways Logbuch in ihren Besitz gebracht und hatten nun den Schlüssel zum Geheimnis der Kleeblattinsel in der Hand. Das war alles andere als erfreulich. Der böse Herrscher wusste, dass Tanet, die Schutzgöttin der Nachbarinseln mit Hilfe ihrer Geisterraben das Logbuch an sich gebracht hatte. Außerdem hatte sie es ihm durch einen Bannzauber unmöglich gemacht, das Versteck von Arthur Conways Logbuch in Erfahrung zu bringen. Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte Iduna ihn, Tosh Kamar, an einer seltenen Blutkrankheit erkranken lassen, die ihn von Tag zu Tag mehr und mehr schwächte. Nur wenn es ihm gelang, eine Frau zu finden, die bereit war, ein Kind von ihm zu empfangen, hatte er eine Chance weiterzuleben. Doch danach sah es im Moment nicht aus.

In seinem New Yorker Apartment sah sich Kevin Arthur Conways Logbuch an. Viele Einträge waren ihm ein Rätsel, enthielten sie doch den Vermerk „siehe persönliches Tagebuch“.

„Sag mal, Melissa. Hat dein Vater zusätzlich zu seinem Logbuch auch ein persönliches Tagebuch geführt?“, fragte er Arthur Conways Tochter.

„Nach jedem Flug. Wieso fragst du?“ 98

„Weil einige Einträge mit dem Vermerk „sie persönliches Tagebuch gekennzeichnet sind.“

Catherine schaltete sich ein.

„Wo könnte dein Vater sein Tagebuch aufbewahrt haben?“, fragte sie.

„Es gibt nur einen Ort, wo sich Dads Tagebuch befinden kann. Er hatte ein Schließfach am Palmdale Regional Airport. Dort hat er sein Tagebuch

Immer versteckt.“

„Aber wer soll es holen?“

„Tosh Kamar wird ein großes Interesse daran haben, dass das Tagebuch deines Vaters verloren geht.“

„Aber er kann unmöglich wissen, was drin steht.“, sagte Kevin.

Jelena warf ihrem Sohn einen wissenden Blick zu.

„Ich sehe schon, du denkst dasselbe wie ich.“, sagte sie.

Frigga, Tanets Rabenweibchen, hüpfte auf ihrem Sitzplatz auf der Gardinenstange auf und ab. Das tat sie immer, wenn sie etwas zu sagen hatte.

„Was ist Frigga? Was hast du?“, fragte Tanet.

„Mich hat es gerade geschüttelt. Jemand ist gerade durch die Wand in Kevins Wohnung gekommen.“

„Hoffentlich nicht Tosh Kamar. Das würde mir endgültig den Rest geben.“, sagte Catherine.

Umso größer war die Überraschung, als Liasanya ins Wohnzimmer kam. In ihren Händen hielt sie ein in Leder eingebundenes Notizbuch. Sie ging auf Melissa zu und hielt ihr das Buch hin.

„Ich habe da etwas und ich glaube es gehört Ihnen.“, sagte Liasanya.

Melissa traten die Tränen in die Augen.

„Dads Tagebuch. Vielen, vielen Dank.“

„Ist nicht der Rede wert.“, sagte Liasanya mit einem Lächeln.

Dann trat sie vor Kevin und sah ihn aus ihren braunen Augen an.

„Viel Glück Kevin. Du wirst es brauchen. Und pass gut auf Melissa auf. Jetzt, da ihr auch noch das Tagebuch ihres Vaters in eurem Besitz habt, wird Tosh Kamar noch gefährlicher.“, sagte sie. Dann stand Liasanya noch einmal Melissa 99

gegenüber. Sie hatte den Daumen leicht abgespreizt. Zeige- und Mittelfinger zusammen von Ring- und kleinem Finger getrennt. Melissa hielt ihre linke Hand an Liasanyas Rechte.

„Langes Leben und Frieden, Melissa.“, sagte Liasanya.

„Langes Leben und Frieden.“

Liasanya verschwand in einer Wolke aus weißem Rauch.

In seinem unterseeischen Palast tobte Tosh Kamar vor Wut. Liasanya hatte ihn erneut verraten. So wie damals, als sie Keoga geheiratet hatte. Heute hatte sie Melissa Conway das Tagebuch ihres Vaters ausgehändigt Dummerweise war die zweite Großkönigin von Tangaroa nach ihrem Tod zur obersten Göttin aufgestiegen. Dadurch war es für ihn, Tosh Kamar, unmöglich sie zu bestrafen.

In New York hatte Melissa Conway auf der Couch Platz genommen und angefangen zu weinen. Tanet saß neben ihr und tröstete sie, indem sie eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte.

„Wer war das?“. Fragte Catherine.

„Ahnt Ihr es denn nicht, Lady Catherine? Es war Liasanya.

„Moment, Elenia. Liasanya ist doch tot.“, sagte Kevin.

Tanet meldete sich zu Wort.

Das stimmt auch. Aber nach ihrem Tod wurde sie Idunas Nachfolgerin.“, sagte sie.

„Und was wurde aus Iduna?“

Kevin hatte diese nicht unerhebliche Frage gestellt. Es war Elenia, die antwortete.

„So wie in eurer Welt, der Welt der Sterblichen, ist auch das Reich der Götter permanenter Veränderung unterworfen. Idunas Zyklus als oberste Göttin ging dem Ende entgegen, als sie Liasanya zu sich in ihren Palast holte, um sie vor Walbur zu beschützen.“, sagte die Banshee.

„Und was macht Amelias Halbschwester jetzt?“

„Iduna sitzt nun im hohen Rat der Götter, Lady Catherine.“, sagte Tanet.

Catherine Parsons verdrehte entnervt die Augen. 100
 

„Lady Catherine. Ich fürchte, dass ich das auf die Dauer nicht ertragen kann. Könnten Sie mich nicht wenigstens Miss Parsons nennen?“, fragte sie leicht gereizt.

„Das wäre weder üblich, noch schicklich, Mylady.“

In diesem Moment schoss Kevin eine Frage durch den Kopf.

„Mich würde jetzt erst einmal eines interessieren.“, sagte er.

„Was, Neffe?“

„Was ist eigentlich aus Amelia, Idunas Halbschwester geworden?“, wollte Jelenas Sohn wissen.

„Sie lebt noch in ihrem Reich unter der heiligen Quelle. Aber sie ist sehr einsam und das macht sie traurig.“

„Gibt es keine Möglichkeit für sie, ihr Reich zu verlassen?“, fragte Melissa die sich wieder gefasst hatte.

„Nur wenn sie selbst jemanden unterweist, der ihr nachfolgt, kann sie Iduna in den hohen Rat nachfolgen.“

„Hört sich ziemlich einfach an.“, sagte Kevin.

„So einfach, wie es sich anhört ist es aber nicht, Neffe.“

„Warum denn dieses?“

„Es gibt eine alte Prophezeiung. Diese besagt, dass nur eine Frau aus deiner Welt Liasanya folgen wird.“, sagte Königin Eliska.

Melissa runzelte die Stirn.

„Weiß man denn wie sie aussieht oder über irgendwelche anderen Erkennungsmerkmale bescheid?“, fragte sie.

„Sie trägt eine Tätowierung auf der Innenseite ihrer rechten Hand.“

„Welches Motiv?“, fragte Kevin.

„Ein Auge. Aber nicht irgendein Auge. Es ist ein schwarzes Auge, mein Sohn.“

Kevin und Catherine wechselten einen wissenden Blick.

Elenia, der Banshee, entging dieser Blick nicht.

„Ich merke, diese Person ist euch nicht unbekannt.“, sagte sie. 101

„Sagen wir es mal so: Ich bin ihr ein paar Mal im Central Park begegnet. Die Leute nennen sie abwertend „Hexe.“

Catherine ergänzte: „Wie sie wirklich heißt, weiß niemand. Keiner hat sie je sprechen hören. Aber es wird behauptet, dass sie magische Kräfte besitzen soll.“

„Wer behauptet das?“, hakte Königin Jelena nach.

„Die Leute, die sie nicht leiden können.“

„Wie erbärmlich ist das denn?“, fragte Tanet.

„Die Menschen in dieser Welt sind nun mal so. Obwohl, nicht alle sind solche Assos. Es gibt auch Leute, die ihren Mitmenschen mit Respekt begegnen.“

Im Central Park saß AJ auf einer Bank an ihrem Lieblingsplatz am großen Teich. Sie starrte gedankenverloren auf den Rasen. Ein Mann kam vorbei. AJ beachtete ihn nicht. Sie reagierte auch nicht, als er verächtlich vor ihr auf den Boden spuckte.

„Verschwinde aus meiner Stadt, Hexe.“, sagte der Mann.

Doch AJ ignorierte ihn. Wutentbrannt ging der Mann weiter. Doch er drehte sich noch einmal um.

„Wenn ich dich noch einmal hier antreffe, bist du dran, das schwör ich dir.“, sagte er.

Sie wandte nicht einmal den Kopf.

AJ, die eigentlich Adria Jessica Porter hieß, war eine 1,73 m große Frau mit einem ovalen Gesicht. Sie war schon immer die Außenseiterin gewesen. Wegen ihrer schwarzen Kleidung und dem schwarzen Auge auf der rechten Handfläche wurde sie von allen „Hexe“ genannt. Der Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht war versteinert. AJ wusste nichts über sich. Weder, wer sie in Wirklichkeit war, noch woher sie kam. Das einzige was sie außer ihrem Namen wusste, war, dass sie seit sie ein Baby war, das schwarze Auge auf ihrer Handfläche hatte. Aufgewachsen war sie bei ihrer Großmutter in Orange County, New York.

Eine leichte Böe wehte AJ eine Strähne ihres achsellangen hellbraunen Haares ins Gesicht. Sie wischte sie einfach zurück. Ihr Körper war weder zu dünn noch zu dick. Ihre Oberweite war nicht zu üppig, aber dafür handlich. Wie ihr Gesicht, so verrieten ihre blauen Augen keinerlei Gefühle. Ihre Lippen, die man als sinnlich hätte bezeichnen können, waren zu einem dünnen Strich zusammen gekniffen. Ein typisches Zeichen innerer Anspannung. Obwohl es Oktober war, war AJ ziemlich leicht angezogen. Sie trug ein schwarzes, knielanges, eng anliegendes Minikleid und schwarze High Heels. 102

Tief in ihrem Inneren hatte AJ mit den New Yorkern gebrochen. Ginge es nach ihr, würde ein gigantischer Tsunami die Stadt zerstören und alle Menschen in den Tod reißen. Dabei war es ihr ganz egal, ob die Menschen nett zu ihr waren, oder böse und gemein wie der Mann eben. „Von mir aus können alle Menschen auf der Welt qualvoll krepieren. Ich brauche sie nicht.“, dachte AJ. In diesem Moment schlug ein Blitz in die Oberfläche des großen Teichs ein und eine Wassersäule stieg gen Himmel.

„Das… ist… das… Ende.“, stammelte AJ.

Als aus der Wassersäule eine Frau auftauchte, bekam sie es doch mit der Angst zu tun. Die Fremde zielstrebig auf AJ zu. Mit leichten und grazilen Schritten schien sie regelrecht über die Wiese zu schweben. Dann stand die fremde Frau vor ihr. AJ sah in zwei gütige braune Augen, die in einem ovalen Gesicht ruhten. Die Frau lächelte. Und es war ein warmes und freundschaftliches Lächeln. AJ war verwirrt. Wer war sie? Und was wollte sie von ihr? Die Fremde hielt ihr eine Hand in. Die Außenseiterin bemerkte, dass die Frau weiße, Satinhandschuhe trug, die bis über die Ellenbogen reichten. AJ wollte nach der behandschuhten greifen, doch ihr Misstrauen überwog und sie zog ihre Hand wieder zurück.

„Hab keine Furcht, AJ.“, sagte die fremde Frau mit einer warmen und sanften Stimme.

„W-Wer sind sie und woher wissen sie, wer ich bin?“

„Ich bin Liasanya. Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun. Und ich weiß mehr, als du denkst. Ich sehe vieles. Dinge die sich ereignet haben, und die sich noch ereignen werden.“, sagte die Frau.

„Was wollt ihr von mir?“

„Gehst du mit mir ein Stück durch den Park? Es gibt einiges, dass du wissen musst.“, sagte Liasanya.

Erst jetzt bemerkte AJ, dass sie ganz in weiß gekleidet war.

Während AJ mit Liasanya durch den Central Park ging, studierte Kevin die Einträge im Logbuch und die dazugehörigen Einträge in Arthur Conways persönlichem Tagebuch. Mit jedem Eintrag, den Jelenas Sohn las, verdüsterten sich seine Gesichtszüge.

„Was für eine miese Kanalratte.“, sagte er zu sich.

„Was meinst du Kevin?“

„ Ganz einfach, Catherine. Tosh Kamar hat Melissas Vater als Kurier

missbraucht.“, sagte Kevin. 103

Melissa Conway wurde starr vor Schreck.

„Was hat er gemacht?“, fragte sie.

„Dein Vater musste für Tosh Kamar diverse Artefakte aus Südamerika ausfliegen.“

„Was waren das für Artefakte, mein Sohn?“, fragte Königin Jelena.

„Das erste Artefakt war das Kreuz von San Cristobal.“

„Bei Idunas Macht. Das ist das heilige Kreuz von Tecura.“, sagte Kevins Tante, Königin Eliska.

„Der nächste Gegenstand, den Arthur Conways aus Ecuador ausgeflogen hat, ist das Ankh von Coronado.“

„Das ist der Name der Zitadelle auf Aoraki.“, sagte Kevins Mutter.

„Leute, merkt ihr was?“

Catherine Parsons hatte diese Frage gestellt.

„Was?“

„Tosh Kamar hat sich in den Besitz dieser Artefakte gebracht, um die Walküren und die Berserker erpressen zu können.“, sagte Tanet.

Im Central Park ging AJ an Liasanyas Seite und lauschte gespannt ihren Erzählungen. Doch plötzlich blieb die oberste Göttin stehen und sah der Außenseiterin in die Augen.

„Würdest du mir bitte deine rechte Hand zeigen?“, fragte sie.

AJ sah sie verständnislos an, dennoch gehorchte sie und zeigte Liasanya ihre rechte Hand. Die einstige Großkönigin Tangaroas betrachtete stumm das schwarze Auge auf AJs Handfläche. Dann strich sie sanft mit ihrer Hand darüber. Was dann passierte, ließ AJ staunen. Die Umgebung um sie und Liasanya herum begann zu verblassen. Ihr wurde schwindelig und sie schloss für einen kurzen Augenblick die Augen.

Als AJ ihre Augen wieder öffnete, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie und Liasanya standen an einem See, der von einer Quelle gespeist wurde, die sich über einen Felsen in den See ergoss. Die 1,73 m große Brünette nahm einen tiefen Atemzug und genoss die frische, saubere Luft.

„Ganz anders, als die verpestete Luft zu Hause in New York.“, sagte sie.

„Gefällt es dir hier, AJ?“ 104

„Ja, Liasanya. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich will nicht mehr nach New York zurück. Ich vermisse die Stadt noch nicht einmal.“, sagte AJ.

Wie aus dem Nichts vernahm AJ eine weitere Frauenstimme.

„Sei willkommen, AJ. Ich habe dich bereits erwartet.“, sagte diese Stimme.

Beim Klang dieser Stimme spürte AJ, wie ihr ein wohliger Schauer den Rücken hinunter lief. Sie drehte sich zu der unbekannten Frau um. Amelia stand am Seeufer. Sie stand an exakt derselben Stelle, an der sie vor 309 Jahren auf Keoga gewartet hatte. Wie damals trug sie ihr grünes Kleid und ihre braunen Haare offen. Ihre braunen Augen strahlten noch immer Sanftmut und Güte aus. AJ sah Liasanya an.

„Wer ist sie?“, wollte sie von der obersten Göttin wissen.

„Das ist Amelia, die Halbschwester meiner Vorgängerin Iduna.“

„Wo bin ich?“, wollte AJ nun wissen.

„Willkommen auf Oamaru.“

„Warum bin ich hier?“, fragte Adria.

Es war Amelia, die auf AJs Frage antwortete

„Am Tag deiner Geburt wurdest du von Göttern auserkoren, meinen Platz einzunehmen. Das schwarze Auge auf deiner rechten ist ein Schutzsymbol, dass dich vor jeder Art von Zauber und dich in Gefahrensituationen vor Unheil schützt.“

„Warum gerade ich?“, fragte AJ.

„Der Wille der Götter sollte niemals hinterfragt werden.“

Liasanya hatte AJ mit diesen Worten ermahnt.

In seinem Apartment im New Yorker Stadtteil Brooklyn, hatte Kevin McDyne sich die beiden letzten Einträge in Arthur Conways Tagebuch angesehen.

„Interessant.“, murmelte er. „Außerordentlich interessant.“

„Was ist „außerordentlich interessant“?“, wollte Catherine Parsons wissen.

„Kurz bevor Arthur Conway zu seinem letzten Flug gestartet ist, gab es zwischen ihm und Tosh Kamar richtig Ärger. Ich les mal den Eintrag vom 17. März 1975 vor. „Toshiro Kamaru war heute ziemlich schlecht gelaunt. Wie immer. Wenn ich nicht nach seiner Pfeife tanze. Dieser hinterhältige, kriminelle Schleimbeutel braucht nicht denke, dass ich springe, wenn er mit einem dicken 105

Scheck wedelt.“

„Was hat mein Vater an diesem Tag eigentlich gemacht?“, fragte Melissa.

„Er hat eine dringend benötigte Ladung Medikamente nach Belize geflogen. Der Auftraggeber hat 550.000 Dollar springen lassen. Tosh Kamar hat das natürlich gar nicht gepasst, wie aus dem letzten Eintrag vom 20. März 1975 hervorgeht.“

„Was hat Dad geschrieben Kevin?“, wollte Melissa Conway wissen.

„Toshiro Kamaru war wieder da und hat mir gedroht. Wenn ich nicht bis heute Abend bei Sonnenuntergang zur Kleeblattinsel aufgebrochen bin, ergeht es meiner Tochter schlecht. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass Mr. Kamaru seinen Worten auch Taten folgen lässt. Lieber fliege ich zu dieser gottverdammten Insel und hole die vier Artefakte des Sar Issus, als zuzulassen, dass Toshiro Kamaru meiner Tochter ein Haar krümmt.“

Catherine schüttelte den Kopf.

„Irgendetwas kommt mir an der ganzen Sache spanisch vor.“, sagte sie.

„Toshiro Kamaru wusste sehr genau, wie viel ich Dad bedeute.“

„Und da hat er angesetzt und dich dann als Druckmittel benutzt.“, sagte Kevin.

Dann blätterte er im Tagebuch weiter und fand einen Zettel. Kevin runzelte die Stirn. Auf dem Zettel stand „78 Palm Beach Drive“.

„Kannst du etwas damit anfangen?“, fragte er seine Vorgesetzte und reichte ihr den Papierfetzen. Melissa fielen fast die Augen aus dem Kopf.

„Das ist das Haus meiner Großeltern väterlicherseits in Miami.“, entfuhr es ihr.

Auf der Kleeblattinsel, Kevin und Catherines Heimat, war AJ schwer ums Herz geworden. Denn sie hatte an einen Leidensgenossen gedacht, den sie sehr mochte. Chris war wie sie ein Außenseiter gewesen und wurde von den übrigen New Yorkern ausgegrenzt, diskriminiert und aufs übelste beleidigt. In AJ hatte er jemanden gefunden, der ihn verstand, und dem es genauso ging, weshalb er sie ebenfalls sehr gern hatte. Doch eines Tages war er auf rätselhafte Weise spurlos verschwunden. Für AJ war eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte damals geweint. Nun standen ihr erneut die Tränen in den Augen, wie an jenem Tag, an dem Chris verschwunden war. Amelia war dies nicht entgangen.

„Ich sehe, dass dich etwas beschäftigt AJ. Was quält dich so?“, sagte sie.

„Ich habe an Chris gedacht. Er war der einzige Mensch, dem ich je etwas bedeutet habe. Vor drei Jahren ist er spurlos verschwunden.“

„Ich verstehe. Er muss dir auch sehr viel bedeutet haben, wenn du schon 106

Seinetwegen Tränen vergießt.“, sagte Amelia sanft.

AJ nickte stumm. Idunas Halbschwester hielt Adria die Hand hin.

„Gib mir deine Hand und folge mir.“, sagte sie.

AJ sah Liasanya fragend an. Die oberste Göttin nickte. Zögernd streckte AJ ihre Hand aus, nur um sie dann wieder zurückzuziehen. Amelia lächelte.

„Du erinnerst mich an Keoga. Als er vor 309 Jahren hier war hat er auch gezögert. Aber hab keine Angst, AJ. Ich beiße nicht.“, sagte sie sanft.

AJ legte ihre Hand in Amelias und folgte ihr in ihr Reich. Wie einst Keoga spürte auch Adria Jessica Porter ein leichtes Kribbeln auf ihrer Haut, als sie die magische Barriere passierten. Amelia entzündete ein Irrlicht, so wie sie es im Jahr 1712 getan hatte, als sie Keoga vor dem Zorn Tosh Kamars beschützt hatte.

So wie einst der junge Krieger aus Tangaroa sah nun auch AJ in der Dunkelheit zwei diabolische rote Augen aufleuchten und vernahm nun auch das dumpfe Grollen, von Amelias Riesenbasilisk. Sie bekam einen Schreck und stieß einen lauten Angstschrei aus. Und ehe sie wusste, wie ihr geschah, sprang der Basilisk mit einem gewaltigen Satz aus seinem Versteck in der Dunkelheit und versperrte den Weg. Die Echse ließ einen markerschütternden Schrei ertönen.

Amelia hob gebieterisch eine Hand.

„ZURÜCK!“, herrschte sie den Basilisken an.

Dieser gehorchte. Und zog sich in die Dunkelheit zurück, aus der er gekommen war. AJ betrachtete sich die Kreatur genauer. Diese Echse war 17 m lang und hatte einen lila Federlappen. Amelias Gast bemerkte, dass der gesamte Rücken des Basilisken mit Stacheln überzogen war. Auch der Echsenkopf mit den messerscharfen Giftzähnen blieb der jungen Frau nicht verborgen. AJ fragte sich, wozu die drei Hörner auf dem Kopf der Echse dienen mochten. Sechs Beine trugen den mächtigen Körper der Echse.

Amelia führte AJ weiter in die Tiefe ihres Reiches und schon bald wurde es heller. Die Frau, die in New York eine Außenseiterin war, erkannte zwei mächtige Säulenreihen, die die Decke stützten. Idunas Halbschwester führte AJ in einen riesigen Saal.

„Was um Himmels willen war das?“, platzte es aus dieser heraus.

„Das war der Riesenbasilisk. Er ist ein Wächter, der jeden tötet, der es wagt, mein Reich ungebeten zu betreten. Normalerweise zeigt er sich nie. Nur wenn jemand Angst hat, lässt er sich blicken.“

In New York war die Dunkelheit hereingebrochen. Königin Jelena hatte 107

sich den zweiten Folianten gegriffen und sich in den schwarzen Ledersessel gesetzt. Sie wollte gerade das Buch aufschlagen, als Kevin den Fernseher einschaltete. Die Abendnachrichten hatten begonnen.

„Ladies and Gentlemen, ich begrüße sie zu einer neuen Ausgabe von CNN news. Die New Yorker Polizei bittet um ihre Mithilfe. Seit heute Nachmittag 15:30 Uhr Ortszeit wird die 23jährige Adria Jessica Porter vermisst. Sie wurde zuletzt im Central Park in Begleitung einer unbekannten in weiß gekleideten Frau gesehen. Wer kann Angaben zu der fremden Frau und zu Miss Porters Aufenthaltsort machen?“, sagte die Nachrichtensprecherin, eine junge Blondine.

„Also ist sie verschwunden.“

„Sieht so aus Kevin.“, sagte Catherine.

Königin Jelena meldete sich zu Wort.

„Kann ich euch um eure ungeteilte Aufmerksam bitten?“, fragte sie.

Als sich Kevins Mutter der uneingeschränkten Aufmerksamkeit sicher sein konnte, schlug sie den Folianten auf und begann mit einer melodischen Stimme vorzulesen. 108

Buch 2 - Kapitel 1

Buch 2 – Kapitel 1

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Über 200 Jahre sind bereits vergangen, seit Blackbeard uns den Feueropal, unser allerheiligstes Artefakt gestohlen hat. Am Ende eines jeden Tages taucht Tosh Kamars Riesenkalmar aus den Fluten auf und zeigt sich uns. Iduna hilf uns! Sende uns ein Zeichen!“

7. Mai 1916 1 Jahr nach der Versenkung der Lusitania

Strandung der SMS GOEBEN

In seinem Palast unter dem Meer saß Tosh Kamar, der böse Herrscher auf seinem Thron und rieb sich vergnügt die Hände. Seit mehr als einem Jahr tobte auf der Welt über ihm ein erbitterter Krieg, der die ganze Welt in Atem hielt. Am 28. Juli 1914 hatte Österreich-Ungarn Serbien wegen dem Mordanschlag am 28. Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand den Krieg erklärt. In ganz Europa hatten die Länder massiv aufgerüstet und mobil gemacht. Die Seestreitkräfte hatten mit den Schlachtschiffen der Dreadnought-Klasse eine schlagkräftige Einheit mit hoher Geschwindigkeit und enormer Feuerkraft erhalten.

Am 7. Mai 1915 hatte das deutsche U-Boot U 20 den britischen Luxusliner RMS LUSITANIA vor der irischen Südküste am Old Head of Kinsale torpediert und in 18 Minuten versenkt. 1.198 Menschen, darunter 128 US-Staatsbürger, hatten beim Untergang des Schiffes ihr Leben verloren. Dies war Tosh Kamar jedoch herzlich egal. Ihn interessierte nur sein eigener Krieg. Der Krieg gegen Oamaru, die Kleeblattinsel.

Valparaíso, Chile 7. Mai 1916

In der Stadt herrschte ein geschäftiges Treiben. Überall waren Menschen. Aber am meisten war im Hafen los. Dort wurden Schiffe aller Nationen be- und entladen. Auf der Werft lag ein Kriegsschiff. Es war die „Goeben“, ein großer Kreuzer der Moltke-Klasse im Dienst der deutschen kaiserlichen Marine. Benannt war das Schiff nach August von Goeben, einem preußischen Armeegeneral. Mit seinen 186,6 m Länge und einer Breite von 29,4 Metern gehörte der Kreuze zu den kleineren Dreadnoughts. Die „Goeben“ konnte maximal 28 Knoten erreichen und verdrängte 25.400 Tonnen. Diese Geschwindigkeit war einer Maschine mit 85.661 PS zu verdanken, die auf vier 3-flügelige Propeller mit einem Durchmesser von 3,74 Metern, übertragen wurde. Der Kreuzer hatte einen Tiefgang von 9,19 Metern. Das Kommando auf der „Goeben“ hatte Kapitän zur See Richard Ackermann. 109

Bewaffnet war das Schiff mit zehn 28-cm-Geschützen, zwölf 15-cm-Geschützen und 12 8,8-cm-Geschützen. 2 Ruder sorgten für hervorragende Manövriereigenschaften.

Vor drei Tagen hatte der große Kreuzer vor der Mündung des Rio de la Plata mit einem englischen Dreadnought, der HMS „Orion“, und der HMS „Dublin“, einem leichten Kreuzer der Chatham-Klasse, ein vierstündiges Gefecht überstanden. Den leichten Kreuzer hatte die „Goeben“ durch einen direkten Treffer im Munitionsdepot auf den Meeresboden geschickt. Auch der Dreadnought hatte ordentlich was einstecken müssen, hatte dem deutschen Kriegsschiff aber ordentlich zugesetzt und den Kreuzer so schwer beschädigt, dass die „Goeben“ das Gefecht abbrechen und nach Chile flüchten musste. In Valparaíso hatte Kapitän Ackermann sein Schiff in die Werft bringen und reparieren lassen.

Die Chilenen leisteten gute Arbeit und hatten die Schäden unterhalb der Wasserlinie behoben. Auch die defekten Geschützrohre hatten die Werftarbeiter ausgetauscht. In Whitehall, dem Sitz der britischen Admiralität, sah man das nicht so gern. Nun wurde die „Goeben“ neu bekohlt, was den Engländern ebenfalls ein Dorn im Auge war. Um den deutschen Kreuzer an der Flucht nach Deutschland zu hindern, hatte die Royal Navy eines ihrer besten Schiffe, den 262,2 m langen Schlachtkreuzer HMS Hood nach Valparaíso geschickt. Nun wollte Kapitän Ackermann so schnell wie möglich in See stechen, denn er wusste, irgendwo da draußen wartete die HMS Orion auf ihn.

Valparaíso, Chile, 8. Mai 1916

Im Morgengrauen lichtete die „Goeben“ die Anker. Kapitän Ackermann wollte den Umstand, dass eine dichte Nebelwand aufgezogen war, nutzen, um sich unbemerkt aus dem Hafen von Valparaíso zu schleichen. Denn er hatte am Abend des 7. Mai vom deutschen Botschafter erfahren, dass außerhalb der 3-Meilenzone der englische Schlachtkreuzer HMS Hood Position bezogen hatte. Wenn es Richard Ackermann irgendwie gelang, sich unbemerkt an der Hood vorbei zu schleichen, dann hatte er auch eine minimale Chance, auch der Orion zu entkommen. Schlepper hatten die „Goeben“ nach Einbruch der Dunkelheit so gedreht, dass sie mit der Flut auslaufen konnte.

Auf Befehl ihres Kommandanten, wurden die Feuerbüchsen der Kessel geöffnet, und die Heizer begannen die Kohlen ins Feuer zu schmeißen. Schaufel um Schaufel wanderte in die Öfen. Mit jedem Bar, das der Druck in den Kesseln stieg, lieferte die Maschine der „Goeben“ mehr Leistung. Richard Ackermann gab den Befehl „halbe Kraft voraus“, nachdem er die Meldung bekommen hatte, dass der Druck in allen Kesseln, gleich war und konstant blieb, und der mächtige Kreuzer setzte sich in Bewegung.

An Bord der Hood 110

Captain Wilfred Tomkinson stand auf der Brücke des mächtigen Schlachtkreuzers und starrte durch die Fenster in den Nebel. Über den Admiralitätscode hatte er erfahren, dass die „Goeben“ einen Ausbruch wagen würde. Der Kommandant der Hood war fest entschlossen, den großen Kreuzer der deutschen kaiserlichen Marine zu stellen und zu versenken. Doch sein deutscher Kontrahent, Kapitän zur See Richard Ackermann, war ein mit allen Wassern gewaschener und erfahrener Seemann. Captain Tomkinson wusste, dass sein Schiff der „Goeben“ in punkto Geschwindigkeit und Feuerkraft überlegen war. Denn die Hood war mit ihren 31,07 Knoten schneller als die Goeben mit ihren 28 Knoten. Außerdem besaß der englische Schlachtkreuzer von und achtern jeweils zwei Zwillingstürme mit einem Kaliber von 38,1 cm. Die „Goeben“ mit ihren 28-cm-Geschützen konnte da nicht mithalten.

An Bord der „Goeben“

Der Kreuzer hatte gerade die Hafeneinfahrt passiert, als sich der Nebel etwas lichtete. Dieser Umstand passte Richard Ackermann gar nicht. Auch wenn es noch neblig war, konnte der feindliche Kapitän zumindest die Umrisse des deutschen Kriegsschiffes erkennen. Allerdings musste sich der Kommandant der „Goeben“ auch eingestehen, dass der Kapitän auf der Hood es bei diesem Nebel schwer haben würde, sein Schiff ins Visier zu nehmen.

An Bord der Hood

Kapitän Tomkinson entdeckte als erster den Schemen, der im Nebel aufgetaucht war. Doch die Nebelbank war noch so dicht, dass er nur vage vermuten konnte, wo sich das fremde Schiff befand. Die Stimme des ersten Offiziers riss den Kommandanten aus seinen Gedanken.

„Captain, die „Goeben“ dreht nach Backbord.“, sagte dieser.

„Sind sie sicher, dass es die „Goeben“ ist?“

„Absolut, Sir. Die Silhouette der „Goeben“ ist unverkennbar.“, sagte der erste Offizier.

„Er bleibt also innerhalb der chilenischen Hoheitsgewässer, weil er da sicher vor uns ist. Gar nicht mal so dumm.“

Captain Tomkinson wusste nur zu gut, dass er den deutschen Kreuzer nicht angreifen konnte, solange dieser sich innerhalb der chilenischen Hoheitsgewässer befand. Hätte Wilfred Tomkinson das Feuer auf den deutschen Kreuzer eröffnen lassen, hätte dies unter Umständen bedeutet, dass die HMS Hood die territoriale Souveränität Chiles verletzt hätte. Und dann, dessen war sich der englische Kommandant bewusst, hätte die Regierung in Santiago de Chile einen triftigen Grund, die Neutralität aufzugeben und an der Seite 111

Deutschlands in den Krieg einzutreten. Das hätte bedeutet, dass England wichtige Nachschubhäfen verloren hätte, wo man die Schiffe mit neuer Kohle und frischem Proviant hätte versorgen können. Dieses Risiko wollte der Kapitän der „Hood“ partout nicht eingehen.

An Bord der Goeben

Der deutsche Kreuzer drehte weiter nach Backbord und verschwand wieder im Nebel. Doch Kapitän zur See Ackermann war sich durchaus bewusst, dass sein englischer Kollege auf der Hood ihn dennoch entdeckt haben konnte, und eine entsprechende Nachricht an die HMS Orion geschickt hatte. Und der Kommandant dieses Dreadnoughts würde nur darauf lauern, dass ihm die „Goeben“ wieder vor die Hauptartillerie geriet.

An Bord der Orion

Kapitän Isaac Hancock stand auf der Brücke seines Schiffes und starrte durch sein Fernglas nach draußen. Doch außer Nebel gab es nichts zu sehen.

„Irgendwo da draußen ist die Goeben.“, dachte er. Isaac Hancock hatte nicht vergessen, dass die Goeben seinem Schiff mit ihren 28ern richtig zugesetzt hatte. Es hatte bis gestern Nacht gedauert, bis der Dreadnought wieder voll einsatzbereit war. Erst im Morgengrauen hatte die Orion Anker auf gehen und auslaufen können.

„Warte, Freundchen. Komm du noch mal vor meine Geschütze. Dann schicke ich deine gottverdammte Sardinenbüchse ein für allemal auf den Meeresboden.“, murmelte der englische Kapitän vor sich hin.

In dem Moment kam der diensthabende Funker auf die Brücke. In der Hand hielt er einen Papierbogen. Kapitän Hancock bemerkte ihn erst. Als der Mann neben ihm stand.

„Was gibt es Mr. Kilburn?“, fragte er.

„Eine Nachricht von der Hood, Sir. Sie trägt den Vermerk „DRINGEND“. Ich dachte, sie hätten sie gern sofort.“

Kapitän Hancock runzelte die Stirn.

„Sind sie absolut sicher, dass die Nachricht von der Hood kam?“, fragte er vorsichtig.

„Absolut, Sir. Es war ihr Rufzeichen. Wir haben die Nachricht zweimal auf Echtheit überprüft, Sir.“

„In Ordnung. Geben sie mir die Nachricht, Mr. Kilburn.“, sagte Kapitän Hancock. 112

Der Funker reichte ihm die Nachricht von der Hood und machte sich auf den Weg zurück in den Funkraum. Kapitän Hancock las die Nachricht.

„An HMS ORION von HMS HOOD

SMS GOEBEN heute Morgen aus Valparaíso ausgelaufen. Fährt Kurs Nordwest. Wenn Feindberührung, eröffnen sie das Feuer.“

Der Kommandant des englischen Dreadnoughts ging in den Kartenraum, suchte eine Karte Südamerikas heraus und kehrte auf die Brücke zurück.

An Bord der Goeben

Seiner Majestät Schiff „Goeben“ hatte die offene See erreicht und auf volle Kraft beschleunigt. Mit 28 Knoten lief das Schiff nach Nordwesten. Richard Ackermann hatte vor, nach Mexiko durchzukommen, und sich dann in einer Bucht auf der Halbinsel Yucatan zu verstecken. Dort wollte er später von einem Versorgungsschiff frische Vorräte, sowie neue Kohlen und frisches Wasser zu bunkern. Anschließend wollte er die Heimreise nach Deutschland wagen. Doch der Plan wäre zum Scheitern verurteilt, wenn die Goeben dem englischen Superdreadnought HMS Orion unter dem Kommando von Isaac Hancock begegnete. Der deutsche Kommandant wusste, dass die Briten die Jagd auf sein Schiff eröffnen würde, sobald sie Sichtkontakt mit der Goeben hatten. Richard Ackermann wusste zwar, dass sich zumindest die Orion und die Hood in diesen Breitengraden aufhielten, aber es war dennoch möglich, dass die Royal Navy weitere Einheiten in den Pazfikraum verlegt hatte. Und dann war für die Goeben die Messe gelesen.

An Bord der Orion

Captain Hancock kam mit der Karte in der Hand auf die Brücke und rief seinen ersten Offizier. Arthur Cavenagh Leveson erschien sofort.

„Sie wollten mich sprechen, Sir?“, fragte er.

„Ja, Mr. Leveson. Ich habe von der Hood erfahren, dass die „Goeben, das deutsche Kriegsschiff, dem wir vor vier Tagen begegnet sind, heute Morgen aus Valparaíso ausgelaufen ist. Laut der Nachricht fährt sie auf Nordwest-Kurs.“

Isaac Hancock nahm Lineal und Bleistift zur Hand und zeichnete von der chilenischen Hafenstadt eine gerade Linie nach Nordwest.

„Was hat der Kerl vor?“, fragte Arthur Leveson.

„Keine Ahnung, Mr. Leveson. Aber wäre ich der deutsche Kommandant, würde ich versuchen, auf Höhe von Yucatan einen Schwenk zu machen, um die Insel anzusteuern.“ 113

„Das würde aber nur gelingen, wenn er außerhalb der Reichweite unserer Geschütze bleibt.“, sagte der erste Offizier.

„Schon möglich, Mr. Leveson. Aber die Nachricht von der Hood ist unmissverständlich. Sobald wir Sichtkontakt zur Goeben haben, sollen wir umgehend das Feuer eröffnen.“

„Klingt, als sollten wir verhindern, dass die Goeben nach Deutschland durchkommt.“, sagte Mr. Leveson.

„Hab ich keine Probleme mit. Die „Goeben“ hat uns vor vier Tagen ordentlich zugesetzt. Ich finde es ist Zeit, sich für diese freundliche Behandlung bei den Krauts zu revanchieren.“

An Bord der Goeben

Kapitän zur See Richard Ackermann hatte für sein Schiff erhöhte Alarmbereitschaft angeordnet, damit er bei einem erneuten Aufeinandertreffen mit der Royal Navy entsprechend vorbereitet war. So waren die Ausgucks doppelt besetzt.

Um 12:30 Uhr sichtete der Ausguck am Bug ein Schiff. Er griff zum Fernglas und sah sich das fremde Kriegsschiff genauer an. Die Silhouette der Orion mit ihren zwei Schornsteinen war unverkennbar. Sofort Schlug er die Glocke um Alarm zu geben. Richard Ackermann stürmte auf die Steuerbord-Nock und sah durch sein Fernglas. Auch er entdeckte schnell das feindliche Kriegsschiff. Aus der Ferne konnte der Kommandant der Goeben Geschützfeuer hören. Nur kurze Zeit später stiegen in einiger Entfernung zwei Wassersäulen auf. Die Briten hatten also zu kurz gezielt. Doch Kapitän zur See Ackermann wusste, dass das nicht lange so bleiben würde.

An Bord der HMS Orion

„Zu kurz.“, sagte der erste Offizier.

„Wir müssen näher ran. Auf die Entfernung können wir den Kerl ebenso gut mit Schneebällen bombardieren.“

Der englische Dreadnought änderte den Kurs und hielt nun auf den deutschen Kreuzer zu. Dann ließ Isaac Hancock erneut eine Salve abfeuern. Und dieses Mal trafen die Granaten der Orion ihr Ziel. Eine Granate schlug in einen der 28-cm-Türme der Goeben am Bug. Die Druckwelle riss einen Teil des Decks mit ab. Eine weitere Granate der Orion traf das deutsche Kriegsschiff vor dem Schornstein und richtete dort schwere Schäden an. Die Goeben erwiderte zwar das Feuer, konnte ihren Gegner aufgrund der geringeren Reichweite ihrer Geschütze nicht erreichen. Erneut traf eine Granate der Orion die Goeben. Dieses Mal direkt oberhalb der Wasserlinie. Captain Hancock sah dies mit 114

Genugtuung.

„Ha! Wer spricht jetzt noch von Schneebällen!“, rief er voller Freude.

An Bord der Goeben

„Es hat keinen Sinn, das Gefecht fortzusetzen. Sehen wir zu, dass wir verschwinden. Neuer Kurs Südwest.“, befahl Kapitän Ackermann. Der Steuermann wirbelte das Steuerrad des Kreuzers herum und die Goeben ging auf den neuen Kurs. Doch der Schaden, der durch den Treffer in der Bordwand knapp oberhalb der Wasserlinie entstanden war, sorgte dafür, dass der deutsche Dreadnought seine Höchstgeschwindigkeit von 28 Knoten nicht für die Flucht nutzen konnte. Denn es bestand die Gefahr eines unkontrollierten Wassereinbruchs. So lief die Goeben gerade einmal 15 Knoten.

An Bord der Orion

„He! Die Goeben haut ab, Captain!“, sagte der erste Offizier des englischen Dreadnoughts.

„Wie hoch ist ihre Geschwindigkeit?“

„15 Knoten. Unser letzter Treffer hat ihr den Rest gegeben.“, sagte Arthur Cavenagh Leveson.

„In Ordnung. Wir verfolgen die Goeben. Aber in einem Abstand, in dem wir sie gerade noch sehen können. Nach Einbruch der Dunkelheit gehen wir näher ran, und machen ihr den Garaus.“

Am frühen Abend, es war 17:00 Uhr, verschlechterte sich das Wetter. Am Himmel zogen dunkle, schwarze Wolken auf. Die See wurde rauer. Kapitän Ackermann hatte den ganzen Tag damit verbracht, das Loch in der Bordwand flicken zu lassen. So hatten die Leute des Sicherungstrupps leichte Stahlplatten vor das Loch geschweißt und das Leck provisorisch abgedichtet. Doch jeder wusste, dass bei einem ordentlichen Brecher der Flicken wie von einer unsichtbaren Faust gerammt, nach innen gedrückt werden konnte. Um 19:00 Uhr zuckten die ersten Blitze vom Himmel und der Wind frischte auf Windstärke 10 auf. Für die HMS Orion bedeutete dies, dass sie die Verfolgung der Goeben abbrechen musste.

Eine halbe Stunde später brach das Unwetter los. Die Goeben hatte Probleme überhaupt einen Kurs zu halten. Das Schiff schlingerte durch die rauen Wellen, während Brecher um Brecher über die Goeben hereinbrach. Und es kam wie es kommen musste. Eine 3,5 Meter hohe Welle traf den Flicken und drückte ihn nach innen. Es war zwar nicht viel, reichte aber dennoch aus, um Wasser ins Schiffsinnere laufen zu lassen. Zuerst war es nur ein kleines Rinnsal, doch mit jeder Bewegung des deutschen Kreuzers drohte mehr Wasser ins 115

Schiffsinnere zu geraten.

Um 21:00 Uhr, die Goeben hatte gerade die ersten Ausläufer des Riffs erreicht, das die Kleeblattinsel umgab, geschah das Unglück. Eine 6 Meter hohe Welle brach über seiner Majestät Schiff Goeben herein, und drückte den großen Kreuzer auf das Riff. Die Mannschaft schaffte es gerade noch, ein Rettungsboot klarzumachen, mit dem sich 50 Mann retten konnten. Wer es noch irgendwie schaffte, das sinkende Schiff zu verlassen, sprang über Bord. Kapitän zur See Richard Ackermann blieb allein auf der Brücke, denn er war ein Mann mit Ehrgefühl. Er hatte beschlossen, bis zum letzten Augenblick die Stellung zu halten, und mit seinem Schiff unterzugehen.

Die Matrosen und Offiziere, die es ins Rettungsboot geschafft hatten, ruderten, was das Zeug hielt, um möglichst schnell von dem sinkenden Schiff wegzukommen. Sie befürchteten nämlich, dass der beim Untergang entstehende Sog sie nach unten ziehen, und so das Leben kosten könnte.

Die Männer in dem Boot waren gerade 200 m von der Goeben entfernt, als einem von ihnen, dem Hamburger Heizer Dirk Hemmler ein starker Ammoniakgeruch auffiel. Noch bevor die Schiffbrüchigen etwas unternehmen konnten, wurde das Rettungsboot angehoben und umgeworfen. Doch nun fing der Horror er richtig an. Eine meterlange Fangpeitsche tauchte aus dem Wasser auf und zerschlug das Boot der Goeben in zwei Hälften. Eine Planke brach heraus, und wirbelte durch die Luft, ehe sie neben Dirk Hemmler auf dem Wasser aufschlug. Der 1,85 m große Heizer aus dem Hamburger Stadtteil Barmbek griff danach, und wurde von einer Welle über das Riff getragen. Er schaffte es als einziger. Für die anderen gab es keine Rettung. Wen Tosh Kamars Riesenkalmar nicht tötete, wurde von den Wellen gegen die Klippen geschleudert oder ertrank. Der Sturm wütete die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag. Dirk Hemmler hatte sich in eine Höhle retten können. Dort harrte er aus und sah über die Flammen des Feuers nach draußen auf die aufgewühlte See und auf das Wrack des Schiffes, das einmal seine zweite Heimat gewesen war. Die Todesschreie seiner Mannschaftskameraden hatte Dirk noch immer im Ohr. Nie würde er diese Horror-Nacht vergessen.

Zwei Tage nach dem Sturm fand eine berittene Patrouille von Königin Wioletta den Schiffbrüchigen. Die Soldaten bildeten einen Halbkreis und warteten, ob der Fremde aufwachte.

Als Dirk Hemmler erwachte, sah er zunächst alles verschwommen. Nur nach und nach klärte sich sein Blick. Als er die Soldaten sah, begann Dirk leicht zu zittern. Ihm war bewusst, dass er allein gegen diese berittenen Krieger keine Chance hatte. Es blieb also nur eine Option. Er musste sich ergeben. Mit erhobenen Händen kam Dirk Hemmler aus seinem Unterschlupf. Vor den Soldaten ging er auf die Knie. Einer der Krieger saß ab und trat vor ihn. 116

„Du kannst deine Hände runter nehmen, Fremder.“, sagte der Soldat.

Dirk Hemmler bemerkte, dass er genau wie seine Kameraden auf Schild und Rüstung einen Weißkopfseeadler als Wappen trug. Der Soldat befahl ihm, seine Arme nach vorne zu halten. Doch gerade, als er den Deutschen fesseln wollte, kam seine Herrin auf einem weißen Schimmel angeritten.

„HALT! Lasst den Mann in Ruhe!“, befahl die Königin.

„Jawohl, Hoheit.“

Sie stieg von ihrem Pferd und ging auf Dirk Hemmler zu. Als sie vor ihm stand hielt die dritte Königin von Oamaru ihm die Hand hin. Der Heizer aus Hamburg sah zu ihr auf.

„Du kannst aufstehen, Fremder.“, sagte Königin Wioletta.

„Ich danke euch, Hoheit.“

Dirk Hemmler hatte Probleme aufzustehen, so sehr war er geschwächt. Die Königin hielt ihm eine Hand hin und half ihm wieder auf die Beine. Dann wandte sie sich an ihre Soldaten.

„Gebt dem Mann Wasser!“, befahl sie.

Einer der Soldaten trat nach vorne und gab ihr seine Feldflasche. Wioletta hielt sie dem Schiffbrüchigen hin.

„Trink davon, dann wird es dir besser gehen.“, sagte sie sanft.

Dieser nahm zögernd die Flasche, dann nahm er einen kleinen Schluck. Das Wasser war erfrischend. Noch nie hatte er solches Wasser getrunken.

„Das ist das beste Wasser, was ich je trinken durfte.“, sagte Dirk Hemmler anerkennend.

„Ein reineres Wasser wirst du nirgendwo auf der Welt finden, Fremder.“

Einer der Soldaten hatte zu Dirk gesprochen.

Der Schiffbrüchige sah sich die Königin genauer an. Zuerst fiel ihm auf, dass sie 20 cm kleiner war als er. Wioletta war 1,65 m groß und besaß einen schlanken Körper, wie ihn kein Bildhauer besser hätte erschaffen können. Ihre Haut war weiß und ihre Haare waren braun. Die Königin sah den Fremden aus Hamburg aus ihren wunderschönen braunen Augen an und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.

Bekleidet war die Königin mit einem schwarzen Trägerkleid, dass auf einer Seite einen großzügigen Blick auf eines ihrer Beine gewährte. Schuhe trug sie keine, sondern war barfuß. Wioletta ging etwas zurück und betrachtete sich den Neuankömmling genauer. Dirk Hemmler war ein athletischer Mann mit einer Körpergröße von 1,85 m. Seine braunen Haare hatte er kurz geschnitten, so dass sie nur bis zu seinen Ohren reichten. Das runde Gesicht mit dem markanten Kinn wies viele Barstoppeln auf.

„Wann hat sich dieser Kerl das letzte Mal rasiert?“, dachte Königin Wioletta.

Doch dann fiel ihr auf, dass die braunen Augen des Fremden unruhig und gehetzt umherblickten. Außerdem war die Kleidung des Mannes vom Kohlenstaub an einigen Stellen rußig und der Fremde roch stark nach Schweiß.

„Wie ist dein Name, Fremder?“, fragte die Königin.

„Dirk Hemmler. Ich war Heizer auf seiner Majestät Schiff dem großen Kreuzer Goeben.“

Wioletta nickte verstehend.

„Und woher kommst du?“, fragte sie weiter.

„Aus der Hansestadt Hamburg, meine Königin.“

„Ich nehme an, du bist Deutscher, Fremder.“, sagte Wioletta zu Dirk Hemmler.

„Ja, meine Königin.“

„Dich schickt der Himmel. Danke Iduna.“, sagte die Königin.

„Wer ist Iduna?“

„Das erfährst du alles, wenn wir in meinem Palast angekommen sind.“, sagte Wioletta.

Dann drehte sie sich zu einem Soldaten um.

„Nuru. Gib dem Fremden das Packpferd, das du mit dir führst.“, befahl die Königin.

Der Soldat nickte. Dann sattelte er einen Rappen und brachte ihn zu dem Fremden. Dirk Hemmler stieg auf.

„Wir reiten in den Palast zurück.“, sagte Königin Wioletta.

Dann setzte sich die Königin in Bewegung. Ihr folgte der Schiffbrüchige. Danach kamen die Soldaten. Es war Mittag, als man den Palast erreichte. Dirk Hemmler staunte nicht schlecht. Der Eingangsbereich war mit einer Treppe aus feinstem Marmor versehen, die über 8 Stufen nach oben führte. Der Vorbau wurde von einer Säulenreihe aus sechs mächtigen Marmorsäulen gestützt und stützte 117

ein Giebeldach. Direkt hinter dem Vorbau schloss gleich ein weiterer Gebäudeteil an, der von einer Säulenreihe aus acht Marmorsäulen getragen wurde. Der Palast selbst war ein Prachtbau mit großen Fenstern und einer Fassade aus reinstem Marmor.

Die Königin ging voraus, Dirk Hemmler folgte ihr. Im Thronsaal übergab Königin Wioletta den Deutschen der Obhut zweier Dienerinnen.

„Geh mit ihnen. Sie werden sich um dich kümmern, Fremder.“, sagte die Königin. Und an ihre Soldaten gewandt sagte sie: „Und ihr geht wieder auf Patrouille.“

„Den Befehl bekommen, heißt ihn ausführen, meine Königin.“, sagte der Anführer und verneigte sich.

Als die Soldaten den Thronsaal verlassen hatten, trat die dritte Königin Oamarus an eines der Fenster und sah nach draußen. Die Sonne stand hoch am Himmel und das Meer glitzerte. Doch Wioletta wusste, dass bei Sonnenuntergang Tosh Kamars Riesenkalmar erscheinen würde.

Später am Abend bat Königin Wioletta ihren Gast zum Abendessen. Ihre Dienerinnen geleiteten Dirk Hemmler in den Speisesaal, wo die Königin ihn erwartete. Wioletta drehte sich um und schenkte dem Deutschen ein charmantes Lächeln.

„Setz dich.“, sagte sie.

Dirk wollte sich auf den Stuhl am anderen Ende des Tisches setzen, doch seine Gastgeberin bestand darauf, dass er neben ihr Platz nahm. Denn sie wies ihm den Platz zu ihrer Rechten zu. Dann wandte sich Wioletta an ihren Diener.

„Du kannst jetzt das Abendessen servieren, Maurice.“, sagte sie.

Der Diener verneigte sich.

„Wie ihr befehlt, Hoheit.“

Dann verschwand er. 10 Minuten später kam er mit einer Salatschüssel zurück und gab jedem etwas von dem Salat auf einen kleinen Teller.

„Darf ich mich bis zum Auftragen der Suppe zurückziehen, meine Königin?“, fragte er.

Wioletta nickte.

Dirk Hemmler probierte ein Stück Tomate und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass es sehr aromatisch schmeckte. Nach dem Salat wurde die Suppe aufgetragen. Und danach servierte Wiolettas Diener Pangasiusfilet mit 118

Bratkartoffeln.

Nachdem Abendessen führte die Königin den Deutschen in die Bibliothek und bat ihn, noch ein Glas Portwein mit ihr zu trinken. Dirk Hemmler stimmte zu.

„Du hast am Strand gefragt, wer Iduna ist. Ich will dir alles erzählen, was du wissen musst. Denn auf dich warten noch viele Gefahren. Doch sei unbesorgt, du wirst nicht alleine gehen müssen.“, sagte die Königin.

Inzwischen hatte sich Dirk Hemmler auf einen Stuhl gesetzt. Seine Gastgeberin stand am Fenster und sah nach draußen. Eine Zeitlang sagte keiner ein Wort. Doch schließlich brach Königin Wioletta das Schweigen.

„Iduna ist die oberste Göttin unserer Inselwelt. Du musst wissen, dass Oamaru von anderen Inseln umgeben ist. Diese Inseln sind die Heimat unterschiedlicher Völker. Auf Aoraki leben die Berserker. Ihr Anführer heißt Nordin.“, sagte sie.

„Seid ihr ihm schon mal begegnet, Hoheit?“

„Lass das alberne Hoheit weg. Nenn mich Wioletta. Und hör bitte auf, mich zu siezen. Und ja, ich bin ihm schon oft begegnet.“, sagte Wioletta.

„Verzeihung. Aber… verstößt das nicht gegen die Etikette?“

„Das hier ist mein Haus. Und hier gelten meine Regeln, Dirk. Ich biete dir das „DU“ an. Das ist eine Ehre, die nur sehr wenigen zuteil wird.“, sagte Wioletta.

„Du hast vorhin am Strand gesagt, mich würde der Himmel schicken. Was meinst du damit?“

„Vor genau 204 Jahren hat eine Bande Piraten, unter dem Kommando von Edward Teach, besser bekannt als Blackbeard, unser Heiligtum, den großen Feueropal aus unserem heiligsten Tempel gestohlen. Zu dem Kommandotrupp, der an dem Diebstahl beteiligt war gehörte auch ein Deutscher. Hans Langsdorff war sein Name.“, sagte die Königin.

Bei der Erwähnung dieses Namens wurde Dirk Hemmler hellhörig, und er griff in den Lederbeutel, den er die ganze Zeit bei sich getragen hatte. Er förderte ein in Leder gebundenes Tagebuch und den Ausschnitt einer Karte zu Tage. Er schlug das Tagebuch auf und las auf der ersten Seite den Namen Hans Langsdorff.

„Das glaub ich einfach nicht.“, sagte Dirk.

„Es ist aber so. Ob es dir gefällt oder nicht, du bist ein Nachkomme von Hans Langsdorff. Nur deshalb wurdest du beim Untergang deines Schiffes von Tosh Kamars Riesenkalmar als einziger verschont.“ 119

„Und wer ist dieser Tosh Kamar?“, fragte Dirk Hemmler.

„Er ist ein Scheusal. Wir haben ihn in dem Jahr, als der Feueropal gestohlen wurde, auf Lebenszeit von unserer Insel verbannt. Er war es, der Blackbeard von dem Feueropal erzählt und ihm obendrein noch verraten hat, wo er den Stein findet.“

„Du sagtest vorhin, dass noch viele Gefahren auf mich warten. Aber dass ich nicht alleine gehen müsste. Was genau muss ich tun?“, fragte Dirk als nächstes.

„Du und die anderen, die noch kommen, müsst ausziehen und den Feueropal wieder in den Tempel zurückbringen. Doch das kann nur gelingen, wenn ihr alle überlebt. Stirbt einer von euch, wird der Feueropal für immer verschollen sein. Und Tosh Kamars Fluch wird sich erfüllen.“

„Was wird passieren, wenn der Opal nicht in den Tempel zurückgebracht wird?“, wollte Dirk wissen.

„Tosh Kamars Riesenkalmar wird aus den Tiefen des Meeres auftauchen und die Kleeblattinsel, wie Oamaru genannt wird, in die Tiefe ziehen.“

„Und wenn wir den Opal zurückbringen, hat Tosh Kamar verloren.“, schlussfolgerte Dirk.

„So ist es, Liebster.“

In diesem Augenblick begann die Sonne unterzugehen und der Himmel färbte sich blutrot. Königin Wioletta wusste, was gleich passieren würde.

„Es beginnt.“, sagte sie.

„Was beginnt?“

„Gleich werden sich die Fluten teilen, und Tosh Kamars Riesenkalmar wird sich zeigen.“, sagte Wioletta.

Kaum hatte sie ihren Satz beendet, tauchte Tosh Kamars Geschöpf aus den Tiefen des Meeres auf und schlug mit seinen Fangpeitschen und den Tentakeln auf das Wasser. Dann verschwand der Kalmar wieder. 120

Buch 2 - Kapitel 2

Buch 2 – Kapitel 2

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Der erste der vier ist gekommen. Doch wird es ihm und den anderen gelingen, das drohende Schicksal abzuwenden? Tosh Kamar wird alles tun, damit unsere Insel untergeht. Iduna lass uns nicht allein. Hilf uns!“

7. Juni 1916 1 Monat nach der Strandung der Goeben

Strandung der DIANA

Te Kaha Bay, Neuseeland

Die See war ruhig, und die Palmen wiegten sich sanft im Wind. Die Bucht wurde an ihrer Westflanke von massiven Bergen geschützt. Sanft brachen sich die Wellen am weißen Strand. In Ufernähe ragten mehrere kleine Felsen aus dem Wasser. Am Strand stand ein Maori-Krieger und starrte ungläubig auf das Meer. Denn in der Bucht lag ein Schiff, wie er noch nie zuvor eines gesehen hatte.

Das fremde Schiff besaß einen Rumpf aus Stahl und war 126,8 m lang. Dem Maori fielen auch die drei Schornsteine auf, die hinter der Kommandobrücke wie Säulen in den Himmel ragten und aus denen schwarzer Rauch quoll. Bewaffnet war das Schiff mit einer Reihe kleinkalibriger Geschütze und maß an der breitesten Stelle 16,8 m. Voll beladen und voll bewaffnet verdrängte das Stahlschiff 6.897 Tonnen und hatte einen Tiefgang von 6,6 Metern. 559 Mann Besatzung waren nötig, um den geschützten Kreuzer DIANA, denn um dieses Schiff handelte es sich, am Laufen zu halten. Angetrieben wurde die DIANA von drei Dreifach-Expansions-Dampfmaschinen, die die 13.000 PS an drei Schrauben weitergaben und so in der Lage waren, den Kreuzer auf eine Höchstgeschwindigkeit von 19 Knoten zu beschleunigen.

Die DIANA konnte 800 – 972 Tonnen Kohle bunkern, die in 24 Kesseln aus dem Hause Belleville verfeuert wurden. Wenn das Schiff nur mit 9 Knoten unterwegs war, war es in der Lage 2.200 Seemeilen zurückzulegen, ehe es erneut bunkern musste. Der Kommandoturm bestand aus 15,2 cm dicken Stahlplatten, während das Panzerdeck mit Platten mit einer Dicke von 3,8 – 6,3 cm ausgestattet war. Am Flaggenstock wehte eine weiße Fahne mit einem blauen Kreuz.

Der Maori wusste nicht, dass das fremde Schiff der Marine des russischen Zaren Nikolaus II. angehörte. Auch wusste er nicht, dass sich die DIANA in der Bucht versteckt hielt, und von einem japanischen Schlachtschiff gejagt wurde. Dieses war vom Oberbefehlshaber der kaiserlichen japanischen Marine Admiral Togo Heihachiro mit der Verfolgung des russischen geschützten Kreuzers 121

beauftragt worden.

Unmittelbar vor ihrer Flucht hatte die Diana bei der Durchführung eines Geleits einen leichten japanischen Kreuzer in einem 2-stündigen Gefecht versenkt. Danach hatte sie das Schiff, einen französischen Kohlefrachter, nach Singapur begleitet, wo sie neu bekohlt und neu verproviantiert wurde. Auch die Munitionsvorräte wurden bei dieser Gelegenheit ergänzt. Die Japaner hatten natürlich davon erfahren, und so hatte Admiral Heihachiro ein ganzes Geschwader in Marsch gesetzt, um die DIANA in Singapur abzufangen. Doch russische Spione hatten den Kapitän des russischen Kreuzers gewarnt, und so war das Schiff nach Einbruch der Dunkelheit ausgelaufen.

Im Marinehauptquartier in Tokyo, Japans Hauptstadt, sorgte die Nachricht von der erfolgreichen Flucht des russischen Kriegsschiffes für reichlich Tumult in der Führungsetage.

Admiral Heihachiro tobte vor Wut.

„BIN ICH DENN NUR VON DILLETANTEN UMGEBEN, ODER WAS?“, brüllte er seine Stabsoffiziere an.

„Aber Herr Admiral…“

„KEIN WORT! KÖNNEN SIE MIR VERRATEN, ISHIKURA, WIE ES DER DIANA GELINGEN KONNTE, ZU ENTKOMMEN?“, schnaubte Togo Heihachiro vor Wut.

„Die Russen müssen einen Tipp bekommen haben,… Admiral.“

„AH JA?“, fragte der Flottenchef, um danach gleich weiter zu poltern. „UND VON WEM, FRAGE ICH SIE! VON WEM?“, tobte er.

Einer seiner Adjutanten räusperte sich.

„Darf ich offen sprechen, Admiral?“, fragte er vorsichtig.

„Nur zu.“

„Ich denke, dass die Russen den Funkverkehr abgehört haben. Man hat in Moskau 2 und 2 zusammengezählt und die DIANA gewarnt.“, sagte der Leutnant.

„Wollen wir hoffen, dass sie Recht haben, Watanabe. Denn wenn nicht, wird seine Hoheit, der Kaiser mich einen Kopf kürzer machen.“

An seine Offiziere gewandt, sagte der Admiral: „UND IHR SEHT ZU, DASS IHR DIESEN RUSSISCHEN KREUZER SO SCHNELL WIE MÖGLICH FINDET! UND BEEILT EUCH GEFÄLLIGST, SONST ROLLEN HIER KÖPFE!“ 122
 

Die Stabsoffiziere von Admiral Heihachiro wussten nur zu gut, dass der Flottenchef seinen Worten stets Taten folgen ließ. Wer seine Arbeit nicht ordnungsgemäß erledigte, der wurde durch jemand anderen ersetzt. So einfach war das.

Berlin, Admiralität, Deutschland

Großadmiral Alfred von Tirpitz saß in seinem Büro und ging die letzten Meldungen seiner Flotte durch. Alle Schiffe hatten sich wie befohlen gemeldet. Alle, bis auf eines. Der große Kreuzer Goeben ließ seit einem Monat nichts mehr von sich hören.

„Vielleicht hat Kapitän Ackermann einfach vergessen zu antworten, oder die Funksprüche haben ihn nicht erreicht.“, dachte der Admiral.

Es klopfte an der Tür.

„Herein!“, sagte Tirpitz.

Sein persönlicher Adjutant betrat den Raum.

„Ich war gerade in der Schreibstube, Herr Admiral.“, sagte er.

„Und? Gibt es Neuigkeiten von der Goeben?“

Tirpitz Adjutant zögerte mit der Antwort.

„Um Himmels Willen, nun reden sie schon!“, sagte Alfred von Tirpitz.

„Herr Admiral, ich befürchte, dass die Goeben gesunken ist.“

„Wie sicher ist diese Information, Lembke?“, fragte der Admiral.

„Von sämtlichen Meldungen der Goeben selbst und auch allen Feindmeldungen ausgehend, liegt die Wahrscheinlichkeit eines Untergangs bei… 98%.“

„Überlebende?“, fragte Alfred von Tirpitz.

„Da gibt es unterschiedliche Meldungen, Herr Admiral. Mal ist von 40 Überlebenden die Rede, andere Meldungen melden die Goeben als Mit Mann und Maus gesunken.“

Großadmiral Tirpitz ging hinüber zu der großen Weltkarte, die auf der rechten Seite an der Wand hing. Nachdenklich nahm er einen Zug aus seiner Pfeife.

„Welches ist die letzte bekannte Position der Goeben?“, fragte Alfred von Tirpitz.

„Die letzte bekannte Position der Goeben ist hier.“ 123

Tirpitz Adjutant zeigte auf einen Punkt auf der Karte.

„Dort hat Kapitän Ackermann einen Wassereinbruch gemeldet. Danach ist der Kontakt abgerissen.“, sagte Martin Lembke.

Alfred von Tirpitz zog an seiner Pfeife und strich sich dann nachdenklich durch seinen Bart.

„Welche Schiffe haben wir zur Zeit da oben?“, fragte er dann.

„Nur den kleinen Kreuzer Leipzig.“

Alfred von Tirpitz ging in seinem Büro nachdenklich auf und ab, wobei er gelegentlich an seiner Pfeife zog. Dann drehte er sich zu seinem Adjutanten um.

„Sie werden folgendes tun: Sie gehen in die Schreibstube und geben ein Telegramm auf, dass ich ihnen gleich diktiere. Am besten kennzeichnen wir es mit dem Vermerk „DRINGEND“.“, sagte er.

„Jawohl, Herr Admiral.“

„Gut. Dann schreiben sie folgendes: „An Kommandant SMS LEIPZIG: „Großer Kreuzer Goeben seit einem Monat verschollen. Letzte bekannte Position: 38° 49´ 17“ N, 45 ° 16´ 6“ W. Beginnen sie ihre Suche dort. Bergen sie wenn möglich Überlebende oder Wrackteile. Nehmen sie vorher in Valparaíso noch frische Kohlen und frischen Proviant an Bord. Vermeiden sie vor allem jeden Feindkontakt.“, diktierte der Großadmiral.

„Verstanden, Herr Admiral. Und mit dem Vermerk „DRINGEND“ kennzeichnen.“

„Fertig?“, fragte Großadmiral Tirpitz.

„Ja, ich bin fertig, Herr Admiral.“

„Dann gehen sie, Lembke. Sorgen sie dafür, dass die Meldung an die „LEIPZIG“ heute noch rausgeht.“, sagte Tirpitz.

„Jawohl, Herr Admiral.“

Sankt Petersburg, Admiralität, Russland

Admiral Alexander Wassiljewitsch Koltschak saß in seinem Büro und hatte neben sich eine Tasse Tee stehen. Er hatte gerade ein paar Befehle für die russische Flotte unterschrieben, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte der Admiral.

Sein persönlicher Adjutant betrat den Raum. 123

„Was gibt es neues, Marganin?“, fragte er ihn.

„Admiral, gerade kam eine Meldung über den Verbleib unseres geschützten Kreuzers „DIANA“.

„Setzen sie sich, Marganin und dann berichten sie.“, sagte Admiral Koltschak.

Der Adjutant, ein Leutnant ersten Ranges, setzte sich dem Admiral gegenüber. Dann begann er seinen Bericht.

„Es gibt, wie gesagt Neuigkeiten von der DIANA. Sie konnte sich unbemerkt nach Te Kaha Bay in Neuseeland durchschlagen.“, sagte der Leutnant.

„Das ist schon mal gut zu wissen.“

„Mit Verlaub, Admiral. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man den Kreuzer gefunden haben wird.“, sagte Koltschaks Adjutant.

„Was macht sie da so sicher, Marganin?“

Leutnant Juri Marganin, ein schlaksiger, rothaariger Mann, trat an die große Weltkarte, die hinter dem Schreibtisch des Admirals an der Wand hing.

„Die Japaner haben die Suche nach unserem Schiff intensiviert. Und zurzeit sind drei japanische Kriegsschiffe in der Nähe der Position der DIANA, die sie entdecken können, bevor wir sie gewarnt haben.“, sagte Leutnant Marganin.

„Welche japanischen Kriegsschiffe operieren zurzeit in diesem Seegebiet?“

Admiral Koltschaks Adjutant nahm einen Bleistift und ein Lineal zur Hand und markierte die erste Position, die er mit einem großen „K“ markierte.

„Wofür steht eigentlich das „K“, Marganin?“, fragte Alexander Wassiljewitsch Koltschak.

„Das „K“ steht für die „KIRISHIMA“. Ein Schlachtkreuzer von 26.750 Tonnen. Das Schiff ist mit vier 35,56-cm-Geschützen ausgestattet.“

„Die Kirishima. Gott steh der Mannschaft auf der DIANA bei, dass die nicht diesem Kreuzer begegnen. Welche Schiffe sind sonst noch in diesem Gebiet?“, sagte Koltschak.

Juri Marganin markierte eine neue Position, die er mit einem „S“ markierte.

„Dort steht der Zerstörer Sakura.“, erklärte er.

Als nächstes zeichnete Koltschaks Adjutant eine dritte Position auf der Karte ein, die mit einem „N“ markiert wurde.

„Welches Schiff steht dort?“, fragte sein Vorgesetzter. 124

„Der leichte Kreuzer Nagara.“

„In Ordnung, Marganin. Gibt es noch irgendwelche japanischen Marineeinheiten, die der DIANA gefährlich werden könnten?“, fragte Alexander Wassiljewitsch Koltschak.

„Nur das Schlachtschiff Fusō. Aber dieses Schiff befindet sich zurzeit im Pazifik.“

„Wo genau?“, fragte der Admiral.

„Die Fusō steht zurzeit hier. Unmittelbar vor der Küste Ecuadors.“

„Sie werden jetzt folgendes tun, Marganin. Sie werden eine Warnung an die DIANA abschicken, selbstredend mit dem Vermerk „DRINGEND“ gekennzeichnet.“, sagte Admiral Koltschak.

„Zu Befehl.“

„Dann schreiben sie, was ich ihnen jetzt diktiere.“, sagte der Flottenchef.

„Jawohl, Herr Admiral.“

„An Kommandant geschützter Kreuzer DIANA: Schlachtkreuzer KIRISHIMA, Zerstörer SAKURA und leichter Kreuzer NAGARA befinden sich in ihrer Nähe. Wagen sie Ausbruch nach Einbruch der Dunkelheit. Versuchen sie sich nach Valparaíso durchzuschlagen und ergänzen sie dort Kohlen und Proviant. Danach Durchbruch in Richtung Heimat. P.S. Vermeiden sie unter allen Umständen Feindkontakt mit der KIRISHIMA und dem Schlachtschiff Fusō.“, sagte Koltschak.

„Fertig, Admiral. Ich habe die Nachricht wie befohlen mit dem Vermerk „DRINGEND“ gekennzeichnet.“

„Gut, Dann beeilen sie sich. Die Nachricht muss heute noch raus.“, sagte Alexander Koltschak.

Wenig später war die Nachricht verschickt.

Te Kaha Bay, Neuseeland

Die Sonne begann gerade unterzugehen und den Himmel rot zu färben, als auf dem russischen Kriegsschiff alle Kessel „Dampf auf“ machen mussten. Kapitän Wladimir Wladimirowitsch Scheltinga hatte am Nachmittag die Warnung aus Sankt Petersburg erhalten. Danach hatte er alle Offiziere zusammengerufen. Als alle beisammen waren, sah der Kapitän der DIANA in die Runde.

„Meine Herren, ich habe sie zusammengerufen, weil ich vor 10 Minuten diese Warnung von der Admiralität erhalten habe. Uns sind drei japanische

Kriegsschiffe auf den Fersen. Darunter der Schlachtkreuzer „Kirishima“. Wir sollen heute nach Einbruch der Dunkelheit Anker auf gehen und uns nach Valparaíso durschlagen und dort bunkern.“, sagte Kapitän Scheltinga.

Der erste Offizier räusperte sich.

„Sie haben Einwände gegen unseren Befehl, Gospodin Kamarov?“, fragte der Kapitän.

„Herr Kapitän, das ist eine Strecke von 5.075 Seemeilen. Und selbst wenn wir in Anführungszeichen „NUR“ 9 Knoten laufen, kommen wir nur 2.200 Seemeilen weit. Das heißt, wir müssten noch mal bunkern.“

„Da haben sie nicht ganz Unrecht, Gospodin Kamarov. Was schlagen sie vor?“, wollte der Kapitän wissen.

„Wir laufen Sydney an, bunkern dort und fahren von Sydney aus nach Kapstadt. Wobei wir unterwegs noch mal bunkern müssten. Ich würde Sankt Petersburg melden, dass wir mit einem Codewort um die Bereitstellung eines Kohletenders bitten. Die Nachricht müsste dann chiffriert werden, sonst machen uns die Japaner einen Strich durch die Rechnung.“

„Gut. Hat sonst jemand Vorschläge? Wenn nichtwürde ich jetzt gerne mit den Vorbereitungen beginnen, damit wir heute nach Einbruch der Dunkelheit abfahren können.“, sagte Wladimir Wladimirowitsch.

Um 21:00 Uhr war die Nacht hereingebrochen. Der russische Kreuzer lichtete die Anker. Kapitän Scheltinga hatte auf jegliche Beleuchtung verzichtet, um es den Japanern unmöglich zu machen ihn zu orten. So gelang es DIANA, unbemerkt am japanischen Schlachtkreuzer Kirishima vorbeizuschlüpfen und in den offenen Seeraum zu entkommen. Nach 5 Tagen erreichte das russische Kriegsschiff um 9:00 Uhr den Hafen von Sydney.

Ein als Kaufmann getarnter japanischer Spion bemerkte das Schiff, als er von einer Besorgungstour kam. Der Mann erkannte sofort, dass es sich bei dem Kriegsschiff um den russischen Kreuzer DIANA handelte. Er verschwand in seinem Laden, wo er mit den Waren im Lager verschwand. Dort setzte er sich an ein Morsegerät und schickte eine Meldung an die Admiralität in Tokyo. Sie lautete: „Russischer Kreuzer „DIANA“ bunkert in Sydney. Vermutlicher Durchbruch nach Kapstadt oder Surabaya.“ Danach räumte er die Waren in die Regale.

Tokyo, Admiralität, Japan 12.06.1916

Admiral Togo Heihachiro war gerade von einer Audienz bei Kaiser Yoshihito zurück in seinem Büro. Der Tenno war ziemlich ungehalten darüber, dass es der kaiserlichen japanischen Marine nach wie vor nicht gelingen mochte, die DIANA zu versenken. 125

„Mir egal, wie sie das anstellen, Admiral Heihachiro, aber: VERSENKEN SIE DIE DIANA!“, hatte er gesagt.

Togo Heihachiro ging in seinem Büro unruhig auf und ab, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte der Flottenchef.

Sein Adjutant Takahito Watanabe betraten Raum, in der Hand ein Blatt Papier.

„Was gibt es Watanabe?“, fragte der Admiral.

„Admiral, gerade kam eine Nachricht von unserem Agenten in Sydney. Die DIANA liegt im Hafen.“

„Hat der Agent auch gesagt, warum sie dort ist?“, fragte Admiral Heihachiro.

„Unser Agent berichtet, dass sie bunkert. Er vermutet, dass die DIANA einen Durchbruch nach Kapstadt oder Surabaya versuchen könnte.“

Togo Heihachiro rieb sich nachdenklich das Kinn. Dann sah er seinen Adjutanten an.

„Seine Majestät der Kaiser ist ziemlich ungehalten darüber, dass wir diesen verdammten russischen Kreuzer einfach zu fassen kriegen.“, sagte der Admiral.

Takahito Watanabe öffnete die Aktenmappe, die er als persönlicher Adjutant des Großadmirals immer mit sich führen musste, und holte einen weiteren Papierbogen heraus, den er seinem Vorgesetzten reichte.

„Was ist das?“, fragte der Flottenchef.

„Ein Funkspruch von der Admiralität in Sankt Petersburg an die DIANA, den unsere Leute abgefangen haben. Sie haben die DIANA vor unseren Schiffen gewarnt.“

„Kein Wunder, dass die DIANA unserer Flotte wieder entkommt. Sie hatten Recht mit ihrer Vermutung, dass die Russen ihr Schiff warnen, Watanabe. Den eindeutigen Beweis haben sie mir gerade eben gezeigt.“, sagte Admiral Heihachiro.

Sydney, Australien

Auf der DIANA war die Bekohlung abgeschlossen. Kapitän Wladimir Wladimirowitsch Scheltinga hatte mehr Kohlen bunkern lassen, als zulässig, denn er wollte den Durchbruch nach Kapstadt riskieren. Dort wollte er erneut bunker, um dann das Kap der guten Hoffnung und dann Buenos Aires anzulaufen. Dort sollte erneut gebunkert werden. 126

Berlin, Admiralität, Deutschland, 12 Juni 1916

Alfred von Tirpitz hatte gerade ein paar Befehle für die Flotte unterschrieben, als es an der Tür seines Büros klopfte.

„Herein!“, sagte der Flottenchef.

Sein persönlicher Adjutant Martin Lembke betrat den Raum.

„Was gibt es, Lembke?“, fragte Admiral von Tirpitz.

„Eine Meldung von der Leipzig, Herr Admiral.“

„Haben sie die Goeben gefunden?“, wollte der Admiral wissen.

„Sie haben das Wrack gefunden.“

„Wo?“, platzte der Admiral mit der nächsten Frage heraus.

Sein Adjutant trat an die Karte und markierte die Position.

„Da ist doch nichts, außer Wasser.“, sagte Admiral Tirpitz.

„Offenbar ist dieses Riff auf keiner Karte verzeichnet. Außerdem hat die Leipzig noch einen Matrosen aus dem Wasser gezogen. Der Mann war zwar noch bei Bewusstsein, aber war schon so geschwächt, dass er bald gestorben ist. Aber bevor er die Augen für immer geschlossen hat, hat er dem Kapitän der Leipzig noch verraten, dass ein Besatzungsmitglied der Goeben überlebt hat.“

„Wer?“, fragte Alfred von Tirpitz.

„Einer der Heizer. Dirk Hemmler.“

„Und die anderen?“, fragte Tirpitz.

„Mehr konnte der Matrose dem Kapitän der Leipzig nicht mehr verraten. Denn danach war er tot. Man hat ihn aber mit allen Ehren bestattet.

Sydney, Australien

Um 12:00 Uhr stach die DIANA wieder in See. Die Leute waren zu beschäftigt, um vom Auslaufen des russischen Kreuzer Notiz zu nehmen. Nur der japanische Agent beobachtete das Schiff. Er wollte wissen, was der Kommandant des russischen Kriegsschiffes vorhatte. Als die DIANA zuerst auf Südkurs ging, hatte der Agent Gewissheit. Die Russen versuchten nach Kapstadt zu entkommen. Wohl deshalb hatte man das Schiff bis unter den Rand mit Kohlen vollgestopft. Rasch ging er in das Lager, um eine entsprechende Nachricht nach Tokyo zu senden. „DIANA nimmt Kurs auf Kapstadt. Hat mehr Kohlen geladen, als…“ Gerade als er das Wort „Erlaubt“ morsen wollte, verspürte er einen 127

stechenden Schmerz in seinem Rücken.

Denn wie jede kriegführende Nation hatte auch Russland Agenten in Sydney, die die Gegenseite im Auge behielten. So hatten als Walfänger getarnte Russen sich in dem Laden umgesehen, und dabei das Morsegerät entdeckt. Somit war klar, dass der Kaufmann ein japanischer Spion war und nicht zögern würde, Tokyo zu unterrichten, sobald die DIANA auslief. Und genau das galt es zu unterbinden. So hatten die beiden Russen, sich über den Hintereingang des Gebäudes Zutritt zum Lager verschafft und auf ihr Opfer gewartet.

Als der japanische Agent angefangen hatte zu senden, waren die beiden russischen Agenten aus ihren Verstecken hinter ihm aufgetaucht, ihre Waffen bereits schussbereit in der Hand. Sie hätten ihn sofort töten können, doch aus einem unerklärlichen Grund zögerten die russischen Agenten und ließen den Kaufmann erstmal senden, ehe sie ihn exekutierten.

Tokyo, Admiralität, Japan

Admiral Heihachiro war gerade auf dem Weg zu Kaiser Yoshihito, als sein Adjutant ohne anzuklopfen in sein Büro gestürmt kam, in der Hand den unvollständigen Funkspruch des japanischen Agenten.

„Man klopft in der Regel an, bevor man eintritt, Watanabe.“, tadelte ihn der Admiral.

„Admiral, dieser Funkspruch ist gerade eingegangen. Er stammt von unserem Agenten in Sydney.“

Takahito Watanabe reichte seinem Vorgesetzten das Blatt Papier.

„Wieso ist er unvollständig?“, fragte der Flottenchef.

„Das wissen wir nicht. Aber unser Geheimdienst geht davon aus, dass unser Mann aufgeflogen ist, und von den Russen eliminiert wurde.“

„Das ist in der Tat ärgerlich, Watanabe. Aber jetzt wissen wir, dass die DIANA nach Kapstadt will. In Ordnung, Watanabe. Welche Schiffe haben wir vor Kapstadt liegen?“, sagte Admiral Heihachiro.

„Nur die Hiei, Admiral.“

„Sie werden jetzt folgendes tun, Watanabe. Nehmen sie Stift und Papier und nehmen sie eine Nachricht mit dem Vermerk „DRINGEND“ für die Hiei auf.“, sagte Togo Heihachiro.

„Was soll ich schreiben, Admiral?“

„An Kommandant Schlachtkreuzer Hiei 128

Russischer Kreuzer DIANA versucht Durchbruch nach Kapstadt. Hat mehr Kohlen an Bord, als zulässig. Geschätzte Ankunft am 15. Juni. DIANA darf Kapstadt unter keinen Umständen erreichen. Ausguck Tag und Nacht besetzt halten.“, diktierte der Großadmiral.

Danach machte er sich auf den Weg zu seiner Unterredung mit dem Tenno. Doch bevor er sein Büro verließ, sagte er zu seinem Adjutanten: „Sorgen sie dafür, dass die Nachricht an die Hiei heute noch rausgeht. Es steht eine Menge auf dem Spiel. Denn bisher tanzt uns der russische Kommandant auf der Nase herum und lacht sich ins Fäustchen.“

Takahito Watanabe begriff, was der Admiral meinte. Der Kapitän der DIANA hielt die gesamte kaiserliche japanische Marine nicht nur zum Narren, er band sogar ihre gesamten Streitkräfte. Japan war im Moment offen für eine Invasion, da seine Häfen ungeschützt waren.

Im Thronsaal des Kaiserpalastes wurde Admiral Heihachiro von Kaiser Yoshihito bereits erwartet. Der Flottenchef sah dem Tenno an, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Der Admiral musterte den Kaiser aufmerksam.

Kaiser Yoshihito war ein Mann mit einem ovalen Gesicht und den für Asiaten typischen mandelförmigen braunen Augen. Seinen Bart hatte der Kaiser zu einem Oberlippenbart frisieren lassen. Auffällig war auch die Knubbelnase des Tenno. Seine schwarzen Haare hatte Kaiser Yoshihito kürzer geschoren, sodass sie oberhalb der Ohrläppchen endeten. Der athletische Körper des Kaisers steckte in einer schwarzen Uniform mit mehreren Orden und anderen Auszeichnungen. Dazu trug der Tenno schwarze Socken und schwarze Lackschuhe.

„Würden sie mir bitte ihre Verspätung erklären, Admiral Heihachiro?“, fragte der Kaiser ungehalten.

„Mein Adjutant war gerade bei mir und hat mir diese unvollständige Nachricht von unserem Agenten in Sydney überbracht.“

Der Admiral gab Yoshihito die Nachricht. Der japanische Kaiser las sie aufmerksam durch.

„Haben sie eine Ahnung, warum sie unvollständig ist?“, fragte Yoshihito.

„Unser Geheimdienst glaubt, dass unser Agent von den Russen enttarnt und eliminiert wurde.“

Der Kaiser rieb sich nachdenklich das Kinn. Dann fragte er: „Wer kommandiert die DIANA?“

„Kapitän Wladimir Scheltinga, Hoheit.“

„Kennen sie ihn, Admiral Heihachiro?“, fragte der Kaiser. 129

„Nicht persönlich, euer Hoheit. Aber nach allem, was man sich über ihn erzählt, ist er ein ausgezeichneter Seemann.“

„Welche Schiffe haben wir in diesem Seegebiet?“, wollte Kaiser Yoshihito wissen.

„Den Schlachtkreuzer Hiei. Ich habe den Kommandanten bereits vom Versuch der DIANA nach Kapstadt durchzubrechen, in Kenntnis gesetzt, und ihm die entsprechenden Befehle erteilt.“

„Gut. Sehr gut.“, sagte der Tenno.

Dann ging er hinüber zu einem Kartentisch. Der Flottenchef folgte ihm und ließ dabei seinen Blick durch den Raum schweifen. Im Zentrum des rückwärtigen Bereiches standen die beiden Thronsessel von Kaiser Yoshihito und seiner Gemahlin. In der Mitte hing über den beiden Thronen eine Chrysantheme mit 3 Meter Durchmesser. Zu beiden Seiten waren schwere, rote Brokatvorhänge aufgehängt. Der Boden war mit edelstem Marmor ausgestattet.

„Was meinen sie, Admiral Heihachiro? Wieso versucht der Kapitän der DIANA den Durchbruch nach Kapstadt? Surabaya wäre doch viel näher.“, sagte der Kaiser.

„Die DIANA wurde zurück nach Hause beordert. Offenbar will man sie im Kampf gegen das deutsche Kaiserreich einsetzen.“

„Würde Sinn ergeben. Aber warum den Weg um das Kap der guten Hoffnung wagen?“, fragte der Tenno.

„Kapitän Scheltinga wurde instruiert, in Valparaíso noch einmal zu bunkern.“

„Welche Einheiten haben wir da oben?“, fragte Kaiser Yoshihito.

„Das Schlachtschiff Fusō steht vor der Küste Ecuadors.“

„In Ordnung. Beordern sie die Fusō vor die chilenische Küste.“, sagte Yoshihito.

„Sehr wohl, euer Hoheit.“

Nach der Unterredung mit Kaiser Yoshihito eilte Admiral Togo Heihachiro in sein Büro zurück. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, da klopfte es auch schon wieder.

„Herein!“, sagte der Admiral.

Takahito Watanabe, sein persönlicher Adjutant, trat ein.

„Was gibt es, Watanabe?“, fragte Admiral Heihachiro.

„Admiral, die Kommandanten, der Nagara, der Kirishima und der Sakura 130

erwarten neue Befehle.“

„Beordern sie sie umgehend nach Hause zurück. Wir brauchen sie hier.“, sagte Admiral Heihachiro.

„Jawohl, Admiral.“

Takahito Watanabe wandte sich zum Gehen.

„Noch etwas, Watanabe.“, sagte der Flottenchef.

„Ja, Admiral?“

„Seine Majestät der Kaiser hat eine Verlegung der Fusō vor die chilenische Küste befohlen. Veranlassen sie das umgehend, Watanabe.“, sagte Togo Heihachiro.

„Jawohl, Admiral.“

Kapstadt, Südafrika, 15 Juni 1916

Um Mitternacht war die DIANA in den Hafen von Kapstadt eingelaufen. Mit der letzten Schaufel Kohle war der riskante Durchbruch gelungen. Kapitän Scheltinga saß über einer Karte und berechnete die kürzeste Route für die 4.279 Seemeilen von Kapstadt nach Buenos Aires. Wie immer hatte er sein Schiff verdunkelt und sich so an der Hiei, einem japanischen Schlachtkreuzer der Kongō-Klasse, vorbeigeschlichen. Nach dem Anlegen hatte er sofort Kohlen und Proviant bunkern lassen, denn er wollte vor Sonnenaufgang wieder in See stechen. Worauf der russische Kapitän allerdings verzichten konnte, war von der Hiei gestellt und versenkt zu werden. Das bedeutete, dass er sich wieder an dem japanischen Großkampfschiff vorbeischleichen musste.

Wladimir Scheltinga war so in seine Gedanken vertieft, dass er aufschrak, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte er.

Der erste Offizier der DIANA trat ein.

„Was gibt es, Gospodin Kamarov?“, fragte der Kapitän.

„Das Bunkern ist abgeschlossen. Ich habe mehr Kohlen an Bord nehmen lassen, als eigentlich erlaubt.“

„Gut.“, sagte Wladimir Scheltinga.

„Nicht gut, Kapitän. Wenn wir das Kap der guten Hoffnung umrunden, dann gehen wir ein hohes Risiko ein.“

„Worauf wollen sie hinaus, Gospodin Kamarov?“, fragte der Kapitän. 131

„Sie wissen doch, Kapitän, dass das Kap der guten Hoffnung berüchtigt ist, Hier sind schon viele Schiffe auf unerklärliche Weise untergegangen. Außerdem können hier aus dem Nichts Wellen auftauchen, die mehr als 10 Meter hoch sind. Sie wissen, was das für uns bedeuten würde, Kapitän.“

„Ja, ich weiß, Gospodin Kamarov. Aber wir haben keine andere Wahl. Wan geht heute die Sonne auf?“, fragte Kapitän Scheltinga.

„Um 6.15 Uhr. Aber die Flut hat schon 3 Stunden früher ihren höchsten Stand erreicht.“

„Dann werden wir um 3:15 Uhr auslaufen. WEGTRETEN!“, sagte der Kapitän.

Tokyo, Admiralität, Japan

Admiral Togo Heihachiro saß gerade an seinem Schreibtisch, als es an der Tür klopfte. Er ahnte schon, wer draußen wartete.

„Treten sie ein, Watanabe.“, sagte er.

Takahito Watanabe, der persönliche Adjutant des Flottenchefs betrat den Raum. Und seinem Gesichtsausdruck konnte Togo Heihachiro entnehmen, dass er wieder schlechte Nachrichten im Gepäck hatte.

„Die DIANA hat den Durchbruch nach Kapstadt geschafft, nehme ich an?“, fragte er seinen Adjutanten.

„Leider, Admiral. Hier ist der Bericht.“

Mit diesen Worten gab Takahito Watanabe seinem Vorgesetzten den Bericht.

„Admiral, da die DIANA auch der Hiei entkommen ist,… wäre es nicht ratsam, sie ebenfalls nach Hause zu beordern?“, fragte er dann.

Der Admiral schüttelte den Kopf.

„Nein, Watanabe. Dafür ist es noch zu früh. Der russische Kapitän will nach Valparaíso, soviel ist sicher.“, sagte er zu seinem Adjutanten.

„Das ist aber mit viel Risiken verbunden, Admiral.“

„Was meinen sie, Watanabe?“, fragte der Flottenchef.

Gerade als sein Adjutant zu einer Antwort ansetzen wollte, klopfte es an der Tür von Admiral Heihachiros Büro.

„Herein!“, sagte der Admiral.

Sowohl der Flottenchef als auch dessen Adjutant waren sichtlich überrascht, als Kaiser Yoshihito höchstpersönlich eintrat. 132

Sofort standen beide stramm und salutierten.

„Stehen sie bequem, meine Herren.“, sagte der Tenno.

Togo Heihachiro zog noch einen weiteren Stuhl heran, damit der Kaiser sich setzen konnte. Sein Adjutant blieb jedoch stehen.

„Setzen sie sich, Watanabe. Sie brauchen sich nicht die Beine in den Bauch zu stehen.“, sagte der Admiral.

Yoshihito entdeckte den Papierstapel auf dem Schreibtisch seines obersten Admirals.

„Neuigkeiten von der DIANA?“, fragte er dann.

„Ja, euer Hoheit. Aber keine guten fürchte ich.“

„Sagen sie nichts, lassen sie mich raten, Admiral Heihachiro. Der DIANA ist der Durchbruch nach Kapstadt geglückt.“, sagte der Kaiser.

„Leider, Hoheit.“

„Wie macht dieser Russe das bloß, dass er unseren Schiffen immer wieder entkommt?“, fragte der Kaiser mehr zu sich selbst, als an die anderen gewandt. Takahito Watanabe räusperte sich.

„Sie wollen etwas zu unserer Diskussion beitragen, Watanabe?“, fragte der Tenno.

„Mit Verlaub, Hoheit… ich glaube, dass der russische Kapitän sein Schiff komplett verdunkelt.“

„Das würde ja bedeuten, dass auch keine Positionslichter brennen.“, sagte der Admiral.

„Ganz genau. Er weiß, dass man ihn bei brennenden Positionslichtern orten kann.“

„Ich würde es nicht anders machen, wäre ich in der Position des russischen Kommandanten.“, sagte Kaiser Yoshihito.

„Na schön. Kapitän Scheltinga will nach Valparaíso, um dort wie befohlen zu bunkern. Dafür müsste er aber vorher noch mal Buenos Aires anlaufen.“

„Gar nicht mal schlecht, Admiral Heihachiro. Er muss noch einmal bunkern, sonst läuft er Gefahr, dass er die Umrundung von Kap Hoorn nicht schafft.“, sagte der Kaiser.

Der Adjutant des Admirals räusperte sich erneut. 133

„Sprechen sie, Watanabe.“, sagte der Admiral.

„Wahrscheinlich muss er gar nicht um Kap Hoorn herumfahren.“

Kaiser und Flottenchef sahen ihn an.

„Der Kommandant der DIANA würde doch wohl eher die Abkürzung durch den vor zwei Jahren eröffneten Panama-Kanal nehmen. Das spart Zeit und vor allem kostbare Kohlen.“, sagte Takahito Watanabe.

Sein Vorgesetzter und der Kaiser sahen erst ihn an, dann einander.

„Ich glaube, sie haben den falschen Posten, Watanabe. Ein Mann mit einem so messerscharfen Verstand gehört eigentlich zur Spionageabwehr oder zum Nachrichtendienst.“, sagte der Tenno dann.

„Danke,… Hoheit.“

„Nun, Watanabe, sie wollten mir vorhin erklären, warum der Weg nach Südamerika für den Kapitän der DIANA riskant ist.“, sagte Togo Heihachiro.

„Admiral, wenn der russische Kapitän wirklich Buenos Aires anlaufen sollte, dann müsste er um das Kap der guten Hoffnung. Und dieses Seegebiet ist tückisch und eine Umrundung ist immer mit Risiken verbunden.“

„Könnten sie vielleicht noch etwas präziser antworten, Watanabe?“, fragte Yoshihito.

„Euer Hoheit, in diesen Gewässern können aus dem Nichts Wellen auftauchen, die höher als 10 Meter sind. Stellen sie sich eine solche Welle vor. Gegen eine solche Wasserwand ist die DIANA eine Nussschale. Das Schiff würde von den Wassermassen zum Kentern gebracht und unter Wasser gedrückt.“

„Ich habe schon von solchen Wellen gehört. Aber das ist doch alles Seemannsgarn.“, sagte der Kaiser.

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich habe selbst eine solche Welle gesehen, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich erinnere mich, dass ich damals mit meinem Vater und meinem Großvater zum Fischen rausgefahren bin. Das Wetter war top. Sonne, blauer Himmel und kein Wind. Perfekte Bedingungen zum Fischfang. Etwa 40 Meter von uns entfernt befand sich ein weiteres Fischerboot. Es war die „Keiko“. Das Boot war nicht größer als unseres. Und urplötzlich, wie von Geisterhand herbeigezaubert war da auf einmal diese riesige Welle. Sie war mindestens 20, 25 Meter hoch. Diese Wasserwand ist über der Keiko hereingebrochen. Unser Boot hat es auch erwischt. Aber im Gegensatz zu den Männern auf der Keiko hatten wir noch Glück und kamen mit dem Leben davon.“

Togo Heihachiro sah seinem Adjutanten an, dass ihn dieses Ereignis damals 134

sehr mitgenommen hatte.

„Wie alt waren sie damals, Watanabe?“, fragte er vorsichtig.

„Ich war 10.“

Kapstadt, Südafrika, 15 Juni 1916, 3:15 Uhr Ortszeit

Um 3:15 Uhr lief die DIANA aus Kapstadt aus. Wladimir Wladimirowitsch Scheltinga wusste, dass sein erste Offizier Juri Kamarov recht hatte. Wenn bei der Umrundung des Kaps der guten Hoffnung eine solche Monsterwelle auftauchte, war das Schiff verloren. Aber es gab keinen anderen Weg vom indischen Ozean in den Atlantik. Sie mussten es versuchen.

Doch dieses Mal war Fortuna den Russen nicht wohl gesonnen. Denn als der russische geschützte Kreuzer gerade den schützenden Hafen verlassen hatte, entdeckte der Kommandant der Katsura, eines japanischen Zerstörers der Kaba-Klasse, die Rauchwolken des russischen Kreuzers. Normalerweise hätte er seine Entdeckung sofort an die Hiei weitermelden müssen, doch eigensinnig wie er war, wollte der japanische Kapitän die Lorbeeren alleine kassieren. Er wusste, dass ihm nur dann eine Beförderung winkte, wenn er ein Erfolgserlebnis vorzuweisen hatte. Also heftete sich der japanische Kommandant an die Fersen des russischen Kriegsschiffes. Auf der Hiei war das natürlich nicht unbemerkt geblieben. Man hatte der Katsura sogar per Lichtsignal befohlen wieder auf ihre alte Position zurückzukehren. Doch deren Kommandant hatte den Befehl missachtet. Die Hiei meldete diesen Vorfall sofort nach Tokyo, denn eine solche Insubordination durfte nicht ungestraft bleiben.

Bei der Umrundung des berüchtigten Kaps der guten Hoffnung hatte zumindest die DIANA Fortuna auf ihrer Seite, während ihr Verfolger nicht soviel Glück hatte. Denn als der japanische Zerstörer den Leuchtturm bei Cape Point passierte, tauchte aus dem Nichts eine Monsterwelle auf, die 30 Meter hoch war. Die Katsura sendete zwar noch SOS aber es war zu spät. Die Welle begrub das Schiff unter sich, brachte es zum Kentern, und drückte das japanische Kriegsschiff unter Wasser.

Tokyo, Admiralität, Japan

Admiral Togo Heihachiro saß gerade an seinem Schreibtisch und hatte einen Schluck japanischen Reisweins, Sake genannt, getrunken, als es wieder an seiner Tür klopfte.

„Wird wieder Watanabe sein.“, dachte er.

Mit einem lauten „Herein!“, erteilte der Flottenchef seinem Besucher einzutreten. Takahito Watanabe trat ein.

„Sie sollten sich doch ausruhen, Watanabe.“, sagte der Flottenchef. 135

„Tut mir leid, Admiral. Aber… ich konnte nicht schlafen. Außerdem sind gerade diese beiden Meldungen rein gekommen. Ich dachte, sie wüssten gerne sofort bescheid.“

Mit diesen Worten reichte der Adjutant seinem Vorgesetzten die beiden Funksprüche.

„Danke, Watanabe. Und jetzt legen sie sich wieder hin und schlafen sich mal aus. Sie haben die letzten Tage genug gearbeitet.“, sagte Togo Heihachiro.

„Ja, Admiral.“

Nachdem Admiral Heihachiros Adjutant das Büro verlassen hatte, kam ein Kurier des Flottenkommandos in das Büro gestürmt. In der Hand hatte er einen weiteren Funkspruch. Togo Heihachiro sah dem Mann an, dass er ganz außer Atem war.

„Wo brennts denn?“, fragte er.

„Admiral, einer unserer Zerstörer, die Urakaze, hat zwei Überlebende der Katsura aus dem Wasser gefischt. Den ersten Offizier und den Funker.“

„Wie geht es denn Männern?“, wollte der Admiral wissen.

„Den Umständen entsprechend gut. Sie befinden sich zurzeit in Kapstadt im Krankenhaus. Sobald sie transportfähig sind, sollen sie nach Japan zurückkehren.“

„Sind die Männer ansprechbar, oder wenigstens einer von den beiden?“, wollte der Admiral wissen.

„Bedauerlicherweise muss ich verneinen, Admiral.“

„Na schön. Sobald die beiden Männer wieder nach Japan zurückkehren können sagen sie bitte meinem Adjutanten bescheid.“, sagte der Flottenchef.

„Jawohl, Admiral.“

Buenos Aires, Argentinien, 19.06.1916

Um Mitternacht hatte die DIANA den Hafen der argentinischen Hauptstadt erreicht. Und dieses Mal hatte sie es gerade so geschafft. Denn die letzte Schaufel Kohle war schon viel früher verfeuert worden. Die Feuer in den Kesseln waren schon teilweise heruntergebrannt und lieferten kaum noch genug Hitze um den entsprechenden Druck für die Dampfmaschine zu erzeugen. Kapitän Scheltinga musste ein weiteres Mal bunkern. Aber auch wenn das Einlaufen des russischen Kreuzers nicht bemerkt worden war, spätestens bei Tagesanbruch würden japanische Agenten Bescheid wissen und Tokyo vom erfolgreichen Durchbruch der DIANA in Kenntnis setzen.

Sankt Petersburg, Admiralität, Russland

Admiral Alexander Koltschak saß gerade an seinem Schreibtisch und studierte einige Berichte. Neben ihm auf dem Schreibtisch stand wie immer seine Tasse mit schwarzem Tee. Er sah von seinem Stapel Papiere auf, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte Alexander Wassiljewitsch Koltschak.

Sein Adjutant, Leutnant Juri Marganin, betrat den Raum.

„Ah, Marganin. Haben sie Neuigkeiten für mich?“, sagte der russische Flottenchef.

„Admiral, unser Schiff der geschützte Kreuzer DIANA hat es bis nach Buenos Aires geschafft.“

„Sollte die DIANA nicht nach Valparaíso durchbrechen?“, fragte Admiral Koltschak.

„So lautete ihr Befehl. Aber es musste noch zweimal gebunkert werden.“

Juri Marganin trat an die große Weltkarte und markierte die Häfen, in denen die DIANA gebunkert hatte.

„Sydney und Kapstadt. Zugegeben von Neuseeland nach Australien ist es nicht weit. Aber wie haben es Kapitän Scheltinga und seine Mannschaft bis nach Südafrika geschafft?“, sagte Alexander Koltschak.

Die Antwort seines Adjutanten verblüffte ihn.

„Sie haben die DIANA bis unter den Rand mit Kohlen vollgestopft. Sonst hätten sie es wohl nicht geschafft.“

„Wann kam die Meldung, über das Einlaufen der DIANA in Buenos Aires?“, fragte der Admiral.

„Vor 10 Minuten. Unser Schiff ist um 0:00 Uhr Ortszeit, in Buenos Aires eingelaufen. Und dieses Mal wäre es fast in einem Fiasko geendet. Ein japanischer Zerstörer, die Katsura, hat die DIANA entdeckt und die Verfolgung aufgenommen. Aber man hört seit geraumer Zeit nichts mehr von ihr.“

„Hat die Katsura die Verfolgung vielleicht abgerochen?“, fragte Admiral Koltschak.

„Nein, Admiral. Die Katsura wurde am Kap der guten Hoffnung bei Cape Point von einer Monsterwelle getroffen und ist gesunken. Nur zwei Leute haben überlebt. “ 136

„Wenigstens ist unser Schiff durchgekommen.“, sagte Alexander Wassiljewitsch Koltschak.

Dann wandte er sich an seinen Adjutanten.

„Machen sie einen Funkspruch für die DIANA fertig.“, sagte er.

„Was soll ich schreiben, Admiral?“

„An Kapitän Waldimir Scheltinga:

Wir gratulieren ihnen zum erfolgreichen Durchbruch nach Buenos Aires. Bunkern sie und laufen so schnell es geht wieder aus. Nehmen sie die Passage durch den Panamakanal. Fassen sie wie befohlen in Valparaíso neue Kohlen und dann kommen sie nach Hause. Viel Glück weiterhin.“, diktierte der Admiral.

Kapstadt, Südafrika

Der japanische Schlachtkreuzer Hiei, dem die DIANA zweimal hatte entkommen können, lag im Hafen. Aus Tokyo war die Nachricht gekommen, dass man das Schiff nach Hause beordert hatte. Auch die Urakaze, der Zerstörer, der den ersten Offizier der Katsura und einen der Funker gefunden hatte, war nach Hause beordert worden. Beide Schiffe sollten in Sydney und in Surabaya bunkern und dann in Richtung Japan laufen. Außerdem sollte die Hiei die beiden Überlebenden des Untergangs der Katsura an Bord nehmen.

Buenos Aires, Argentinien

Es war Mittag, als man die Bekohlung und die Verproviantierung der DIANA abgeschlossen hatte. Kurz zuvor hatte Admiral Koltschaks Befehl den Kreuzer erreicht. Kapitän Scheltinga hatte daraufhin die Offiziere zu einer neuen Besprechung zusammengerufen. Bevor er diese eröffnete hatte er den Offizieren den Funkspruch aus Sankt Petersburg vorgelesen.

„Nun, meine Herren, ich würde sagen, unser Befehl ist eindeutig. Wir sollen nach Hause zurück.“, sagte der Kapitän.

„Das gebe ich ihnen Recht, Kapitän, aber wir sollten unser Schiff in Valparaíso überholen lassen. Ich kann sonst nicht garantieren, dass unsere Maschine durchhält.“

Diese Mahnung kam vom Leitenden Ingenieur.

„Was meinen sie, Gospodin Kamarov?“, fragte Wladimir Scheltinga seinen ersten Offizier.

„Ich muss dem LI beipflichten. Es wäre nicht gerade berauschend, wenn uns auf hoher See die Maschine ausfallen würde.“ 137

„Hat sonst noch jemand etwas zu sagen?“, fragte der Kapitän in die Runde.

Der zweite Offizier hob die Hand.

„Bitte, Gospodin Moskrovnovitch.“, sagte der Kapitän.

„Kapitän, es kursiert das Gerücht, dass die Japaner das Schlachtschiff Fusō vor die chilenische Küste beordert haben, um uns abzufangen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf sie stoßen?“

„Da wir angewiesen wurden, die Passage durch den Panamakanal zu nehmen, werden wir wahrscheinlich oberhalb der chilenischen Küste herauskommen. Die Japaner werden wahrscheinlich davon ausgehen, dass wir das Kap Hoorn umrunden werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf die Fusō treffen ist also gering. Ist ihre Frage damit beantwortet? “, sagte Wladimir Wladimirowitsch Scheltinga.

„Da.“

Um 12:30 Uhr lichtete die DIANA die Anker und verließ die argentinische Hauptstadt und nahm Kurs auf den Panamakanal. Wieder hatte man das Schiff bis unter den Rand mit Kohlen vollgepackt. Kapitän Scheltinga wollte erneut kein Risiko eingehen. Außerdem wollte er nicht dafür verantwortlich sein, wenn sich der Schiffsverkehr im Kanal staute.

Valparaíso, Chile, 23.06.1916

Um 0:15 Uhr hatte seiner Majestät Schiff der russische geschützte Kreuzer DIANA sein Ziel erreicht. Und wieder war es knapp gewesen. Ein einziges Kohlebrikett war noch übrig. Der Kreuzer wurde sofort in die Werft gebracht und die Arbeiter begannen mit der Überholung des russischen Kriegsschiffes.

Sankt Petersburg, Admiralität, Russland

Admiral Koltschak war gerade in seinem Büro angekommen, als es auch schon an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte er, obwohl er genau wusste, wer etwas von ihm wollte.

Sein Adjutant Juri Marganin trat ein.

„Was gibt’s denn, dass sie sich schon so früh herbemühen, Marganin?“, fragte der Admiral.

„Admiral, gerade kam eine Nachricht von der DIANA. Sie hat es bis nach Valparaíso geschafft.“

„Das sind doch schon mal gute Nachrichten.“, sagte Alexander Koltschak. 138

Sein Adjutant räusperte sich.

„Mit Verlaub, Admiral, so gut sind die Nachrichten auch wieder nicht. Die DIANA liegt zurzeit in Valparaíso im Dock und wird überholt. Offenbar hat die Maschine einiges mitgemacht.“

„Verstehe, Marganin. Wie lange wird die Reparatur der DIANA dauern?“, wollte der Flottenchef wissen.

„Kapitän Scheltinga schätzt 2 – 3 Tage. Aber er geht eher von 4 Tagen aus.“

Tokyo, Admiralität, Japan

Admiral Togo Heihachiro hatte gerade die zu unterschreibenden Dokumente erledigt, als es an der Tür seines Büros klopfte. Er wusste, dass sein Adjutant draußen wartete.

„Treten sie ein, Watanabe.“, sagte der Admiral.

„Admiral, die DIANA hat Valparaíso erreicht.“

Admiral Heihachiro sprang von seinem Stuhl auf.

„Wann?“, fragte er aufgeregt

„Um 0:15 Uhr chilenischer Zeit ist sie in den Hafen eingelaufen.“

„Wie haben die Russen das fertig gebracht, Watanabe?“, kam wie aus der Pistole geschossen, die nächste Frage des Admirals.

„Sie haben die Passage durch den Panamakanal genommen, wie ich vermutet hatte.“

„Deswegen hat die Fusō also keine Sichtungsmeldung gesendet. Weiß man, wann die DIANA Chile wieder verlassen wird?“, sagte Togo Heihachiro.

„Zurzeit liegt die DIANA in Valparaíso zur Reparatur im Dock. Es wird mindestens drei Tage dauern, bis sie wieder voll einsatzbereit ist.“

„Danke, Watanabe. Und jetzt senden sie einen Funkspruch an die Fusō, sie sollen die Augen offen halten.“

„Jawohl, Admiral.“

Valparaíso, Chile, 28.06.1916

Der russische geschützte Kreuzer DIANA war wieder einsatzbereit. Die Überholung des Schiffes hatte einen Tag mehr in Anspruch genommen, als ursprünglich geplant. Doch nun war das Schiff wieder flott und bereit wieder in See zu stechen, um die letzte Etappe in Angriff zu nehmen. Die Reise in die 139

Heimat. Es war noch dunkel, als die DIANA aus Valparaíso aus. Doch dieses Mal hatte Fortuna beschlossen, das Schiff im Stich zu lassen. Denn als der russische Kreuzer die chilenischen Hoheitsgewässer hinter sich gelassen hatte, schlugen zwei 35,56-cm-Granaten des japanischen Schlachtschiffes Fusō vor dem Bug der DIANA ins Wasser.

An Bord der DIANA

Juri Kamarov, der erste Offizier kam auf die Brücke gestürmt.

„Kapitän! Die Fusō hat uns gerade eben per Lichtsignal signalisiert.“, sagte er aufgeregt.

„Was sagt die Fusō, Gospodin Kamarov?“

„Kreuzer DIANA, Kreuzer DIANA, HALT! Bleiben sie wo sie sind, oder wir eröffnen das Feuer.“ Kapitän ich glaube die wollen zu uns an Bord.“, sagte der erste Offizier.

„Gegen das japanische Schlachtschiff können wir keinen Blumentopf gewinnen, Gospodin Kamarov. Drehen sie ab und dann nebeln.“

„Welcher Kurs, Kapitän?“, fragte der Rudergänger.

„Kurs 170.“

„Kurs 170. Zu Befehl, Kapitän“, bestätigte der Rudergänger den Befehl des Kommandanten.

Die DIANA ging auf den neuen Kurs.

An Bord der Fusō

Der japanische Kommandant sah durch sein Fernglas. Und was er sah, erfreute ihn gar nicht. Die Russen klemmten den Schwanz ein und flohen, anstatt zu kämpfen. Und das zeigte ihm einmal mehr, dass die Russen keine Ehre hatten. Doch es kam nicht infrage, den russischen Kreuzer entkommen zu lassen. Er hatte seine Befehle. Und die lauteten, die DIANA unter allen Umständen auf den Meeresboden zu schicken. Also gab er den Befehl, das Feuer auf den fliehenden Kreuzer zu eröffnen.

An Bord der DIANA

Auf der Brücke des russischen Kreuzers hatte man den Angriff der Japaner mitbekommen. Kapitän Scheltinga befahl deshalb „VOLLE KRAFT VORAUS!“ Sofort beschleunigte der kleine Kreuzer und vergrößerte die Entfernung zwischen sich und dem japanischen Schlachtschiff.

An Bord der Fusō 140

Noch einmal ließ der Kapitän der Fusō eine Salve abfeuern und zwei der zwölf 35,56-cm-Granaten trafen ihr Ziel. Eine detonierte am Heck und zerstörte den achteren Geschützturm. Die zweite traf den letzten der drei Schornsteine und riss ihn von seinem Platz, sodass er über Bord ging.

An Bord der DIANA

Die beiden Granattreffer erschütterten das Schiff. Wladimir Scheltinga sah, wie der Schornstein über Bord ging.

„Setzen sie die Nebelmaschine ein. Noch so ein Treffer und wir brennen wie eine Wunderkerze.“, befahl er.

Sofort stieg vom Heck des Schiffes dichter Nebel auf, der die DIANA verdeckte. Denn die Granate hatte den Nebelgenerator verfehlt.

An Bord der Fusō

Der Kommandant des japanischen Schlachtschiffes fluchte. Diese verdammten Russen zeigten einmal mehr, dass sie Hasenfüße waren. Jetzt verbargen sie ihr Schiff sogar hinter einem Nebelvorhang. Kapitän zur See Mukai Yaichi war schon drauf und dran, die Verfolgung des flüchtigen Schiffes aufzunehmen denn sein Schiff war der DIANA was Geschwindigkeit und Feuerkraft anging haushoch überlegen, dennoch er musste auch auf seine Kohlenvorräte achten. Außerdem wusste er, dass sich noch ein japanisches U-Boot, die O3 in diesen Gewässern aufhielt. Sollte sich deren Besatzung doch darum kümmern, den russischen Kreuzer zu versenken.

Um die Mittagszeit hatte die DIANA dann die äußeren Ausläufer des Riffs erreicht, dass die Kleeblattinsel umgab. Hier hatte ein Teil der Besatzung, darunter der erste Offizier, das Schiff gewechselt und war auf die AURORA, ein Schwesterschiff der DIANA umgestiegen. Auch hatte man von einem Kohlentender, der die AURORA begleitet hatte einige Tonnen Kohlen übernommen. Die DIANA dampfte weiter. Doch auf die Gefahr, die unter Wasseroberfläche lauerte, achtete von der verbliebenen Besatzung niemand.

An Bord von O3

Der Kommandant des japanischen U-Bootes sah durch sein Periskop. Als er die DIANA entdeckte ordnete er sofort den für alle weltweit operierenden U-Bootfahrer den obligatorischen Gegencheck im internationalen Nachschlagewerk Dr. Janes Fighting Ships an. Als dieser erfolgt war, entschloss sich der Kommandant, die DIANA anzugreifen.

„Geschwindigkeit: 19 Knoten. Entfernung: 800 Meter.“, gab der Kommandant an den Torpedoraum weiter.

Von dort kam die Bestätigung. 141

„Geschwindigkeit 19 Knoten, Entfernung 800 Meter.“

„Rohr 1 – 4 laden und bewässern.“, befahl er.

Aus dem Torpedoraum kam die Bestätigung.

„Rohr 1 – 4 geladen und bewässert.“

„Mündungsklappen öffnen.“, befahl der japanische U-Boot-Kommandant.

„Mündungsklappen sind auf.“

„Rohr Eins: LOS!“, befahl der Kapitän.

Aus dem Torpedoraum kam die Bestätigung.

„Rohr Eins los.“

Im Abstand von 30 Sekunden folgten dann die restlichen drei Torpedos.

An Bord der DIANA

Der Mann im Ausguck entdeckte als erster die vier Blasenspuren der von O3 abgefeuerten Torpedos. Doch er erkannte schnell, dass die ersten drei vor dem Bug des russischen Kreuzers vorbeigehen würden. Trotzdem gab er Alarm.

An Bord von O3

Der Kommandant fluchte. Der erste Torpedo war gerade vor dem Bug der DIANA vorbeigegangen. Auch der zweite und der dritte hatten sich als Blindgänger entpuppt.

An Bord der DIANA

Eine Detonation erschütterte das Schiff, als der vierte und letzte Torpedo den russischen Kreuzer traf. Kapitän Scheltinga befahl sofort, die Schotten zu schließen, um einen gefährlichen Wassereinbruch zu verhindern. Die DIANA hatte nach dem die erste Kammer überflutet war 8 ° Schlagseite. Dies führte dazu, dass man die Geschwindigkeit von 19 auf 9,5 Knoten herabsetzen musste, um eine drohende Katastrophe zu verhindern.

An Bord von O3

Der japanische U-Boot-Kapitän sah mit Genugtuung, das wenigstens der vierte Torpedo noch getroffen hatte. Doch die DIANA hatte er damit nicht versenken können. Aber wenigstens hatte er den russischen Kreuzer beschädigt.

An Bord der DIANA

Die Herabsetzung der Geschwindigkeit führte dazu, dass sich das 142

angeschlagene Schiff schwerer manövrieren ließ. Die Katastrophe war damit unvermeidbar. Um 13:30 Uhr passierte das Unheil. Der russische geschützte Kreuzer DIANA streifte mit der Steuerbordseite das Riff, wobei der Rumpf auf einer Länge von 60 Metern aufgerissen wurde. Auch vier der fünf Schotten, die die wasserdichten Abteilungen voneinander trennten, wurden schwer beschädigt . Das Wasser drang so schnell in das Schiffsinnere, das die Zeit gerade noch ausreichte, um ein Rettungsboot zu Wasser zu lassen, in das sich auch der zweite Offizier der DIANA Jewgeni Moskrovnovitch retten konnte. Die anderen sprangen über Bord. Nur Kapitän Scheltinga blieb allein auf der Brücke zurück.

Das Rettungsboot des russischen Kreuzers war gerade so weit von dem sinkenden Schiff entfernt, dass es nicht vom Sog erfasst werden konnte, als einer der Insassen einen starken Ammoniakgeruch wahrnahm.

„Hast du was verschüttet, Briderchen?“, sprach er seinen Nebenmann an.

Dieser schüttelte den Kopf und verneinte.

Doch mit dem, was als nächstes geschah, rechnete niemand. Das Boot wurde hochgehoben und dann auf den Kopf gestellt. Jewgeni Moskrovnovitch durchbrach die Wasseroberfläche. Rings um ihn herum war die See aufgewühlt. Er bekam einen Schreck, als ein gigantischer Tentakel aus dem Wasser schoss, den leitenden Ingenieur packte und ihn unter Wasser zog. Eine Planke trieb vorbei, an der sich Jewgeni festklammerte. Eine Welle trug den Russen über das Riff und spülte ihn an den Strand.

Jewgeni Moskrovnovitch blickte zum Himmel auf, an dem dunkle, schwarze Wolken aufzogen. Er wusste, dass ein Unwetter aufziehen würde. Und genau wie einen Monat zuvor Dirk Hemmler, suchte auch er in einer Höhle Schutz. Als er von seinem Unterschlupf auf das offene Meer blickte, sah in der Ferne das Heck der DIANA in den Fluten des Meeres versinken. Tränen stiegen dem zweiten Offizier in die Augen, als er hilflos mit ansehen musste, wie das Schiff, dass einmal seine zweite Heimat gewesen war, für immer in den Fluten versank.

Als ein Wasserschwall an die Oberfläche stieg, fing Jewgeni Moskrovnovitch an zu weinen. Er wusste, dass er nun auf sich allein gestellt war. Doch was, wenn die Insel bewohnt war? Sprachen die Einheimischen überhaupt seine Sprache? Und selbst wenn Jewgeni sich mit ihnen verständigen konnte, wer garantierte ihm, dass die Einwohner der Insel ihm nicht feindselig gesinnt waren, und ihn am Ende töteten? Vielleicht waren es auch Kannibalen.

Das Unwetter wütete ganze vier Tage. Am fünften Tag, es war Montag, der 03.07.1916, fand eine berittene Patrouille den Schiffbrüchigen. Der Russe bemerkte sie, als die Soldaten im Halbkreis um ihren herum standen. Sie waren mit starken Harnischen und Langschwertern bewaffnet. Auf den Schilden konnte Jewgeni Moskrovnovitch einen Delfin erkennen, der vor einer untergehenden Sonne aus dem Wasser sprang.

Der Anführer, den Abzeichen nach ein Hauptmann oder ein Feldwebel stieg 143

von seinem Pferd und ging auf den Russen zu. Er musterte den Fremden eine Zeitlang. Der Mann, der vor ihm im Sand kniete war 1,65 groß und hatte einen athletischen Körperbau. Das Haupthaar des Mannes war blond.

„Zeig mir dein Gesicht, Fremder.“, befahl der Soldat in einem unfreundlichen Tonfall.

Als Jewgeni Moskrovnovitch nicht sofort gehorchte, hielt ihm der Gardist sein Schwert an die Kehle.

„Zum letzten Mal, Fremder. Ich will dein Gesicht sehen. Und wenn du jetzt nicht tust, was ich sage, dann kommt dich das teuer zu stehen. Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Fremder?“, sagte der Soldat.

Jewgeni nickte und hob seinen Kopf. Der Soldat sah in ein ovales Gesicht mit rotgeweinten, braunen Augen, das am Kinn von einem blonden Vollbart bedeckt wurde. Die Nase hätte der Gardist als guten Durchschnitt bezeichnet. Anhand der Kleidung des Schiffbrüchigen erkannte der Soldat sofort, dass er einen Offizier vor sich hatte. Diese bestand aus einer schwarzen Uniform und den dazugehörigen Socken und Schuhen.

„Steh auf!“, befahl der Soldat unwirsch.

„Mir scheint, du weißt nicht, mit wem du dich hier anlegst, Briderchen.“

„So? Mit wem habe ich denn die Ehre?“, fragte der Soldat höhnisch.

„Jewgeni Moskrovnovitch. Zweiter Offizier auf seiner Majestät Schiff DIANA.“

„Oho. Zweiter Offizier also. Warum nicht erster Offizier? Bist du dafür etwa nicht gut genug, oder was?“, fragte der Soldat spöttisch.

Doch plötzlich ertönte hinter ihm eine Frauenstimme.

„Es reicht jetzt!“, sagte die Frau.

Der Soldat sah Jewgeni in die Augen.

„Das ist Königin Eliska. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann geh vor ihr auf die Knie. Ich werde nicht zögern und dich töten, wenn du ihr den ihr zustehenden Respekt verweigerst.“

Die Königin trat nun dem Russen gegenüber. Dieser zeigte sofort den Kniefall und senkte demütig das Haupt.

„Du kniest vor niemandem mehr nieder.“, sagte Königin Eliska mit einer warmen, freundlichen Stimme.

Der Anführer der Patrouille wollte aufbrausen, doch seine Gebieterin 144

schnitt ihm mit einer entsprechenden Geste das Wort ab.

„So behandelst du keinen Fremden mehr, der meine Gastfreundschaft genießt, Ture. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“, sagte die Königin und bedachte den Soldaten mit einem wütenden Blick. Die Königin trat zurück um den Neuankömmling genauer zu betrachten.

Jewgeni Moskrovnovitch sah sie ebenfalls an. Vor ihm stand eine1,68 m große Frau mit einem hübschen ovalen Gesicht und wunderschönen braunen Augen, die Freundlichkeit und Güte ausstrahlten. Ihre hellbraunen Haare trug sie offen, sodass sie bis zu ihren Brüsten reichten. Ihren Körper hätte kein Bildhauer besser zu gestalten vermocht. Ihre Nase war etwas breit, aber nicht zu breit. Bekleidet war Königin Eliska mit einem schwarzen Minikleid, trug aber keine Schuhe.

„Wie ist dein Name, Fremder?“, fragte die Königin.

„Jewgeni Moskrovnovitch. Ich war der zweite Offizier auf dem geschützten Kreuzer DIANA.“

„Willkommen auf Oamaru, Jewgeni Moskrovnovitch.“, sagte die Königin, um dann fortzufahren: „Und woher kommst du?“

„Aus Murmansk, Hoheit.“

„Ich nehme an, dass du Russe bist.“, sagte die Königin.

Jewgeni nickte stumm.

„Danke, Iduna.“, sagte Eliska und blickte zum wolkenlosen Himmel auf.

„Bitte um Verzeihung, Hoheit, aber… wer ist Iduna?“

„Das geht dich nichts an.“, sagte Ture barsch.

Doch seine Herrin wies ihn erneut zu Recht.

„Halt den Mund, Ture. Ich hab dir gerade eben was gesagt. Noch so eine unverschämte Bemerkung gegenüber meinem Gast und ich werde dich degradieren.“, sagte Eliska streng.

Dann wandte sie sich an Ture.

„Gib ihm dein Pferd, Ture.“, befahl sie.

„Niemals. Das ist mein Pferd. Es ist ein Geschenk meines Vaters. Niemand außer mir darf darauf reiten.“

Als Antwort gab ihm die Königin eine kräftige Ohrfeige. 145

„Ich warne dich ein letztes Mal, Ture. Noch so eine Insubordination, und du wirst unehrenhaft aus meinen Diensten entlassen.“, sagte sie drohend.

Einer der anderen Soldaten räusperte sich.

„Willst du etwas sagen, Meandor?“

„Mit Verlaub, Hoheit,… euer Gast könnte doch das Packpferd nehmen. Ich könnte es satteln, wenn ihr es wünscht.“, sagte Meandor.

„Einverstanden. Sattle das Pferd. Dann kehren wir in den Palast zurück.“

Ture wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch er biss sich noch rechtzeitig auf die Lippe. Denn er wusste genau, dass er jetzt einen schweren Stand bei seiner Herrin hatte. Und er wusste auch, dass die Königin ihren Worten auch Taten folgen ließ.

Meandor sattelte das Packpferd, einen stattlichen Fuchs, und brachte es zu Jewgeni.

„Nimm es Ture nicht übel. Er ist vorsichtig und das trübt oft sein Urteil.“, sagte er leise.

Dann kehrte man in den Palast zurück. An der Spitze ritt die Königin. Dann folgte Jewgeni Moskrovnovitch. Dahinter die Soldaten, deren Anführer Ture ein ziemlich finsteres Gesicht machte. Er konnte den Fremden partout nicht ausstehen. Am liebsten hätte er diesen widerwärtigen Fremdling ordentlich verprügelt, aber Königin Eliska hielt ihre schützende Hand über den Schiffbrüchigen, indem sie ihm ihre Gastfreundschaft gewährte. Und solange das so blieb, durfte er keine Hand an den Mann legen.

Im Palast angekommen, wies die Königin ihre Diener an, ein Bad für den einzigen Überlebenden des Untergangs des russischen Kreuzers vorzubereiten. Dann befahl sie Ture zu sich. Als dieser ihr Arbeitszimmer betrat, hatte die vierte Königin Oamarus ihm den Rücken zugewandt. Dann drehte sie sich zu ihm um und sah ihn aus ihren braunen Augen böse an.

„Was du dir heute am Strand geleistet hast, war zu viel des Guten, Ture. Dein Verhalten ist mir schon seit einiger Zeit ein Dorn im Auge.“, sagte Eliska.

„Hoheit, wir kennen den Mann nicht.“

„Das ist egal. Er ist mein Gast. Und nur damit du bescheid weißt: Du scheidest mit sofortiger Wirkung aus meinen Diensten. Weil du mir die ganzen Jahre aber treu und loyal gedient hast, will ich dich in allen Ehren verabschieden.“, sagte Königin Eliska.

Die Königin seufzte, ehe sie weitersprach. 146

„Obwohl du es eigentlich gar nicht verdient hast. Du hast heute in Gegenwart meiner Soldaten meine Autorität infrage gestellt. Normalerweise müsste ich dich dafür hinrichten lassen. Dass ich davon absehe, ist einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass deine Frau ein Kind erwartet und sie dich braucht. Und jetzt geh, Ture. Morgen früh, wirst du mit einer Parade aus meinen Diensten verabschiedet.“, sagte Eliska.

Später am Abend bat Königin Eliska ihren Gast zum Abendessen. Jewgeni Moskrovnovitch wollte sich ans andere Ende des Tisches setzen, so wie er es von diversen Empfängen im Offizierskasino gewohnt war, doch die Königin bestand darauf, dass er neben ihr saß, denn sie wies ihm den Platz zu ihrer Linken zu. Dann läutete sie mit einem kleinen Glöckchen. Ihr persönlicher Diener erschien daraufhin.

„Euer Hoheit haben geläutet?“, fragte er nach einer Verbeugung.

„Du kannst das Abendessen servieren, Vongsa.“

„Wie ihr wünscht, meine Königin.“, sagte der Diener und verschwand.

Kurz darauf kam er mit einer Salatschüssel zurück und gab jedem etwas auf den Teller.

„Die Suppe wird bald fertig sein. Darf ich der übrigen Dienerschaft etwas von dem Salat abgeben, Hoheit?“, fragte Vongsa dann.

„Natürlich.“

Jewgeni probierte unterdessen ein Stück Salatgurke und stellte erstaunt fest, dass es aromatischer schmeckte, als er das zu Hause in Russland kannte.

„Wirklich hervorragend.“, sagte er.

„Freut mich, dass es dir schmeckt.“

Vongsa trug die Suppe auf und gab jedem etwas auf den Suppenteller.

„Der Hauptgang ist in 10 Minuten fertig. Darf ich mich bis dahin zurückziehen, meine Königin?“, sagte er.

„Wie lange dienst du mir schon, Vongsa?“

„Fast mein ganzes Leben, euer Hoheit.“, sagte der Diener.

„Dann solltest du mich doch mittlerweile gut genug kennen um zu wissen, dass ich kein Leuteschinder bin, wie Tosh Kamar.“

Jewgeni Moskrovnovitch wurde hellhörig.

„Wer ist dieser Tosh Kamar, von dem ihr gerade gesprochen habt, 147

Hoheit?“, fragte er, als Eliskas Diener sich entfernt hatte.

„Alles zu seiner Zeit. Noch heute sollst du alles erfahren, was du wissen musst.“

Das Hauptgericht, Vongsa servierte Thunfischsteak mit Kräuterbutter und Rosmarinkartoffeln, schmeckte ebenfalls sehr delikat, wie Jewgeni erfreut feststellte. Auch das Dessert, bestehend aus gebratenen Bananen mit Honig, war ebenfalls eine Wucht.

Nach dem Abendessen führte Königin Eliska Jewgeni in die Bibliothek, und bat ihn, noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken. Der Russe willigte mit Freuden ein. Jewgeni Moskrovnovitch staunte nicht schlecht, als er all die Regale voll mit Büchern sah. Seine Gastgeberin sah unterdessen durch eines der großen Fenster auf das Meer hinaus. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Doch dann brach die vierte Königin der Kleeblattinsel das Schweigen.

„Du hast am Strand nach Iduna und beim Abendessen nach Tosh Kamar gefragt. Ich will dir alles sagen, was wichtig ist. Iduna ist die oberste Göttin unserer Inselwelt. Der Tempel, der sich im Herzen von Oamaru befindet, ist ihr geweiht.“, sagte sie.

„Und was ist mit Tosh Kamar?“

„Wir leben in Furcht vor ihm. Zwei Monate nach seiner Verbannung, ist dieses Scheusal wieder aufgetaucht und hat diese Insel mit einem Fluch belegt. Wenn unser allerheiligstes, der Feueropal, nicht binnen 5.000 Monden wieder in Idunas Tempel zurückgebracht wird, dann wird Tosh Kamars Riesenkalmar unsere schöne Insel in die Tiefe ziehen.“, sagte Eliska.

„Und wer soll den Feueropal wieder zurückbringen?“

„Vier müssen ausziehen und den Opal wiederfinden, um ihn in den Tempel zurückzubringen. Ein Deutscher, ein Russe, ein Schwede und ein Engländer. Du bist einer dieser auserwählten.“, sagte die Königin.

„Und wer sind die anderen?“

„Der Deutsche ist schon hier. Er heißt Dirk Hemmler und war Heizer der GOEBEN.“, sagte Eliska.

„Der Mann ist mein Feind, meine Königin. Ihr könnt nicht von mir verlangen, dass ich mit ihm zusammenarbeite.“

Eliska drehte sich um.

„Nur damit wir uns klar verstehen, Jewgeni. Hier auf dieser Insel und speziell in diesem Schloss bist du niemandem mehr Gehorsam schuldig. Außerdem ist das mein Haus und hier gelten meine Gesetze. Als mein Gast brauchst du mich nicht zu siezen und mich mit meinem Titel ansprechen.“, sagte sie dann. 148

„Aber draußen ist Krieg. Unsere Nationen sind miteinander verfeindet. Wie kann ich Dirk Hemmler vertrauen, und er mir?“

„Ihr müsst euch vertrauen, wenn ihr wieder auf die Kleeblattinsel zurückkehren wollt. Alleine wird es keiner von euch schaffen, den Opal zurückzubringen.“, sagte Eliska um dann wieder zum Fenster hinauszusehen.

In diesem Augenblick begann die Sonne unterzugehen, und den Himmel blutrot zu färben.

„Es fängt an.“, sagte Eliska.

„Was?“

„Die Sonne fängt an unterzugehen. Gleich wird Tosh Kamars Riesenkalmar aus den Fluten auftauchen und die See aufwühlen.“

Jewgeni war nun neben sie getreten und sah mit ihr aus dem Fenster. In diesem Augenblick tauchte der Riesenkalmar auf und peitschte mit seinen Tentakeln und seinen beiden Fangpeitschen auf das Wasser. Die ruhige See war nun ein Hexenkessel. Jewgeni wurde an die Ereignisse an jenem Tag erinnert, als sein Schiff auf dem Riff gestrandet war, dass die Insel umgab, auf der man ihn so freundlich willkommen geheißen hatte.

„Gott, was für ein Monster!“, entfuhr es ihm.

„Ist er auch an dem Tag erschienen, als du hierher kamst?“

Eliska sah ihren Gast fragend an.

Der Russe nickte.

„Ich bin der einzige Überlebende, dieses Unglücks.“, sagte er dann.

„Tosh Kamars Riesenkalmar hat dich nur aus einem einzigen Grund verschont, Jewgeni. Dein Vorfahr Iwan Grigorovitch war ein Mitglied des Landungstrupps, der damals den Opal gestohlen hat. Er war es, der den Stein aus dem Tempel getragen hat.“

Jewgeni Moskrovnovitch öffnete seine Tasche, die er die ganze Zeit bei sich trug und förderte ein Tagebuch und ein Teilstück einer Karte zutage. Als er das Buch öffnete, las er den Namen seines einstigen Besitzers. Er lautete: „IWAN GRIGOROVITCH“.

„Ich werde dich und die anderen nicht enttäuschen. Wir werden diesen Opal finden und wieder zurückbringen. Das schwöre ich bei meinem Leben.“, sagte Jewgeni.

Eliska strich ihm sanft über die Wange. 149

„Ich weiß. Sei bitte vorsichtig. Versprich mir, dass du heil und unversehrt und vor allem lebend nach Oamaru zurückkehrst.“

„Warum denn dieses?“, fragte Jewgeni.

„Weil ich dich liebe. Ich will dich nicht verlieren. Versprich es mir. Bitte.“

„Ich verspreche es.“

Und dann tat Eliska etwas, womit Jewgeni nicht gerechnet hatte. Die Königin umarmte ihn und gab ihm einen innigen Kuss. 150

Buch 2 - Kapitel 3

Buch 2 – Kapitel 3

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Der zweite der vier Auserwählten ist zu uns gekommen. Doch wird es ihm und seinen Gefährten gelingen, Tosh Kamar zu überlisten? Der böse Herrscher hat uns ewige Rache geschworen. Er wird alles tun, damit die Mission scheitert. Iduna, wir flehen dich an, beschütze uns!“

7. Juli 1916 2 Monate nach der Strandung der Goeben

Strandung der Glorious

Sankt Petersburg, Admiralität, Russland

Admiral Alexander Wassiljewitsch Koltschak saß an seinem Schreibtisch und ging die letzten Meldungen der Flotte durch. Besonders die Berichte der Schiffe, die ihre Heimathäfen erreicht hatten, interessierten ihn. Nur von einem Schiff war bisher noch keine Meldung eingegangen. Es war die DIANA, ein geschützter Kreuzer Pallada-Klasse. Vor zwei Wochen war das Schwesterschiff der DIANA, die AURORA, in den Hafen von Murmansk eingelaufen. Juri Kamarov, der erste Offizier der DIANA war daraufhin zum Flottenchef beordert worden um persönlich Bericht zu erstatten. Er hatte auf der großen Weltkarte in Admiral Koltschaks Büro den Kurs markiert, den die DIANA nach dem Zusammentreffen mit der AURORA genommen hatte.

Admiral Koltschak ließ nach dem Treffen mit Juri Kamarov seinen Adjutanten rufen und diktierte ihm einen Funkspruch für die SLAWA, ein Linienschiff der Borodino-Klasse. Sie sollte nach der DIANA suchen.

London, White Hall, Vereinigtes Königreich

Sir Hedworth Meux saß an seinem Schreibtisch und trank eine Tasse Earl Grey mit Zitrone, während der wie üblich in der London Times blätterte. Die Kriegsnachrichten interessierten ihn am meisten. Er sah von seiner Zeitung auf, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte der Flottenchef.

Sein persönlicher Adjutant, Lucius Callahan, betrat den Raum.

„Was gibt’s denn, Mr. Callahan?“, fragte Hedworth Meux.

„Sir, die kaiserliche russische Marine, hat eines ihrer Schiffe verloren.“

„Welches?“, fragte der Admiral. 151

„Die DIANA, Sir. Ein geschützter Kreuzer der Pallada-Klasse.“

„Verstehe. Hat Admiral Koltschak bereits eine Suchaktion befohlen?“, wollte der Flottenchef wissen.

„Er hat das Linienschiff SLAWA losgeschickt.“

„Welches ist die letzte bekannte Position, der DIANA, Mr. Callahan?“, fragte Sir Hedworth.

Sein Adjutant markierte die Position des russischen Kreuzers auf der Karte, die auf der rechten Seite des Büros an der Wand hing.

„Dort wurde sie von einem japanischen U-Boot torpediert, Sir.“

„Wie viele Torpedos haben ihr Ziel erreicht?“, fragte Sir Hedworth Meux.

„Nur einer, Sir. Obwohl der japanische Kommandant einen Viererfächer abgefeuert hat.“

„Verstehe. Eine Frage, Mr. Callahan. Welche Schiffe haben wir in den lateinamerikanischen Gewässern?“, wollte Admiral Meux wissen.

„Außer ein paar leichten Kreuzern nur noch den Schlachtkreuzer Hood und das Schlachtschiff Orion, Sir.“

„Wir sollten noch zwei schwere Einheiten dorthin schicken. Welche Schiffe wären zurzeit frei?“, fragte Sir Hedworth.

„Nur der Schlachtkreuzer Repulse und der große leichte Kreuzer Glorious, Sir.“

„Wo befinden sich die beiden Schiffe zurzeit, Mr. Callahan?“, fragte der Admiral of the Fleet.

„Die Repulse ist im Flottenstützpunkt Scapa Flow und die Glorious in Faslane-on-Clyde.“

„Senden sie einen Funkspruch mit den Vermerk „DRINGEND“ an beide Schiffe.“, sagte Sir Hedworth.

„Ja, Sir. Was soll ich schreiben, Sir?“

„Nehmen sie Stift und Papier und dann schreiben sie folgendes:

An Kommandant HMS Repulse:

Laufen sie umgehend aus und fahren sie nach Valparaíso. Unterwegs Zusammentreffen mit HMS Glorious in Queenstown.“, diktierte der Flottenchef.

Dann sagte er: „Und denselben Text noch einmal mit dem Rufzeichen für 152

die Glorious. Aber schreiben sie im letzten Satz „Repulse“ statt Glorious“

„Ja, Sir.“

Flottenstützpunkt Scapa Flow, Orkney Inseln

Captain William Boyle, Spitzname „Ginger“ stand auf der Brücke des Schlachtkreuzers Repulse und starrte hinaus auf die offene See. Er war stolz, das Kommando auf diesem Schiff führen zu dürfen. Die HMS Repulse war ein Schlachtkreuzer der Renown-Klasse und war 240 Meter lang. Seine Breite betrug 30 Meter und das Gewicht dieses Stahlgiganten lag bei voller Beladung bei 36.800 Tonnen. Die schwere Artillerie der Repulse war in vier Zwillingstürmen untergebracht und verfeuerte Granaten mit einem Kaliber von 38,1 cm. Die Maschine des Schlachtkreuzers leistete 112.000 PS und ließ eine Höchstgeschwindigkeit von 31,7 Knoten zu. In der Offiziersmesse hing der Wahlspruch der Repulse. Auf einem Holzschild stand in Messingschrift „Qui Tangit Frangatur“. Was wörtlich übersetzt „Wer (mich) berührt, soll zerbrochen werden!“, bedeutete.

Captain Boyle ging hinaus auf die Steuerbordnock und beobachtete die Aktivitäten auf dem Flottenstützpunkt. So wurde gerade wurde die HMS Hermes, ein geschützter Kreuzer der Highflyer-Klasse mit Kohlen beladen. Etwas weiter entfernt machte sich die HMS Collingwood, ein nach Vizeadmiral Cuthbert Collingwood benanntes Schlachtschiff der St. Vincent-Klasse bereit zum Auslaufen. „Ginger“ Boyle sah aus den beiden Schornsteinen des 163,30 Meter langen Schlachtschiffes Rauch aufsteigen.

Der erste Offizier der Repulse, Kevin Blake, kam auf die Brücke, in der Hand den Funkspruch aus London.

„Was gibt es, Mr. Blake?“, fragte Captain Boyle.

„Sir, dieser Funkspruch kam gerade aus London. Er trägt den Vermerk „DRINGEND“.“

Mit diesen Worten übergab der erste Offizier „Ginger“ die Nachricht aus London. Der Kommandant der Repulse las sich die Nachricht durch.

„Wir sollen also nach Lateinamerika und uns in Queenstown mit der Glorious treffen. Das Dumme ist nur, dass wir erst übermorgen zum Bekohlen und zur Munitionsübernahme vorgesehen sind, Mr. Blake.“, sagte William Boyle.

„Captain, ich denke, dass White Hall den Stützpunktkommandeur sicher über unsere neuen Befehle informiert hat, denn dort kommen mehrere Versorgungstender mit direktem Kurs auf uns.“

Ein Boot nach dem anderen machte längsseits der Bordwand der Repulse fest. Zuerst waren die Kohlentender dran, die den Brennstoff für den 153

Schlachtkreuzer lieferten. Danach kamen die Tender mit Proviant, ehe die Schiffe mit der benötigten Munition. Um 16:30 Uhr war das Bunkern der Repulse abgeschlossen. Captain Boyle meldete dem Stützpunktkommandeur sein Schiff klar zum Auslaufen. Nach Eingang der Nachricht wurden die U-Boot-Netze geöffnet, die die britische Flotte gegen deutsche U-Boote schützen sollten. Um 17:15 Uhr verließ die HMS Repulse Scapa Flow und lief in den Nordatlantik.

Flottenstützpunkt Faslane-on-Clyde, Schottland, Vereinigtes Königreich

Captain Colin Meaney stand auf der Steuerbordnock seines Schiffes und beobachtete das Geschehen auf dem Flottenstützpunkt. Gerade lief die HMS AJAX, ein Schlachtschiff der King-George-V-Klasse aus dem Stützpunkt aus. Sie war nach Malta beordert worden. Er selbst hatte vor kurzem den Funkspruch aus London mit der Order nach Lateinamerika zu laufen und sich in Queenstown mit der HMS Repulse zu treffen, erhalten. Daraufhin hatte man der Glorious, einem großen leichten Kreuzer der Courageous-Klasse, absoluten Vorrang bei der Übernahme von Kohlen, Proviant und Munition eingeräumt.

Die HMS Glorious war 240 Meter lang und an der breitesten Stelle 27,75 Meter breit. Voll beladen wog der Kreuzer 22.360 Tonnen und hatte einen Tiefgang von 7,5 Metern. Die Maschine der Glorious leistete 91.195 PS und ermöglichte so eine Höchstgeschwindigkeit von 31,42 Knoten. 829 Mann Besatzung waren notwendig, um den Kreuzer am Laufen zu halten. Die Reichweite des Schiffes lag bei 5.860 Seemeilen, wenn die Glorious 16 Knoten fuhr.

Die mächtigen 38,1-cm-Geschütze waren in zwei Zwillingstürmen, einer am Bug, der andere achtern am Heck, untergebracht. Auf dem Brückendeck waren die 10,2-cm-Geschütze verbaut. 18 Stück verteilt auf 6 Drillingstürme führte die Glorious mit. Um 18:25 Uhr lief das Schiff aus seinem Stützpunkt aus. Niemand ahnte, dass dies die letzte Reise der Glorious sein würde.

Queenstown, Irland, 7. Juli 1916, 22:00 Uhr Ortszeit

Im Hafen herrschte geschäftiges Treiben. Gleich zwei Großkampfschiffe der Royal Navy lagen in Queenstown. Um 20:15 Uhr war die Repulse eingelaufen. Um 21:25 Uhr, die Glorious. Doch da die Dunkelheit bereits hereingebrochen war, konnte die Übernahme von Kohlen und Proviant nicht durchgeführt werden. Allerdings war es den Besatzungen beider Schiffe nicht erlaubt, von Bord zu gehen, da Repulse und Glorious schon am nächsten Morgen Queenstown wieder in Richtung New York verlassen sollten.

Queenstown, Irland, 8. Juli 1916, 8:30 Uhr Ortszeit

Die beiden Kriegsschiffe waren bereit, ihre Reise über den Atlantik fortzusetzen. Sie waren mit neuen Kohlen und Proviant versorgt worden. Die Einwohner der irischen Hafenstadt hatten sich alle an der Promenade versammelt um die Repulse und die Glorious zu verabschieden. Es war ein imposanter Anblick, als zuerst die Glorious an den Einwohnern Queenstowns vorbeidampfte, dicht gefolgt vom Schlachtkreuzer Repulse. Als die beiden Schiffe den Hafen 153

Hinter sich gelassen hatten, beschleunigten sie und drehten auf Südkurs, um die Passage zwischen Whitegate und Crosshaven zu durchqueren.

New York City, Vereinigte Staaten von Amerika, 13. Juli 1916, 14 Uhr Ortszeit

Die New Yorker staunten nicht schlecht, als sie zwei englische Kriegsschiffe im Hafen liegen sahen. Lagen hier doch in der Regel die großen Transatlantik-Liner. Doch zwei englische Kriegsschiffe waren wohl eher ein seltener Anblick. Und während die Schiffe neu bekohlt und verproviantiert wurden, hatten die Matrosen Landgang. Allerdings hatten die Kommandanten angeordnet, dass die Leute, die an Land waren, pünktlich um 22:00 Uhr wieder an Bord waren. Auch wurde den begleitenden Offizieren eingeschärft darauf zu achten, dass die anderen sich nicht bis zum Stehkragen volllaufen ließen.

Valparaíso, Chile, 13. Juli 1916, 10:30 Uhr Ortszeit

Im Hafen herrschte geschäftiges Treiben. Am Vortag war das russische Linienschiff Slawa in Valparaíso eingelaufen. Der Kapitän hatte der Besatzung für diesen Abend Landgang gewährt. Nun wurden neue Kohlen und neuer Proviant an Bord genommen. Der Grund war, dass Kapitän Viktor Borodin mit der nächsten Flut auslaufen wollte. Er wollte seine Mission so schnell wie möglich abschließen, und dann nach Hause zurückkehren.

New York City, Vereinigte Staaten von Amerika, 13. Juli 1916, 16:30 Uhr Ortszeit

Die Repulse und die Glorious hatten die Anker gelichtet, und waren von den Hafenschleppern in Richtung offene See gedreht worden. Im Gegensatz zum 8. Juli, als die beiden Kreuzer Queenstown verlassen hatten, führte heute die Repulse und die Glorious folgte. Zuerst steuerten die beiden Kriegsschiffe einen Südkurs, denn sie hatten den Panamakanal als Ziel, den sie durchqueren sollten. Nördlich von Colon fuhren Repulse und Glorious in den Kanal ein und nahmen Kurs auf die erste Ertappe des Kanals, die Gatun-Schleusen.

Berlin, Admiralität, Deutschland, 13. Juli 1916, 20:30 Uhr Ortszeit

Alfred von Tirpitz hatte gerade die Unterschriftenmappe aufgeschlagen und den ersten Befehl zur Unterschrift herausgeholt, als es an der Tür seines Büros klopfte. Der Admiral wusste, dass nur sein persönlicher Adjutant, Martin Lembke vor der Tür warten konnte.

„Treten Sie ein, Lembke.“, sagte er.

Martin Lembke, ein schlaksiger junger Mann im Alter von 26 Jahren, betrat den Raum.

„Was gibt es, Lembke?“, fragte Admiral Tirpitz.

„Her Admiral, die Royal Navy hat zwei weitere Kreuzer in den Pazifik 154

verlegt.“

„Welche?“, fragte der Großadmiral.

„Den Schlachtkreuzer Repulse und den großen leichten Kreuzer Glorious.“

„Haben wir irgendwelche schweren Einheiten da oben?“, wollte der Flottenchef wissen.

„Ja, Herr Admiral. Das Großlinienschiff Friedrich der Große und das Linienschiff Elsass.“

„Schicken wir noch Großer Kurfürst. Wo befindet sich das Schiff zurzeit?“, sagte Alfred von Tirpitz.

„In Rio de Janeiro, Herr Admiral.“

„Dann ist das unsere einzige Möglichkeit. Die anderen Einheiten sind zu weit weg. Es wird Tage dauern bis sie Chile erreicht haben.“, sagte der Flottenchef.

„Soll ich dem Kommandanten eine Nachricht mit dem Vermerk „DRINGEND“ schicken, Herr Admiral?“

„Die Frage erübrigt sich ja wohl von selbst, Lembke.“, sagte Admiral von Tirpitz.

„Was soll ich schreiben?“

„An Kommandant Großlinienschiff „Großer Kurfürst“:

Zwei englische Kreuzer auf dem Weg nach Chile. HMS Repulse und HMS Glorious. Laufen sie sofort nach Valparaíso. Englische Kreuzer abfangen, wenn möglich.“, sagte Tirpitz.

„Ist das alles, Herr Admiral?“

„Ja, das ist alles, Lembke.“, sagte der Großadmiral.

Eine halbe Stunde später durchgegeben.

Rio de Janeiro, Brasilien, 13. Juli 1916, 15:30 Uhr Ortszeit

Kapitän zur See Ernst Goette saß gerade an seinem Schreibtisch in der Kapitänskajüte und las die neuesten Geheimdienstberichte, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte er.

Der erste Offizier des Großlinienschiffes „Großer Kurfürst“ trat ein.

„Was gibt es, Uhlendorf?“, fragte der Kapitän. 155

Richard Uhlendorf, ein 1,84 m großer, athletisch gebauter 35jähriger Mann, reichte ihm die Nachricht aus Berlin.

„Die kam gerade rein. Die Nachricht ist mit dem Vermerk „DRINGEND“ gekennzeichnet.“

„Das sehe ich selbst, Uhlendorf. Geben sie her!“, sagte Ernst Goette leicht gereizt.

Und während der Kommandant von „Großer Kurfürst“ die Nachricht studierte, wurden seine Sorgenfalten auf der Stirn immer tiefer. Seinem ersten Offizier entging der besorgte Ausdruck im Gesicht von Kapitän Goette nicht.

„Alles in Ordnung, Herr Kapitän?“, fragte er dann.

Ernst Goette bedeutete ihm mit einer Geste sich zu setzen. Dann breitete er die Nachricht aus Berlin auf dem Tisch aus.

„Diese Nachricht skizziert einen Alptraum, Uhlendorf. Sie teilt mir mit, dass die Royal Navy die Repulse und die Glorious in diese Gewässer entsandt hat. Aufgrund dieses Alptraums wird mir befohlen, Schritte einzuleiten, die, sollte sich diese Meldung als falsch herausstellen, dieses Schiff und seine Besatzung in Verderben führen.“, sagte er.

Valparaíso, Chile, 13. Juli 1916, 16:30 Uhr Ortszeit

Das russische Linienschiff SLAWA verließ den Hafen. Der Kommandant hatte seine eigene Theorie, warum sich die DIANA nicht mehr meldete. Doch Befehl war nun einmal Befehl. Kapitän Viktor Borodin lief exakt die gleiche Route, die auch der vermisste Kreuzer genommen hatte. Und so erreichte die SLAWA die Gewässer um die Kleeblattinsel. In sicherer Entfernung suchten die Offiziere des russischen Linienschiffes das Riff ab, das Oamaru umgab. Doch es war einer der Matrosen, der das Wrack der DIANA entdeckte, denn ihre drei Schornsteine ragten noch aus dem Wasser. An einem der Schornsteine bewegte sich etwas. Sofort ließ der Kommandant der SLAWA ein Beiboot aussetzen, um genauere Untersuchungen anzustellen.

So wurde der leitende Ingenieur der DIANA gerettet. Nachdem das Boot wieder an Bord des Linienschiffes war, drehte die SLAWA ab und machte sich auf den Weg Richtung Heimat. Das erste Ziel war wieder Chile, wo neue Kohlen und neue Vorräte gebunkert werden mussten. Dort wollte Kapitän Borodin auch einen Funkspruch an die Admiralität schicken.

Admiralität, Sankt Petersburg, Russland, 14. Juli 1916, 15:45 Uhr Ortszeit

Juri Marganin suchte die Schreibstube auf. Speziell die Abteilung für eingehende Nachrichten interessierte ihn. Jeder Tag, an dem es keine Neuigkeiten über den Verbleib der DIANA gab, wurde sein Chef unruhiger. Eine neue Nachricht kam gerade rein und wurde dechiffriert. Er nahm das Blatt Papier und las die Nachricht durch. Wieder nichts. Sein Vorgesetzter, Admiral Koltschak, 156

würde nicht gerade erfreut sein. Denn vor zwei Tagen war die AURORA nach Sankt Petersburg zurückgekehrt. Der erste Offizier des vermissten Kreuzers war nachdem Festmachen sofort in der Admiralität erschienen und sich beim Admiral gemeldet, um ihm Bericht zu erstatten.

White Hall, London, Vereinigtes Königreich, 14. Juli 1916, 15:15 Uhr Ortszeit

Admiral Sir Hedworth Meux war gerade auf dem Sprung, denn er hatte einen Termin beim obersten Lord der Admiralität, Winston Churchill. Doch sein Adjutant Lucius Callahan, machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

„Fassen sie sich bitte kurz, Mr. Callahan. Seine Lordschaft erwartet mich.“, sagte der Admiral of the Fleet.

„Sir, gerade kam die Meldung, dass unsere Schiffe den Panamakanal durchquert haben.“

„Wie lange wird es noch dauern, bis die Repulse und die Glorious Valparaíso erreicht haben?“, wollte Sir Hedworth wissen.

„Unsere Schiffe sollten morgen Chile erreicht haben.“

Hedworth Meux nickte.

„Sehr gut. Aber jetzt entschuldigen sie mich bitte. Winston Churchill wartet nicht gern.“, sagte er dann.

„Ja, Sir.“

An Bord der SLAWA

Kapitän Borodin hatte nach dem Wachwechsel auf der Brücke das Lazarett aufgesucht. Er hoffte, mit dem leitenden Ingenieur der DIANA sprechen zu können, in der Hoffnung, noch mehr zu erfahren, was für Admiral Alexander Koltschak wichtig sein konnte. Als der Kapitän des Linienschiffes die Krankenstation betrat, kam der leitende Arzt auf ihn zu. Kapitän Borodin fiel der besorgte Gesichtsausdruck des Doktors auf.

„Wie geht es ihm, Doktor?“, fragte er.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht, dass er diese Nacht noch erleben wird.“

„Ist er ansprechbar?“, wollte der Kommandant der SLAWA wissen.

Der Arzt machte eine vage Handbewegung.

„Mal geht es ihm gut, mal geht es ihm schlecht.“ 157

„Und wie ist sein jetziger Zustand, Doktor?“, hakte Kapitän Borodin nach.

„Im Moment wieder schlecht, Kapitän. Ich habe das Gefühl, dass sich der Mann im Delirium befindet.“

„Was veranlasst sie zu der Annahme?“, fragte der Kapitän.

„Er redet ziemlich wirres Zeug, wenn ich das mal so sagen darf, Kapitän.“

„Kann ich mit ihm sprechen?“, fragte Kapitän Borodin.

„Sie können ihr Glück versuchen, Kapitän. Aber ich wage es zu bezweifeln, dass sie irgendetwas Brauchbares aus ihm herausbekommen werden.“

An Bord von Großer Kurfürst

Kapitän zur See Ernst Goette stand auf der Steuerbordnock seines Schiffes und suchte mit seinem Fernglas den Horizont ab. Seitdem das Schiff aus Rio de Janeiro ausgelaufen war, hatte er für die gesamte Besatzung erhöhte Alarmbereitschaft befohlen. So waren die Ausgucke rund um die Uhr besetzt. Auch Geschützdrill stand auf der Tagesordnung. Ernst Goette glaubte an eine gute Vorbereitung, denn er wusste nur zu gut. Dass derjenige in einem Gefecht die besseren Karten hatte, der als erster auf den Gegner feuern konnte. Dreimal am Tag hatte er Gefechtsübungen abhalten lassen. Besonders im Morgengrauen, und das wusste der deutsche Kapitän, war der Überraschungseffekt von entscheidendem Vorteil. Wer in der Lage war, im Schutz der Dunkelheit seinem Gegner eine Breitseite zu verpassen, der hatte die besten Chancen, als Sieger aus einem Gefecht hervorzugehen. Das Dumme war nur, dass die englischen Schiffe bei der Reichweite ihrer Geschütze einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Schiffen der deutschen Hochseeflotte hatten. Und das bedeutete oft, dass man näher heran musste, um überhaupt einen Volltreffer zu landen. Kapitän zur See Goette wollte auf gar keinen Fall der Repulse und der Glorious in die Hände laufen. Aber er rechnete immer damit.

An Bord der SLAWA

Kapitän Borodin saß nun am Krankenbett des leitenden Ingenieurs, des gesunkenen Kreuzers. Der Mann sah verheerend aus. Der Kommandant der SLAWA sah in ein mit Bartstoppeln übersätes Gesicht mit stechenden blauen Augen. Das schwarze Haar klebte dem Mann an der Stirn.

„Wie fühlen sie sich?“, fragte der Kapitän.

„Soll ich ehrlich sein?“

„Ich bitte darum.“, sagte Kapitän Borodin.

„Beschissen.“ 158

„Sind sie in der Lage… einige Fragen zu beantworten?“, fragte der Kommandant der SLAWA.

„Das hängt davon ab, was sie wissen wollen.“

„Können sie mir berichten, was sich nach dem Rendezvous mit der AURORA ereignet hat?“, fragte der Kapitän.

„Wir wurden von einem japanischen U-Boot torpediert.“

„Wie viele Torpedos hat der japanische Kommandant abgefeuert?“, kam die nächste Frage.

Der leitende Ingenieur der DIANA zeigte mit seiner rechten Hand eine vier.

„Aber nur der letzte hat getroffen. Die anderen haben uns verfehlt. Danach mussten wir die Geschwindigkeit auf 9,5 Knoten drosseln, um, den Wassereinbruch so gering wie möglich zu halten.“

„Wie weit sind sie gekommen?“, fragte der Kapitän als nächstes.

„So um die 1.000 Meilen. Aber dann sind wir in den Sog des Riffs geraten.“

„Was ist passiert, nachdem die DIANA aufgelaufen ist?“, fragte Kapitän Borodin.

„Wir konnten gerade noch ein Boot zu Wasser lassen. 50 Mann haben sich so retten können. Ich selbst bin am zweiten Schornstein hoch geklettert.“

„Hat noch jemand außer ihnen überlebt?“, wollte der Kommandant des russischen Linienschiffes wissen.

„Nur noch Jewgeni Moskrovnovitch. Er wurde von einer Welle über das Riff getragen und an den Strand einer Insel gespült.“

„Was ist aus den anderen geworden?“, fragte Kapitän Borodin.

„Die anderen hat der Teufel geholt.“

Nachdem der LI der DIANA den Satz beendet hatte, fing er laut an zu schreien und krallte sich mit seinen Händen an den Ärmeln der Uniformjacke des Kapitäns fest und sah ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Dann sank er auf das Kopfkissen zurück und blieb reglos liegen.

Der Arzt kam herein, alarmiert durch die Schreie des Kranken. Er fühlte den Puls, dann sah er Kapitän Borodin an.

„Er ist tot.“, sagte er.

Der Kapitän nickte. Dann sagte er: „Bereiten sie alles für sein Begräbnis vor. Wir werden ihn auf See bestatten. 159

Um 17:00 Uhr hatte sich die Besatzung auf dem Achterdeck versammelt. Gemäß der Marinetradition hatte man den Toten in einen Leinensack eingenäht und diesen mit einer Eisenkugel beschwert. Nun lagen die sterblichen Überreste aufgebahrt an der Reling, bedeckt mit der Fahne der russischen Marine. Kapitän Borodin hatte gerade aus der Septuaginta ein Gebet gesprochen und schloss die Begräbniszeremonie mit eigenen Worten.

„Wir übergeben dir, Herr, die sterblichen Überreste unseres Freundes und Kameraden Gennadi Filitow. Erbarme dich seiner und schenke seiner Seele ewigen Frieden. Nimm ihn auf in dein Reich.“, sagte er und schlug ein Kreuz.

Die Offiziere und Matrosen taten es ihm gleich. Die Ehrengarde feuerte noch einmal Salut und ein Matrose mit einer Trompete spielte das Lied „Amazing Grace“. Dann hoben zwei kräftige Matrosen das Gestell an und der Leichnam des LI der DIANA glitt über Bord und verschwand schnell unter der Wasseroberfläche.

White Hall, London, Vereinigtes Königreich, 14. Juli 1916, 15:35 Uhr Ortszeit

Sir Hedworth Meux, Admiral of the Fleet, saß dem mächtigsten Mann der Royal Navy, Winston Churchill gegenüber. Der erste Lord der Admiralität war ein 1,68 m großer Mann mit einem runden Gesicht und stechenden braunen Augen. Seine braunen Haare hatten bereits angefangen sich zu lichten. Die Jacke seiner Uniform spannte bereits über Winston Churchills Bauchansatz. In seinem Mund steckte eine Zigarre.

„Sie haben also die Repulse und die Glorious nach Chile entsandt?“, fragte der erste Lord.

„Ja, Mylord.“

„Ich nehme an, um die dortigen Einheiten zu unterstützen.“, sagte Winston Churchill.

„Ja, Sir. Die Deutschen sind unseren Streitkräften 2:1 überlegen. Sie haben mindestens drei schwere Einheiten dort. Ein Linienschiff und zwei Großlinienschiffe.“

„Das haben sie richtig gemacht. Aber es wird sie interessieren, dass Großadmiral von Tirpitz ein weiteres Großlinienschiff nach Chile beordert hat.“, sagte der erste Seelord.

„Welches, Mylord?“

„ „Großer Kurfürst“.“, sagte Winston Churchill knapp.

„Wäre es nicht besser, wenn wir noch die Royal Oak nach Chile entsenden, Mylord?“ 160

„ Dann würden wir unsere Home Fleet noch weiter schwächen. Wann erreichen unsere Kreuzer Chile?“, fragte der erste Lord.

„Laut der letzten Meldung, morgen.“

„Hören sie, Sir Hedworth. Seitdem Walter Schwieger die „LUSITANIA“ versenkt hat, können wir es uns nicht mehr leisten, unsere Flotte auf der ganzen Welt aufmarschieren zu lassen. Die deutschen U-Boote sind eine ernste und tödliche Bedrohung unserer Schiffe.“, sagte Winston Churchill.

„Aber die Deutschen haben ihre U-Boot-Angriffe doch ausgesetzt.“

Winston Churchill zog an seiner Zigarre.

„Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen. Ich traue Admiral von Tirpitz nämlich nicht.“, sagte er dann.

Valparaíso, Chile, 18. Juli 1916, 20:58 Uhr Ortszeit

Im Hafen herrschte wie immer geschäftiges Treiben. Ein französischer Frachter, die „Ardêche“ lief gerade aus, als die SLAWA einlief. Kapitän Viktor Borodin ließ sofort einen Funkspruch für die Admiralität absetzen. Einen detaillierten Bericht würde er auf der Heimreise abfassen. Danach lief die SLAWA wieder aus. Und beim Auslaufen begegnete das russische Linienschiff dem deutschen Großlinienschiff „Großer Kurfürst“. Kapitän zur See Goette war schon im Begriff das Feuer auf das russische Kriegsschiff eröffnen zu lassen, besann sich aber im letzten Moment. Ihm war eingefallen, dass er in den Hoheitsgewässern eines neutralen Staates, dessen territoriale Souveränität verletzt hätte. Über die möglichen Folgen wollte er gar nicht erst nachdenken. Er ließ die Kohlenvorräte ergänzen und verließ Valparaíso wieder. Kaum war das deutsche Linienschiff außer Sicht, liefen der englische Schlachtkreuzer HMS Repulse und der englische große leichte Kreuzer HMS Glorious in den Hafen von Valparaíso ein. Da die Sonne bereits unterging, hatten die englischen Kapitäne beschlossen, die Nacht im Hafen zu verbringen.

Admiralität, Sankt Petersburg, Russland, 18. Juli 1916 03:58 Uhr Ortszeit

Admiral Koltschaks Adjutant Juri Marganin schneite mal wieder in der Schreibstube vorbei. Deren Leiter verdrehte entnervt die Augen.

„Nicht sie schon wieder!“, sagte er gereizt.

„Kann ich was dafür, dass mir der Chef ständig im Nacken sitzt?“

„So schlimm?“, fragte der Leiter.

„Schlimmer. Der alte Haifisch scharrt schon ungeduldig mit den Hufen, wegen der DIANA.“ 161

„Dann scheinen sie dieses Mal den richtigen Zeitpunkt abgepasst zu haben, Leutnant. Denn gerade ist eine Nachricht von der SLAWA eingegangen. Sie wird gerade dechiffriert.“, sagte der Mann. „Gute oder schlechte Nachrichten?“

„Keine Ahnung.“, sagte der Chef der Schreibstube, ein Offizier im Rang eines Leutnants.

Keine 10 Minuten später war Alexander Koltschaks Adjutant auf dem zu seinem Chef. Und dieses Mal würde der Admiral nichts zu nörgeln haben. Endlich war das Schicksal der DIANA geklärt. Allerdings hatte Juri Marganin Mitgefühl mit den Angehörigen der auf See gebliebenen Besatzungsmitglieder. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie viel Trauer eine solche Nachricht bei Müttern, Ehefrauen, Verlobten, Schwestern und Freundinnen auslösen konnte. Dennoch wollte er nicht derjenige sein, der eine solche Nachricht überbringen musste. Juri Marganin fragte sich, ob sein Vorgesetzter sich überhaupt die Mühe machte, sich in die Hinterbliebenen hineinzuversetzen, und versuchte, was diese Menschen fühlten. Aber er bezweifelte stark, dass der alte Haifisch, wie Juri Marganin Alexander Koltschak hinter vorgehaltener Hand nannte, zu solchen Gefühlen überhaupt in der Lage war.

Dann stand er vor Admiral Koltschaks Büro und klopfte.

„Treten sie ein, Marganin.“, vernahm Juri Marganin die Stimme des Admirals.

Der Adjutant des Flottenchefs betrat den Raum. Juri Marganin sah seinem Chef an, dass dieser wenig geschlafen hatte. Denn die dunklen Ringe unter den Augen von Alexander Wassiljewitsch Koltschak waren nicht zu übersehen.

„Was gibt es, Marganin?“, fragte der Admiral.

„Vor einer halben Stunde ist eine Nachricht von der SLAWA eingetroffen. Sie haben das Wrack der DIANA gefunden. Den leitenden Ingenieur von DIANA haben sie retten können.“

„Wenigstens das. Gott sei Dank.“, sagte Admiral Koltschak.

Juri Marganin trat verlegen von einem Bein auf das andere.

„Mit Verlaub, Admiral. Der Mann ist tot. Kapitän Borodin konnte ihn aber vorher noch befragen.“

„Hat er etwas erfahren?“, wollte der Admiral wissen.

„Das geht aus der Nachricht nicht hervor. Aber Kapitän Borodin hat einen detaillierten Bericht angekündigt.“

Valparaíso, Chile, 19. Juli 1916, 5:15 Uhr Ortszeit

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da liefen Repulse und Glorious 162

wieder aus. Die Übernahme neuer Kohlen und frischer Lebensmittel hatte noch am Vortag unmittelbar nach dem Festmachen der beiden englischen Kreuzer begonnen und die ganze Nacht hindurch gedauert. Um 4:00 Uhr hatten die Heizer die Kessel angeheizt um genug Dampf für die Maschinen zu erzeugen. Nun führte die Glorious, während die Repulse folgte. Außerhalb der chilenischen Hoheitsgewässer trafen die beiden Kreuzer dann mit der HMS Orion und dem Schlachtkreuzer Hood zusammen.

Um 6:00 Uhr trafen die englischen Schiffe auf die deutschen Großkampfschiffe. Das Großlinienschiff „Friedrich der Große“ eröffnete das Feuer auf die Glorious. Die „Elsass“ nahm sich die Hood vor, und „Großer Kurfürst“ die Repulse. Die Orion hatte es mit dem deutschen Panzerkreuzer „Fürst Bismarck“ zu tun.

An Bord der Glorious

Die erste Salve des deutschen Großlinienschiffes erwischte den englischen Kreuzer völlig unvorbereitet. Eine 30,5-cm-Granate traf den vorderen Geschützturm. Die Explosion riss nicht nur den Turm aus seiner Barbette, sondern zerstörte auch das Deck darunter. Eine weitere Granate traf die Brücke und tötete bis auf den Kapitän und den ersten Offizier den gesamten Offiziersstab. Den dritten Treffer musste die Glorious auf der Höhe ihres Schornsteins einstecken.

An Bord der Hood

Der erste Offizier stürmte auf die Brücke. Kapitän Wilfred Tomkinson sah von seinen Seekarten auf.

„Was gibt es, Mr. Graham?“, fragte, fragte er.

„Sir, die Glorious wurde angegriffen.“

„Von wem?“, fragte Captain Tomkinson.

Doch ehe der erste Offizier antworten konnte, schlug eine 28-cm-Granate der „Elsass“ vor dem Bug der Hood ein.

„Feuer erwidern.“, befahl Wilfred Tomkinson- Im nächsten Augenblick schwenkten die mächtigen Geschütztürme herum und feuerten eine Breitseite auf die „Elsass“.

An Bord von „Großer Kurfürst“

Kapitän zur See Goette hatte gerade die Repulse anvisieren lassen, als der englische Schlachtkreuzer das Feuer auf das deutsche Großlinienschiff eröffnete. Eine Granate schlug vor dem Bug des deutschen Kriegsschiffes ein. Eine Wassersäule stieg in den Himmel. Umgehend erwiderte „Großer Kurfürst“ das Feuer. Eine der Granaten schlug in den Rumpf der Repulse ein, richtete aber kaum Schaden an. Die Antwort des englischen Schlachtkreuzers war 163

verheerend. Eine Granate der Repulse schlug unterhalb des achteren Schornsteins von „Großer Kurfürst“ ein. Eine zweite traf einen der Munitionsaufzüge. Die Explosion riss ein Loch in die Bordwand und einen Teil des Decks weg. Dann schlug eine dritte Granate ein und zerstöre einen der vorderen Geschütztürme von „Großer Kurfürst“.

An Bord der Orion

Eine 24-cm-Granate von „Fürst Bismarck“ traf eines der 10,2-cm-Geschütze. Für Kapitän Hancock war es natürlich bitter, dass er nicht mehr über die volle Feuerkraft verfügte. Dennoch war sein Schiff dem deutschen Panzerkreuzer artilleristisch überlegen. Die mächtigen 34,3-cm-Geschütze waren nach wie vor intakt und somit in der Lage „Fürst Bismarck“ zu zerstören. Und eine 34,3-cm-Granate der Orion traf den deutschen Panzerkreuzer und riss den achteren Schornstein ab. „Fürst Bismarck“ feuerte sofort wieder. Der nächste Treffer des 127 Meter langen Kreuzers traf den Rumpf des feindlichen Dreadnoughts, aber der angerichtete Schaden war marginal.

An Bord von „Fürst Bismarck“

Erneut musste der Panzerkreuzer einen schweren Treffer einstecken. Die Orion hatte erneut ihre schwere Artillerie eingesetzt und den achteren Geschützturm von Fürst Bismarck zerstört. Der Kapitän ließ erneut eine Salve mit den verbliebenen Geschützen abfeuern, aber der Erflog blieb aus. Der englische Dreadnought antwortete mit einer Breitseite aus seinen 34,3-cm-Geschützen. Korvettenkapitän Eduard Bartels sah die Granaten heranfliegen.

„Diese Mistkerle“, sagte er leise.

Dann erschütterte eine gewaltige Explosion das Schiff. Eine 34,3-cm-Granate der Orion hatte die Munitionskammer von „Fürst Bismarck“ getroffen.

An Bord der „Elsass“

Kapitän zur See Johann von Lessel konnte nicht glauben, was er sah. Das vierte Schiff in ihrem Verband, Panzerkreuzer „Fürst Bismarck“ hatte den tödlichen Treffer kassiert. Ein orange-roter Feuerball hüllte das Schiff ein und die Druckwelle hob den Kreuzer ein Stück weit aus dem Wasser. Dabei brach „Fürst Bismarck“ in der Mitte durch. Das Heck sank zuerst. Dann der Bug. Als dieser unter der Wasseroberfläche verschwunden war, stieg ein Wasserschwall auf.

An Bord der Repulse

Die Druckwelle der Explosion war noch an Bord der Repulse zu spüren. Captain William Boyle und der erste Offizier, Kevin Blake, beobachteten, wie „Fürst Bismarck“ seine Reise in sein nasses grab antrat.

„Die Leute tun mir leid.“, sagte „Ginger“ Boyle. 164

„Es waren Feinde, Sir.“

„Für unsere Regierung vielleicht. Für mich sind es Menschen. Von denen hat keiner unserem Land oder unseren Familien jemals etwas Böses getan. Der Kommandant von „Fürst Bismarck“ war genauso ein Befehlsempfänger, wie wir, Mr. Blake.“, sagte Captain Boyle.

„Es herrscht Krieg, Sir. In einem Gefecht heißt es entweder wir oder der Feind. Ich persönlich ziehe „Wir“ vor. Ich habe Frau und Kinder zu Hause. Ich möchte wieder nach Hause kommen, und nicht so enden, wie die Männer auf „Fürst Bismarck“.“

„Ich habe auch Frau und Kinder, Mr. Blake. Und glauben sie bloß nicht, die armen Kerle auf dem deutschen Kreuzer hätten keine Familien. Ich möchte nicht in der Haut des Mannes stecken, der den Hinterbliebenen diese schreckliche Nachricht überbringen muss.“, sagte William Boyle.

An Bord von „Friedrich der Große“

Kapitän zur See Theodor Fuchs fühlte Trauer in seinem Herzen. Er trauerte um die Männer, die dem Panzerkreuzer in sein nasses Grab gefolgt waren. Wie versteinert stand er auf der Backbordnock und starrte hinüber zu der Stelle, an der gerade „Fürst Bismarck“ gesunken war. Er dachte an Eduard Bartels, mit dem er am Abend zuvor noch in seiner Kabine zusammengesessen und ihm noch zur Geburt seiner jüngsten Tochter gratuliert hatte. „Die kleine wird ihren Vater nie kennenlernen.“, dachte er.

Das Gefecht ging weiter. Eine weitere 30,5-cm-Granate von „Friedrich der Große“ traf die Glorious und riss ein Loch in die Bordwand. Daraufhin bekam Kapitän Meaney bekam vom Kommandanten der Hood einen Funkspruch per Flaggensignal.

„Anfrage, ob wir es bis zu den Falkland-Inseln schaffen.“, sagte er zu seinem ersten Offizier.

„Was sollen wir antworten?“

„Antwort: „Ich schaffe auch Plymouth, wenn befohlen.“

Die Antwort auf Meaney Nachricht folgte prompt. „Entlassen, Falklands. Gute Fahrt.“, lautete die Nachricht der Hood. Der große leichte Kreuzer Glorious ging auf Südkurs. Wegen der Schäden konnte die Glorious statt 31,6 Knoten nur 17 Knoten laufen.

Berlin, Admiralität, Deutschland, 19. Juli 1916, 12:20 Uhr Ortszeit

Großadmiral Alfred von Tirpitz war gerade von einer Unterredung mit seiner Hoheit Kaiser Wilhelm II. zurückgekehrt. Der Kaiser war ziemlich ungehalten darüber, wie der Krieg für das deutsche Kaiserreich verlief. Denn nach der 165

Versenkung der Lusitania, im Mai des vergangenen Kriegsjahres, und den damit hervorgegangenen Negativschlagzeilen, sah sich die kaiserliche Marine dazu gezwungen, auf den Einsatz ihrer U-Boote zu verzichten. Das hatte zur Folge, dass die Alliierten ungestört neue Munition und neue Soldaten an die Front schicken konnten. Außerdem hatte sich die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten zugunsten der Alliierten gewendet. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die USA an der Seite der Alliierten, England, Frankreich und Russland in den Krieg eintreten würden.

Alfred von Tirpitz saß gerade an seinem Schreibtisch und fasste einen Brandbrief an seinen ärgsten Rivalen, den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg ab, in dem er ihn aufforderte, seinen Widerstand gegen die Wiederaufnahme der deutschen U-Boot-Angriffe auf alliierte Truppentransporter und Versorgungsschiffe, endgültig aufzugeben, als es an der Tür seines Büros klopfte.

„Treten Sie ein, Lembke.“, sagte Alfred von Tirpitz.

Tirpitz persönlicher Adjutant, Martin Lembke trat ein. Seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, verhießen die Nachrichten, die er brachte nichts Gutes.

„Was gibt es Lembke?“, fragte von Tirpitz.

„Eine Nachricht von der „Elsass“, Admiral.“

„Gute oder schlechte Neuigkeiten?“, fragte der Großadmiral.

Sein Adjutant war um eine Antwort verlegen, weshalb Alfred von Tirpitz mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.

„Um Himmels Willen, nun reden sie schon Lembke!“, sagte er.

„Admiral… Der Kapitän der „Elsass“ meldet,… dass wir unseren Panzerkreuzer „Fürst Bismarck“ verloren haben.“

„Soll das heißen, dass das Schiff gesunken ist?“, fragte Alfred von Tirpitz ungläubig.

„Jawohl, Admiral. Eine 34,3-cm-Granate der HMS Orion… hat die Munitionskammer von „Fürst Bismarck“ getroffen.“

„Überlebende?“, fragte der Flottenchef.

„Nein, Admiral. „Fürst Bismarck“ ist mit Mann und Maus gesunken.“

„Wie sieht es auf der Gegenseite aus?“, fragte Alfred von Tirpitz.

„Unser Großlinienschiff „Friedrich der Große“ hat den englischen Kreuzer Glorious ziemlich übel zugerichtet. Der Schlachtkreuzer Repulse wurde nur leicht beschädigt und die Orion hat auch nur leichte Schäden davongetragen. 166

Aber unser Linienschiff „Großer Kurfürst“ wurde ziemlich schwer beschädigt.“

„Das sind wirklich keine guten Nachrichten. Was ist mit der Glorious?“, hakte der Admiral nach.

„Sie ist nach einem kurzen Nachrichtenaustausch mit dem englischen Schlachtkreuzer Hood nach Süden abgedreht.“

An Bord der Glorious

Die Nacht war hereingebrochen. Da der Treffer von „Friedrich der Große“ die Brücke komplett zerstört hatte musste Kapitän Meaney sich anhand der Sterne orientieren. Außerdem musste er tagsüber mit Sextant und anderen Methoden aus der Ära der Segelschiffe das Schiff navigieren. Und das war schwerer als gedacht. Außerdem gab es immer wieder Meldungen über feindliche U-Boote in diesen Gewässern. Ihnen galt es auszuweichen. Der leitende Ingenieur, Phil Taylor kam zu ihm. Kapitän Meaney musterte ihn aufmerksam.

Phil Taylor war ein 1,92 m großer Mann mit einem ovalen Gesicht und stechenden braunen Augen. Das wohl auffälligste an diesem Kerl war der ziemlich dicke Bauch, den Phil Taylor mit einem blauen Unterhemd verdeckte. Die braunen Haare waren vom Schweiß durchzogen, aber dennoch adrett zurückgekämmt. Seinen braunen Vollbart hatte der leitende Ingenieur leicht gestutzt. Die Nase des Mannes hätte Colin Meaney als guten Durchschnitt bezeichnet. Sein Unterhemd und auch das Gesicht von Phil Taylor waren mit Öl verschmiert. Auch seine Hände wären vom Öl ganz dreckig. Der LI der Glorious hielt einen roten Stofflappen in den Händen, mit dem er sich die Hände abwischte.

„Was gibt es, Mr. Taylor?“

„Schlechte Neuigkeiten, Captain.“, antwortete Phil Taylor mit einer tiefen Bassstimme.

„Wie schlecht?“

„Miserabel, wenn man es genau nimmt. Das Lager von Turbine 2 fängt an heißzulaufen. Und ich kann nur dann eine Reparatur vornehmen, wenn wir die Turbine vorübergehend stilllegen.“, sagte der Leitende Ingenieur der Glorious.

„Wie viel würden wir an Geschwindigkeit verlieren?“

„6 Knoten mindestens, Sir. Wenn wir Pech haben, sogar 8.“, sagte Phil Taylor.

„Ich kann nichts versprechen. Aber ich werde versuchen einen Platz zu finden, wo wir ankern und die Turbine reparieren können.“

„Dann finden sie diesen Platz besser schnell. Denn wenn sich das Lager festfrisst sitzen wir ganz schön in der Scheiße, Captain.“, sagte der LI. 167

Der leicht gereizte Unterton in der Stimme des leitenden Ingenieurs war nicht zu überhören.

Colin Meaney seufzte schwer.

„Wenn wir die Geschwindigkeit drosseln, dann riskieren wir, dass uns ein feindliches U-Boot vor die Torpedorohre nimmt.“

„Ich weiß nur eines, Sir. In zwei Tagen kann ich nicht mehr dafür garantieren, dass uns die Turbine nicht um die Ohren fliegt.“, sagte Phil Taylor wütend.

„Ich nehme ihre Bedenken zur Kenntnis, Mr. Taylor.“

„Sie sollten meine Warnung besser ernst nehmen, Sir. Ich sage ihnen das in aller Deutlichkeit, in zwei Tagen kann ich für die Sicherheit dieses Schiffes nicht mehr garantieren. Wenn uns Turbine 2 um die Ohren fliegt, dann geht das auf ihre Kappe, Sir.“, sagte Phil Taylor und ging zurück in den Maschinenraum.

Sankt Petersburg, Admiralität, Russland, 20. Juli 1916, 4:00 Uhr Ortszeit

Die SLAWA war in den Hafen eingelaufen. Kapitän Borodin hatte nach dem Festmachen sofort das Schiff verlassen und war sofort zum Newski-Prospekt gefahren, wo sich der Sitz der russischen Admiralität befand. Nun stand er im Büro von Admiral Alexander Wassiljewitsch Koltschak. Der Flottenchef forderte ihn auf, sich zu setzen.

„Was können sie mir berichten, Kapitän Borodin?“, fragte der Admiral.

„Wie ich schon in meinem Funkbericht mitgeteilt habe, haben wir das Wrack der DIANA gefunden und den LI gerettet.“

„Das weiß ich schon alles. Mich interessiert, was der Leitende Ingenieur von DIANA ihnen noch gesagt hat.“, sagte der Flottenchef.

„Er hat mir verraten, dass der zweite Offizier von DIANA, Jewgeni Moskrovnovitch neben ihm als einziger überlebt hat. Die anderen sind leider beim Untergang ums Leben gekommen.“

„Hat er sonst noch etwas gesagt?“, fragte der Admiral.

„Er sagte, dass Jewgeni an den Strand einer Insel gespült wurde.“

„Einer Insel?“, fragte Alexander Koltschak ungläubig.

„Einer Insel.“

Mit diesen Worten stand Kapitän Borodin auf und markierte an der großen Weltkarte an der Wand die Position des Wracks der DIANA und zeichnete das Riff noch dazu. 168

An Bord der Glorious

Es war Mittag, als die Glorious die äußeren Ausläufer des Riffs, das Oamaru umgab erreichte. Kapitän Meaney suchte nach einem sicheren Ankerplatz um die dringend notwendige Reparatur von Turbine 2 vornehmen zu können. Doch er hatte sich gründlich verschätzt und war mit seinem Schiff zu nah an die Felsen herangefahren. Ein gewaltiger Ruck lief durch den Kreuzer, als die Glorious auf die Felsen auflief. Kapitän Meaney ließ sofort die Rettungsboote klarmachen. Doch das Gefecht hatte die meisten davon unbrauchbar gemacht. Nur ein einziges war noch intakt. Und in diesem befand sich Phil Taylor, der leitende Ingenieur. Er hob die Hand an die Schläfe und grüßte.

Der Kommandant der Glorious erwiderte den Gruß.

„Viel Glück, Mr. Taylor. Ich hoffe, dass sie es noch heil nach Hause schaffen.“, sagte er noch.

„Danke, Sir. Ihnen auch alles Gute.“

Es sollte das letzte Mal sein, dass Phil Taylor den Kapitän lebend sah. Denn als das Boot auf dem Wasser aufsetzte, war ein lautes Kreischen zu hören, als die Glorious in zwei Teile zerbrach. Die Insassen begannen zu pullen, was das Zeug hielt, denn sie ahnten, welch tödliche Folgen der entstehende Sog haben konnte. Phil Taylor, als ranghöchster Offizier, hatte das Kommando inne.

„Sie sinkt!“, rief ein Matrose.

Phil Taylor drehte sich um, und sah das Heck der Glorious in den Fluten versinken. Der Bug folgte als nächstes. Für einen Augenblick konnte der leitende Ingenieur seinen Blick nicht von der Untergangsstelle des Kreuzers abwenden, auf dem er 4 Jahre lang gedient hatte. Doch dann holte ihn ein starker Ammoniakgeruch zurück in die Realität.

„Haben sie was verschüttet, Mr. Adams?“, fragte er einen Matrosen.

„Nein, Sir. Sie riechen es also auch?“

„Sonst hätte ich nicht gefragt, Mr. Adams.“, sagte Phil Taylor.

Ein anderer Matrose meldete sich zu Wort.

„Sir, es gibt eine Kreatur in den Ozeanen, die einen solchen Ammoniakgeruch verbreitet.“, sagte der Matrose.

Phil Taylor wurde stutzig.

„Und welches Tier soll das sein?“, fragte er dann.

„Ein Riesenkalmar. Lateinische Bezeichnung Architeuthis dux.“ 169

„Sie scheinen sich ja mit der Materie auszukennen, Mr. Briggs.“, sagte Phil Taylor.

„Ich hatte Biologie im Hauptfach, Sir.“

Kaum hatte der Matrose seinen Satz beendet, da wurde das Boot angehoben und auf den Kopf gestellt. Phil Taylor fiel ins Wasser. Doch als er wieder auftauchte, war die See um ihn herum ein Inferno. Ein Tentakel tauchte aus dem Wasser auf, packte den Biologiestudenten und zog ihn unter Wasser. Phil Taylor fing an zu schwimmen. Er wollte einfach nur noch weg. Er wusste, dass er den anderen nicht mehr helfen konnte. Ein lautes Krachen ertönte und der ehemalige leitende Ingenieur der Glorious sah Trümmerteile des verbliebenen Rettungsbootes durch die Luft fliegen. Ein Rumpfteil klatschte vor ihm ins Wasser. Phil Taylor schwamm darauf zu und klammerte sich daran fest.

Eine Welle trug den Mann aus Inverness über das Riff, direkt in die Lagune dahinter. Phil Taylor zog sich ganz aus dem Wasser, als er sah, wie mehrere Dreiecksflossen die Wasseroberfläche durchbrachen. Er wusste, dass waren Haie. Doch als der Kopf eines weißen Hais mit weit aufgerissenem Maul unmittelbar neben ihm aus dem Wasser auftauchte, bekam es Phil Taylor mit der Angst zu tun, obwohl er ein Mann war, der sich vor nichts fürchtete.

Es war Abend, und die Sonne begann am Horizont unterzugehen. Phil Taylor lag am Strand und atmete. Er versuchte aufzustehen, doch seine Beine versagten ihm vorerst den Dienst. Der Mann aus Inverness versuchte es erneut, und dieses Mal schaffte er es aufzustehen. Mit taumelnden Schritten ging er den Strand hinauf, bis er an die Grenze zwischen Ufer und dem Landesinneren gelangte. Phil Taylor hatte schon mehr als einmal Schiffbruch erlitten, und wusste, welche Gefahren ihn auf dieser Insel erwarten konnten.

Also zog er sein Überlebensmesser, dass er immer in einer wasserdichten Hülle, an seiner Wade befestigt, mit sich führte, und fing an, aus Palmwedeln ein Gerüst zu bauen. Dann folgten der Boden und die Wände. Phil Taylor kletterte auf seinen Unterstand für die Nacht und legte sich schlafen. Doch so richtig wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Der Schotte wand sich unruhig hin und her. Denn jedes Mal, wenn er im Begriff war einzuschlafen, erschienen vor seinem geistigen Auge die Bilder des Riesenkalmars und des Hais, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Doch irgendwann schlief Phil Taylor endlich ein.

Am nächsten Morgen, die Sonne fing gerade an, am Horizont aufzugehen, vernahm der ehemalige leitende Ingenieur der Glorious Stimmen, die sich seinem Lager näherten.

„Wer ist das?“, fragte eine Männerstimme.

„Weiß ich auch nicht. Aber wir sollten vorsichtig sein. Wir wissen nicht, ob er gefährlich ist.“ 170

Kurz darauf hielt jemand einen Speer vor Phil Taylors Nase. Diesem war klar, dass der Mann, der mit dem Speer auf seine Brust zielte, auch nicht davor zurückschrecken würde, von der Waffe Gebrauch zu machen. Phil Taylor blieb regungslos liegen und starrte auf den Speer. Doch dann tauchte aus dem Nichts eine Frau auf. Noch sah er sie nicht, aber er hörte ihre Stimme.

„Genug! Thorvald, nimm den Speer weg!“, befahl sie.

Phil Taylor hatte keinen Zweifel daran, dass diese Frau es gewohnt war, dass man ihr gehorchte. Der Soldat richtete sich auf und zog den Speer zurück, so dass der Schotte sich zumindest mal aufsetzen konnte. Dann trat die Frau in sein Blickfeld. Phil Taylor musterte die Frau aufmerksam. Sie war 1,56 m groß und hatte einen schlanken Körper, wie ihn kein Bildhauer hätte besser gestalten können. Das ovale Gesicht mit den wunderschönen braunen Augen und diesen wunderschönen Lippen faszinierte den Schiffbrüchigen. Die Nase, nicht zu dünn und nicht zu dick fügte sich harmonisch in dieses hübsche Gesicht ein. Die braunen Haare trug die Unbekannte vorne Kurz und hinten über die Schulter fallend. Um den Hals trug sie einen Anhänger mit einem Stoffband und einem Herz aus purem Gold. Bekleidet war die Frau mit einem figurbetonenden roten Minikleid mit Pailletten und rot-schwarzen Sandaletten mit silbernen Ornamenten. Auf dem Kopf trug sie ein goldenes Diadem mit Diamanten besetzt.

Phil Taylor ahnte sofort, dass er einer Person gegenüber stand, der man besser den ihr zustehenden Respekt entgegen brachte. So weit es seine Kräfte noch zuließen, ging er auf die Knie und verneigte sich.

„Du kniest vor niemandem nieder.“, sagte die fremde Frau.

Nur mühsam konnte sich der leitende Ingenieur der Glorious wieder auf die Beine stemmen. Der Soldat, Thorvald, der Phil Taylor mit dem Speer bedroht hatte wandte sich nun an die Frau.

„Wäre es nicht besser, ihn zu fesseln, und vorübergehend im Verließ eures Palastes unterzubringen?“, fragte er.

„Auf gar keinen Fall. Dieser Mann ist mein Gast. Wenn du auch nur ein einziges Mal Hand an ihn legst, hat das furchtbare Konsequenzen für dich.“

„Wie ihr wünscht, meine Königin.“, sagte Thorvald.

Phil Taylor staunte nicht schlecht, als er hörte, dass er einer Königin gegenüberstand. Doch er konnte sein Staunen aber geschickt unterdrücken. Der Mann aus Inverness wollte erneut auf die Knie gehen, doch die Königin hielt ihn zurück.

„Ich sagte doch, dass du vor niemandem mehr niederkniest. Du bist mein Gast. Willkommen auf Oamaru.“, sagte sie.

Phil Taylor wollte zu einer dankenden Antwort ansetzen, doch ein Kloß 171

Bildete sich in seinem Hals, Er wusste einfach nicht, wie er mit seiner Gastgeberin sprechen sollte, ohne sie zu beleidigen. Also nickte er stumm, was der Königin ein charmantes Lächeln entlockte. Doch im Gegensatz zu seiner Herrin, die diese abwertende Geste verzieh, stellte das Nicken in Thorwalds Augen eine Majestätsbeleidigung dar. Der Soldat nahm eine Peitsche, die am Sattel seines Pferdes hin. Damit wollte er Phil Taylor den nötigen Respekt gegenüber der Königin einprügeln.

Fast hätte der erste Peitschenhieb Phil Taylor erwischt. Doch er einzige Überlebende des Untergangs von HMS Glorious hatte den Angriff aus dem Augenwinkel kommen sehen. Geistesgegenwärtig fing der den Hieb ab, indem er das Ende der Peitsche mit der bloßen Hand auffing. Ein kurzer Ruck und Thorvald wurde nach vorn gezogen ehe es für ihn einen Schlag ins Gesicht setzte. Ein weiterer Soldat griff mit seiner Peitsche an, doch Phil Taylor hatte inzwischen einen Ast aufgenommen, mit dem er den Peitschenhieb abfangen konnte. Der Mann zerrte an der Peitsche, doch der Gast der Königin ließ einfach den Ast los und dieser traf den Soldaten mitten ins Gesicht. Thorvald griff wieder an, doch der Schotte packte ihn am Handgelenk und drückte die Faust zurück, sodass Thorvald sich selbst schlug.

Ein dritter Soldat hatte inzwischen den Ast aufgenommen und damit nach Phil Taylor geschlagen. Doch dieser hatte sich geduckt. Als Antwort gab es eine Schelle links, dann eine Schelle rechts, bevor der Mann aus Inverness dem Mann einen Stoß vor den Kopf verpasste. Doch noch im Fallen sprang ein vierter Soldat von den Gardisten, die die Königin begleitet hatten, über seinen Kameraden und schaffte es, Phil Taylor einen Schlag ins Gesicht zu verpassen, ehe es eine Schelle links gab. Ein weiterer Schlag in Phil Taylors Gesicht und eine Schelle rechts, dann gab es für den Mann einen Dampfhammer auf den Kopf. Thorvald hatte inzwischen seinen Säbel gezogen und stürmte auf Phil Taylor zu.

„Jetzt bist du dran! Jetzt bist du dran!“, rief er.

Doch der Mann aus Inverness nahm ihm die Waffe aus der Hand.

„Nicht bei mir.“, sagte er und brach die Klinge des Säbels in drei Teile.

Einem weiteren Soldaten entriss Phil Taylor seinen Säbel und warf ihn Thorvald zu.

„Hier, halt mal.“, sagte er dann.

„Mach ich.“

Doch Thorvald bekam einen Schlag ins Gesicht, als er den Säbel gefangen hatte. Dabei geriet er ins Taumeln und knallte mit dem Kopf gegen den Stamm einer Kokospalme. Drei Kokosnüssel fielen von oben herab und prallten auf Thorvalds Kopf. Der Mann aus Inverness packte ihn am Kragen seines Kettenhemds und zog ihn nach vorne. 172

„Es gibt noch mehr.“, sagte er, als eine vierte Kokosnuss von oben kommen sah.

Wieder griff ein Soldat ein, bewaffnet mit einem Bambusstock. Phil Taylor verpasste ihm damit einen Stoß vor die Brust und der Mann fiel nach hinten. Doch zwei weitere Soldaten griffen sich den Stock und versuchten, ihn nach hinten zu ziehen.

„Na was jetzt? Stemmen oder Stoßen?“, fragte Phil Taylor, ehe er den Bambusstab mit den beiden Soldaten hochhob. Dann drehte er sich um die eigene Achse und schleuderte die beiden Gardisten zur Seite weg. Doch im nächsten Augenblick schlugen ihm zwei Soldaten ins Gesicht. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Für die beiden setzte es zwei Schläge auf den Hinterkopf. Wieder griff ein Soldat mit dem Bambusstab an. Doch der Schotte fing den Schlag und drückte den Stab nach unten und stieß ihn dem Soldaten ins Gesicht. Thorvald kam von hinten. Doch Phil Taylor drehte sich zu ihm um.

Er fing zwei Schläge ab und sagte: „Du gehst mir auf die Nüsse!“

Dann setzte es für Thorvald eine doppelte Ohrschelle.

„Ich finde, es reicht jetzt!“, sagte die Königin streng.

Thorvald wollte schon den Befehl erteilen, Phil Taylor festzunehmen, da grätschte ihm seine Herrin erneut dazwischen.

„Wenn ich mich recht entsinne, hab ich dir doch vorhin untersagt, die Hand an meinen Gast zu legen. Du hast dich meiner Anordnung widersetzt, Thorvald. Du weißt, welche Strafe bei mir für Ungehorsam gilt.“, sagte sie kalt.

„Ja, ich weiß. Bei Ungehorsam wird man mit dem Tod bestraft.“

Die Königin seufzte.

„Wäre dies das erste Mal gewesen, dass du mir gegenüber Ungehorsam gezeigt hast, hätte ich es bei einer Verwarnung belassen. So aber bleibt mir keine andere Wahl. Gleich morgen früh wird über dich gerichtet werden.“, sagte die Königin, deren Namen Phil Taylor immer noch nicht kannte.

Dann befahl die Königin ihren Soldaten, sie in den Palast zurückzubringen. Thorvald wurde gefesselt und auf sein Pferd gehoben. Phil Taylor ging auf ihren Wunsch neben ihr. Eine Zeitlang sagte keiner ein Wort. Doch es war die Königin, die schließlich das Schweigen brach.

„Wie ist dein Name, Fremder?“, fragte sie schließlich.

„Phil Taylor. Und wer ist meine liebreizende Gastgeberin?“

„Ich bin Königin Jelena. Die erste Königin auf Oamaru.“, sagte Jelena. 173

„Die erste?“

„Ja. Außer mir regieren hier noch meine Schwester Eliska und meine Cousinen Shakira und Wioletta.“, sagte Königin Jelena.

„Verstehe.“

„Woher kommst du?“, wollte Jelena wissen.

„Aus Inverness, Hoheit.“

„Gehört das zu Großbritannien?“, fragte die Königin.

„Ja. Warum fragt ihr?“

„Iduna sei Dank.“, sagte Jelena.

Phil Taylor stutzte.

„Wer ist Iduna?“, fragte er Jelena.

Doch ihre Antwort war alles andere als zufriedenstellend.

„Das erfährst du, wenn wir im Palast sind.“, sagte sie nur.

Der Mann aus Inverness beschloss, es vorerst auf sich beruhen zu lassen.

Als es Mittag wurde, erreichte die Gruppe Jelenas Palast. Phil Taylor bewunderte das eindrucksvolle Gebäude Mit den vielen großen Fenstern. Die Außenfassade des Haupteingangs war ebenso imposant. Auffällig waren die beiden Türme im gotischen Stil mit dem riesigen Rosettenfenster in der Mitte. Den Haupteingang bildete eine halbkreisförmig angeordnete Säulenreihe mit Ziegeldach. Links und rechts führte eine Treppe aus weißem Marmor und geschmiedeten verschnörkelten Treppengeländern nach oben. Ein großzügig angelegter Garten ergänzte das Gesamtbild der Eingangsbereichs von Jelenas Palast.

Die Königin führte Phil Taylor ins Gebäude. Sie wies ihre Dienerinnen an, ihren Gast in eines der Badezimmer zu führen. Sie selbst verschwand in ihren privaten Gemächern. Phil Taylor sah ihr nach. „Sie ist wirklich attraktiv“, dachte er. Doch die Stimme einer Dienerin holte ihn in die Realität zurück.

„Wäre der Fremde so freundlich, mit uns zu kommen?“, fragte sie freundlich.

Phil Taylor nickte.

„Hier entlang, Fremder.“, sagte die Dienerin und ging voran.

Der Mann aus Inverness folgte ihr. Jelenas Dienerin führte den Schotten einen langen Flur entlang, bis sie vor einer großen Doppeltür standen. Die 174

Dienerin öffnete eine Tür und geleitete Phil Taylor in einen riesigen Saal mit marmornen Wänden. In der Mitte des Raumes befand sich ein rundes Becken. Die Dienerinnen verneigten sich kurz.

„Wir lassen dich jetzt allein. Dann kannst du ungestört baden.“, sagte die eine.

Danach schloss sich die Tür. Phil Taylor entkleidete sich und testete mit dem Fuß die Temperatur des Wassers. Dann stieg er in das Becken. Er war so damit beschäftigt, nach Seife und Waschlappen zu suchen, dass er nicht merkte, wie sich eine Seitentür öffnete. Königin Jelena betrat den Raum, bekleidet mit einem roten Bademantel aus purer Seide. Erst als sie ihn mit einem Rascheln fallen ließ, nahm Phil Taylor wahr, dass er nicht alleine im Raum war. Dann trat die Königin in sein Blickfeld. Nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, setzte sie sich an den Rand des Beckens und schlug lasziv ihre Beine übereinander.

„Was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?“, fragte sie.

„Tut ihr das nicht schon?“

Königin Jelena lachte.

„Ich glaube, wir haben aneinander vorbeigeredet. Ich meinte, ob ich dir im Becken Gesellschaft leisten darf.“, sagte sie.

„Ich dachte… dass eine Königin… gar nicht um Erlaubnis fragen braucht.“

Phil Taylor fühlte sich unwohl. Nervös rieb er sich den Nacken. Im Grunde genommen, so gestand er sich ein, kannte er die erste Königin Oamarus gar nicht. Vor ein paar Stunden waren sie sich am Strand das erste Mal begegnet. Und schon da hatte Jelena ihn geduzt, anstatt einen förmlichen Ton walten zu lassen, wie er es tat. Das verwirrte ihn. „Offenbar mag sie mich.“, schoss es Phil durch den Kopf, „denn weshalb sollte sie sonst ihre schützende Hand über mich halten?“ Und noch etwas musste sich Phil Taylor eingestehen. Er hatte zwar schon oft eine nackte Frau gesehen, wenn er auf Landgang in einem Freudenhaus eingekehrt war, aber keine war so eine wunderschöne Frau, wie Königin Jelena. „Sie scheint eine Frau zu sein, die sich ihrer Weiblichkeit und ihrer Attraktivität durchaus bewusst ist.“, dachte er. Die Königin merkte, wie nervös Phil Taylor war.

„Ist alles in Ordnung? Du scheinst etwas durcheinander zu sein.“, sagte sie sanft.

„Nun ja,… Ihr seid eine… eine Königin. Solltet ihr da nicht… auf die… Etikette achten?“

Erneut lachte Jelena. Dann stützte sie sich am Rand des Beckens ab und ließ sich ins Wasser gleiten. Und ehe Phil Taylor es sich versah, war sie bei ihm und sah ihn aus ihren braunen Augen liebevoll an. Mit dem was als nächstes geschah, rechnete Phil Taylor am allerwenigsten. Denn Jelena legte ihren rechten Arm um seinen Nacken, den linken um seinen Rücken und küsste 175

ihn. Er erwiderte den Kuss. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, sah die Königin, wie ihr Gast vor Verlegenheit ganz rot wurde. Sie schenkte ihm das schönste Lächeln zu dem sie fähig war. Doch dann wurde sie ernst.

„Ich will eine Sache ein für allemal klar stellen. Das hier ist mein Haus. Und hier gelten meine Regeln. Du bist zwar mein Gast, aber du bist kein Diplomat, sondern einfacher Mann, der an unserer Küste gestrandet ist.“, sagte sie.

„Solltet ihr…“

Weiter kam Phil Taylor nicht, denn Jelena legte ihm den Zeigfinger ihrer linken Hand an die Lippen.

„Die Etikette wahren? Wolltest du das sagen?“, fragte sie.

Er nickte.

Erneut lächelte die Königin.

„Wir beide brauchen uns nicht an die Etikette zu halten. Wir sind allein. Außer uns beiden ist niemand hier. Wir können ganz ungezwungen miteinander reden, ohne das uns jemand belauscht.“, sagte Jelena.

„Die Frage ist nur… wo anfangen.“

„Du wolltest doch am Strand wissen, wer Iduna ist.“, sagte Jelena.

„Das stimmt.“

„Iduna ist unsere oberste Göttin. Sie schützt nicht nur die Kleeblattinsel, sondern auch die Inseln, die sie umgeben.“, sagte Jelena.

„Kleeblattinsel?“

„Ja. So wird Oamaru auch genannt.“, sagte Jelena.

Dann zeichnete sie mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand ein vierblättriges Kleeblatt auf den Beckenrand. Schließlich wandte sie ihr Gesicht wieder Phil Taylor zu.

„Jedes der Kleeblätter steht für ein Königreich.“, erklärte sie ihm.

„Und er regiert den Stängel?“

„Einst war es Tosh Kamars Reich. Heute lebt dort niemand mehr.“

„Tosh Kamar? Wer ist das?“

„Ein böser Herrscher. Er wollte die Kontrolle über die Quelle erlangen, die sich im Zentrum der Insel befindet. Wir haben ihn damals verbannt. 176

Doch er kehrte wieder zurück. Am Tag seiner Rückkehr hat er einen Fluch über diese Insel verhängt. Seitdem leben wir in Furcht vor ihm.“, sagte Jelena.

„Ich verstehe nicht ganz, Jelena.“

„Beim Abendessen erzähle ich dir mehr.“, sagte die Königin.

Es war 18:00 Uhr, als Phil Taylor von Jelenas Dienerinnen in den Speisesaal geführt wurde.

„Seine Majestät kommt gleich.“, sagte eine Dienerin.

Nur kurze Zeit später erschien Jelena. Dieses Mal trug sie ein dunkelblaues eng anliegendes Kleid, das eine Schulter frei ließ, während die andere bedeckt war. Auf dem Kleid waren drei Fäden aus Silber und drei aus Gold eingenäht. Dazu trug die Königin dunkelblaue Schuhe mit flachen Absätzen. Der einzige Überlebende des Untergangs der Glorious wollte sich ans andere Ende des Tisches setzen, doch die erste Königin Oamarus hielt ihn zurück.

„Ich wünsche, dass du den Platz zu meiner Linken einnimmst, Phil.“, sagte sie.

Der Schotte setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz.

„Verstößt du damit nicht schon wieder gegen die Etikette, Jelena? Ich meine…“

Doch weiter kam der Mann aus Inverness nicht. Denn Jelena legte ihm eine Hand auf die Lippen.

„Du und deine Etikette. Warum willst du dich immer daran halten? Hier auf Oamaru und speziell in meinem Haus gelten andere Gesetze. Ich mag dich, und deshalb nehme ich es mit den Konventionen nicht so genau. Obwohl sie durchaus angebracht wären.“, sagte sie dann.

„Was ist mit Tosh Kamar und seinem Fluch?“

„Tosh Kamar hat einen Fluch über Oamaru verhängt. Wenn unser aller Heiligtum nicht binnen 5.000 Monden wieder in den Tempel zurückgebracht wird, dann wird sein Riesenkalmar aus den Tiefen des Ozeans auftauchen und diese Insel in die Tiefe ziehen.“, beantwortete Königin Jelena Phil Taylors Frage.

„Was für ein Heiligtum ist das?“

„Ein Feueropal.17 cm lang, 10 cm breit und er hat einen Durchmesser von 16 cm. Eine Bande Piraten hat ihn am 15. Mai 1712 gestohlen. Tosh Kamar hat ihnen dabei geholfen.“, sagte Jelena.

„Und was hat das mit mir zu tun, Jelena?“

„Du bist einer der vier Auserwählten, die den Feueropal wieder 177

zurückbringen sollen. James Beatle, dein Vorfahr war ein Mitglied des Landungstrupps, der den Opal gestohlen hat. In deiner Tasche, die du die ganze Zeit mit dir herumträgst, befinden sich seine Aufzeichnungen und ein Teil der Karte, die das Versteck des Opals zeigt.“, sagte Jelena.

„Und wer sind die anderen?“

„Zwei sind schon hier. Der eine ist Dirk Hemmler. Er ist Deutscher und war Heizer auf dem großen Kreuzer Goeben. Der andere ist Jewgeni Moskrovnovitch. Er war der zweite Offizier auf dem geschützten Kreuzer DIANA. Er ist der Russe. Der vierte im Bunde ist ein Schwede. Aber frag nicht nach seinem Namen.“, antwortete Jelena.

Phil Taylor wurde nervös. Denn er stand an einem Scheideweg. Auf der einen Seite wollte er nicht, dass Jelena und ihre Insel für immer im Meer versanken. Denn, so musste er sich eingestehen, er liebte die Königin. Auch wenn es die gesellschaftlichen Regeln nicht erlaubten. Aber auf der anderen Seite befand sich die Welt außerhalb der Insel im Krieg. Und einer der anderen Überlebenden war ein Feind. Und er war seinen Vorgesetzten gegenüber immer noch zu Treue und Loyalität verpflichtet. Wie sollte er sich entscheiden? Für die Liebe? Oder für die Pflicht gegenüber seiner Heimat? Die erste Königin Oamarus bemerkte diesen Umstand.

„Bedrückt dich etwas, Phil?“, fragte sie besorgt.

„Ich steh vor einer folgenschweren Entscheidung.“

„Was ist los? Du kannst mit mir über alles reden.“, sagte Jelena.

„Ich muss meine Wahl treffen.“

„Und zwischen was musst du wählen?“, fragte die Königin.

„Zwischen dir und meiner Heimat.“

Jelena sah Phil Taylor fragend an.

„Auf der einen Seite will ich nicht, dass du und die anderen ein nasses Grab findet. Auf der anderen Seite herrscht Krieg und ich bin meiner Heimat gegenüber dazu verpflichtet sie zu schützen.“

„ Das versteh ich nicht, Phil. Du sprichst in Rätseln.“, sagte Jelena.

„Wenn du stirbst, würde ich mir das nie verzeihen. So wie dich habe ich noch keine andere Frau geliebt.“

Jelena wurde warm ums Herz.

„Du liebst mich?“, fragte sie mit Tränen in den Augen. 178

„Ja, Jelena. Ich liebe dich.“

Phil Taylor spürte, wie ihm eine tonnenschwere Last von der Seele fiel. Die ganze Zeit hatte er dieser Frau sagen wollen, dass er sie liebte, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Nun hatte er den Mut gefunden, es ihr zu sagen.

„Falls du es nicht bemerkt hast, Phil. Ich liebe dich auch.“, sagte Jelena.

Nach dem Abendessen, das aus einem gemischten Salat, einer Tomatensuppe, gebratenem Hähnchen und einem selbstgemachten Erdbeerquark wollte Phil Taylor sich zurückziehen. Doch die Königin hatte andere Pläne.

„Trinkst du noch ein Glas Wein mit mir?“, fragte sie.

„Wenn du mich schon so charmant einlädst, sage ich garantiert nicht nein.“

Jelena ging voraus und führte den Schotten in die Bibliothek. Dort trat sie an eines der großen Fenster, das einen Block auf den Ozean gewährte. Sie nahm ein Glöckchen von ihrem Sekretär und klingelte damit. Nur kurze Zeit später erschien ein Diener.

„Ihr habt geläutet, meine Königin?“, fragte er.

„Bringe uns bitte zwei Gläser Port, Jean-Pierre.“

„Tres Oui, Hoheit.“, sagte der Diener und schloss die Tür hinter sich.

Keine 10 Minuten später kehrte er mit zwei Gläsern portugiesischen Rotweins zurück.

„Braucht ihr mich noch?“, fragte der Diener dann.

„Nein. Du kannst dich zurückziehen.“

„Danke, meine Königin.“

Jelena reichte ihrem Gast ein Glas, dann sah sie wieder zum Fenster hinaus.

„Wenn die Sonne anfängt unterzugehen, wird Tosh Kamars Riesenkalmar aus der Tiefsee auftauchen und die See in ein wildes Inferno verwandeln.“, sagte sie.

„Du meinst, wie gestern, als ich hier ankam?“

„Ja, Phil. Der Riesenkalmar hat dich doch als einziger verschont, nicht wahr?“, sagte Jelena.

„Das hat er. Die anderen hat er mit in sein Reich genommen. Ich werde ihre Angstschreie nie vergessen.“

In diesem Augenblick begann die Sonne unterzugehen und den Horizont 179

blutrot zu färben.

„Wenn das Wasser sich vom Sonnenlicht rot färbt, dann erscheint er.“, sagte Jelena.

Phil Taylor konnte nicht anders, als einen Arm beschützend um die Schulter der ersten Königin zu legen. Die Sonne war bereits zur Hälfte untergegangen, als sich die Fluten teilten, und der Riesenkalmar die Wasseroberfläche durchbrach. Wild schlug er mit seinen Tentakeln und seinen beiden Fangpeitschen auf das Wasser und brachte die See zum Brodeln. Nun wusste Phil Taylor, wie er sich zu entscheiden hatte.

„Ich lasse dich nicht im Stich, Jelena. Und wenn es mich das Leben kosten sollte.“, sagte er.

Die Königin hielt ihm ihre Hand vor den Mund.

„Sag so etwas nicht, Liebling. Dich zu verlieren, würde mir das Herz brechen.“, sagte sie und weinte. 180

Buch 2 - Kapitel 4

Buch 2 – Kapitel 4

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Der dritte der vier Auserwählten hat seinen Weg zu uns gefunden. Doch noch fehlt einer. Wann wird er kommen? Und können die vier Tosh Kamars Racheplan vereiteln? Unser aller Feind will nach wie vor unseren Untergang. Iduna! Wir flehen dich an! Lass uns in dieser schweren Stunde nicht ungeschützt!“

7. August 1916 3 Monate nach der Strandung der Goeben

Strandung der Fylgia

White Hall, London, Vereinigtes Königreich, 7. August 1916 11:00 Ortszeit

Sir Hedworth Meux, Admiral of the Fleet, saß im Büro von Winston Churchill. Der erste Lord der Admiralität hatte ihn zu einer Unterredung gebeten.

„Gibt es Neuigkeiten von der Glorious?“, fragte Winston Churchill Sir Hedworth.

„Sie ist gesunken. Ein amerikanischer Trawler hat den Untergang beobachtet. Laut dem Funkspruch hat nur Phil Taylor, der leitende Ingenieur überlebt.“

„Hatte Mr. Taylor Familie, Sir Hedworth?“, fragte der erste Lord.

„Nein, Sir. Phil Taylor ist ledig und hat keine Kinder. Sein Vater ist zwei Tage nach Ausbruch des Krieges an einem Herzinfarkt verstorben. Seine Mutter letztes Jahr am Tag der Versenkung der Lusitania an Lungenkrebs.“

Winston Churchill zog an seiner Zigarre.

„Was hat der Trawler noch gefunkt?“, fragte er dann.

„Der Kapitän berichtet von einer Insel.“

„Sonst nichts?“, wollte der erste Seelord wissen.

„Das war alles.“

„Ist diese Insel auf einer Karte verzeichnet?“, fragte Winston Churchill Sir Hedworth.

„Nein, Sir. Aber ausgehend von der Meldung des Trawlers und der Meldungen der „Leipzig“ und der „Slawa“ müsste die Insel hier liegen.“

Sir Hedworth Meux trat an die große Weltkarte und markierte die Stelle. Dann markierte er die Positionen der gestrandeten Schiffe. Winston Churchill zog 181

erneut an seiner Zigarre und runzelte die Stirn.

„Sollte diese Insel wirklich existieren, dann erinnert sie mich an ein Kleeblatt, Sir Hedworth.“, sagte er.

Buenos Aires, Argentinien, 7. August 1916, 7:00 Uhr Ortszeit

Im Hafen herrschte helle Aufregung. Denn es war ein Schiff angekommen, das sich sonst nie hierher verirrte. Es war der schwedische Panzerkreuzer Fylgia. Das Schiff war 117 m lang und 14,8 m breit. Die Fylgia verdrängte maximal 4.980, bei einem Tiefgang von 6,3 m. Die Hauptbewaffnung des schwedischen Panzerkreuzers bestand aus vier Doppeltürmen mit einem Kaliber von 15,2 cm. Dazu kamen noch 14 57mm-Schnellfeuergeschütze. Außerdem trug die Fylgia noch zwei 45,7-cm-Torpedorohre und 37mm-Maschinenkanonen. Der maximale Kohlenvorrat betrug 850 Tonnen. Die beiden 4-Zylinder-Dreifach-Expansionsmaschinen leisteten 12.000 Ps und übertrugen diese auf zwei Schrauben. Das Schiff konnte bei voller Kraft 22,77 Knoten laufen. Wurde die Geschwindigkeit auf 10 Knoten reduziert schaffte die Fylgia eine Strecke von 8.000 Seemeilen. Das Schiff hatte eine Besatzung von 322 Mann, davon 50 Kadetten.

Dem schwedischen Kreuzer war am 31. Juli der Ausbruch aus dem Marinestützpunkt Karlskrona gelungen, nachdem die Österreich-ungarische Marine Schweden von jeglichem Nachschub abgeschnitten hatte. Damit hatte man einen Bruch des Völkerrechts begangen, indem man einen neutralen Staat als Faustpfand missbrauchte, um seine eigenen Interessen durchzusetzen.

Die Fylgia war zunächst nach New York gelaufen, wobei sie unterwegs mehrfach von einem englischen Kohlentender versorgt werden musste. Doch der Österreich-ungarische Geheimdienst hatte eine Meldung ins Hauptquartier nach Wien geschickt, als das schwedische Kriegsschiff in New York City eingelaufen war. Sofort wurde, ein U-Boot, die SM U 47, in die Gewässer um die Stadt beordert, um die Fylgia abzufangen. Doch Kapitän Fredrik Riben war nicht auf den Kopf gefallen. Er hatte Kohlen und Vorräte soweit ergänzt, dass es reichte, um es bis in die argentinische Hauptstadt zu schaffen. Am7. August um 3:00 Uhr morgens war die Fylgia in Buenos Aires eingelaufen. Am Kai vor ihr lag ein niederländischer Passagierliner. Es war die „Rotterdam“ der Holland-America Line. Deren Kapitän hatte seinem schwedischen Kollegen von einem deutschen Schlachtschiff berichtet, das nach Buenos Aires unterwegs sein sollte.

Kapitän Riben hatte deshalb beschlossen, um Mitternacht Buenos Aires zu verlassen. Im Moment wurde die Fylgia mit Kohlen beladen. Ein Pritschenlaster aus dem Hause Ford stand am Kai. Ein Mann stand auf der Pritsche und füllte mit einer Schaufel Kohlebriketts in Jutesäcke, die an Bord des Kreuzers gebracht wurden. Als der Ford-LKW entladen war, sprang der Mann von der Pritsche. Der Wagen wendete und der nächste Lastwagen fuhr vor. Der Fahrer im Führerhaus sah zu dem schwedischen Panzerkreuzer hinüber. Die Brücke der Fylgia befand sich oben auf einem kleinen Turm. Auffällig waren auch die drei Schornsteine, die für die kleineren Kreuzer typisch waren. 182

An Bord von „Friedrich der Große“

Kapitän zur See Theodor Fuchs stand auf der Brückennock der Backbordseite und sah durch sein Fernglas. Er hoffte, dass die fingierte Nachricht aus Berlin ihre Wirkung nicht verfehlen, und den schwedischen Kommandanten zu einem vorzeitigen Auslaufen aus Buenos Aires zwingen würde. Die Befehle, die er von der Admiralität erhalten hatte, waren eindeutig. Er sollte die Fylgia stellen und auf den Meeresboden schicken. Also hatte er am anderen Ende des Panamakanals Stellung bezogen und patrouillierte dort, bis der schwedische Panzerkreuzer auftauchte. Und sollte es der Fylgia gelingen, sich unbemerkt am deutschen Großlinienschiff vorbeizuschleichen, so stand auf der Höhe von Rio de Janeiro das deutsche Linienschiff „Großer Kurfürst“. Das Schiff war nach dem Gefecht mit dem britischen Geschwader nach Valparaíso in die Werft verholt und repariert worden.

Buenos Aires, Argentinien, 8. August 1916, 0:00 Uhr Ortszeit

Es war soweit! Die Fylgia machte sich auf ihre Reise. Kapitän Riben hatte bereits eine halbe Stunde vorher den Befehl „Alle Kessel „Dampf auf“.“, erteilt. Sein erster Offizier Lars Eric Holm überwachte das Ablegemanöver. Er war ein Mann mit einem Waschbrettbauch, bei dem jede Frau schwach werden konnte. Der 26jährige war 1,84 m groß und hatte schulterlanges, braunes Haar. Der Blick aus seinen blauen Augen war kalt und stechend. Das markante Kinn des Mannes war von einem leichten Vollbart bedeckt. Auf seiner rechten Schulter, sowie einem Teil des rechten Oberarms trug Lars Eric Holm eine Tätowierung, die nur dann zum Vorschein kam, wenn er sein Uniformhemd auszog. Sein rundes Gesicht strahlte Freundlichkeit und Güte aus. Doch die Pflicht gegenüber seinem Heimatland Schweden stand für den Mann aus Trollhättan stets an erster Stelle. Die Nase war zwar fast ein bisschen zu breit, fügte sich aber harmonisch in das Gesicht des jungen Offiziers ein.

Lars Eric Holm beobachtete von der Brückennock an Backbord, wie vier kräftige Hafenarbeiter die meterdicken und schweren Taue loswarfen, die von Matrosen der Fylgia aus dem Wasser gezogen und dann auf dem Vordeck fein säuberlich aufgerollt wurden. Danach zogen zwei Schlepper den schwedischen Panzerkreuzer von seinem Liegeplatz im Hafen der argentinischen Hauptstadt weg und drehten das Schiff mit dem Bug in Richtung offene See.

Um 0:10 Uhr hatte die Fylgia den Hafen von Buenos Aires hinter sich gelassen. Kapitän Fredrik Riben hatte nach Rücksprache mit seinem ersten Offizier entschieden, die 10 Stunden lange Passage durch den Panamakanal zu nehmen.

Nun lag das schwedische Kriegsschiff im Hafen von Colon, welcher den Eingang zum Kanal bildete. Von dort führte die nächste Etappe zu den Schleusen von Gatun mit ihren drei Kammern, die den Weg in den Gatunsee ebneten. Diesem schloss sich der Gaillard-Kanal an, den die Fylgia am Folgetag erreichen sollte. Danach sollte es durch die Miraflores-Schleusen mit ihren zwei Kammern in den Hafen von Balboa gehen, der das Ende des Panamakanals bildete. 183

Um 14:35 Uhr konnte der schwedische Panzerkreuzer seine Reise fortsetzen, denn es waren noch drei größere Schiffe vorher zur Einfahrt in den Kanal vorgesehen. Einer davon war ein deutscher Passagierliner, die Prinz Friedrich Wilhelm des Norddeutschen Lloyd, die man nach Valparaíso verlegte, um einer Beschlagnahmung durch die US-Regierung zu entgehen.

An Bord der Prinz Friedrich Wilhelm, die gerade den Gatun-See durchquerte, befand sich ein deutscher Spion. Er selbst nannte sich Klaus Kerner. Doch sein wirklicher Name lautete Wilhelm Anschütz. Der 1,80 m große Mann mit den stechend blauen Augen und dem ovalen, von einem blonden Vollbart bedeckten Gesicht stand achtern und beobachtete mit einem Fernglas die Fylgia, die gerade hinter der nächsten Biegung des Seeufers in Sicht kam. Dem deutschen Spion war sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Der schwedische Panzerkreuzer hatte sich erfolgreich von New York City nach Buenos Aires durchgeschlagen und versuchte nun, einen neutralen Hafen an der Pazifikküste zu erreichen. Wieso zum Teufel, schafften es die deutschen Kriegsschiffe und U-Boote einfach nicht, das schwedische Kriegsschiff zu versenken?

Wilhelm Anschütz wusste, was jetzt zu tun war. Er musste einen Funkspruch an die Admiralität schicken, und ihnen mitteilen, dass die Fylgia erneut entkommen war. Und er musste Berlin melden, wohin der schwedische Kommandant wollte. Vielleicht konnte die Fylgia auf diese Weise unschädlich gemacht werden. Allerdings, dessen war sich Wilhelm Anschütz durchaus bewusst, würde er mit seiner Meldung eine Anweisung des Kapitäns der Prinz Friedrich Wilhelm missachten. Man hatte ihn angewiesen, absolute Funkstille zu bewahren, da er sonst die Position des Schiffes an den Feind verraten würde. Und es gab genug englische Kriegsschiffe im Pazifik, die der Prinz Friedrich Wilhelm auflauerten.

Wilhelm Anschütz saß zwischen zwei Stühlen. Auf der einen Seite, durfte er nicht riskieren, dass der Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd von den Engländern aufgebracht wurde, auf der anderen Seite konnte er Berlin bezüglich der Fylgia nicht im Unklaren lassen. Wenn der schwedische Panzerkreuzer unbehelligt blieb, dann würde der Erfolg die übrigen schwedischen Einheiten dazu ermutigen, ebenfalls einen Ausbruch aus Karlskrona zu wagen.

Wilhelm Anschütz beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Denn in einem solchen Fall ging die Dringlichkeit über jede Geheimhaltung. Und als wäre es Gedankenübertragung kam in diesem Augenblick der Kapitän des Lloyd-Dampfers im Rahmen seiner Inspektionsrunde vorbei. Er ging auf Wilhelm Anschütz alias Klaus Kerner zu.

„Alles in Ordnung, Herr Kerner?“, fragte er den Spion.

„Schön wärs. Sehen sie den Kreuzer, der uns folgt?“

„Selbstverständlich sehe ich den, mein Herr.“, sagte der Kapitän.

„Das ist der schwedische Panzerkreuzer Fylgia. Dem Schiff ist vor 8 184

Tagen der Ausbruch aus dem Marinestützpunkt in Karlskrona geglückt. Dieses Schiff wird vermutlich nach Chile durchbrechen wollen.“

„Das heißt, dass sie die Funkstille brechen wollen?“, fragte der Kapitän der Prinz Friedrich Wilhelm.

„Ich muss. Es ist meine Pflicht, Berlin zu warnen. In diesem Fall geht die Dringlichkeit über die Geheimhaltung. Ich erwarte nicht, dass sie das verstehen, Herr Kapitän. Dennoch muss es sein.“

Der Kapitän nickte.

„Meinetwegen. Aber wenn uns ein englischer Kreuzer aufbringt, dann sind sie dran schuld, Herr Kerner. Dann möchte ich nicht in ihrer Haut stecken. Sie wissen doch, dass die Tommys sie suchen.“, sagte der Kapitän der Prinz Friedrich Wilhelm.

Keine 10 Minuten später war der Funkspruch abgeschickt. Allen Beteiligten war natürlich klar, dass sie den Lloyd-Dampfer den Engländern mehr oder minder auf dem Silbertablett serviert hatten. Und damit auch Wilhelm Anschütz selbst, der bei der englischen Spionageabwehr unter dem Spitznamen „Rooster“ bekannt war.

Admiralität, Stockholm, Schweden, 9. August 1916, 20:00 Uhr Ortszeit

Magnus Ericsson betrat das imposante in rot und weiß gehaltene Gebäude, in die Admiralität ihr Quartier hatte. Er war gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt. Sein Vorgesetzter, Admiral Louis Palander, hatte ihm dazu geraten. „Machen sie mal richtig Urlaub. Besuchen sie mal ihre Eltern.“, hatte der Admiral damals gesagt. Ein Rat, den Magnus nur zu gern befolgt hatte. Das war vor 6 Wochen gewesen. Nun war er erholt und als frisch gebackener Ehemann nach Stockholm zurück gekehrt. Seine Ehefrau Pernila Forsberg, eine gutaussehende Brünette aus Svedala, hatte die Rückreise nach Stockholm mit angetreten. Am heutigen Tag hatte Admiral Palander deutlich gemacht, dass er ihn nicht vor 20:30 Uhr zu sehen wünschte.

Magnus Ericsson betrat als erstes die Schreibstube, speziell die Abteilung für eingehende Funksprüche. Einer der Schreiber kam ihm mit einem neuen Funkspruch in der Hand entgegen. Als er Admiral Palanders persönlichen Adjutanten sah, strahlte er über beide Backen.

„Hey Magnus! Wieder im Lande?“, sagte er freudestrahlend.

„Wie du siehst, Ulf.“

„Was gibt’s bei dir so neues?“, fragte Ulf.

Als Antwort hielt ihm Magnus Ericsson seine rechte Hand vor die Nase. 185

„Jetzt sag bloß, du hast geheiratet.“, sagte Ulf.

„Ja. Meine Jugendliebe. Pernila heißt sie.“

„Oh je! Du Ärmster!“, seufzte Ulf.

„Wieso „Du Ärmster“?

„Na ja. Jetzt geht es nur noch bergab mit dir. Frauen können ganz schön kostspielig sein.“, sagte Ulf.

„Komm schon Ulf. Du bist nur neidisch, weil dich keine Frau will. Du bist viel zu hässlich.“

„Ich bin nicht hässlich. Nur unrasiert.“, sagte Ulf.

Doch dann fiel ihm die Nachricht ein, die er in der Hand hielt.

„Die muss zum Chef.“, sagte er dann.

„Gib her. Ich muss eh zum Admiral.“

„Das ist ein Funkspruch vom Lloyd-Dampfer Prinz Friedrich Wilhelm. So wie es aussieht, hat die Fylgia es wieder geschafft, ihren Verfolgern zu entkommen.“, sagte Ulf.

Magnus Ericsson nahm die Nachricht des deutschen Passagierliners und ging weiter zum Büro seines Vorgesetzten. Pünktlich um halb neun klopfte Admiral Palanders persönlicher Adjutant an die Tür zum Büro seines Chefs.

„Herein!“, hörte Magnus Ericsson die Stimme seines Vorgesetzten.

Admiral Palanders Adjutant öffnete die Tür und trat ein.

„Willkommen zurück, Mr. Ericsson. Wie war ihr Urlaub?“, sagte der Admiral.

„Erholsam. Danke der Nachfrage.“

„Schön, dass sie eine gute Zeit hatten. Wie geht es eigentlich ihren Eltern?“, sagte Louis Palander.

„Denen geht’s gut. Ich soll ihnen ganz liebe Grüße bestellen. Und natürlich auch von meiner Frau.“

Admiral Palander stutzte.

„Seit wann sind sie denn verheiratet?“, fragte er seinen Adjutanten.

„Seit drei Wochen, Admiral.“ 186

„Dann wünsche ich ihnen, und natürlich auch ihrer Gattin von Herzen alles Gute.“, sagte Louis Palander.

„Danke, Admiral.“

„Kommen wir aber nun zu unserem Job zurück. Haben sie was für mich?“, wollte Admiral Palander wissen.

Magnus Ericsson reichte seinem Chef den abgefangenen Funkspruch der Prinz Friedrich Wilhelm. Der Admiral las die Nachricht und nickte dann.

„Gut, gut. Kapitän Riben hat es also tatsächlich geschafft, den Deutschen zu entkommen. Wo ist das Schiff jetzt?“, wollte er dann wissen.

„Wenn man die Zeitverschiebung mit einberechnet, dann dürfte sich die Fylgia zurzeit im Panamakanal befinden. Und zwar im Gatun-See.“

„Das würde bedeuten, dass sich die Prinz Friedrich Wilhelm vor der Fylgia befindet.“, sagte Louis Palander.

„Vieles deutet darauf hin. Außerdem haben wir gesicherte Informationen, dass sich ein deutscher Spion auf dem Schiff befindet. Bei den Engländern hat er den Codenamen „Rooster“.

Balboa, Panama, 14.August 1916, 9:00 Uhr Ortszeit

Die Fylgia hatte es geschafft. Sie hatte den Panamakanal durchquert und hatte im Hafen von Balboa festgemacht. Dort wurden Kohlen und frische Vorräte an Bord genommen. Um 13:00 Uhr lief die Fylgia aus Balboa aus, gefolgt von ihrem niederländischen Versorgungsschiff. Die beiden Schiffe waren 12 Meilen vom Hafen entfernt, als dem ersten Offizier des schwedischen Panzerkreuzers auffiel, dass der Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd gestoppt hatte. Längsseits lag der englische Schlachtkreuzer Repulse. Lars Eric Holm beobachtete, wie ein Boot von der Repulse ablegte und auf die Prinz Friedrich Wilhelm zusteuerte. Offenbar hatten die Engländer den Lloyd-Dampfer gestoppt und schickten nun ein Suchkommando hinüber. Lars Eric Holm ahnte, was das zu bedeuten hatte. Es war ein offenes Geheimnis, dass der englische Geheimdienst, MI6, einen der deutschen Topspione, nämlich den „Rooster“ Wilhelm Anschütz zu fassen kriegen wollte.

Doch das war gar nicht so leicht. Denn der deutsche Spion war zu gerissen. Außerdem hatte er genügend Kontaktleute, die ihn warnten, wenn die Engländer einen Zugriff planten. Ein Agent der Abteilung III b, der als Heizer auf dem Lloyd-Dampfer eingeschleust worden war, hatte Anschütz kurz vor dem Einlaufen in den Hafen von Balboa gewarnt. Wilhelm Anschütz war es schleierhaft, wie der Mann an diese Informationen gekommen war, doch er hatte nicht gefragt. Denn eine ungeschriebene Regel im Spionagegeschäft lautete niemals seine Quellen zu gefährden oder zu verraten. Auch nicht unter Kollegen. Wilhelm Anschütz war ein Mann, der Warnungen ernst nahm wenn sie 187

ausgesprochen wurden. Und so war er noch in Balboa von Bord der Prinz Friedrich Wilhelm gegangen. Sollten die Tommies nun das deutsche Passagierschiff stoppen um ihn zu verhaften, würden sie ihn nicht finden. Selbst wenn sie das ganze Schiff auf den Kopf stellen würden.

Lars Eric Holm war es egal, ob das englische Suchkommando den deutschen Spion zu fassen bekam, oder nicht. Er und sein Vorgesetzter Kapitän Riben hatten zurzeit andere Sorgen. Sie mussten so schnell wie möglich einen neutralen Hafen anlaufen, um sich dort vor den deutschen Verfolgern zu verstecken. Und das, obwohl Schweden neutral war. Doch es war auch bekannt, dass das deutsche Kaiserreich viele schwere Einheiten hier im Pazifik hatte, die nur darauf warteten, die Fylgia in einem Moment der Unachtsamkeit anzugreifen und zu zerstören.

Valparaíso, Chile, 17. August 1916, 15:45 Uhr Ortszeit

Die Fylgia hatte es erneut geschafft und war ihren deutschen Verfolgern entkommen. In Wien war man darüber nicht erfreut. Kaiser Franz Joseph hatte gegenüber seinem deutschen Verbündeten Kaiser Wilhelm II., aus dem Hause Hohenzollern, darauf bestanden, dass die kaiserliche Marine den schwedischen Panzerkreuzer entweder stellte und in Besitz nahm, oder ihn auf den Grund des Meeres schickte. Seiner Auffassung nach hatte das schwedische Königreich keinerlei Rechte, Schiffe wie die Fylgia zu bauen und zu unterhalten. Auch die schweren Einheiten, wie Linienschiffe, wollte Franz Joseph Schweden nicht zugestehen. In seinen Augen hatte das schwedische Königshaus mit der Indienststellung des Panzerkreuzers gegen international geltendes Recht verstoßen. Deswegen hatte der österreichische Kaiser die Blockade aller schwedischen Häfen durch die KuK-Marine angeordnet. Das er damit das Völkerrecht gebrochen hatte, wollte er einfach nicht wahrhaben. Er wollte auch nicht wahrhaben, dass Schweden auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintreten konnte.

Um 9:20 Uhr am Morgen war der schwedische Panzerkreuzer in den Hafen von Valparaíso eingelaufen. Das niederländische Versorgungsschiff hatte es leider nicht geschafft. Ein deutsches U-Boot, die U8, hatte das Schiff versenkt. Allerdings hatten die Chilenen den Schweden bereits ein chilenisches Handelsschiff als Versorger zugeteilt. Und Schiffe neutraler Staaten durften nicht angegriffen werden. Die Deutschen wussten das. Und deshalb würden sie es auch nicht wagen, das chilenische Schiff zu versenken.

Um Mitternacht lief die Fylgia aus Valparaíso aus. Das chilenische Handelsschiff folgte im Kielwasser. Die beiden Schiffe hatten gerade die chilenischen Hoheitsgewässer verlassen, als das schwedische Kriegsschiff vom deutschen Großlinienschiff „Friedrich der Große“ völlig unvorbereitet angegriffen wurde. Eine 30,5 cm-Granate traf einen der beiden Doppeltürme am Bug. Eine weitere einen der drei Schornsteine. Die Fylgia versuchte zu entkommen, doch das deutsche Schlachtschiff feuerte unentwegt weiter. Doch irgendwie gelang es dem schwedischen Kreuzer sich doch noch abzusetzen. Doch Kapitän zur See Fuchs hatte den Braten gerochen, und seinen Kollegen auf dem 188

Linienschiff „Großer Kurfürst“ über die Flucht des schwedischen Kreuzers in Kenntnis gesetzt. Das deutsche Kriegsschiff der König-Klasse sollte die Fylgia in der Nähe der unbekannten Insel abfangen und wenn möglich zerstören.

21. August 1916 5:00 Uhr morgens in der Nähe der Kleeblattinsel

Kapitän Fredrik Riben hatte in einer geschützten Bucht Anker werfen lassen. Der chilenische Versorger blieb in der Nähe, falls die Fylgia vorzeitig die Flucht wagen musste. An Bord des schwedischen Panzerkreuzers war alles still. Niemand wagte es, auch nur zu husten. Die Krähennester an den beiden Masten waren doppelt bemannt. Als weitere Vorsichtsmaßnahme hatte Kapitän Riben sein Schiff verdunkeln lassen. Doch bei aller Vorsicht, die er hatte walten lassen, hatte der Kapitän der Fylgia einen Verfolger übersehen. Es war die „Auguste Viktoria“, ein Zweimast-Schoner mit einer Länge von 45,6 Metern und einer Segelfläche von 110 m2.

Das Schiff war dem schwedischen Kriegsschiff gefolgt, nachdem „Großer Kurfürst“ die Fühlung zur Fylgia verloren hatte. Eine Nebelbank hatte dem deutschen Verfolger noch zusätzlich vor einer vorzeitigen Entdeckung durch die Schweden bewahrt. An Bord befand sich, wie sollte es anders sein, Wilhelm Anschütz, der deutsche Spion. Dieser wollte dafür sorgen, dass die Fylgia dieses Mal nicht entkam. Als der Schoner in die Bucht einlief, erkannte der deutsche Agent die Silhouette des schwedischen Panzerkreuzers. Sofort ging er unter Deck, und schickte eine verschlüsselte Nachricht an „Großer Kurfürst“, in der er das Versteck des schwedischen Kriegsschiffs weitergab. Danach wendete die „Auguste Viktoria“ und verließ die Bucht, genauso unbemerkt, wie sie dort eingelaufen war.

Die Sonne ging gerade auf, als das deutsche Linienschiff „Großer Kurfürst“ in die Bucht einlief. Die mächtigen 30,5 cm-Geschütze wurden sofort in Stellung gebracht, sobald das Ziel aufgefasst war. Um 6:15 eröffnete „Großer Kurfürst“ das Feuer auf die Fylgia. Gleich die erste Salve richtete schwere Schäden an dem schwedischen Kriegsschiff an. So traf eine Granate den Kreuzer direkt auf Höhe der Wasserlinie. Das schwedische Kriegsschiff bekam sofort Schlagseite. Auf der Steuerbordseite schaffte man es gerade noch rechtzeitig, ein Boot mit 50 Mann zu Wasser zu lassen. Darin befand sich auch der erste Offizier Lars Eric Holm, der auf Befehl seines Vorgesetzten die Fylgia verlassen hatte.

Das Boot hatte gerade auf der Wasseroberfläche aufgesetzt, als ein lautes Kreischen ertönte. Die Fylgia brach auseinander. Die Insassen den Bootes pullten, was das Zeug hielt, damit sie nicht vom Sog des untergehenden Schiffes erfasst wurden. Als das Boot weit genug weg von der untergehenden Fylgia war, erfüllte ein starker Ammoniakgeruch die Luft.

Einer der Matrosen sah ins Wasser. Doch eher er wusste, wie ihm geschah, schoss eine Fangpeitsche aus dem Wasser und schlug ihn über Bord. Der Kopf des Seemanns durchbrach die Wasseroberfläche, doch im nächsten Augenblick wurde er von einem Tentakel gepackt und wieder in die Tiefe gezogen. Die Männer blickten entsetzt um sich. Das Boot begann zu schaukeln, wurde 189

dann in die Höhe gehoben und umgeworfen. Lars Eric Holm versuchte sich an einer Leine auf das gekenterte Boot zu ziehen, als eine Fangpeitsche das Rettungsboot der Fylgia zerschmetterte.

Der erste Offizier des gesunkenen Kreuzers klammerte sich an ein Wrackteil des Bootes und wurde von einer Welle über das Riff in die Lagune gespült. Als er an den Strand geworfen wurde, begann der Himmel sich zu verdunkeln. Lars Eric Holm erhob sich und taumelte den Strand hinauf, bis er eine Höhle fand. Als er ein paar Meter hineingegangen war, brach das Unwetter los. Ein Blitz zuckte vom Himmel, dem ein lauter Donnerschlag folgte. Der Wind wühlte das Meer auf, das von Tosh Kamars Riesenkalmar noch weiter aufgepeitscht wurde. Und durch das Heulen des Windes konnte Lars Eric Holm die Schreie des Kalmars hören. Diese Laute ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren. Nie würde er diese Nacht vergessen.

Das Unwetter dauerte ganze 3 Tage. Am Donnerstag, den 24.08.1916 fand eine berittene Patrouille den Schiffbrüchigen. Ihr Anführer war an diesem Morgen ziemlich schlecht gelaunt. Auf einen Befehl des Offiziers wurde Lars Eric Holm an den Armen gepackt und unsanft aus seinem Unterschlupf gezerrt. Vor dem Anführer der Patrouille warf man ihn in den Sand. Der Schwede hob den Kopf und sah in ein grobes bärtiges Gesicht mit braunen Augen.

„STEH AUF!“, brüllte der Gardist Lars Eric Holm an.

Mit seinen allerletzten Kraftreserven richtete sich der schwedische Offizier zu seinen vollen 1,84 m auf. Der Offizier trat einen Schritt zurück und musterte den Fremden.

„Bist wohl einer von den harten Jungs was?“, spottete er dann.

„Kyss min rumpa.”

„Was hast du gerade gesagt, Erbsenhirn?“, polterte der Gardist.

„Das ist schwedisch und heißt „Leck mich am Arsch“, du Großkotz.“

„Du hast ein ziemlich loses Mundwerk weißt du das?“, sagte der Soldat.

„Dra åt helvete, du Flachpfeife.”

Dem Patrouillenführer wurde es langsam zu bunt. Noch nie hatte ihm jemand auf unverschämte Weise den Respekt verweigert.

„Bei dir bewahrheitet sich doch die alte Regel „Viel Muskeln, wenig Hirn“.“, sagte der Mann und schlug dem Schiffbrüchigen dann mit der Faust ins Gesicht und schickte ihn ins Reich der Träume.

Das nächste, woran sich Lars Eric Holm erinnerte, war das man ihm einen Eimer mit eiskaltem Wasser ins Gesicht schüttete. Als er die Augen 190

öffnete, sah er, dass er sich in einem kleinen Raum befand, der kaum Licht herein ließ. Außerdem roch es ziemlich modrig. Der schwedische Seemann hörte, wie ein Tropfen auf den Boden fiel. Man hatte ihn also in eine Kerkerzelle verfrachtet.

„Na, endlich wach?“, hörte Lars Eric Holm die höhnische Stimme des Gardisten, der ihn am Strand K.O. geschlagen hatte.

Doch er reagierte nicht.

„Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, brüllte ihn der Gardist an.

Der Schwede dachte gar nicht daran, sich von diesem aufgeblasenen Gockel von Soldaten in irgendeiner Weise herum schubsen zu lassen.

„Hör zu Bürschchen. Das ist meine letzte Warnung. Entweder du siehst mir jetzt endlich in Gesicht, oder du trägst die Konsequenzen.“, sagte der Gardist drohend.

„Wenn du wüßtest, wer mein Vater ist, würdest du vor Angst zittern, lömsk, kriminell slimebag.“

„Ach ja? Wer ist denn dein Papi?“, fragte der Gardist höhnisch.

„Mein Vater ist Gunnar Christian Holm, der erste Kanzler des schwedischen Königs.“

„Wir sind aber nicht in deinem Schweden. Wir sind auf der Kleeblattinsel. Hier gilt kein schwedisches Recht. Und dein Vater wird dir nicht helfen können. Wahrscheinlich weiß er noch nicht mal, dass du hier bist.“, sagte der Soldat und hob süffisant eine Augenbraue.

„Om du tror att du kan knulla mig, då har du rätt.”

„Sieh an. Der werte Herr hat auch noch Stolz. Du wirst gleich sehen, was du davon hast.“, sagte der Gardist.

„Jävel.”

„Dein Ton gefällt mir nicht.“, sagte der Soldat.

„Und ich kann deine Visage nicht leiden.“

Darauf hin gab der Anführer der Patrouille zwei Soldaten ein Zeichen.

„Bringt ihn in die Folterkammer!“, befahl er.

Auf dem Weg dorthin bemerkte Lars Eric Holm, dass auf den Brustpanzern der Soldaten ein springender, schwarzer Mustang zu sehen war. Offenbar war dies das Wappen ihrer Herrin. In der Folterkammer wurde der schiffbrüchige Schwede mit Ketten an den Händen gefesselt, die von der Decke hingen. Der 191

Gardist, der Lars Eric Holm die ganze Zeit über schäbig und respektlos behandelt hatte trat vor ihn. Nun hatte der Mann aus Trollhättan Gelegenheit, seinen Peiniger ins Auge zu nehmen.

Vor ihm stand ein Mann, der genauso groß war, wie er selbst. Dieser Soldat war mit Muskeln bepackt, bis zum geht nicht mehr. Außerdem fiel Lars auf, dass die linke Gesichtshälfte durch eine Narbe entstellt war. Seine braunen Augen ließen pure Bösartigkeit und Boshaftigkeit erkennen. Dieser Mann war dem ehemaligen ersten Offizier der Fylgia in keinster Weise freundlich gesinnt. Das zeigte sich, als der Soldat ihn ansprach.

„Hör zu, Freundchen. Du bist MEIN Gefangener. Und ich kann mit dir machen, was ich will. Und je eher du das verstehst, umso besser für dich. Nur damit du weißt, was dich erwartet, ich werde dir die Hölle auf Erden bereiten. Ich werde dich quälen und foltern. Fürs erste habe ich mir 250 Peitschenhiebe mit der neunschwänzigen Katze für dich ausgedacht.“, sagte höhnisch.

„Glaubst du wirklich, dass ich Angst vor dir habe? Ich habe schon ganz anderes erlebt. So jemanden wie dich verspeise ich in der Regel zum Frühstück.“

„Eben ist bei mir der Ofen aus. Jetzt bekommst du, was du verdienst.“, sagte der Soldat.

Dann trat er hinter den Offizier der schwedischen Marine und hob die Peitsche zum Schlag. Dann holte er aus und ließ die neunschwänzige Katze mit einem lauten Knall auf den Rücken des Schweden niedergehen.

Er hatte gerade 15 Schläge ausgeführt, als die Tür der Folterkammer aufging und eine Frau den Raum betrat. Sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, was sich gerade abspielte. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und richtete das Wort an ihren Gardisten.

„Hjoerleif! Leg sofort die Peitsche weg. Das ist ein Befehl!“, sagte die Frau streng.

„Königin Shakira! Was fällt euch ein? Der Mann ist mein Gefangener. Ich behandele ihn, wie es mir passt! Und jetzt lasst mich in Ruhe. Ich habe nämlich gerade erst angefangen. Und ich bin noch lange nicht fertig.“

„Der Mann ist mein Gast, Hjoerleif! Außerdem gebe ich hier die Befehle! Du lässt den Mann in Ruhe! Solltest du es wagen, noch einmal Hand an ihn zu legen, dann wirst du dem Vulkangott geopfert!“, sagte die Königin.

Der drohende Unterton in ihrer Stimme ließ keinen Zweifel daran offen, dass diese Frau nicht zögerte, ihre Drohungen wahr zu machen, wenn es nötig schien. Widerwillig legte Hjoerleif die Peitsche weg. Er hatte an diesem Mann seine schlechte Laune auslasen wollen, doch nun war ihm seine Herrin dazwischen gegrätscht und hielt ihre schützende Hand über den Fremden.

„Befreit den Fremden von den Ketten. Und dann bringt ihn in mein Gemach. 192

Der Arzt soll sich seiner annehmen und die Wunden versorgen.“, sagte Shakira.

Hjoerleif wurde rot vor Zorn. Er baute sich vor Lars Eric Holm auf und schickte ihn ein weiteres Mal ins Reich der Träume. Königin Shakira war entsetzt. Doch schnell wich ihre Sorge grenzenloser Wut. An ihre Leibwache gewandt sagte sie: „Nehmt Hjoerleif fest. Und dann werft ihn in den ausbruchssichersten Kerker. Drei Wachen rund um die Uhr. Und morgen früh opfert ihn dem Vulkangott.“

Als Lars Eric Holm wieder zu sich kam, lag er in einem großen, weichen Bett. Man hatte seine Wunden, die die neunschwänzige Katze hinterlassen hatte, gereinigt und anschließend eine heilende Salbe aufgetragen. Als er den Kopf nach rechts wendete, sah er Königin Shakira an seinem Krankenlager sitzen und seine Hand halten. Der schwedische Offizier sah den besorgten Ausdruck in ihren wunderschönen braunen Augen.

Lars Eric Holm versuchte sich aufzusetzen, doch seine Gastgeberin hielt ihn zurück.

„Bitte, keine hastigen Bewegungen. Lass mich dir aufhelfen.“, sagte die Königin mit einer Stimme, deren Klang einen eiskalten Schauer seinen Rücken hinunter laufen ließ.

Dann nahm sie seine Hand und zog ihn ein Stück nach oben, ehe sie seinen Rücken mit der anderen Hand stützte und ihm langsam aufhalf. Nun konnte Lars Eric seine Gastgeberin genauer betrachten. Königin Shakira war eine braunhaarige Frau die nicht älter als 22 sein konnte. Die Größe ihres schlanken Körpers schätzte er auf 1,65 m. Ihre Haare trug sie offen und schulterlang. Die Haarspitzen bildeten eine Dauerwelle. Der Schwede nahm auch das hübsch runde Gesicht wahr, in das sich die grazile Nase harmonisch einfügte. Auf ihrem Kopf trug sie ein goldenes Diadem mit Smaragden. An ihrem rechten Handgelenk trug Königin Shakira ein Perlenarmbändchen. Bekleidet war die Königin mit einem roten Minikleid, das im Bereich der Taille transparent war und ihren Bauchnabel etwas durchscheinen ließ.

„Ich muss mich für Hjoerleifs Verhalten dir gegenüber entschuldigen. Keiner hat das Recht, Hand an einen Mann zu legen, der meine Gastfreundschaft genießt. Am allerwenigsten Hjoerleif.“, sagte Königin Shakira.

„Es ist nicht euer Fehler, Hoheit.“

„Das stimmt zwar. Aber ich bin für das Verhalten meiner Gardisten verantwortlich. Hjoerleif wird gleich morgen früh Nagoromoto, dem Vulkangott, geopfert.“, sagte Shakira.

„Aber vorher würde ich mich gerne bei ihm für seine „Gastfreundschaft“ gebührend bedanken.“

„Ich verstehe zwar nicht, was du meinst Fremder, aber ich gewähre dir deine Bitte.“, sagte die Königin. 193

Am frühen Abend ließ Königin Shakira ihren Gast zum Abendessen abholen. Ihr Diener, ein Japaner mit Namen Seigo Asada, brachte ihn in den großen Speisesaal. Die Königin erwartete ihn bereits. Und wie die anderen, die vor ihm gekommen waren, wollte sich Lars Eric Holm ans andere Ende des Tisches setzen. Doch Shakira bestand darauf, dass er den Platz zu ihrer Linken einnahm.

Zuerst servierte Seigo Asada einen Tomatensalat mit Fetakäse, Speckwürfeln und gerösteten Zwiebeln. Lars Eric Holm probierte ein Stück Feta und musste feststellen, dass der Käse recht aromatisch schmeckte. Anerkennend nickt er mit dem Kopf.

„Mein Kompliment an den Küchenchef.“, sagte er zu Shakiras Diener.

„Ach das war noch gar nichts. Warte mal ab, was der Chefkoch als Hauptgang geplant hat. Das haut dich garantiert aus den Fundamenten, Fremder.“

Als der Salat abgetragen wurde richtete Königin Shakira das Wort an ihren schwedischen Gast.

„Verrätst du mir deinen Namen, oder muss ich dich immer „Fremder Mann“ nennen?“, fragte sie.

„Mein Name ist Lars Eric Holm. Sohn von Gunnar Christian Holm, dem ersten Kanzler von seiner Majestät König Karl Gustav V.“

„Und woher kommst du, Lars?“, wollte Shakira wissen.

„Ich bin in Trollhättan geboren. Aber zuletzt habe ich in Karlskrona gelebt.“

„In welchem Land liegen diese Orte?“, fragte die Königin.

„In Schweden.“

„Iduna sei gedankt. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Erleichterung es für mich bedeutet, dass du hier bist.“, sagte Shakira.

Lars Eric Holm verstand die Welt nicht mehr.

„Wer ist Iduna?“, fragte er.

Doch bevor seine Gastgeberin antworten konnte, kam Seigo Asada mit zwei Tellern zurück, auf denen eine Gänsekeule, zusammen mit Rotkraut und Kartoffelklößen. „Das gab es doch immer an Weihnachten bei meinen Großeltern.“, dachte er.

Gedankenverloren starrte Lars Eric Holm auf den Teller vor ihm.

„Du isst ja gar nichts. Ist dir der Appetit vergangen?“, holte ihn die Stimme der zweiten Königin zurück in die Gegenwart. 194

„Oh nein. Ich werde gleich etwas essen. Aber ich habe mich für einen kurzen Augenblick in meine Kindheit zurückversetzt gefühlt. Ich erinnere mich noch dass es jedes Jahr an Weihnachten bei meinen Großeltern mütterlicherseits immer Gänsekeule mit Rotkraut und selbstgemachten Kartoffelklößen gab.“

Die Königin schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Es freut mich, dass die Hauptspeise solche schönen Erinnerungen bei dir hervorgebracht hat.“

Lars Eric Holm probierte ein Stück von der Gänsekeule. Überrascht stellte er fest, wie zart das Fleisch war.

„Da hat sich euer Küchenchef wieder selbst übertroffen, euer Majestät.“, sagte er dann.

„Es freut mich, wenn mein Chefkoch solches Lob erfährt.“

Schließlich wurde auch der Rest der Hauptspeise abgetragen.

„Hab ich zu viel versprochen, Fremder?“, fragte Shakiras Diener.

„Nein, hast du nicht. Was steht denn als Dessert auf dem Speiseplan?“

„Das wird nicht verraten. Aber eines kann ich dir jetzt schon verraten. Es wird eine Kalorienbombe.“, sagte Seigo Asada.

Als Dessert servierte der Japaner griechischen Joghurt mit Walnüssen und griechischem Honig.

„Das ist wirklich eine Kalorienbombe. Ich glaube, da muss ich dann später noch etwas für meine Fitness tun.“, sagte Lars Eric Holm.

Doch seine Gastgeberin schüttelte energisch den Kopf.

„Das kommt gar nicht infrage. Der Arzt hat gesagt, dass du dich schonen sollst. Deine Wunden können sonst wieder aufbrechen.“, sagte Shakira.

„Na von mir aus.“

Nach dem Abendessen bat Königin Shakira, ihren schwedischen Gast, in der Bibliothek noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken. Lars Eric Holm sagte zu. Hand in Hand gingen die beiden dorthin. Als Shakira ihn in den Raum führte, klappte dem Schweden der Unterkiefer runter. Noch nie hatte er soviele Bücher auf einmal gesehen.

„Ich bin oft hier. An diesen Ort ziehe ich mich gerne zurück, wenn ich Ruhe brauche. Dann sitze ich an meinem Schreibtisch und sehe auf das Meer hinaus. Manchmal habe ich auch das Fenster geöffnet, damit ich das Rauschen 195

der Wellen hören kann. In Augenblicken wie diesen vergesse ich gerne die Gefahr, in der wir alle schweben.“, erneut riss Shakiras Stimme Lars Eric Holm aus seinen Gedanken.

Verwirrt sah er seine Gastgeberin an.

„Du hast mich vorhin beim Abendessen nach Iduna gefragt. Sie ist unsere oberste Göttin. Sie schützt Oamaru und alle Inseln, die diese Insel hier umgeben. Doch seit 204 Jahren ist die Kleeblattinsel, wie man Oamaru wegen seiner Form auch nennt, durch einen Fluch dem Untergang geweiht.“, sagte Shakira.

„Worauf wollt ihr hinaus, Hoheit?“

Königin Shakira drehte ihren Kopf in Lars Richtung.

„Bevor ich dir auf diese Frage antworte, möchte ich eine Sache klarstellen. Dieser Palast ist mein Haus. Und in meinem Haus gelten meine Gesetze. Und ich gebe auch nicht viel auf die Etikette. Zumindest in deinem Fall mache ich eine Ausnahme. Sag bitte Shakira zu mir. Und lass meinen Titel und das alberne „Sie“ weg.“, sagte sie.

„Einverstanden, Shakira. Aber was ist mit dem Fluch, von dem du gerade eben gesprochen hast?“

„Tosh Kamar hat ihn verhängt. Wenn unser Heiligtum nicht binnen 5.000 Monden nicht in Idunas Tempel zurückgebracht wird, dann wird sein Riesenkalmar Oamaru in die Tiefe des Ozeans ziehen.“, sagte die zweite Königin.

„Und wer ist Tosh Kamar?“

„Ein böser Herrscher, der einst ebenfalls auf dieser Insel gelebt hat. Wir haben ihn verbannt, als er versucht hat, die Quelle im Zentrum der Insel in seinen Besitz zu bringen. Doch zwei Monate nach seiner Verbannung ist dieses Scheusal wieder aufgetaucht und hat den Fluch verhängt, von dem ich dir vorhin erzählt habe. Nur du und drei andere könnt dieses Schicksal von Oamaru abwenden.“, sagte die Königin.

„Was muss getan werden?“

„Ihr müsst den Feueropal, der in Idunas Tempel ruht, wieder an seinen Platz im Tempel zurückbringen. Gelingt euch das, so ist die Insel gerettet. Doch stirbt auch nur einer von euch, wird sich Tosh Kamars Fluch erfüllen und sein Riesenkalmar die Insel in die Tiefen des Ozeans hinab ziehen.“, sagte Shakira.

„Und wer sind meine Gefährten?“

„Sie sind schon hier, auf Oamaru. Der erste, der kam, war Dirk Hemmler. Er war Heizer auf dem großen Kreuzer Goeben. Einem Schiff der deutschen kaiserlichen Marine. Der zweite deiner Gefährten ist Jewgeni Moskrovnovitch, 196

Er war der zweite Offizier auf dem geschützten Kreuzer DIANA. Er lebt bei meiner Cousine Eliska. Und der dritte deiner Gefährten ist Phil Taylor. Er war der leitende Ingenieur der HMS Glorious, einem leichten großen Kreuzer der Royal Navy.“, gab Shakira Auskunft.

Lars Eric Holm fuhr sich nervös durch sein Haar.

„Nun ja…“, begann er seinen Satz.

„Was?“

„Im Großen und Ganzen habe ich keine Probleme mit den dreien zusammenzuarbeiten. Aber die kaiserliche Marine hat mein Schiff versenkt. Dabei ist Schweden ein neutrales Land. Das heißt mein Heimatland ist nicht am Krieg beteiligt. Und von daher dürfen Schiffe neutraler Staaten nicht angegriffen werden. Rechtlich gesehen hat das deutsche Kaiserreich gegen das Völkerrecht verstoßen.“, sagte Lars.

„Das heißt, dass du Dirk Hemmler nicht vertraust?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihm nicht vertraue. Ich habe nur gesagt, dass sein Land das Völkerrecht gebrochen hat.“, sagte Lars Eric Holm.

In diesem Augenblick begann die Sonne am Horizont unterzugehen, und den Himmel blutrot zu färben. Königin Shakira stand am Fenster und blickte auf das Meer hinaus.

„Wenn die Sonne zur Hälfte untergegangen ist, wird Tosh Kamars Riesenkalmar aus den Tiefen des Meeres auftauchen und die See in ein Inferno verwandeln. Und dann werden meine Albträume wieder kommen.“, sagte sie.

„Wenn du willst, bleibe ich heute Nacht bei dir, Shakira.“

„Das würdest du für mich tun, Lars?“

„Für dich würde ich sogar durch die Hölle gehen.“

Shakira ließ vor Schreck ihr Weinglas fallen. Und nun sah es auch Lars Eric Holm, der einzige Überlebende des Untergangs der Fylgia. Aus den Tiefen des Ozeans war der Riesenkalmar aufgetaucht und schlug mit seinen Tentakeln und seinen beiden Fangpeitschen auf das Wasser.

„Bitte halt mich fest!“, sagte Shakira.

„Lars nahm die Königin in seine Arme und hielt sie fest.

„Du wirst dieser Frau nichts tun, Tosh Kamar. Dafür werde ich sorgen. Wenn ich dich in die Finger kriege, ramme ich dich ungespitzt in den Erdboden.“, sagte er leise zu sich selbst. 196

Nach Einbruch der Dunkelheit hörte das grausame Schauspiel von Tosh Kamars Kreatur wieder auf. Die Wellen brachen sich wieder sanft an den Ufern des Insel. Shakira hatte die ganze Zeit geweint. Lars Eric Holm begleitete sie in ihr Schlafgemach.

Nachdem sich die Königin und ihr Gast sich für die Nacht fertig gemacht hatten, schlüpften sie ins Bett und Shakira bettete ihren Kopf an Lars Brust. Er legte einen Arm um sie und sie kuschelte sich eng an ihn. Kurz danach schliefen beide tief und fest. Doch der nächste Morgen brachte für den Schweden eine Überraschung. Denn als er die Augen öffnete, sah er die Königin auf seinem Schoß sitzen. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Shakira lächelte.

„Guten morgen, mein Schöner.“, sagte sie, beugte sich vor und gab ihm einen langen und innigen Kuss.

„Guten morgen, meine Schöne.“

„Danke, dass du heute Nacht bei mir geblieben bist. Ich wünschte, du würdest jede Nacht bei mir bleiben.", sagte Shakira.

„Ich hätte nichts dagegen. Aber was machst du da eigentlich?“

„Liebe.“, sagte Shakira.

Nach dem Frühstück begleitete die zweite Königin Oamarus ihren Gast in den Innenhof ihres Palastes. Dort wartete Hjoerleif.

„Ich dachte, ich soll unverzüglich dem Vulkangott geopfert werden.“, sagte er.

„Mein Gast hat mich noch um einen Gefallen gebeten.“

„Ah ja? Welchen denn?“, fragte der ehemalige Gardist.

„Weißt du, du hast mir einen so freundlichen und warmherzigen Empfang bereitet. Und da wäre es doch sehr unfair von mir, wenn ich dir dafür nicht gebührend danke.“

„Brauchst mir nicht danken. War mir eine Ehre.“, sagte Hjoerleif

„Ich bestehe darauf. Außerdem bin ich dir noch einen Beweis schuldig. Nämlich dass Kraft und Hirn doch miteinander harmonieren können.“

„Musst du immer das letzte Wort haben? Oder willst du mich wieder nur nerven?“

Doch Lars Eric Holm hatte anderes im Sinn, denn er hatte einen Kampfplatz entdeckt.

„Wie wärs mit einem Kampf Mann gegen Mann. Ganz ohne Waffen. 197

Nur die Fäuste sind erlaubt.“, sagte er.

Hjoerleif nickte.

„Einverstanden.“

Wie bei einem fairen Wettkampf kamen die beiden Kontrahenten zum Ring. Zuerst Hjoerleif. Ihn kündigten die königlichen Fanfarenträger an. Danach kam der Schwede. Bei ihm wurde eine Melodie gespielt, die ein bisschen an die Zeit der Piraten erinnerte. Dann standen sich die beiden Kontrahenten direkt gegenüber. Auf ein Zeichen von Königin Shakira wurden noch starke Seile zwischen den Begrenzungspfosten gespannt, die den Platz umgaben.

Dann begann das Duell. Hjoerleif stürmte mit einem lauten Brüllen nach vorne, doch sein schwedischer Gegner hatte den Braten gerochen. Lars Eric Holm duckte sich weg und verpasste seinem Gegner einen Tiefschlag in die Magengrube. Der Verurteilte stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.

„Das ist für deine fiesen Beleidigungen. Aber noch bin ich nicht fertig mit dir.“, sagte der Schwede.

Hjoerleif stieg auf eines der Seile und machte sich für einen Sprung fertig. Doch sein Gegner durchschaute ihn erneut. Denn als Shakiras Wächter sprang, fing ihn Lars Eric Holm ab und hämmerte ihn aus der Drehung heraus mit dem Rücken auf sein rechtes Knie. Wieder ertönte ein Schmerzensschrei.

„Und das ist für die 15 Hiebe mit der neunschwänzigen Katze! Jetzt sind wir QUITT!“, sagte Lars Eric Holm.

Nach dem Kampf wurde Hjoerleif zum Vulkan gebracht. Dort angekommen sah der Verurteilte seine Herrin noch einmal an.

„Ich hätte nie gedacht, dass du deine Gunst einem Fremden schenkst. Mich hättest du wählen sollen. Stattdessen, nimmst den da. Du bist keine Königin, sondern ein billiges Flittchen.“, sagte Hjoerleif und spuckte vor seiner Herrin auf den Boden.

„Du hast meinen Gast beleidigt und gedemütigt. Deshalb bist du bei mir in Ungnade gefallen. Und für deine Respektlosigkeit gerade eben, hast du erst recht keine Gnade mehr von mir zu erwarten.“

Auf ein Zeichen von Königin Shakira wurde Hjoerleif an Händen und Füßen an einen Bambusstock gebunden und über dem Krater in Position gebracht.

„Werft ihn in den Krater.“, befahl Shakira.

Die Soldaten warfen die Bambusstange mit dem Verurteilten in den Krater. Allerdings hatten sie ihm vorher einen Knebel in den Mund gesteckt. Eine Flamme loderte auf, als Hjoerleif in die glühend heiße Lava stürzte. 198

Buch 2 - Kapitel 5

Buch 2 – Kapitel 5

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Mit Lars Eric Holm hat der letzte der Auserwählten unsere schöne Insel erreicht. Doch ihre Reise beginnt erst jetzt. Iduna allein weiß, welch schreckliche Hindernisse unsere vier Helden noch werden überwinden müssen. Doch der Tag der Erfüllung von Tosh Kamars Fluch rückt unaufhaltsam näher. All unsere Hoffnungen ruhe nun auf den Schultern von Dirk Hemmler, Jewgeni Moskrovnovitch, Phil Taylor und Lars Eric Holm.“

Freitag, 25.August 1916 Jelenas Palast auf der Kleeblattinsel

Königin Jelena und ihr neuer Lebensgefährte Phil Taylor, der einzige Überlebende des Untergangs der HMS Glorious, saßen gemeinsam beim Frühstück im großen Speisesaal. Jean Pierre, ihr persönlicher Diener trat ein. Die erste Königin Oamarus wandte ihm den Kopf zu, als er sich räusperte.

„Was gibt es, Jean Pierre?“, fragte Jelena.

„Mylady, eure Cousine Königin Wioletta und Dirk Hemmler sind gerade eingetroffen.“

„Führe sie in die Bibliothek und sage ihnen, dass wir bald kommen.“, sagte Königin Jelena.

Jean Pierre nickte.

„Na dann wollen wir mal.“, sagte Phil Taylor.

„Wir wollen meine Cousine nicht warten lassen. Geduld war leider noch nie Wiolettas Stärke.“

Admiralität, Stockholm, Schweden 25. August 1916

Die Nachricht vom Verlust der Fylgia traf das schwedische Königreich bis ins Mark. Und wie schon bei der Versenkung der LUSITANIA durch U20 wurde anklagend mit dem Finger auf Wilhelm II. gezeigt, weil er ein Schiff eines neutralen Landes in neutralen Gewässern hatte versenken lassen. Aus Wien kam umgehend ein Glückwunschschreiben, in dem Kaiser Franz Joseph dem deutschen Kaiser zur Versenkung des schwedischen Panzerkreuzers aufs herzlichste gratulierte.

In seinem Büro saß Admiral Louis Palander an seinem Schreibtisch. Er ging gerade einige Berichte durch, als es an der Tür klopfte. 199

Die Tür öffnete sich und sein persönlicher Adjutant Magnus Ericsson trat ein. Doch er war nicht allein gekommen. Eine Frau begleitete ihn.

„Sie wissen doch, dass Frauen keinen Zutritt zu militärischen Gebäuden haben, Ericsson.“, sagte Admiral Palander.

„Unter normalen Umständen würde ich ihnen zustimmen, Admiral. Aber meine Frau kennt ein Besatzungsmitglied der Fylgia.“

„Um welches Besatzungsmitglied handelt es sich?“, fragte Louis Palander.

Die Ehefrau seines Adjutanten räusperte sich. Magnus Ericssons Vorgesetzter betrachtete sie genauer. Pernila Ericsson war 1,66 m groß und hatte schulterlange schwarze Haare. Admiral Palander sah Sorge in ihren großen braunen Augen. Tränen schimmerten darin. Pernila Ericsson hatte einen leicht gebräunten Teint. Ein Zeichen dafür, dass sie viel draußen an der frischen Luft war. Der Körper der jungen Frau wies kein Gramm Fett zu viel auf. Für den Admiral war klar, dass Pernila Ericsson gerne Sport trieb. Louis Palander wollte schon seine Frage nach dem Besatzungsmitglied der Fylgia wiederholen, da kam auch schon die Antwort von Pernila Ericsson selbst.

„Es handelt sich um den ersten Offizier, Lars Eric Holm, Sir Amiral.”, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Woher kennen sie ihn, Miss Ericsson?“

„Er ist mein Cousin, Sir.“, sagte Pernila Ericsson.

„Dann ist Gunnar Christian Holm, der erste Kanzler unseres Königs…“

„Mein Onkel. Ja Sir, er ist der Bruder meines Vaters.“, sagte Pernila.

„Leider haben wir noch keine konkreten Informationen, was den Verbleib ihres Cousins betrifft, Miss Ericsson, das einzige, was ich ihnen anbieten kann, ist das sie es als erste erfahren, wenn es Neuigkeiten von Lars Eric Holm gibt.“

„Tack, Sir Amiral.”, sagte Pernila Ericsson.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Gunnar Christian Holm, der erste Kanzler von König Gustav V. betrat den Raum. Als er seine Nicht sah, war er zuerst nicht sehr erfreut, doch als er den Grund für ihre Anwesenheit erfuhr, hatte er schon Verständnis, immerhin ging es auch um seinen Sohn.

„Admiral Palander, unser König hat beschlossen, an der Seite der Alliierten in den Krieg einzutreten. Die Vereinigten Staaten haben uns ein gerade frisch in Dienst gestelltes Schlachtschiff der Florida-Klasse geschenkt. Von den Engländern bekommen wir noch einen Schlachtkreuzer der Renown-Klasse. Und Kaiser Yoshihito hat uns ein Schiff der Kongo-Klasse bauen lassen.“, sagte er zum Flottenchef. 200

„Berlin und Wien werden alle Hebel in Bewegung setzen, um dafür zu sorgen, dass die neuen Schiffe nie bei uns ankommen.“

Es war Pernila Ericsson, die sich in die Konversation eingeschaltet hatte.

„Dessen ist man sich in Washington, London und Tokio sehr wohl bewusst, liebe Nichte. Man hat bereits für eine entsprechend starke Eskorte gesorgt. Arvid Friedrich Graf Taube von Odenkat, unser Außenminister, wird dem deutschen Botschafter in genau 10 Minuten die Note mit der Kriegserklärung Schwedens an Deutschland und Österreich übergeben.“, sagte der erste Kanzler.

Flottenbasis Karlskrona, Schweden, 25. August 1916

Der Leiter des Stützpunkts staunte nicht schlecht, als er sah, dass neue Schiffe angekommen waren. Irgendwie mussten sie durch die Blockade gekommen sein. Am meisten aber überraschte ihn, dass diese Schiffe die schwedische Flagge trugen. Denn, und das wusste er, diese Pötte waren nicht schwedischer Bauart.

Am auffälligsten war die „Drottningholm“, benannt nach dem gleichnamigen Schloss. Der Leiter der Flottenbasis in Karlskrona erkannte sofort, dass es sich um ein Schlachtschiff er amerikanischen Florida-Klasse handelte. Das Schiff war 159,0 m lang und 26,9 m breit. Der Tiefgang der „Drottningholm“ betrug 8,6 m. Das neue schwedische Schlachtschiff wog voll beladen 23.400 Tonnen und brauchte 1.001 Mann Besatzung. Die Maschine leistete 40.511 PS und übertrug diese Kraft über vier Wellen auf vier dreiflügelige Schrauben. Damit war die „Drottningholm“ in der Lage eine Höchstgeschwindigkeit von 22,08 Knoten zu erreichen.

Die Bewaffnung des Schlachtschiffes bestand aus fünf 30,5-cm-Geschützen, von denen zwei am Bug, einer mittschiffs und zwei achtern am Heck untergebracht waren. Auf der Backbord- und der Steuerbordseite waren 16 12,7-cm-Schnellfeuergeschütze verbaut. Dazu kamen zwei Flak-Geschütze mit einem Kaliber von 7,6 cm und zwei 3,7-cm-Geschütze sowie zwei Torpedorohre für 53,3-cm-Torpedos.

Neben der „Drottningholm“ lag die „Gotland“. Der Kommandeur des Marinestützpunktes erkannte sofort die japanische Kongō-Klasse. Mit ihren 214 Metern war die „Gotland“ größer als die „Drottningholm“ und mit 28 Metern auch breiter. Dies bedeutete auch ein höheres Gewicht. Denn die „Gotland“ wog stattliche 28.000 Tonnen. Das höhere Gewicht brachte auch einen höheren Tiefgang mit sich. 8,8 Meter betrug er bei der „Gotland“. Im Gegensatz zur wesentlich kleineren „Drottningholm“ brauchte dieses Schiff 220 Mann Besatzung mehr, also 1.221 Mann. Die Maschine der „Gotland“ leistete 64.000 PS und machte eine Höchstgeschwindigkeit von 27 Knoten möglich. Die „Gotland“ besaß eine Doppelruderanlage und hatte vier Propeller mit drei Blättern.

Die „Gotland“ war eine waffenstarrende Kampfmaschine. Vorn am Bug waren zwei der insgesamt vier Zwillingstürme mit ihren gefürchteten 35,56-cm-Geschützen montiert. Einer hinter dem zweiten Schornstein und der 201

letzte achtern am Heck. Dazu kamen noch 16 15,2-cm-Schnellfeuergeschütze, sowie vier 7,62-cm-Geschütze und vier Torpedorohre für Torpedos mit 53,3 cm Durchmesser.

Daneben lag der Schlachtkreuzer „Gotska Sandön“. Der Experte erkannte sofort die Renown-Klasse der Engländer. Dieser Schlachtkreuzer war 242 Meter lang und 27,4 Meter breit. Die Verdrängung bei voller Beladung betrug 27.950 Tonnen, weshalb ein Tiefgang von 8,94 Metern zustande kam. Die „Gotska Sandön“ hatte mit 120.000 PS die stärkste Maschine, der drei neuen schwedischen Großkampfschiffe. Und mit 32 Knoten war sie auch das schnellste Schiff der schwedischen Flotte.

Vorn am Bug waren zwei, achtern am Heck der letzte der drei Zwillingstürme mit insgesamt sechs 38,1-cm-Geschützen. Dazu kamen noch 17 10,2-cm Schnellfeuergeschütze, sowie zwei 76-mm-Flakgeschütze und zwei Torpedorohre, für Torpedos, die einen Durchmesser von 53,3 cm hatten.

In diesem Moment tauchte eine Rauchfahne auf. Es war ganz offensichtlich, dass ein neues Schiff auf den Marinestützpunkt zusteuerte. Kurz darauf lief ein neues Schiff in den Marinestützpunkt ein. Es war die „Kung Gustav V“. Dieses Schiff war der erste Schiffsneubau für die schwedische Marine seit dem Bau der Fylgia. Das neue Flaggschiff der schwedischen Seestreitkräfte, denn das war die „Kung Gustav V“, war auf der Bergsunds-Werft in der schwedischen Hauptstadt Stockholm gebaut worden.

Das Schiff war 250 Meter lang, und 30 Meter breit. Die „Kung Gustav“ verdrängte stattliche 40.000 Tonnen und hatte einen Tiefgang von 12,3 Metern. Die Maschine des mächtigen Schlachtschiffes leistete 250.000 PS und ermöglichte so eine Höchstgeschwindigkeit von 38 Knoten. Das Schiff hatte eine Doppelruderanlage und besaß vier Schrauben mit vier Blättern.

Am auffälligsten waren natürlich die vier Vierlingstürme mit ihren mächtigen 40,3-cm-Geschützen. Zwei davon befanden sich vorn am Bug, die beiden anderen achtern am Heck. Backbord und Steuerbord waren noch einmal jeweils 14 25-cm-Schnellfeuergeschütze in Zwillingstürmen montiert. Dazu kamen noch insgesamt 24 7,62-cm-Geschütze, 24 12,8-cm-Flak-Geschütze in Zwillingstürmen und vier Torpedorohre für Torpedos Kaliber 53,3 cm. Zwei davon auf jeder Seite.

Schwedisches Außenministerium, Stockholm

Arvid Friedrich Graf Taube von Odenkat saß an seinem Schreibtisch und hatte gerade die Kriegserklärung Schwedens an Deutschland und Österreich-Ungarn unterschrieben, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte er.

Der deutsche Botschafter Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten trat ein. Der Ausdruck in seinem runden Gesicht zeugte von Ärger. Seine stechenden braunen schienen den schwedischen Außenminister regelrecht zu durchbohren. 202

„Sie wollten mich sprechen?“, fragte er ohne Umschweife.

„In der Tat. Ich wollte sie in der Causa FYLGIA befragen. Aber nehmen sie doch bitte erst mal Platz.“

Der deutsche Botschafter setzte sich dem schwedischen Außenminister gegenüber.

„Was wünschen sie zu wissen, Herr Minister?“, fragte er dann.

„Wieso hat ihr Linienschiff „Großer Kurfürst“ unser Schiff, die Fylgia in neutralen Gewässern ohne ersichtlichen Grund angegriffen und versenkt?“

„Ihr Kreuzer war flüchtig. Unsere Schiffe hatten den Befehl ihn zu stellen, und, falls notwendig zu versenken.“, sagte der deutsche Botschafter.

„Aber die Fylgia hat keinen Schuss abgefeuert, als der Angriff stattfand. So gesehen, war dieser unprovozierte Angriff ein Bruch des Völkerrechts.“

„Eine Behauptung, die sie erst mal beweisen müssen, Herr Minister.“, sagte Freiherr Lucius von Stoedten.

„Ich denke, die Beweise sind eindeutig, Herr Botschafter. Das schwedische Königreich verlangt binnen 24 Stunden eine öffentliche Entschuldigung von seiner Majestät, Kaiser Wilhelm II.“

„Herr Minister, im Namen des deutschen Kaisers, weise ich ihre Forderung entschieden zurück. Deutschland verlangt stattdessen die sofortige Außerdienststellung und Verschrottung folgender Schiffe: „Kung Gustav V“, „Gotland“, „Gotska Sandön“ und „Drottningholm“. Der deutsche Kaiser ist so großzügig und gewährt ihnen 72 Stunden um seine Forderung zu erfüllen.“, sagte der deutsche Botschafter.

„Das schwedische Königreich sieht sich außerstande, den Forderungen des deutschen Kaisers nachzukommen.“

„Ich warne sie, Herr Minister. Meine Geduld ist schon mehr als überstrapaziert. Es reicht schon, dass ihr König gleich vier neue Kriegsschiffe in Dienst gestellt hat, die ihrem Land von Völkerrechts wegen überhaupt nicht zustehen. Sie haben gegen das internationale Recht verstoßen.“, sagte Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten.

„Nun, Herr Botschafter, da ihr Kaiser offenbar zu keinerlei Zugeständnissen gegenüber Schweden bereit ist, sehe ich mich gezwungen, auf Befehl von seiner Majestät König Gustav V dem deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären. Hier haben sie unsere Kriegserklärung.“

Mit diesen Worten überreichte der schwedische Außenminister dem deutschen Botschafter einen versiegelten Umschlag, der die Kriegserklärung 203

Schwedens an Deutschland und Österreich-Ungarn enthielt. Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten brach das Siegel und las das Dokument genau durch. Dann steckte er das Papier in seine Aktentasche.

Allerdings hatte Arvid Friedrich Graf Taube von Odenkat mit der Reaktion des deutschen Botschafters gerechnet, als dieser das Wort ergriff.

„Ihre Begründung für die lächerliche Kriegserklärung ihres Landes an das deutsche Kaiserreich und seine Verbündeten, ist, um es milde auszudrücken, geradezu ein billiger Scherz.“, sagte Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten.

„Sie ist kein Scherz. Ihr Linienschiff „Großer Kurfürst“ hat ein Kriegsschiff einer neutralen Nation, nämlich unseren Panzerkreuzer Fylgia in neutralen Gewässern ohne ersichtlichen Grund angegriffen und versenkt. Dieser unprovozierte Angriff ist ein Akt der Barbarei und wird von uns in keinster Weise geduldet und toleriert.“

Der deutsche Botschafter wollte noch etwas erwidern, doch der schwedische Außenminister ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Unser Gespräch ist hiermit beendet. Kehren sie in die deutsche Botschaft zurück und übermitteln sie ihrem Kaiser unsere Kriegserklärung.“, sagte Arvid Friedrich Graf Taube von Odenkat.

Jelenas Palast auf der Kleeblattinsel

In der Bibliothek hatten sich Jelena und Phil Taylor mit Wioletta und Dirk Hemmler versammelt. Die beiden Seeleute waren zuerst skeptisch, stand ihnen doch ein Feind gegenüber. Doch dann hatte der Engländer dem Deutschen die Hand hingehalten. Dirk Hemmler hatte sie ergriffen.

„Was kümmert uns der Krieg? Wir haben wichtigeres zu tun.“, hatte er dann gesagt.

„Genau. Sollen sich unsere Admiräle doch die Köpfe einschlagen. Wir haben etwas gefunden, das viel wertvoller ist, als alles Geld auf der Welt.“

„Das Paradies auf Erden.“, hatte Dirk Hemmler geantwortet.

„Du sagst es, mein Freund.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür zur Bibliothek und Jean-Pierre, Jelenas Diener trat ein.

„Was gibt es, Jean-Pierre?“, fragte Jelena.

„Verzeihung, meine Königin. Eure Schwester Königin Eliska und Jewgeni Moskrovnovitch sind gerade eingetroffen.“ 204

„Dann weißt, du ja, was du zu tun hast, Jean-Pierre.“

Jelenas Diener nickte und trat zur Seite. Kurz darauf betraten die vierte Königin Oamarus und der Russe die Bibliothek. Die beiden Schwestern umarmten sich innig. Danach war Wioletta dran. Der Deutsche und der Engländer nahmen den Russen in ihre Mitte.

Admiralität, Berlin, 26. August 1916, 10:00 Uhr Ortszeit

Großadmiral Alfred von Tirpitz saß an seinem Schreibtisch und las gerade Zeitung, als es an der Tür seines Büros klopfte.

„Herein!“, sagte der Admiral.

Tirpitz Adjutant Martin Lembke betrat das Büro, direkt gefolgt von seiner Hoheit, Kaiser Wilhelm II. Der Admiral erhob sich, schlug die Hacken zusammen, und grüßte den Kaiser militärisch. Wilhelm II. erwiderte den Gruß.

„Stehen sie bequem, Admiral von Tirpitz.“, sagte der deutsche Kaiser.

„Danke, euer Hoheit.“

„Haben sie heute schon die Zeitung gelesen?“, fragte Wilhelm II. seinen Flottenchef.

„Ich war gerade dabei, als sie mir ihre Aufwartung gemacht haben.“

„Was halten sie von der Aufrüstung der schwedischen Flotte Admiral?“, fragte der Kaiser.

„Die ersten drei Schiffe stammen definitiv nicht aus schwedischer Produktion, Hoheit. Ich bin sicher, dass England, Japan und die USA diese Schiffe Schweden geschenkt haben. Bei der „Kung Gustav V“ sieht die Sache anders aus. Sie ist auf derselben Werft gebaut worden, wie die Fylgia.“

„Was wissen wir über dieses Schiff?“, fragte Wilhelm II.

„Was die Feuerkraft angeht, ist uns dieses Schiff haushoch überlegen, euer Hoheit. Sie besitzt vier Vierlingstürme mit einem Kaliber von 40,3 cm.“

Der deutsche Kaiser wurde blass.

„Wie sicher ist diese Information?“, fragte er dann.

„100%. Ein Ausschuss hat den Bau der „Kung Gustav“ genehmigt, und damit auch die benötigten Gelder.“

„Was meinen sie, Admiral von Tirpitz? Haben unsere Großlinien- und unsere Linienschiffe eine Chance gegen dieses Schiff?“, fragte der Kaiser. 205

„Nicht den Hauch. Dieser Stahlkoloss würde unserer Flotte schwere Verluste beibringen.“

Wilhelm II. nickte stumm. Dann wandte er sich wieder an Alfred von Tirpitz.

„Rufen sie unsere Einheiten, die im Moment im Pazifik stationiert sind, umgehend nach Deutschland zurück. Wir brauchen sie hier.“, sagte der deutsche Kaiser.

Jelenas Palast auf der Kleeblattinsel

Es war ein schöner Morgen auf der Kleeblattinsel. Am Tag zuvor hatten die vier Königinnen mit den vier auserwählten zuerst in der Bibliothek und dann in einem der vielen Gärten viel Zeit verbracht. Königin Shakira und Lars Eric Holm waren als letzte erschienen. Nachdem man die vier Teile der Karte zusammengefügt hatte, wurde schnell klar, dass der Teil fehlte, der das Versteck des Feueropals kennzeichnete. Lars Eric Holm konnte einen Fluch nicht unterdrücken.

„Herregud. Es scheint so, als ob Blackbeard das Kartenstück zurückbehalten hat, dass das Versteck des Opals verrät.“, sagte er.

„Dann müssen wir es finden.“

„Erst mal wissen, wo wir suchen sollen, Briderchen.“

„Eines steht jedenfalls fest. Das Gebiet auf der Karte zeigt die Halbinsel Yucatan. Hier liegt Mérida.“

Dirk Hemmler zeigte auf einen Punkt auf der Karte.

Phil Taylor nickte.

„Wir sollten vielleicht auch die Aufzeichnungen unserer Vorfahren durchgehen. Vielleicht finden wir so den einen oder anderen Anhaltspunkt.“, schlug der Russe vor.

„Keine schlechte Idee, Jewgeni.“

Zusammen mit den vier Königinnen hatten sich die Schiffbrüchigen zusammengesetzt und waren die Tagebücher durchgegangen. Doch viel hatten die Aufzeichnungen nicht hergegeben. Allerdings war es Königin Jelena, die in allen Tagebüchern weitere Hinweise gefunden hatte. So hatte sie den Namen eines Händlers gefunden, der in Marrakesch lebte. In Jewgenis Tagebuch stieß die erste Königin Oamarus auf den Namen eines Marinehistorikers, der in Corozal in Belize sein Zuhause hatte. Im Tagebuch, das Lars Eric Holm bei sich trug, entdeckte Königin Jelena den Namen eines Archäologen aus San Diego. In Dirks Aufzeichnungen fiel Eliskas Schwester der Name eines Fischers auf, der in Marseille lebte. Die vier Seeleute sahen in die Runde. 206

„Wo sollen wir anfangen?“, fragte Jewgeni die anderen.

„Vielleicht San Diego. Das liegt an der Pazifikküste.“

„Wie weit ist es von hier bis nach San Diego?“, fragte Dirk Hemmler.

„8.500 Seemeilen.“

Jelenas Schwester Eliska hatte diese Frage beantwortet.

„Bleiben noch Marseille, Marrakesch und Corozal. Wie weit wären die von der Kleeblattinsel entfernt.“, stellte Lars Eric Holm diese nicht unerhebliche Frage.

„Marseille liegt in Frankreich, also in Europa. Marrakesch ist eine Stadt in Marokko. Und damit auf dem afrikanischen Kontinent. Diese Entfernungen werden als größer sein, als von hier nach San Diego.“

„Das leuchtet ein, Dirk. Aber was ist mit Corozal?“, sagte Phil Taylor.

„Corozal ist eine Stadt in Belize. Also Lateinamerika. Wäre vielleicht näher als San Diego.“

Plötzlich schlug sich Wioletta vor den Kopf.

„Warum bin ich nicht gleich drauf gekommen? Von Oamaru nach Belize sind es nur 3.600 Seemeilen.“, sagte sie.

„Wie lange dauert die Reise?“

Wioletta sah ihren Liebsten liebevoll an.

„Ich wünschte ich wüsste es, Liebster.“, sagte sie dann.

Jewgeni schaltete sich in die Konversation ein.

„Ich denke, mit dem Schiff könnten wir in drei Tagen vor Ort sein.“, sagte er.

Phil Taylor nickte. Doch dann sagte er: „Diese Insel ist auf keiner Karte verzeichnet. Es ist also nicht zu erwarten, dass ein Schiff hier entlang kommt.“

Lars Eric Holm, der Schwede, hatte die ganze Zeit nachdenklich sein Kinn gerieben.

„Wäre es nicht besser, wenn wir uns erstmal ansehen würden, wo der Feueropal normalerweise aufbewahrt wird, bevor wir aufbrechen?“, fragte er in die Runde.

Dirk Hemmler erkannte den Grund für diesen Vorschlag. Sie würden scheitern, wenn sie nicht wussten, wo im Tempel sich die Kammer befand, in der der Feueropal in der Regel aufbewahrt wurde. 207

„Du hast Recht, Lars. Wir sollten uns zuerst im Tempel umsehen. Sonst finden wir die Kammer nie.“, sagte er.

Phil Taylor wandte sich an den Deutschen.

„Ah ja? Und woher weißt du das so genau?“, fragte er gerade heraus.

„Ich war schon mit Wioletta dort. Die Wände des Hauptraums sind voll mit den unterschiedlichsten Symbolen. Nur eins führt uns zu dem Raum, in dem der Feueropal für gewöhnlich ruht.“

Jewgeni Moskrovnovitch strich sich nachdenklich über seinen Bart.

„Und der Himmel weiß, welches das richtige ist.“, sagte er dann.

„Genau. Wer garantiert uns, dass die anderen Symbole keine versteckten Fallen sind?“

Phil Taylor warf Jelena einen fragenden Blick zu, den diese mit einem Kopfnicken beantwortete.

„Das leuchtet ein, Freunde. Es wäre nicht gerade ruhmreich für uns, wenn wir auf den letzten Metern doch noch scheitern.“, sagte er dann.

Nach einem leichten Mittagessen, machten sich die vier Auserwählten, in Begleitung der vier Königinnen auf den Weg zum Tempel. Die Wächter am Eingang, den vor 204 Jahren auch die Männer von Blackbeards Landungstrupp bestiegen hatten, ließen die kleine Gruppe passieren hatten sie doch die Königinnen erkannt. Und wie im Jahr 1712 die Piraten, gingen nun auch die Nachkommen der vier Besatzungsmitglieder durch den Gang in den großen Saal. Dort sah sich Phil Taylor um. Dirk Hemmler hatte also die Wahrheit gesagt. Der ganze Raum war mit Symbolen übersät.

„Dann wollen wir mal anfangen. Aber drückt nicht auf die Symbole. Sie könnten verborgene Türen öffnen.“, warnte Dirk Hemmler.

Die vier Auserwählten gingen langsam durch den Raum und sahen sich die Symbole an. Es war schließlich der Russe, der das richtige Symbol fand.

„Hey Leute! Kommt mal hier rüber! Ich glaub ich habe das richtige Symbol gefunden!“, rief er.

Die anderen eilten zu ihm.

„Das muss es sein.“, sagte Dirk Hemmler, als er das Zeichen mit dem über der Flamme schwebenden Edelstein sah.

Lars Eric Holm holte ein Blatt Papier und etwas Kohle aus seinem Beutel. Dann legte er das Blatt auf den Stein und begann, mit der Kohle das Symbol 208

abzupausen. Die anderen hielten sich zurück. Sie alle waren sich bewusst, dass ihr schwedischer Gefährte ihnen allen die sich wiederholende Sucharbeit ersparte, in dem er eine Kopie des Symbols anfertigte. So war sichergestellt, dass sie den Stein mit dem Symbol schnell wiederfanden.

Danach drückte Phil Taylor auf den Stein und dieser bewegte sich nach innen. Die Tür öffnete sich nach Oben und gab den Weg in den Korridor frei, der zum Ziel führte. Jelena ging voraus, die anderen folgten ihr. Doch als sie links abbogen, blieb die erste Königin plötzlich stehen. Dirk erkannte den Grund. Eine Flammenwand, die bis zur Decke reichte, versperrte den Weg. In Dirks Kopf begann es zu arbeiten. Es musste einen Weg geben, an dieser Flammenwand vorbeizukommen. Dirk Hemmler wandte sich an Phil Taylor, den Engländer.

„Sehen wir mal nach, ob es einen geheimen Mechanismus gibt, der diese Feuerwand zum Erlöschen bringt.“, sagte er zu seinem Freund.

„Zwei Hirne, ein Gedanke.“

Es war allerdings Lars Eric Holm, der den geheimen Schalter fand, und die Flammen zum Erlöschen brachte. Jelena führte die anderen den Gang entlang, bis alle im Raum standen. Phil Taylor fiel sofort die Empore mit der goldenen Schale auf. Er sah Jelena, die erste Königin der Kleeblattinsel fragend an. Sie nickte.

„Also die Schale auf der Empore ist der Ort, wo der Opal in der Regel aufbewahrt wird. Und die Feuerwand dient als zusätzlicher Schutz vor Banditen und anderem Gesindel.“, sagte er dann.

„Gegen Blackbeard und seine Bande hat es aber nicht geholfen.“

Wioletta seufzte.

„Leider, muss man sagen. Allerdings war es Tosh Kamar, der den Piraten von dem Feueropal erzählt hat.“, sagte sie.

„Soviel dazu.“

Admiralität, Wien, Österreich, 27. August 1916

Admiral Anton Haus saß an seinem Schreibtisch. Neben ihm stand ein Teller mit einem Stück Sachertorte. Außerdem hatte er noch eine Tasse „Wiener Melange“ auf seinem Schreibtisch stehen. Anton Haus schlug die aktuellste Ausgabe der Wiener Zeitung auf, und entdeckte ein Foto der „Kung Gustav V“. Der Bug begann schmal, wurde dann aber breiter. An diesem Übergang waren die beiden vorderen Vierlingstürme zu sehen. Dahinter kam die Brücke, die einen Turm bildete. Danach kamen die beiden Schornsteine. Achtern am Heck kamen die beiden anderen Vierlingstürme. Dem dazugehörigen Zeitungsartikel entnahm Anton Haus, das der Rumpf des neuen schwedischen Schlachtschiffes aus 30 cm dicken Stahlplatten bestand. Nahezu undurchdringlich für jede Granate. 209

Der Oberbefehlshaber der KuK-Marine hatte gerade einen Schluck Kaffee getrunken, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, sagte er.

Andreas Hofreiter, Admiral Haus persönlicher Adjutant trat ein, direkt gefolgt von Kaiser Franz Joseph. Der Admiral nahm Haltung an, hob die Hand zum militärischen Gruße an seine Schläfe und schlug mit lautem Knall die Hacken zusammen.

„Rühren.“, sagte der Kaiser.

Anton Haus entspannte sich. Dann bot er dem Kaiser einen Sitzplatz an.

„Ich nehme an, sie haben die Neuigkeiten gehört?“, fragte der österreichische Kaiser.

„Wenn sie auf dieses neue schwedische Schlachtschiff anspielen, dann habe ich den Artikel gerade gelesen. Dieses Schiff ist nahezu unbezwingbar.“

„Sie haben Recht, Admiral Haus. Unsere Flotte wäre hoffnungslos unterlegen.“, sagte der Kaiser.

„Die einzige Möglichkeit um zu verhindern, dass dieses Schiff zum Einsatz kommt, wäre ein Sabotageakt.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Das Dumme ist nur, das Schweden auf Seite der Alliierten in den Krieg eingetreten ist. Wir müssen unsere Flotte von der schwedischen Küste abziehen. Die Dreadnoughts sollen umgehend nach Pola zurückkehren.“, sagte Franz Joseph I.

„Jawohl, euer Hoheit.“

Jelenas Palast auf der Kleeblattinsel

Die Abreise der vier Auserwählten stand bevor. Am Morgen hatte die RMS „Mauretania“, ein englischer Passagierliner, vor der Kleeblattinsel gestoppt. Der Kapitän hatte zugestimmt, die vier Freunde an Bord zu nehmen. Am späten Nachmittag lief die „Mauretania“ weiter nach Valparaíso. Dort sollten die vier an Land gehen, und über den Landweg weiter nach Belize reisen. Die schicksalhafte Reise der Auserwählten hatte begonnen. 210

Buch 2 - Kapitel 6

Buch 2 – Kapitel 6

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Die Auserwählten haben ihre Reise angetreten. Doch Tosh Kamar wird ihnen das Leben so schwer wie möglich machen. Er wird sich nicht um seine Rache betrügen lassen. Iduna möge ihre schützende Hand über unsere Freunde halten.“

Corozal, Belize, 30. August 1916

Es war ein geschäftiger Tag in der Hafenstadt Corozal. Sie lag in der gleichnamigen Corozal Bay. Corozal hatte im Gegensatz zu anderen Hafenstädten nur einen kleinen Fischereihafen. Allerdings gab es eine Eisenbahnverbindung, die von Libertad in die Stadt führte. Und mit einem dieser Züge waren Dirk Hemmler, Phil Taylor, Jewgeni Moskrovnovitch und Lars Eric Holm im Morgengrauen in Corozal eingetroffen. Ein wohlhabender Geschäftsmann hatte die vier Seemänner in seinem Haus aufgenommen und gewährte ihnen für die Dauer ihres Aufenthalts seine Gastfreundschaft.

Nun galt es, Dr. Mendoza zu finden. Doch wie ihr Gastgeber den vier Freunden verriet, gab es gleich mehrere Leute in Corozal, die mit Nachnamen Mendoza hießen, und die einen Doktortitel hatten. Doch was, wenn der Marinehistoriker gar keinen Doktortitel hatte, oder, was auch möglich war, kein Mann sondern eine Frau war? Die vier Auserwählten beschlossen, sich zuerst in der örtlichen Bar umzuhören. Denn, und da sprach Phil Taylor aus Erfahrung, die Leute hinter der Theke bekamen am meisten mit. Doch leider war der Mann hinter dem Tresen alles andere als gesprächig. Schlimmer noch. Er war gegenüber den Freunden unverschämt. Mit einem Tritt beförderte er die vier nach draußen.

Doch so leicht gaben Dirk Hemmler und die anderen nicht auf. Sie folgten dem Betreiber der Bar, nachdem dieser Feierabend gemacht hatte, um zu sehen, ob er sich mit jemandem traf. Denn es stand zu befürchten, dass er sie an Tosh Kamar verraten würde. Doch die einzige Location, die der Mann aufsuchte, war der Hafenstrich. Lars Eric Holm wandte sich an die anderen.

„Wenn er schon freiwillig redet, dann können wir versuchen, ihn über seine Lieblingshure zum Reden zu kriegen.“, sagte er.

„Du willst das Mädchen kidnappen? Du scheinst vergessen zu haben, dass so eine Aktion die Behörden auf den Plan ruft. Wir müssen vorsichtig sein.“

„Phil hat Recht, Briderchen. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Was wenn wir im Gefängnis landen? Wer garantiert uns, dass man uns rechtzeitig wieder freilässt, damit wir unsere Mission erfolgreich zu Ende bringen können?“, warf der Russe ein.

Lars Eric Holm sah ein, dass diese Idee keine Option war. 211

„Also schön. Diese Bar war ein Rohrkrepierer. Aber es wird ja wohl noch mehr Bars hier in Corozal geben, als diese eine.“, sagte er dann.

„Fragen wir doch mal unseren Gastgeber.“

Dirk Hemmler wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als hinter den vieren eine Männerstimme hörbar wurde.

„Meine Herren, sie suchen doch jemanden?“, stellte der Mann seine Frage.

Ein Rolls Royce Silver Ghost aus dem Jahr 1910 war neben den Freunden zum Stehen gekommen. Darin saß neben dem Chauffeur noch ein Mann mit einem weißen Anzug und einem Strohhut auf dem Kopf. Die Mandelförmigen Augen verrieten, die asiatischen Wurzeln, des Mannes.

Jewgeni Moskrovnovitch trat an das Auto.

„Bitte, wie meinen?“, fragte er den Mann im Fond des Rolls.

„Mein Name ist Chang Li. Es ist doch so, sie suchen hier doch jemanden?“

„Wir suchen den Marinehistoriker Mendoza.“, sagte Jewgeni.

„Sie wollen zu Elvira?“

„Kennen sie die Dame?“, kam die nächste Frage des Russen.

„Gehen sie in die Kirche. Da finden sie sie heute Abend.“

„In die Kirche?“, fragte Jewgeni.

„Ja. Dort ist heute Abendgottesdienst. Den besucht Elvira immer.“

„Und wie erkennen wir Elvira Mendoza?“, wollte der Russe wissen.

„Achten sie auf eine schwarzhaarige, 1,70 m große Frau mit blauen Augen und tiefem Dekolleté. Sie ist ganz in schwarz gekleidet.“

„Und wann fängt der Gottesdienst an?“, fragte Jewgeni.

„Um 19:00 Uhr. Wenn die Gentlemen mich jetzt bitte entschuldigen würden.“

Der Rolls Royce fuhr wieder an.

„Mist. Jetzt haben wir vergessen, den Kerl nach dem Namen der Kirchengemeinde zu fragen, in der der Gottesdienst stattfindet.“, fluchte Dirk Hemmler.

„Na ja, allzu viele Kirchen wird es in der Stadt ja nicht geben.“ 212

„Leute, ich will ja nichts gesagt haben, aber ich glaube da kommt unser Tavern Keeper.“, sagte Lars Eric Holm.

„Den nehmen wir mal in die Zange.“

Der Betreiber der Hafentaverne schlenderte gerade fröhlich pfeifend an den vier Freunden vorbei, als ihn Phil Taylor am Kragen packte, und ihn gegen die Wand eines Schuppens drückte.

„So, Freundchen. Dieses Mal bist du in keiner guten Position.“, sagte der Engländer.

Und bevor der Mann um Hilfe rufen konnte, spürte er schon die Klinge von Jewgenis Überlebensmesser an seiner Kehle.

„Wenn dir dein Leben lieb ist, Briderchen, dann solltest du besser das Maul aufmachen.“, sagte der Russe.

„Ich weiß nichts.“

„Und heißt Hase was?“, sagte Lars Eric Holm und rammte dem verblüfften Mann seinen Ellenbogen in die Magengrube.

Doch der Mann hatte keine Zeit um durchzuatmen, denn jetzt drehte Dirk Hemmler ihm den linken Arm auf den Rücken.

„Also was ist, quatschst du nun? Kleiner ich verbieg dir die Knochen bis du lachst.“

Der Deutsche verstärkte den Druck.

„Also was ist? Erzählst du mir freiwillig was?“, fragte er den Tavernenbesitzer.

„Nein.“

„Oh doch, wollen wir wetten?“, fragte Dirk.

Der Betreiber der Taverne sah ein, dass es keinen Sinn hatte, noch länger Widerstand zu leisten. Und so verriet er den vier Auserwählten den Namen der Kirche und beschrieb ihnen den Weg.

Um 18:45 Uhr hatten sich die vier Freunde in der Kirche eingefunden. Doch von Elvira Mendoza war nichts zu sehen.

„Vielleicht kommt sie ja noch.“, sagte Dirk.

„Es sei denn, jemand hat sie vor uns gewarnt.“

„Freunde, ich glaube, da kommt sie gerade.“, sagte Lars. 213

Dirk, Phil und Jewgeni blickten zum Eingang. Dort war eine Frau aufgetaucht, die genau auf die Beschreibung des Asiaten passte. Mit anmutigen Schritten ging sie zu ihrem Stammplatz in der zweiten Reihe. Die vier Freunde setzten sich zwei Reihen hinter sie, damit sie nicht sofort auffielen. Um 18:55 Uhr erschien dann der Pfarrer, der die Kirchengemeinde leitete. Und pünktlich um 19:00 Uhr begann der Gottesdienst. Dirk Hemmler sah sich unauffällig im Raum um und entdeckte drei zwielichtige Gestalten, die eine Reihe vor ihnen saßen. Leise machte er die anderen auf das Trio aufmerksam. Phil Taylor nickte. Ebenso Jewgeni und Lars Eric.

Der Gottesdienst dauerte 2 Stunden. Am Schluss betete der Pfarrer noch das Vaterunser. Nach dem Gebet machten sich die Gläubigen auf den Weg nach Hause. Elvira Mendoza war gerade an der Bank der Freunde vorbei gegangen, als die drei Männer aufstanden und ihr folgten. Dirk bedeutete den anderen ihm zu folgen. Die drei Gestalten folgten der Frau durch Corozal, bis sie an ihr Haus gelangten. Dort tauchten sie aus den Schatten auf und umzingelten Elvira.

„Was sollt ihr?“, fragte Elvira die drei Männer.

„Die Karte, Dr. Mendoza. Geben sie sie uns, und wir lassen sie in Ruhe.“

„Was nützt euch die Karte, ohne die anderen Stücke?“, fragte Dr. Mendoza.

„Die kriegen wir schon. Zerbrechen sie sich nicht ihren hübschen Kopf über unsere Probleme.“

Die vier Freunde sahen einander an, und nickten. Phil Taylor tauchte leise hinter dem Anführer des Trios auf und tippte ihm auf die Schulter. Als der Mann sich zu ihm umdrehte, erlebte er eine böse Überraschung. Ein Faustschlag ins Gesicht schickte ihn zu Boden. Einer der Handlanger wollte auf Phil Taylor losgehen, doch Jewgeni Moskrovnovitch packte ihn am Kragen.

„Wer hier schmult, wird angenagelt. Für wen arbeitest du? Na los, machs Maul auf!“, sagte Jewgeni.

Die kleine Bambule, die sich die vier Freunde mit den drei Typen lieferten, hatte die Aufmerksamkeit einer Polizeistreife erregt. Die drei Männer wurden festgenommen und abgeführt. Und um ein Haar hätte die vier Seeleute das gleiche Schicksal ereilt, wenn Elvira nicht zu ihren Gunsten ausgesagt hätte.

Elvira Mendoza zitterte,

„Ist an alles in Ordnung?“, wandte sich Dirk Hemmler an sie.

„Dank ihnen und ihren Freunden, ja.“

„Was wollten die Kerle eigentlich von ihnen?“, fragte der Engländer. 214

„Es geht um eine Karte. Zumindest um einen Teil davon. Ich zeige sie ihnen, wenn sie wollen.“

„Nur, wenn es ihnen keine Umstände macht.“, sagte Jewgeni.

„Keineswegs. Kommen sie ´, meine Herren.“

Elvira Mendoza öffnete die Tür ihres Hauses und ließ die vier Freunde eintreten. Nachdem der Schwede die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging Elvira voraus.

„Folgen sie mir, meine Herren.“, sagte sie.

Dirk, Jewgeni, Lars Eric und Phil Taylor folgten ihr.

In ihrem Arbeitszimmer, das vor Büchern nur so überquoll, nahm Elvira ein Buch von ihrem Schreibtisch.

„Das, meine Herren, ist die Chronik der „Queen Annes Revenge“. Sie umfasst die Jahre 1710 bis 1728.“, sagte sie.

„Einen Teil der Geschichte kennen wir. Vorfahren von uns haben als Besatzungsmitglieder auf dem Schiff gedient.“

„Und jeder hat uns seine Aufzeichnungen und ein Kartenstück hinterlassen.“, sagte Lars Eric Holm.

„Haben sie die Kartenstücke und die Aufzeichnungen mitgebracht?“

Dirk Hemmler legte die Karte auf den Tisch. Dann legten die Freunde die Aufzeichnungen ihrer Vorfahren dazu. Elvira Mendoza öffnete das Chronikbuch von Blackbeards Schiff und holte ein Stück Papier heraus. Sie legte es an verschiedenen Stellen der Karte an. Schließlich fand sie den entsprechenden Abschnitt.

„Sieh an, sieh an. Das ist ja interessant.“, sagte Elvira.

„Was meinen sie?“

„Die Karte, die sie mir mitgebracht haben, stellt einen Teil, der Yucatan-Halbinsel dar. Ich habe mein Stück daneben gelegt. Sehen sie diese Gebäudeanordnung hier?“, sagte Elvira und deutete mit ihrem linken Zeigefinger auf die Karte.

Die vier Freunde nickten.

„Das ist die alte Mayastadt Tulum.“, erklärte Elvira.

„Ist dort der Feueropal versteckt, den wir suchen?“

„Ich glaube nicht. Denn auf der Rückseite ihrer Karte ist ein Hinweis 215

niedergeschrieben.“, sagte Elvira Mendoza.

„Wie lautet er?“

„Suchet im Ah Mucen Cab.“, las Elvira vor.

„Was hat das denn zu bedeuten?“

Elvira Mendoza setzte ihre Brille auf und schlug noch einmal das Buch der „Queen Annes Revenge“ auf. Dann sah sie die vier Männer der Reihe nach an.

„In welchem Jahr waren ihre Vorfahren an Bord der „Queen Annes Revenge“?“, fragte sie dann.

"1712. Warum wollen sie das wissen?“

„So kann ich sagen, ob das Schiff in dem Jahr Tulum angelaufen hat und ob die Besatzung einen Landgang durchgeführt hat.“

Elvira schlug das entsprechende Jahr auf. Sie blätterte die Seiten durch und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. Dann blieb ihr Finger stehen.

„Ah! Da haben wir es. Am 3. Oktober 1712 hat die „Queen Annes Revenge“ Tulum angelaufen. Der Grund war das ein Besatzungsmitglied an Skorbut erkrankt ist. Ein kleiner Landungstrupp ist an Land gegangen. Er wurde von einem gewissen Aldrin Hunt angeführt.“, sagte Elvira.

„Er war es, der den Stein mit dem Opal über der Flamme entdeckt hat.“

Elvira Mendoza sah die vier fragend an. Lars Eric Holm holte die Kopie des Steins aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Elvira studierte das Symbol.

„Wo haben sie das her?“, fragte sie dann,

„Die Kopie habe ich im Tempel auf der Kleeblattinsel angefertigt.“

„Kleeblattinsel?“, fragte Dr. Mendoza

„Ja. Es gibt eine Insel, die die Form eines vierblättrigen Kleeblatts hat. Sie heißt Oamaru. Wird aber wegen ihrer Form Kleeblattinsel genannt.“

„Verstehe. Wo genau liegt diese Insel?“, fragte Elvira.

Die Frage wurde von Phil Taylor beantwortet.

„Wir dürfen die genaue Position aus Gründen der Diskretion nicht verraten. Es ist wichtig, dass die Lage von Oamaru ein Geheimnis bleibt.“

„Ich verstehe. Waren sie auf der Insel?“, fragte Elvira weiter. 216

„Wir sind dort gestrandet, nachdem unsere Schiffe gesunken sind.“

Dirk Hemmler hatte geantwortet.

„Und ich dachte immer, die Kleeblattinsel wäre nur ein Mythos.“, sagte die Marinehistorikerin.

„Durchaus nicht. Die Insel existiert. Aber wir mussten schwören, niemandem, wer es auch sei, zu verraten wo die Insel liegt.“

„Ich vertraue ihnen. Nehmen sie mein Kartenstück. Ich weiß, dass es bei ihnen in guten Händen ist.“, sagte Elvira.

„Die Firma dankt.“

„Ich begleite sie noch zur Tür. Und noch mal vielen Dank für ihre Hilfe gegen diese drei Typen.“

„Kein Ding.“

Corozal, Belize, Donnerstag, 31. August 1916

Am nächsten Morgen suchte Elvira Mendoza die vier Freunde in ihrer Unterkunft auf. Sie hatte erfahren, dass deutsche Agenten in Corozal aufgetaucht waren, die ein Kopfgeld auf Dirk Hemmler ausgesetzt hatten. Irgendwie hatte man in Berlin erfahren, dass sich der Heizer der Goeben in Belize aufhielt. Sie begleitete die vier Freunde zum Bahnhof und setzte sie in einen Zug nach Libertad. Von dort aus sollte es weiter nach San Diego gehen.

Um 11:30 Uhr kam der Zug in Libertad an. Der Zug nach San Diego stand schon auf dem Nachbargleis zur Abfahrt bereit. Elvira Mendoza und die vier Auserwählten bestiegen diesen Zug. Es war jedoch Jewgeni Moskrovnovitch, der die Verfolger entdeckte.

„Hoffentlich fährt der Zug bald los. Denn da kommen schon unsere Verfolger.“, sagte er.

Kaum hatte er seinen Satz zu Ende gesprochen, da ertönte die Lokpfeife. Der Lokführer öffnete den Regler und die Lok setzte sich mit lauten Auspuffschlägen in Bewegung. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Die Deutschen rannten hinter dem Zug her, doch irgendwann ging ihnen die Puste aus, und sie mussten hilflos zusehen, wie Dirk Hemmler und die anderen entkamen. 217

Buch 2 - Kapitel 7

Buch 2 – Kapitel 7

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Die Auserwählten haben das erste Rätsel lösen können. Auch haben sie ein weiteres Kartenstück erhalten. Doch Tosh Kamar hat andere Pläne mit unserer schönen Insel. Iduna, wir flehen dich an, beschütze unsere Freunde.“

San Diego, Kalifornien, Vereinigte Staaten von Amerika, 04. September 1916

Um 5:00 morgens war der Zug aus Belize in San Diego eingetroffen. Unterwegs waren jedoch mehrere Wechsel nötig, da die verschiedenen Eisenbahngesellschaften bei den Gleisen verschiedene Spurweiten bevorzugten. Diese Wechsel sorgten für ungewollte Unterbrechungen, während der Reise. Und um ein Haar hätten die Deutschen die kleine Reisegruppe erwischt. Denn die Lok, die den Zug von Tijuana nach San Diego bringen sollte, hatte ein defektes Lager. Eine Ersatzlok musste her. Diese kam erst am späten Abend. Die Deutschen Agenten hatten tief in die Tasche greifen müssen, um an die Information über den Aufenthaltsort des Quintetts zu kommen.

Es war spät am Abend, die Sonne war schon untergegangen, als die Reservelok endlich bereit gestellt und komplett bekohlt und mit Wasser versorgt war. Allerdings gab es ein paar US-Staatsbürger, die mit dem deutschen Kaiserreich sympathisierten. Sie hatten nahe der Grenze zu den USA ein paar Baumstämme über die Gleise gelegt. So hatten die Deutschen die nötige Zeit, den Zug einzuholen und die fünfköpfige Reisegruppe festzusetzen.

Die deutschen Agenten hatten den Zug schon fast erreicht, als Lokführer und Heizer die Baumstämme endlich beiseite geschafft hatten. Dirk Hemmler hatte die deutschen Verfolger schon entdeckt, als der Zug endlich anfuhr. Der Heizer der gesunkenen Goeben konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken, als er sah, dass ihre Verfolger aufgeben mussten. Doch unmittelbar hinter der Grenze stieg ein hochrangiger Beamter des deutschen Geheimdienstes zu. Er setzte sich in die Nähe der kleinen Gruppe und tat so, als würde er Zeitung lesen. Phil Taylor beobachtete ihn misstrauisch. Dann wandte er sich an den Deutschen.

„Kuck mal unauffällig da rüber. Wir haben Gesellschaft.“, sagte er zu Dirk.

Dirk Hemmler wandte den Kopf.

„Kennst du den Typ?“, fragte ihn Phil Taylor.

„Nur den Namen. Das ist Klaus Jürgens. Er ist der Chef der US-Sektion 218

des deutschen Geheimdienstes. Dem deutschen Botschafter persönlich unterstellt.“

„Na das kann ja heiter werden.“, sagte Lars Eric Holm.

Als der Zug schließlich in San Diego ankam, fing der Agent die Gruppe ab.

„Sie wollen bitte mitkommen, Herr Hemmler.“, sagte er zu seinem Landsmann.

Doch so schnell, wie ihm Dirk Hemmler sein Messer an die Kehle hielt, konnte Klaus Jürgens nicht mal mit den Knien schlottern.

„Seine Majestät der Kaiser wird auf meine Dienste verzichten müssen. Ich habe wichtigeres zu tun.“

„Das interessiert den Kaiser nicht, Herr Hemmler. Ich habe den Befehl, sie umgehend auf das nächste Schiff nach Hamburg zu bringen. Man hat sie als Heizer der Besatzung des Linienschiffes „König“ zugeteilt. Sie haben ihren Dienst unverzüglich anzutreten, Herr Hemmler.“, sagte Klaus Jürgens.

„Sag mal bist du taub? Ich habe gerade eben den Dienst quittiert. Sag das seiner Exzellenz dem Botschafter.“

„Das ist Befehlsverweigerung. Dafür bringe ich sie vors Kriegsgericht.“, sagte Klaus Jürgens zu seinem Landsmann.

„Versuchen sie es. Denn ich werde nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen.“

Ein Bus brachte die kleine Reisegruppe zu einem Hotel in der Innenstadt von San Diego. Elvira Mendoza ließ noch eine Nachricht für den Archäologen aufsetzen, um ihm mitzuteilen, dass sie in der Stadt war. Danach bezog man die Zimmer. Klaus Jürgens suchte die nächste Telegrafenstation auf und schickte ein Telegramm an den deutschen Botschafter in Washington, um ihm mitzuteilen, dass Dirk Hemmler desertiert, und somit fahnenflüchtig war. Doch mit einer schnellen Rückantwort rechnete der Chef der US-Sektion von Abteilung III b nicht, obwohl der Botschafter als Repräsentant des deutschen Kaiserreichs selbst Befehle erteilen konnte. Denn wahrscheinlich wollte sich Johann Heinrich Graf von Bernstorff rückversichern und bei Wilhelm II. um Instruktionen nachsuchen.

San Diego, Dienstag 5. September 1916

Um 9:00 Uhr morgens traf eine Nachricht des Archäologen im Hotel der Freunde ein. Dr. Robert Harris bat um ein Treffen in einem der nobelsten Restaurants der Stadt. Die vier Freunde wurden misstrauisch. Es konnte ja schließlich sein, dass dieser Bursche versuchen könnte, sie finanziell über den Tisch zu ziehen. Der Archäologe hatte Verständnis. Als Zeichen seines guten Willens schickte er 219

seine Assistentin. Dirk Hemmler staunte nicht schlecht, als er die junge Frau entdeckte, die mit eleganten Schritten das Hotel betrat.

Sie war 1,68 m groß und hatte lange, schwarze Haare. Außerdem hatte sie ein hübsches ovales Gesicht mit verführerischen grünen Mandelaugen. Doch die warme, sanfte Stimme riss den Deutschen wieder aus seinen Gedanken.

„Guten Morgen, Gentlemen. Mein Name ist Lucy. Habe ich die Ehre mit den Herren Dirk Hemmler, Lars Eric Holm, Jewgeni Moskrovnovitch und Phil Taylor?“, fragte sie gerade heraus.

„Sie kommen wohl gleich zur Sache, was?“

„Ich halte mich nie lange mit langweiligen Vorreden oder irgendwelchen unsinnigen Phrasen auf, Mr. Taylor.“, sagte Lucy.

„Hat Dr. Harris sie geschickt?“

„Hat er. Er nimmt es ihnen nicht übel, dass sie ihm nicht vertrauen.“

„In welchem Verhältnis stehen sie eigentlich zu ihm, Miss…?“

„Lee. Lucy Lee. Ich bin Dr. Harris Assistentin.“, sagte Lucy.

„Warum die Einladung?“

„Dr. Harris will sie erst einmal kennenlernen, bevor sie sein allerheiligstes betreten dürfen.“, gab Lucy Auskunft.

„Solange wir nicht die Rechnung bezahlen müssen, ist alles in Ordnung.“

Lucy lachte.

„Machen sie sich keine Sorgen, Gentlemen. Dr. Harris übernimmt alle Kosten.“, sagte sie.

„Na hoffentlich. Ich habe nämlich keine Lust noch Teller abzuwaschen.“

Pünktlich um 12:00 Uhr betraten die vier Freunde das Restaurant. Dr. Robert Harris erwartete sie bereits. Der Archäologe war ein 48 Jahre alter, 1,65 m großer Mann mit einem runden Gesicht und braunen Augen. Seine braunen Haare hatte er an den Seiten bis zu den Ohren geschnitten und der Pony war etwas verwuschelt. Auffällig war auch der Schnurrbart unter der breiten Nase. Bekleidet war der Archäologe mit einem schwarzen Anzug, schwarzen Socken und schwarzen Herrenschuhen. Dazu trug er ein weißes Hemd. Seinen grauen Mantel hatte Robert Harris an einem Kleiderständer aufgehängt.

Als er seine Assistentin mit den vier Seeleuten sah, umspielte ein freundliches Lächeln seine Lippen. 220

„Ah! Schön, dass sie meiner Einladung doch noch folgen konnten, Gentlemen.“, sagte er, nachdem sich die vier Freunde gesetzt hatten.

Während des Essens betrieben die fünf Männer eine eher belanglose Konversation. Es konnte sein, dass entweder deutsche Spione oder Tosh Kamars Handlanger im Restaurant anwesend waren.

Am Ende des Mittagessens sprach Robert Harris erneut eine Einladung an die vier Freunde aus.

„Nun, nachdem ich weiß, dass ich ihnen vertrauen kann, Gentlemen, wäre es mir eine Freude, ihnen mit meinem Wissen weiterzuhelfen. Wie wäre es, wenn sie heute Abend um 18:30 Uhr auf ein Glas Whisky bei mir vorbeikommen?“, sagte er.

„Schön. Wir kommen. Aber keine Dummheiten.“

„Mr. Taylor, ich kann verstehen, dass sie immer noch Skepsis hegen. Aber ich möchte eines zu bedenken geben: Ohne meine Hilfe, werden sie das Rätsel nicht lösen können.“, sagte der Archäologe.

„Welches Rätsel, Dr. Harris?“

„Meine alte Freundin, Elvira Mendoza, hat mir von einem Hinweis berichtet, der auf einem ihrer Kartenstücke handschriftlich festgehalten wurde.“, sagte Dr. Harris.

Die vier Freunde kehrten ins Hotel zurück. Dort trafen sie sich auf dem Zimmer von Phil Taylor.

„Irgendetwas passt mir an dem Kerl nicht.“, sagte der Engländer.

„Und was, Briderchen?“

„Ich weiß nicht. Aber ich hab kein gutes Gefühl bei dem Typen.“

„Jetzt mach mal halb lang. Er vertraut uns. Also sollten wir zumindest versuchen, Dr. Harris zu vertrauen, Phil.“, sagte Dirk.

„Na von mir aus. Aber eins garantiere ich euch, Freunde. Wenn ich merke, dass uns dieser Bursche über den Tisch ziehen will, dann bekommt er meinen Dampfhammer zu spüren.“

Um 17:00 Uhr holte Lucy, Dr. Harris Assistentin, die vier Freunde ab. Mit dem Bus ging es in eines der nobleren Viertel von San Diego. Die vier Freunde kamen gerade am Haus von Dr. Harris an, als sie vier vermummte Gestalten sahen, die sich dem Gebäude näherten. Den Freunden war klar, dass diese Kerle nichts Gutes im Sinn hatten. Leise schlichen sie an ihre Gegner heran. Als sie 221

nahe genug heran waren, gab Dirk Hemmler ein Signal.

„ZUGRIFF!“, rief er.

Die vier Männer bekamen einen Schreck und versuchten zu fliehen, doch die Auserwählten waren schneller. Einer prallte mit Phil Taylor zusammen und zückte ein Messer. Doch Dr. Harris Assistentin entwaffnete ihn mit einem Handkantenschlag. Phil Taylor lachte süffisant.

„Hat dir schon mal einer mit ‘nem Vorschlaghammer nen Scheitel gezogen?“, fragte er seinen Gegner, ehe er ihm einen Dampfhammer auf den Kopf verpasste.

Ein anderer wollte Dirk Hemmler einen Kinnhaken verpassen, bekam aber einen Schlag, der ihm einen Spin verpasste. Er taumelte rückwärts, und direkt in einen rechten Haken von Lars Eric Holm.

„Nächstes mal gibt’s nicht nur ein paar hinter die Ohren…“, sagte Lars und verpasste seinem Gegner einen linken Haken, „dann bring ich auch gleich ne Keule mit.“, sagte er dann.

Ein dritter wollte Jewgeni, dem Russen, einen Tritt verpassen. Doch dieser konnte den Tritt abfangen. Als Antwort gab es einen Schlag auf die Zehen. Der Mann schrie auf, wurde aber mit einem Schlag auf den Kopf niedergestreckt.

Für das Gaunerquartett war dieser Raubzug ein völliges Desaster. Eine Polizeistreife nahm die Männer fest. Der leitende Offizier, ein dicklicher übereifriger Polizist im Dienstgrad eines Seargants wollte gerade Dirk Hemmler in Gewahrsam nehmen, als Dr. Robert Harris aus dem Haus kam. Der Archäologe erkannte sofort den Ernst der Lage.

„Einen Moment mal Seargant.“, sagte er.

„Ah! Sie sind’s Dr. Harris. Wollen sie gleich ihre Aussage zu Protokoll geben?“

„Keineswegs. Ich wollte sie vielmehr bitten, die vier Gentlemen doch bitte in Ruhe zu lassen. Außerdem erwarte ich die Herren.“, sagte Robert Harris.

„Das das gegen die Vorschriften ist, brauche ich ihnen wohl nicht zu sagen, oder?“

Robert Harris wurde es langsam zu bunt. Dennoch bemühte er sich um Fassung.

„Sehen sie die Sache doch mal so, Seargant. Diese vier Männer haben ihnen diese Burschen doch mehr oder weniger auf dem Silbertablett serviert, oder? Also lassen sie mal ruhig die Fünfe gerade sein.“, sagte er dann.

„Na gut, meinetwegen.“

Der Archäologe bat die vier Freunde, ihm in sein Haus zu folgen. In 222

seiner Bibliothek kam Robert Harris gleich zur Sache.

„Darf ich mir ihre Karte einmal ansehen?“, fragte er.

Dirk Hemmler reichte ihm die Karte. Der Archäologe sah sich die Karte an und nahm gleich danach mehrere Fotos zur Hand. Dann blickte er die Freunde an.

„Ich weiß, was es mit dem Hinweis auf sich hat. Er lautet doch „Suchet im Ah Mucen Cab.“, nicht wahr?“, sagte er

„Dann bitte.“

„Es ist ein Gebäude. Gemeint ist der „Tempel des herabsteigenden Gottes“. Er wird in der Mayasprache Ah Mucen Cab genannt.“, erläuterte Dr. Harris.

„Verstehe. Das heißt, dass wir erst nach Tulum reisen müssen, bevor wir uns auf den Weg nach Europa machen?“

„Sie können dem Hinweis auch nicht nachgehen. Aber ich möchte zu bedenken geben, dass ihnen dadurch vielleicht ein wichtiger Hinweis entgeht, der zum Versteck des Opals führen könnte.“, sagte Robert Harris.

„Das leuchtet ein. Aber ich frage mich die ganze Zeit, was diese vier Flitzpiepen hier wollten. Die waren ganz sicher nicht zufällig in der Nähe.“

„Da fällt mir was ein, Jewgeni. Als wir bei Elvira waren, waren doch auch so drei kriminelle Schmierlappen aus heiterem Himmel dort aufgetaucht.“, sagte Lars Eric Holm.

„Du hast Recht. Und wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, wollten die Kerle von Elvira das Stück einer Karte.“

„Jetzt, wo du es sagst, Dirk. Möglich, dass diese vier Typen, bei ihnen genau dasselbe vermuten.“, sagte Phil Taylor.

Robert Harris sah die vier Freunde der Reihe nach verwirrt an. Doch dann ging ihm ein Licht auf.

„Ich glaube, ich weiß worauf die Herrschaften hinaus wollen.“, sagte er und ging zu einem Tresor, der in die Wand eingelassen war.

Dieser wurde durch ein Bild des englischen Schlachtschiffes HMS Barham verdeckt. Robert Harris öffnete den Tresor und holte ein Stück Papier heraus. Er legte es an die schon vorhandenen Stücke und prüfte, wo sein Stück passen könnte. Als er die passende Stelle gefunden hatte, faltete er sein Stück zusammen, und gab es Dirk Hemmler.

„Nehmen sie mein Kartenstück mit. Bei ihnen ist es in den richtigen Händen. Meine Assistentin wird sie auf ihrer weiteren Reise begleiten.“, sagte Robert 222

Harris. Dann verabschiedete er sich von den vier Freunden und seiner Assistentin.

„Leben sie wohl, Gentlemen. Und sie auch, Miss Lee. Vergessen sie nie, was ich ihnen beigebracht habe.“, sagte er.

„Kommen sie denn nicht mit, Doktor?“

„Nein, Miss Lee. Ich bin langsam zu alt, um weiter im Sand nach verlorenen Städten oder verlorenen Artefakten zu graben. Ich habe all mein Wissen an sie weitergegeben. Jetzt ist es an ihnen, es auch zu nutzen, Miss Lee.“, sagte Robert Harris.

„Danke, für ihr Vertrauen, Doktor Harris. Aber ich habe das Gefühl, dass ich noch nicht alles weiß. Dass ich noch mehr von ihnen lernen könnte.“

„Nein, Miss Lee. Die Vorlesungen sind zu Ende. Jetzt beginnt der Ernst des Lebens für sie. Ab jetzt müssen sie sich die Dinge selbst beibringen. Leben sie wohl. Und für sie, meine Herren, eine gesunde und glückliche Reise.“, sagte er zum Abschluss.

Es war Phil Taylor, der das letzte Wort hatte.

„Vielen Dank, Dr. Harris. Und es tut mir leid, dass ich ihnen gegenüber so misstrauisch war. Ich bitte sie hiermit um Verzeihung.“, sagte er. 223

Buch 2 - Kapitel 8

Buch 2 – Kapitel 8

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Unsere Helden haben in San Diego das nächste Rätsel gelöst. Auch ein weiteres Kartenstück gelangte in ihren Besitz. Doch leider wurde der Archäologe Robert Harris von Tosh Kamars Schergen brutal ermordet. Sie werden unseren Freunden immer folgen, bis es keinen Ausweg mehr gibt. Iduna, verwische die Spuren dieser Männer und ihrer weiblichen Begleiterin.“

Marseille, Frankreich, 15. September 1916 8:00 Uhr Ortszeit

Im Hafen von Marseille hatte sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt. Denn dort lag die 274,9 m lange RMS Aquitania. Ein vierschornsteiniger Passagierdampfer der Cunard Line. Das Schiff hatte Phil Taylor und seine Freunde von New York nach Marseille gebracht. Da jedoch Cherbourg von den großen Transatlantiklinern in der Regel auf ihrem Weg von und nach Amerika angelaufen wurde, sah man solche Schiffe in Marseille eher selten.

Doch bevor die vier Freunde und Dr. Harris Assistentin Lucy Lee ihre Reise über den Atlantik angetreten hatten, waren sie nach Tulum gereist und hatten in den Ruinen des Tempels den man dem „Herabsteigenden Gott“ geweiht hatte, umgesehen. Sie hatten zwar einen Hinweis gefunden, doch er verriet nichts über ein weiteres Kartenstück. „Suchet nach Shermine.“, stand auf einem Fetzen Papier geschrieben. Bitter enttäuscht hatte das Quintett die alte Mayastädte in Richtung New York verlassen und war dann an Bord der Aquitania nach Marseille gefahren, wo sie um 6:00 Uhr morgens eingelaufen waren. Der Kapitän des englischen Luxusliners ließ noch einmal Kohlen und Lebensmittel nachfassen, ehe er nach Cherbourg weiterfahren würde.

Die vier Freunde und Lucy Lee suchten sich zuerst ein Hotel. Denn der Archäologe hatte ihnen eine nicht unerhebliche Summe Bargeld mitgegeben, damit die Weiterreise und auch die Unterkünfte gesichert waren. Auf Dirks Zimmer setzten sich die Auserwählten zu einer Besprechung zusammen. Der Deutsche holte seine Aufzeichnungen heraus.

„Also, der Name des Fischers, den wir aufsuchen sollen, lautet Francois Spinec.“, sagte Dirk.

„Da er Fischer ist, wird er sicher im Hafen zu finden sein.“

„Sein Boot dürfte aber nicht im Haupthafen liegen, denn der ist den großen Passagier- und Frachtschiffen vorbehalten. Wir sollten eher im Fischereihafen nachsehen.“, sagte Lars Eric Holm. 224

„So schlau bin ich auch, du Stratege.“

Phil Taylor hatte diese patzigen Worte ausgesprochen.

„Phil, wir haben eine Aufgabe zu erledigen. Auf Oamaru setzen alle ihre Hoffnungen in uns.“, mahnte Dirk.

„Dessen bin ich mir vollauf bewusst. Aber findet ihr nicht, dass wir bisher verdammtes Glück hatten?“

„Inwiefern?“, fragte Jewgeni den Engländer.

„Seht die Sache doch mal so, bisher haben wir Glück gehabt, dass Dr. Mendoza und Dr. Harris bei den Gesetzeshütern ein gutes Wort für uns eingelegt haben. Sonst säßen wir schon längst im Knast.“

„Auch wieder wahr. Aber wir müssen auf alles gefasst sein. Fragen wir doch als erstes nach dem Namen von Francois Spinecs Boot.“, schlug der Schwede vor.

„Es darf aber nicht so aussehen, als würden wir rumschnüffeln.“

„Also dann. Klappern wir die ganzen Spelunken am Hafen mal ab. Wollen doch mal sehen, ob wir was herausfinden.“, sagte Jewgeni.

In einer der vielen Kneipen am Hafen versuchten die Freunde ihr Glück. Doch keiner der Leute dort, sprach mit ihnen. Also ging es weiter zur nächsten Bar. Doch auch dort hatten die vier Gefährten kein Glück. Auch in der nächsten Spelunke stießen die Freunde auf eine Mauer des Schweigens. In der darauf folgenden Hafenbar das gleiche Bild. Niemand wollte den Auserwählten Auskunft erteilen.

Erst in der letzten Pinte im alten Hafen von Marseille hatte die vier Freunde endlich Glück. Ein Matrose sprach die vier Seeleute an.

„Bon Jour, Messieurs.“, sagte er.

Die Freunde musterten den Mann. Er war 1,85 m groß und hatte ein rundes Gesicht. Eines seiner braunen Augen wurde von einer Augenklappe verdeckt. Seine linke Hand verdeckte ein schwarzer Handschuh. Seine schwarzen Haare standen wirr vom Kopf und bildeten an den Schläfen Koteletten, die in einem schwarzen Lippen- und Kinnbart endeten. Auffällig war auch der etwas kräftige Körperbau des Matrosen. Bekleidet war der Mann mit einem schwarzen Tankshirt in Fishnetoptik, einer roten Leinenhose und schweren, schwarzen Lederstiefeln. Seine Stirn verbarg der Seemann hinter einem roten Stirnband. Sein rechtes Handgelenk war mit einer weißen Stoffbandage verbunden.

„Wir suchen das Boot von Francois Spinec. Sie wissen nicht wie es heißt, und wo es seinen Liegeplatz hat?“, sagte Lars Eric Holm. 225

„Das Boot heißt „Aigle en Or“. Aber Francois ist schon eine Ewigkeit nicht mehr rausgefahren.“

„Warum denn dieses?“, fragte Phil Taylor.

„Nun ja, Monsieur, mein alter Freund hatte an jenem Tag den Tod seiner Frau und seiner Kinder zu beklagen. Sein Sohn starb, als er mit ihm auf See war. Seine Frau und seine Tochter starben, als das Haus in Brand geraten ist.“

„Und seit dem fährt Herr Spinec nicht auf zum Fischen, Herr…?“, sagte Dirk Hemmler.

„Lafitte. Jean-Pierre Lafitte. Und ja Monsieur, seit diesem Tag fährt Monsieur Spinec nicht mehr raus. Er lebt sehr zurückgezogen. Außerdem spricht er mit niemandem. Ich bin der einzige, der noch Kontakt zu ihm hat.“

„Könnten sie für uns ein Treffen arrangieren? Es gibt etwas, wobei er uns vielleicht helfen könnte.“, sagte Jewgeni.

Jean-Pierre Lafitte sah die vier Freunde an.

„Ich will es versuchen, Messieurs. Aber ich verspreche nichts.“, sagte er dann.

„Wo finden wir sie?“

Lars Eric Holm, der Schwede, hatte diese Frage gestellt.

„Ich bin immer hier. Kommen sie einfach jeden Tag um die gleiche Zeit wie heute hierher.“, sagte Jean-Pierre.

„Danke für ihre Zeit, Mister Lafitte.“

„War mir eine Ehre.“, sagte der Seemann.

Die vier Freunde kehrten in ihre Unterkunft zurück. Auf dem Zimmer von Robert Harris Assistentin trafen sie sich.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Eurasierin.

„Nicht gerade gut. Aber auch nicht gerade schlecht. Wir konnten zumindest den Namen von Mister Spinecs Boot in Erfahrung bringen.“

„Mehr nicht?“, fragte Lucy Lee.

„Nicht ganz. Wir konnten noch herausfinden, dass Francois Spinec seit einem Schicksalsschlag, bis auf eine Ausnahme, den Kontakt zu seinen Mitmenschen abgebrochen hat. Aber damit ist der Gag auch schon weg.“

„Verstehe. Meinen sie, dass sie die Person ausfindig machen können?“, fragte Robert Harris Assistentin. 226

„Der Mann heißt Jean-Pierre Lafitte. Und wie gesagt, ist er der einzige, der noch an Francois Spinec herankommt. Wir haben ihn schon gebeten, den Versuch zu unternehmen, ein Treffen mit seinem Freund zu arrangieren.“

„Meinen sie, dass er Erfolg haben wird?“, fragte Miss Lee.

Dirk Hemmler seufzte.

„Eher nicht. Denn nach allem, was uns Herr Lafitte verraten hat, ist er ein verdammt harter Brocken, den man nur schwer überzeugen kann.“

„Hm. Wo haben sie diesen Jean-Pierre Lafitte eigentlich aufgespürt?“, fragte Lucy Lee.

„Wir haben ihn in einer der vielen Hafenkneipen gefunden. Und um ihrer unausgesprochenen Frage zuvorzukommen: Er hat uns angesprochen.“

Marseille, 16. September 1916 12:00 Uhr Ortszeit

Die vier Auserwählten machten sich, dieses Mal von Lucy Lee begleitet, hinunter zum Fischereihafen, wo sie am vereinbarten Treffpunkt auf Jean-Pierre Lafitte trafen. Der Seemann erwartete sie bereits.

„Bon Jour, mes Amis.“, sagte er freundlich.

„Ihnen auch einen guten Tag. Haben sie mit Mr. Spinec sprechen können?“

„Noch nicht. Ich habe ihm aber eine Nachricht hinterlassen. Worum geht es eigentlich?“, fragte der Seemann.

„Wo können wir uns ungestört unterhalten? Hier sind mir zu viele Osterhasen.“

„Bei mir zu Hause. Bitte folgen sie mir.“, sagte Jean-Pierre.

Der Fischer führte das Quintett zu seinem Haus, an dessen Anleger sein Boot, die „Mantara“ lag. Jean-Pierre Lafitte führte seine Gäste an Bord seines Bootes. Phil Taylor ergriff als erster das Wort, nachdem sich jeder einen Sitzplatz gesucht hatte.

„Ich sollte mich im Namen aller für unsere Unhöflichkeit entschuldigen, dass wir uns ihnen nicht vorgestellt haben, Mr. Lafitte. Mein Name ist Phil Taylor. Das sind meine Freunde Dirk Hemmler, Jewgeni Moskrovnovitch und Lars Eric Holm. Die Dame, die uns begleitet, ist Lucy Lee. Sie ist die Assistentin von Dr. Robert Harris, dem Archäologen aus San Diego.“, sagte der Engländer.

„Ist nicht so schlimm, Freunde. Aber jetzt solltet ihr mich einweihen.“

Dirk Hemmler breitete die Karte aus, die die Freunde immer mit sich führten. Er erläuterte, welche Stücke der Karte sie schon bei Beginn der Reise im Besitz 227

hatten, und welche im Verlauf neu dazugekommen waren.

„In meinen Aufzeichnungen wird der Name ihres Freundes erwähnt. Wenn er ein weiteres Stück der Karte in seinem Besitz hat, oder uns irgendwie Informationen zu einem Ort namens Shermine geben kann, dann würde uns das sehr weiterhelfen. Wir müssen den Feueropal finden und nach Oamaru zurückbringen.“, schloss er seinen Bericht.

„Sie meinen die Kleeblattinsel?“

„Woher wissen sie davon, Mr. Lafitte?“, fragte Lars Eric Holm.

Die braunen Augen des Franzosen trübten sich, als er antwortete.

„Mein kleiner Bruder Alain und meine kleine Schwester Magalie haben nach der Insel gesucht. Sie sind von dieser Suche nie zurückgekehrt. Ich habe sie oft genug gewarnt. Aber wie das bei jüngeren Geschwistern so ist. Sie haben ihren eigenen Kopf. Jedenfalls haben sie nicht auf mich gehört und sind vor drei Jahren mit Magalies kleiner Jolle aufgebrochen. Und beide waren hervorragende Segler.“, sagte Jean-Pierre Lafitte.

„Wann haben sie das letzte Mal von ihren Geschwistern gehört?“

„Vor zwei Jahren. Da haben sie mir ein Telegramm aus Buenos Aires geschickt. Die Jolle ist in einem Sturm gesunken. Aber ein Passagierdampfer, ich glaube es war die Olympic, hat sie aus dem Wasser gefischt und in Buenos Aires an Land gesetzt. Seitdem habe ich nichts mehr gehört.“, sagte der Seemann.

Dirk Hemmler sah in die Runde.

„Was meint ihr, Freunde?“, fragte er dann.

„Fragen wir Dr. Mendoza. Vielleicht hat sie ja was mitbekommen.“

„Gute Idee, Phil.“, sagte Jewgeni.

Dirk Hemmler wandte sich wieder an den Franzosen.

„Wir machen ihnen folgenden Vorschlag: Wir versuchen etwas über den Verbleib ihrer Geschwister in Erfahrung zu bringen, als Gegenleistung bitten wir sie um ein Treffen mit ihrem Freund, Francois Spinec.“, sagte er.

Jean-Pierre Lafitte nickte.

„D'accord. “, sagte er dann.

„Dann sehen wir uns morgen am vereinbarten Treffpunkt wieder.“

Nach dem Gespräch mit Jean-Pierre Lafitte suchten die vier Freunde 228

zusammen mit Lucy Lee das Postamt von Marseille auf. Lars Eric Holm setzte ein Telegramm an Elvira Mendoza auf, in dem er sich nach dem Verbleib von Alain und Magalie Lafitte erkundigte. Außerdem schrieb er dazu, dass der ältere Bruder die beiden suchte. Danach hieß es warten.

Elviras Antwort kam am Abend. Die Freunde waren gerade mit dem Abendessen fertig und hatten sich auf Jewgenis Zimmer zurückgezogen, als der Portier des Hotels klopfte. Als der Russe öffnete gab ihm der Portier wortlos das Telegramm mit Elvira Mendozas Antwort und ging wieder. Jewgeni las sich das Telegramm der Marinehistorikerin durch.

„Was steht in dem Telegramm?“, fragte Phil Taylor seinen russischen Freund.

„Hier steht: Magalie Lafitte lebt heute in unserer schönen Stadt Corozal. STOP! Hat Suche nach Kleeblattinsel laut eigener Aussage aufgegeben. STOP! Ist meine Nachbarin. STOP! Alain Lafitte hat Suche alleine fortgesetzt. STOP! Ist nach einjähriger Pause am 7. Mai 1915 nach Rio de Janeiro aufgebrochen. STOP! Seitdem kein Lebenzeichen von ihm. STOP! Mehr habe ich nicht herausfinden können. STOP! P.S. Magalie lässt ihrem Bruder ausrichten, er ist schon zweifacher Onkel.“

17. September 1916 12:00 Uhr Ortszeit

Die vier Freunde waren wieder am vereinbarten Treffpunkt. Jean-Pierre Lafitte erwartete sie bereits. Der besorgte Ausdruck in seinem Gesicht war unübersehbar.

„Habt ihr Neuigkeiten?“, fragte er geradeheraus, nachdem er die Auserwählten begrüßt hatte.

„Elvira Mendoza hat auf unser Telegramm geantwortet.“

Jean-Pierre Lafitte gebot den Freunden ihm zu seinem Boot zu folgen. Dort angekommen, übergab ihm Dirk Hemmler das Telegramm der Marinehistorikerin. Der Fischer las sich das Dokument durch. Dann sah er die Freunde der Reihe nach an.

„Ich danke euch, meine Freunde. Wenigstens ist meine Schwester noch am Leben. Aber ich fürchte, dass Alain bereits mit Jesus zu Abend isst. Und ab jetzt sind wir per Du.“, sagte er.

„Du meinst, er ist…?“

„Tot? Ich befürchte ja, Jewgeni. Trotzdem Danke.“, sagte Jean-Pierre.

„Schon in Ordnung. Wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt, würde ich sagen.“ 229

„Und ich werde mein Versprechen einhalten. Heute Abend statte ich Francois einen Besuch ab.“, sagte der Seemann.

Die vier Freunde waren gerade auf dem Rückweg, als ein paar Fischer, die ihnen die kalte Schulter gezeigt hatten, auf sie zukamen. Der Anführer baute sich vor Phil Taylor auf.

„Was müssen wir denn da hören? Ihr habt mit Jean-Pierre Lafitte gesprochen? Nur damit ihr wisst, wo der Hase läuft: Ihr redet mit keinem der anderen Fischer, ohne dass wir es erlauben.“, sagte er.

Doch die Antwort des Engländers ließ nicht lange auf sich warten. Ein Schlag auf den Kopf genügte, um den Fischer zu Boden zu schicken. Doch zwei weitere Fischer zogen ihre Messer, um ihrem Anführer zu helfen. Sie näherten sich Phil Taylor vorsichtig, doch urplötzlich tauchte von Links Lars Eric Holm auf und drehte einem der beiden Fischer den Arm auf den Rücken. Danach setzte es einen Schlag in die Magengrube und danach einen Schlag ins Gesicht. Der zweite Fischer ging nun auf den Schweden los, doch dieser konnte dem Hieb mit dem Messer ausweichen.

„Komm her, dir werde ich auch einen vorn Ständer kleistern.“, sagte er und verpasste dem Franzosen einen Schlag ins Gesicht. Der dritte Fischer gab Fersengeld und flüchtete.

Die Freunde kehrten ins Hotel zurück. Viel konnten sie nicht mehr tun. Auch mussten sie nun vorsichtig sein. Denn wenn die Fischer auch nur etwas Einfluss bei der Polizei hatten, dann konnten sie den vier Auserwählten noch einmal richtig Schwierigkeiten bereiten.

Am Abend traf sich Jean-Pierre Lafitte mit Francois Spinec. Als die beiden bei einem Glas Rotwein beisammen saßen, sagte Jean Pierre: „Hör zu, Francois, es ist vielleicht besser, du redest mit diesen Männern.“

„Dir ist schon klar, dass das den anderen Fischern ein Dorn im Auge sein wird. Die kochen schon vor Wut, weil du mit den Fremden gesprochen hast.“

„Francois, ich hab gute Gründe. Die anderen Fischer sind scharf auf dein Kartenstück. Gib es den Fremden, und du hast deine Ruhe.“, sagte Jean-Pierre.

„Dein Wort in Gottes Ohr, Jean-Pierre. Aber gut, du hast mich überredet. Bringe sie morgen Abend zu mir.“

„Es gibt aber noch mehr zu berichten, Francois. Die vier Fremden haben etwas über den Verbleib meiner jüngeren Geschwister herausgefunden. Findest du nicht, dass sie das vertrauenswürdig macht?“, fragte Jean-Pierre Lafitte.

„Kommt drauf an, was sie herausgefunden haben.“ 230

„Ich bin zweifacher Onkel, Francois. Magalie hat sich in Corozal niedergelassen.“, sagte Jean-Pierre zu seinem Freund.

„Noch nie gehört. Wo liegt Corozal überhaupt?“

„In Belize.“, sagte Francois Freund.

Marseille, 17. September 1916 12:00 Uhr Ortszeit

Dirk Hemmler und die anderen waren wie am ersten Tag um die Mittagszeit am Fischereihafen von Marseille. Sie hatten sich mit Jean-Pierre Lafitte getroffen.

„Also, mes amis. Francois Spinec erwartet euch heute Abend um 21:00 Uhr. Aber seit pünktlich. Mein Spezi mag es nicht, wenn man sich verspätet.“, sagte der Franzose.

„Kannst du uns nicht hinbringen, Jean-Pierre?“

„Kann ich machen. 20:30 Uhr hier.“, sagte Jean-Pierre.

„Dann bis heute Abend.“

Marseille, am gleichen Tag, 20:30 Uhr Ortszeit

Um 20:30 Uhr trafen sich die vier Freunde mit Jean-Pierre Lafitte an der Kneipe im Marseiller Hafen, an der sie sich vor zwei Tagen getroffen hatten. Der Fischer saß wie immer auf einem der Poller an der Mole. In der Ferne konnte man einige Möwen schreien hören. Als der Franzose die vier Männer sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Da seid ihr ja, Freunde. Ich dachte schon, ihr kommt überhaupt nicht.“, sagte er.

„Wir stehen zu unserem Wort. Wenn wir sagen, wir kommen, dann kommen wir auch.“

„Machen wir uns auf den Weg. Sonst sind wir bei Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs.“, sagte Jean-Pierre.

Angeführt von ihrem französischen Freund, machten sich die vier Auserwählten auf den Weg zu Francois Spinec, der ein weiteres Kartenstück in seinem Besitz hatte, das ihnen den Weg zum Versteck des Feueropals wies. Es war 21:00 Uhr, als die kleine Gruppe das Haus des Mannes erreichte. Francois Spinec lebte in einem kleinen Steinhaus, das aus Granitsteinen bestand. Die Fenster waren nicht sehr groß, ließen aber genug Licht herein. Die Tür bestand aus massivem Eichenholz. Jean-Pierre Lafitte klopfte.

„Komm rein, Jean-Pierre. Und bring deine Freunde ruhig mit.“, war die Stimme des alten Fischers von drinnen zu hören. 231

Die fünf traten ein. Francois Spinec saß an einem massiven Eichentisch, den er selbst angefertigt hatte. Die vier Freunde musterten den Fischer aufmerksam, als er sich erhob.

Francois Spinec war ein 1,74 m großer Mann mit einem ovalen Gesicht, das von einem blonden Vollbart bedeckt wurde. Seine dauergewellten Haare waren an einigen Stellen schon ergraut. Seine braunen Augen trugen Trauer in sich. Bekleidet war der Franzose mit der typischen Fischerkleidung. Die etwas breite Nase wollte so gar nicht zum Gesicht des Fischers passen.

Francois Spinec bat die Freunde Platz zu nehmen.

„Hören sie, Messieurs. Ich will ehrlich zu ihnen sein. Wer garantiert mir, dass sie mir nicht ans Leder wollen?“, fragte er gerade heraus.

Es war jedoch Phil Taylor, der antwortete.

„Es ist verständlich, dass sie uns nicht vertrauen. Sie kennen uns nicht, und wir sie nicht.“, sagte der Engländer.

Francois Spinec nickte.

„Mein Freund hat mir berichtet, dass sie im Beitz einiger Kartenstücke sind.“, sagte der Franzose.

Wortlos holte Dirk Hemmler die bereits zusammengefügten Kartenteile aus seiner Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus.

Der alte Fischer holte sein Kartenstück aus einer Schatulle, die über dem Kamin stand. Er legte sein Kartenstück an verschiedenen Stellen an, bis er die richtige gefunden hatte. Dann wandte er sich an seine Gäste.

„Sie können mein Stück haben. Aber passen sie gut drauf auf. Es sind noch andere hinter dem Stück her.“, sagte er dann.

„Machen sie sich keinen Kopf. Ihr Stück ist ohne unsere Teile für die anderen wertlos.“

„Seien sie da nicht so sicher. Was glauben sie, wie schnell sie ein Messer an der Kehle sitzen haben?“, sagte Francois Spinec.

„Dessen sind wir uns durchaus bewusst. Aber es gibt noch etwas, dass uns Kopfzerbrechen bereitet, Mr. Spinec.“

„Ich höre, Monsieur Taylor.“, sagte der Fischer.

„Bevor wir nach Marseille aufgebrochen sind, waren wir in den Ruinen der Mayastadt Tulum. Dort haben wir im Tempel des „herabsteigenden Gottes“ ein Stück Papier gefunden.“ 232

„Haben sie den Papierfetzen mitgenommen?“, fragte Francois.

Jewgeni reichte ihm wortlos das Papierstück.

„Suchet nach Shermine.“, las der Franzose vor.

„Und genau das gibt uns Rätsel auf. Wer oder was ist Shermine?“

„Ich verstehe sie voll und ganz, Monsieur Hemmler.“, sagte der alte Fischer.

Jewgeni schaltete sich in das Gespräch ein.

„Klingt wie der Name einer Stadt.“

„Möglicherweise.“, sagte Jean-Pierre Lafitte.

„Unsere letzte Etappe führt uns nach Marokko. Wissen sie, ob es dort einen Ort mit diesem Namen gibt, Herr Spinec?“

„Nein, nicht das ich wüsste. Aber sie haben Glück. Morgen Nachmittag kommt ein marokkanischer Händler um hier zu handeln. Der Mann heißt Ahmed al Shabuh.“, sagte der Franzose.

„Und woher kommt dieser Händler?“

„Aus Agadir, Monsieur Holm.“, sagte Francois Spinec.

Jewgeni, der Russe, kam mit der nächsten Frage.

„Und wann kommt Mr. Shabuh in der Regel hier an?“, fragte er den Fischer.

„So um 13:00 Uhr. Aber am besten kommen sie an ihn heran, wenn er Kasse macht.“

„Und wann macht er das?“, fragte Lars Eric Holm.

„Das ist unterschiedlich. Je nachdem, wie das Geschäft läuft. Mal macht er schon um halb vier Kasse, mal erst um 18:00 Uhr.“

Phil Taylor sah auf die Uhr über dem Kamin.

„Es tut uns leid, Mr. Spinec. Aber ich fürchte, wir müssen ins Hotel zurück. Vielen Dank für ihre Hilfe.“, sagte er.

„War mir eine Freude.“

Marseille, 18. September 1916, 13:30 Uhr Ortszeit

Die vier Freunde schlenderten am Hafen entlang. Um keinen Verdacht zu erregen, sah sich jeder einen anderen Stand an. Aber immer in Sichtweite der anderen, um rasch eingreifen zu können, wenn die Situation außer 233

Kontrolle zu geraten drohte. An einem der Liegeplätze entdeckte Jewgeni ein kleines Boot, vor dem ein Mann mit einer schwarz-roten Dschellaba und einem weißen Stoffturban stand. Jewgeni Moskrovnovitch schätzte das Alter des Händlers auf 65 Jahre. Der Mann war etwa 1,72 m groß. Sein Körper war unter der Dschellaba verborgen. Das runde Gesicht mit den braunen Augen verriet, dass der Marokkaner etwas nervös war. Auffällig war auch der bereits ergraute Vollbart. Die Hände des Händlers waren manikürt, was darauf schließen ließ, dass Ahmed al Shabuh ein wohlhabender Mann war.

Jewgeni ging weiter und beobachtete aus dem Augenwinkel die Auslage des Marokkaners. In der Mitte des Tisches lag ein riesiges Gemälde, das eine marokkanische Flusslandschaft, mit den für dieses Land typischen Flussbooten. Daneben lagen diverse in Leder eingebundene Bücher. Jewgeni sah auch einige orientalische Schmuckstücke. Er drehte sich zu Phil Taylor um, der kurz den Daumen hob. Der Russe kehrte zum Stand des marokkanischen Händlers zurück.

„Salem Aleikum.“, begrüßte Jewgeni den Mann.

„Aleikum Salam, Efendi.“

„Das Bild gefällt mir, mein Freund.“, sagte der Russe.

„Es freut mich, dass dieses Kunstwerk euren Geschmack trifft, Efendi.“

Ist das ein Gemälde von einem bekannten Maler, wie Rembrandt oder Monet?“, fragte Jewgeni.

„Nein, Efendi. Das Bild wurde von einem Künstler erschaffen, der aus dieser Region kommt. Wollte ihr es kaufen, Efendi?“

„Was soll es kosten?“, wollte der einzige Überlebende der DIANA wissen.

„100 Francs, Efendi.“

„Ganz schön gepfeffert, mein Freund. Aber das letzte, was ich will, ist, dass der Schöpfer dieses Kunstwerks am, Hungertuch nagen muss.“, sagte Jewgeni und drückte dem Händler eine 100-Francs-Note in die Hand.

„Danke, Efendi.“

„Immer wieder gerne.“, sagte Jewgeni.

„Kann ich euch sonst noch irgendwie behilflich sein, Efendi?“

„Du bist doch Marokkaner. Kennst du einen Ort mit Namen Shermine?“, sagte Jewgeni.

„Efendi, ich kenne mein Heimatland wie meine Westentasche. Und ihr 234

könnt mir glauben, wenn ich sage, dass es keinen Ort mit diesem Namen gibt. Warum fragt ihr überhaupt nach Shermine, Efendi?“

Wortlos reichte Jewgeni dem Händler den Papierfetzen, den er und die anderen in der alten Mayastädte Tulum gefunden hatten.

„Ich verstehe, Efendi. Nun, ihr und eure Freunde habt Glück. Ich weiß, wo ihr Shermine findet.“, sagte Ahmed al Shabuh.

„Dann bitte. Ich höre.“

„Ihr müsst auf dem Marktplatz von Marrakesch nach ihr suchen.“, sagte Ahmed.

„Ich nehme mal an, dass es dort von Dieben und anderen Gaunern nur so wimmelt.“

„Oh ja. Und eine ist ganz besonders gefährlich. Mandara.“, sagte der Händler.

„Mandara?“

„Sie ist Shermines jüngere Schwester. Und sie ist ebenso schnell, wie geschickt.“, sagte Ahmed al Shabuh.

„Ich bin schon mit ganz anderem Gesindel fertig geworden.“

„Seid trotzdem auf der Hut, Efendi. Und gebt diese Warnung auch an eure Freunde weiter. Wenn Mandara erst einmal in der Menschenmenge untergetaucht ist, dann ist sie nur schwer aufzuspüren.“, sagte Ahmed. 235

Buch 2 - Kapitel 9

Buch 2 – Kapitel 9

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Unsere vier Hoffnungsträger haben ein weiteres Stück der Karte erhalten. Auch haben sie das Geheimnis um Shermine gelüftet. Möge Iduna sie weiterhin leiten.“

Marrakesch, Marokko, 28. September 1916 8:00 Uhr Ortszeit

Es war früh am morgen. In der Stadt herrschte allerdings schon ein geschäftiges Treiben. Auch auf dem Bahnhof von Marrakesch ging es zu, wie in einem Ameisenhaufen. Gerade hatte ein Personenzug den Bahnhof Richtung Tanger verlassen, als ein anderer Personenzug einfuhr. Da in Marokko das dortige Schienennetz von den französischen Kolonialherren errichtet worden war, kamen auf den hiesigen Strecken französische Dampflokomotiven zum Einsatz. Der eingefahrene Zug wurde von einer Lok der Baureihe 231 mit der Achsfolge 2-C-1 gezogen.

Die Türen der Waggons öffneten sich und die Reisenden, die in Marrakesch ausstiegen strömten auf den Bahnsteig. Auf dem Nebengleis kam gerade ein weiterer Zug an. Er wurde von einer Lok der Baureihe 231 G gezogen. Im Gegensatz zur Baureihe 231 unterschied sich diese „Super Pazifik“ in der Länge sowie im Bereich der Leistung. Während die 231er gerade einmal 2.000 PS schafften, waren die Super Pazifiks 1.000 PS stärker.

Die Türen der Waggons dieses Zuges öffneten sich und die Reisenden, mit Ziel Marrakesch, strömten auf den Bahnsteig. In diesem Trubel achtete niemand auf das Quintett, das aus dem vordersten Wagen ausgestiegen war, und in Richtung Hauptausgang verschwand. Dort wartete ein Taxi auf die Reisenden. Nachdem die Frau, eine Asiatin mit grünen Augen, dem Taxifahrer das Ziel genannt hatte fuhr der Wagen los.

Was die fünf Reisenden jedoch nicht bemerkt hatten, war, dass ein paar zwielichtige Gestalten sie beobachteten.

„Was meinst du, sind diese Leute vermögend, Abdul?“, fragte einer.

„Nein, Mahmoud. Aber die Frau könnte uns eine ordentliche Summe einbringen.“

„Da gebe ich dir Recht, Abdul. Aber das Risiko, dass die Behörden Fragen stellen, ist viel zu hoch. Erinnerst du dich noch an die Episode vor 3 Monaten, als wir diese Holländerin an den Bey von Tanger verkauft haben?“, fragte Mahmoud.

„Erinner mich bloß nicht daran, Mahmoud. Die Polizisten haben meinem Cousin Harun unter Folter den Namen von Prinz Mustafa entlockt und 236

entsprechend Druck ausgeübt. Mustafa musste die Frau wieder rausrücken.“

„Und deswegen können wir es uns nicht leisten, mit der Polizei aneinander zu geraten. Aber wenn sie etwas Wertvolles bei sich haben, dann könnten wir Mandara darauf ansetzen. Ihre Schwester Shermine könnte bei einem Schäferstündchen versuchen, einem der Männer Informationen zu entlocken.“, sagte Mahmoud.

„Gute Idee. Aber jetzt sollten wir verschwinden. Da drüben stehen zwei uniformierte. Die kucken schon so skeptisch.“

Die beiden Männer verschwanden.

Im Hotel suchten Lucy Lee und die vier Freunde ihre Zimmer auf, und machten sich erst mal frisch. Danach hing jeder seinen Gedanken nach. Am Abend trafen sich die fünf Reisenden zum Abendessen im hoteleigenen Restaurant.

Jewgeni, der Russe, brach als erster das Schweigen.

„Wir sollten uns bald auf dem Marktplatz von Marrakesch umsehen. Ahmed al Shabuh hat mir erzählt, das wir Shermine dort finden. Aber er hat mir auch eine Warnung mitgegeben. Shermines jüngere Schwester, Mandara, ist eine sehr geschickte Diebin.“, sagte er.

„Aber wie die beiden aussehen, hat er dir nicht verraten.“

„Wahrscheinlich weiß er das selber nicht.“, sagte Jewgeni.

Lars Eric Holm schaltete sich in das Gespräch ein.

„Ich würde vorschlagen, wir erkunden morgen ein bisschen die Stadt. Halten uns aber vom Marktplatz fern.“, sagte er.

„Keine schlechte Idee. Aber mir sind am Bahnhof von Marrakesch so zwei zwielichtige Typen aufgefallen. Jede Wette, die führen nichts Gutes im Schilde.“

„Du hast sie also auch gesehen, Dirk.“, sagte Phil Taylor.

„Die waren ja nicht zu übersehen.“

Nach dem Abendessen zogen sich die fünf wieder auf ihre Zimmer zurück. Sie waren müde, von der langen Reise.

Am nächsten Morgen trafen sich die vier Auserwählten zum Frühstück. Lucy Lee war nicht mit von der Partie. Sie war von Marokko gleich mit dem ersten morgendlichen Zug nach Ägypten weitergereist. Die vier Freunde besprachen das weitere Vorgehen.

„Also Phil, was machen wir als erstes?“, fragte Dirk Hemmler. 237

„Es wäre vielleicht nicht verkehrt, nach dem Namen des Händlers zu fragen, der das Kartenstück hat. Und wo wir ihn finden.“

„Danach sollten wir uns mit Shermine befassen.“, sagte Lars Eric Holm.

„Wir sollten aber vorsichtig sein.“

„Daran hab ich auch schon gedacht, Jewgeni.“, sagte der Engländer.

Nach dem Frühstück machten sich die Freunde auf den Weg. Ihr erstes Ziel war das Stadtviertel „die Medina“. Dieses Viertel war einer der noblen Stadtteile der Stadt. Ein Taxi hatte die vier Auserwählten dorthin gebracht. Dessen Fahrer hatte sich nach der Zahlung von 200 marokkanischen Dirham dazu bereiterklärt, sie überall hinzubringen, wo sie wollten. Während der Fahrt in das Viertel fragte Dirk Hemmler den Fahrer nach dem Namen des Händlers, den sie suchten.

„Der Mann, den ihr sucht, heißt Rachid al Bedi.“, beantwortete der Marokkaner die Frage.

„Wo finden wir ihn?“

„Er lebt eigentlich in Tanger. Aber er hat auch ein Haus in diesem Stadtteil.“, sagte Youssef, so hieß der Taxifahrer.

„Ist es schwer, an ihn heranzukommen?“

„Nicht schwerer, als anderswo. Allerdings muss man fairerweise dazusagen, dass er sehr menschenscheu ist. Ich kaufe ihm ab und zu etwas ab.“, sagte Youssef.

„Womit handelt Rachid al Bedi?“

Jewgeni Moskrovnovitch hatte diese Frage gestellt.

„Rachid ist Antiquitätenhändler. Und nur damit ihr Bescheid wisst, fragt ihn nie nach seinen Quellen. Darüber schweigt er beharrlich.“, sagte der Taxifahrer.

An einem in weiß gehaltenen Lehmhaus hielt Youssef an.

„Wir sind da.“, sagte er.

Die vier Freunde folgten ihrem Guide, als er auf das Haus zuging. Youssef klopfte.

„Wer da?“, hörte man eine Männerstimme aus dem Inneren des Hauses.

„Ich bins Youssef. Hast du Zeit, Rachid?“

„Einen Moment.“, sagte die Stimme.

Kurz darauf hörte man Schritte im Inneren. Als sich die Tür öffnete, sahen 238

die vier Freunde einen älteren Mann, dessen Alter sie auf Anfang, Mitte 60 schätzten. Der Mann hatte ein ovales Gesicht mit braunen Augen, die die Fremden misstrauisch musterten. Er war 1,70 m groß und hatte einen bereits ergrauten Bart. Auf dem Kopf trug der alte Mann ein grünes Stofftuch, das seine Ohren und seine Stirn zur Hälfte verdeckte. Dazu trug er ein weißes Leinenhemd und eine braune Weste. Außerdem trug der Alte eine schwarze Hose und leichte, braune Lederstiefel.

„Was wollen sie?“, blaffte der alte Mann die vier Freunde an.

Phil Taylor öffnete seinen Beutel und holte das Tagebuch seines Vorfahren heraus, das er dem Mann wortlos überreichte.

„Was soll ich denn damit?“, keifte der Alte.

„Lesen sie, dann werden sie verstehen.“

Der alte Mann ging ins Haus zurück und schloss die Tür. Doch keine 10 Minuten später kam er wieder heraus. Er bedeutete den Freunden, einzutreten.

„Setzen sie sich, meine Herren.“, sagte Rachid.

Die vier Freunde setzten sich um den Tisch, auf dem das letzte Kartenstück lag. Es war mit einem roten „X“ gekennzeichnet.

„Diese Karte befindet sich seit Generationen im Besitz meiner Familie. Sie wegzugeben hat für uns einen Frevel bedeutet. Aber ohne die anderen Stücke ist das nur ein wertloser Fetzen Papier mit einem roten X. Nehmen sie mein Stück. Sie können es besser brauchen.“, sagte Rachid.

„Wir danken ihnen, Rachid. Wir werden ihnen das nie vergessen.“

„Kann ich ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?“, fragte Rachid.

„Was ist mit Shermine und Mandara?“

„Versuchen sie die beiden so gut es geht zu meiden. Mandara bestiehlt die Leute, während diese mit ihrer Schwester ein Schäferstündchen genießen.“, sagte der alte Händler.

„Ich bin überzeugt, dass das nicht alles ist. Wissen sie vielleicht, ob es irgendwelche Hintermänner gibt, die die beiden Schwestern, vielleicht unter Druck setzen?“

Lars Eric Holm hatte diese Frage gestellt.

„Ich würde es nicht ausschließen wollen. Sollte dem wirklich so sein, dann bitte ich sie, den Kerlen das Handwerk zu legen.“, sagte Rachid. 239

Nach dem Gespräch mit dem Händler brachte Youssef die vier zur örtlichen Polizeistation, wo die Auserwählten nähere Informationen über Shermine und Mandara einholten. So erfuhren sie, dass es tatsächlich Hintermänner gab, die Druck auf die beiden Schwestern ausübten. Außerdem teilte der Leiter der Wache den Freunden mit, dass diese Männer den kleinen Bruder, Said war sein Name, als Geisel hielten. Die Freunde schlugen dem Leiter der Wache vor, bei der Festnahme der Männer zu helfen, wenn dieser den Schwestern Straffreiheit gewähren würde. Doch der Beamte schüttelte den Kopf.

„Es tut mir leid, meine Herren. Aber ich kann ihnen in dem Punkt nicht helfen. Meine Dienstvorschrift verbietet es mir, eine solche Amtshandlung alleine durchzuführen. Ich muss erst die Erlaubnis meines Vorgesetzten einholen.“, sagte er.

Phil Taylor richtete das Wort an den Polizisten.

„Wie lange dauert das?“

„Einen Monat, vielleicht auch zwei.“, sagte der Polizeipräsident.

„Dann nehmen wir die Kerle eben alleine hoch.“, sagte Dirk Hemmler.

Der Polizeibeamte erschrak.

„Ich muss ihnen dringend von dieser Maßnahme abraten, meine Herren. Sie wissen nicht, wie gefährlich diese Männer sind.“, sagte er dann.

„Wir sind schon mit ganz anderen Kerlen fertig geworden. Die Leute mit denen wir uns schon rumschlagen mussten, waren gestandene Soldaten mit Kriegserfahrung.“

„Diese Männer sind gefährlich. Wenn sie mir nicht glauben, fragen sie Youssef.“, sagte der Polizist.

„Wissen sie wenigstens die Namen, dieser Bastarde?“

„Sie heißen Abdul und Mahmoud.“, sagte der Polizeibeamte.

„Die haben wir schon am Bahnhof von Marrakesch gesehen. Mit denen werden wir locker fertig.“

Nach dem Treffen mit der örtlichen Polizei brachte Youssef die vier Freunde an den Rand des Marktes von Marrakesch. Dort entdeckten sie einen der beiden Männer und eine Frau. Die Frau war eine 1,76 m große Brünette mit braunen Augen. Das Alter der Frau schätzten die Freunde auf Ende 30, Anfang 40. Die vier Auserwählten mussten zugeben, dass die Frau optisch etwas zu bieten hatte. Dann sahen sie sich ihren männlichen Gesprächspartner genauer an. Der Mann war vielleicht 4 Zentimeter größer als die Frau. Allerdings konnte man 240

unschwer erkennen, dass er gutes Essen und auch guten Wein zu schätzen wusste. Denn sein dicker Bauch war nicht zu übersehen. Der männliche Gesprächspartner der Frau hatte einen schwarzen Vollbart und braune Augen. Von seinem linken Mundwinkel zog sich eine Narbe bis zur Augenbraue. Bekleidet war der Mann mit einem weinroten Kaftan, während die Frau ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Umhang trug. Jewgeni wandte sich an Youssef.

„Wer ist die Kleine?“, fragte er ihn.

„Das ist Shermine.“

„Sie ist hübsch.“, sagte Jewgeni.

„Sie und ihre Schwester können einem leid tun, Efendi.“

„Warum denn dieses, Youssef?“, wollte der Russe wissen.

„Seht ihr dieses Narbengesicht? Das ist Abdul. Er ist ein sehr brutaler Mensch, der keinen Widerspruch und erst recht keinen Widerstand duldet. Wer sich ihm oder Mahmoud widersetzt, wird mit 50 Peitschenhieben bestraft. Und das auch nur, wenn man Glück hat.“

Kaum hatte Youssef zu Ende gesprochen, da packte Abdul Shermine am Handgelenk und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann sagte er etwas auf Arabisch.

„Was hat Abdul gesagt, Youssef?“, fragte Jewgeni leise.

„Er hat ihr gedroht. Er hat gesagt: „Wenn du nicht tust, was Mahmoud und ich von dir und deiner Schwester verlangen, dann seht ihr euren Bruder nie wieder. Und jetzt geh an die Arbeit. Und keine Widerworte mehr. Hast du verstanden?“ Das ist typisch für Abdul.“

Shermine ging. Doch im Gehen wandte sie sich noch einmal zu den Freunden um, und warf ihnen einen flehenden Blick zu. Dummerweise hatte Abdul dies bemerkt. Er wollte Shermine hinterher eilen, doch Phil Taylor baute sich vor ihm auf.

„Geh mir aus dem Weg, Fremder.“, brüllte Abdul den Engländer an.

„Du lässt die Kleine in Ruhe, hast du verstanden, du scheiß Typ?“

Abdul zog seinen Säbel, den er immer bei sich trug. Der Besitzer eines benachbarten Standes gab Phil heimlich einen Säbel. Dann ging Abdul auf ihn los. Phil Taylor parierte den ersten Hieb, nur um seinem Gegner dann eine Schelle mit der linken Hand zu verpassen. Abduls zweiten Hieb konnte der Engländer ebenfalls parieren, ehe eine weitere Schelle mit seiner linken 241

Hand setzte. Doch wenn Phil Taylor gehofft hatte, dass er Abdul eine Lektion erteilt hatte, dann war er derbe schief gewickelt. Denn jetzt hatte er den Zorn des Mannes auf sich gezogen. Abdul stürmte mit erhobenem Säbel auf ihn zu.

„Jetzt bist du dran! Jetzt bist du dran!“, schrie er.

Doch Phil riss ihm den Säbel aus der Hand und verpasste ihm einen Schlag aufs Handgelenk.

„Nicht bei mir.“, sagte Phil und zerbrach die Klinge des Säbels in drei Teile.

Den kläglichen Rest gab er Abdul zurück. Dieser stieß einen Schrei der Wut aus, ehe er sich umwandte und davon rannte. Im Wegrennen drehte sich Abdul noch einmal um und sagte: „Wir sehen uns wieder, Fremder, das schwöre ich.“

Dann war er verschwunden. Youssef schüttelte den Kopf.

„Es war keine gute Idee, sich mit Abdul anzulegen, Efendi.“, sagte er zu Phil Taylor.

„So, und warum?“

„Er wird jetzt seine Schergen auf euch und eure Freunde hetzen.“, sagte Youssef.

Die vier Freunde gingen weiter. Dirk stellte fest, dass viele der Händler ihnen wohlwollend begegneten. An einem Stand, an dem Lederwaren verkauft wurden blieb er stehen. Der Händler lächelte ihm gütig zu.

„Euer Freund ist ja ein ganz schlagfertiger, Efendi.“, sagte er zu Dirk.

„Darf ich nach dem „Warum“ fragen?“

„Keiner hat es bisher gewagt, Abdul die Stirn zu bieten. Aber ab jetzt lebt ihr gefährlich. Abdul hat überall seine Killer. Seid ab sofort doppelt wachsam.“, riet der Händler.

„Danke, für den Tipp, mein Freund.“

„Immer wieder gern, Efendi.“, sagte der Händler.

Als die vier an einer Häuserecke vorbeikamen, tauchte aus dem Schatten Shermine auf. Und der erste Eindruck, den Dirk Hemmler und die anderen beim ersten Aufeinandertreffen gewonnen hatten, bestätigte sich nun. Shermine war wirklich eine Augenweide. Ihre brünetten Haare trug sie offen, sodass sie ihr ovales Gesicht eleganter erscheinen ließen.

„Ich danke euch, Fremder.“, sagte sie zu Phil Taylor.

„Nichts zu danken.“ 242

„Ihr habt mich gegen Abdul, dieses Scheusal verteidigt. Keiner hat sich das bisher getraut.“, sagte Shermine.

„Warum denn dieses?“

„Weil Abdul den ganzen Markt terrorisiert. Jedem der für mich oder meine Schwester eintritt, zündet er den Stand über dem Kopf an.“, sagte Shermine.

Phil Taylor legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Keine Bange. Abdul und Mahmoud kriegen noch ihre gerechte Strafe.“

„Ich wünschte, ich könnte euch glauben, Fremder. Aber gewährt mir eine Bitte.“, sagte Shermine.

„Welche?“

„Wenn ihr abreist, nehmt mich und meine Schwester mit.“, sagte sie.

Phil Taylor sah die anderen fragend an, und bekam ein einstimmiges Nicken als Antwort.

„In Ordnung. Deine Bitte ist gewährt.“

„Danke, Fremder. Möge Allah über euch und eure Freunde wachen.“, sagte Shermine und ging wieder zurück.

Es war am späten Nachmittag, als die Freunde, begleitet von Youssef, noch einmal über den Markt schlenderten. Als sie auf die Hauptstraße kamen, sahen sie eine Frau, die schnellen Schrittes an ihnen vorbeihuschte. Allerdings konnten sich die vier Auserwählten ein genaues Bild von ihr machen. Sie war 1,75 m groß und hatte hellbraune, weit über die Schulter fallende Haare. Ihren schlanken Körper hatte sie unter einem schwarzen Kleid mit goldenen Stickereien verborgen. Ihre braunen Augen blickten wachsam drein. Genau wie Shermine besaß die Frau ein ovales Gesicht, war aber vom Teint her etwas blasser, als ihre Schwester. Es bestand kein Zweifel. Diese Frau musste Mandara sein. Youssef bestätigte mit einem Nicken eine entsprechende Frage.

Die Freunde folgten Mandara in einem Abstand, in dem sie sie noch sehen konnten. An einer Straßenecke sahen sie, wie Mandara einem Mann einen Beutel übergab. Der Mann trug ein rotes Kopftuch und eine braune Kutte. Die Wege der beiden trennten sich, allerdings hatten die vier Überlebenden beschlossen, sich an die Fersen des Unbekannten zu heften. Sie folgten dem Mann durch einige Straßen bis sie an einem Laden ankamen, der im Keller eines Hauses lag. Sie folgten dem Mann. Doch auf dem Treppenabsatz blieben Jewgeni, Dirk und Lars Eric stehen, während ihr englischer Freund in den Verkaufsraum weiterging. Dort angekommen ertönte eine Männerstimme. 243

„Efendi!“, sagte die Stimme.

Phil Taylor drehte sich um, sah aber nichts.

„Efendi!“, sagte die Stimme erneut.

Phil suchte weiter den Raum ab, ohne den Ursprung der Stimme ausfindig machen zu können.

„Efendi! Hier hinter ihnen.“, sagte die Stimme ein drittes Mal.

Phil Taylor drehte sich um und stand einem kleinen Mann von 1,35 m Körpergröße gegenüber.

„Herzlich Willkommen in mein Geschäft. Ich bin Maguere. Wollen sie kaufen Teppich? Habe ich chinesisch Teppich, persisch, turkistanisch und auch welche von Samerikand, alles was sie wollen.“, sagte Maguere.

„Was ich will, will ich selbst bearbeiten, einen Teppich draus machen.“

„Ich verstehen, Efendi. Wollen sie kaufen Dschirad, Bukara, Fabrikation indisch, Fabrikation Persisch. Was sie wollen. Hier alles finden. Maguere alles liefern.“ , sagte der Kleinwüchsige.

„ Was ich suche ist unten braun und oben rot.“

„Ah. Unten braun und oben rot. Efendi machen sich lustig über kleinen Maguere.“, sagte Maguere.

„Nein. Sowas würde mir nicht im Traum einfallen.“

Allerdings war Phil Taylor entgangen, dass sich der Mann zwischen den Teppichen verborgen hatte, den er und die anderen verflogt hatten. Dieser tauchte nun aus seinem Versteck auf, in der Hand einen Dolch.

„Efendi böser Mensch.“, sagte Maguere.

Doch in diesem Augenblick drehte sich Phil Taylor um und fing den Dolchstoß ab. Ein Schlag aufs Handgelenk folgte. Dann packte Phil Taylor den Mann und zog ihn in den Verkaufsraum.

„Ah! Mein farbig gewebter.“, sagte Phil und verpasste dem gedungenen Mörder einen Schlag ins Gesicht, sodass dieser nach hinten taumelte und in einem Korb mit Fellen landete.

Maguere hatte sich inzwischen ein Seil geschnappt und schwang damit durch den Raum, ehe er durch das Fenster entkam.

„Gibt der seinen Laden auf, ist denn der zu retten?“, fragte sich Phil Taylor. 244

„Hey Phil.“

„Was ist Jewgeni?“, fragte Phil Taylor den Russen.

„Was ist wenn die Type wieder aufwacht?“

„Das werden wir gleich feststellen. Mal sehen ob der noch Strom hat.“, sagte Phil.

Der Engländer trat dem Unbekannten auf den rechten Fuß.

Abduls Scherge stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.

„Na! Na sieh mal an auch kleine Impulse wecken Lebensgeister. So Kasperle nu erzähl mal. Wer hat dich angeheuert? Antworte sonst mach ich nen Wandteppich aus dir.“, sagte Phil zu dem Mann.

Danach warf er ihn durch den Raum, dass er auf einem Stapel Teppiche landete. Als Phil sich den Mann wieder greifen wollte hob dieser abwehrend die Hände.

„Nicht drauflegen.“, sagte er flehend.

„Na sieh mal, du kannst ja auch sprechen. Wetten, dass du mir gleich antwortest? Sonst pflüg ich in die Botanik, dass man dich für ne abgeknickte Tulpe hält. Hast du mich verstanden? Ich hab dich was gefragt. Auf ne höfliche Frage ne höfliche Antwort. Also erste Frage: Halten Abdul und Mahmoud den kleinen Bruder von Shermine und Mandara gefangen?“, polterte Phil Taylor los.

„Ja, Efendi.“

„Sieh mal an, und wo?“, fragte der Engländer weiter.

„In einer Villa draußen am Stadtrand. Ich selbst bin noch nie dort gewesen. Ich bisher noch keinen Menschen kennengelernt, der von dort lebend zurück gekehrt ist.“

„Eine Villa ja? Na schön dann kommen wir mal zur nächsten Frage. Wer sind die Auftraggeber der beiden? Nu hör mal, mit deinem roten Putzlappen an der Knolle siehst du zwar aus wie ne bildschöne Marktfrau, aber: Ich behandele dich anders. Na, was hör ich jetzt, also fang an zu singen.“, sagte Phil und schubste den gedungenen Mörder wieder durch die Gegend.

„Ich weiß nicht wer den beiden die Aufträge gibt. Es könnte… AAAHHH!“

Maguere hatte durch das Fenster, durch das entkommen war, mit einem Blasrohr einen Giftpfeil auf den Schergen abgeschossen.

Als Phil Taylor nach dem Mann sah, sagte dieser: „Das ist Curare. Das Gift wirkt sofort tödlich.“, sagte der Mann. 245

„Lass mal sehen.“

Während Phil Taylor dem Mann das Gift aussaugte sprach dieser mit sich selbst.

„Allah gibt das Leben, und Allah nimmt das Leben. Allah ist groß. Geht nicht in euer Hotel zurück, Efendi, sonst werdet ihr bei Sonnenaufgang tote Männer sein.“, sagte er.

„Ich hab mit Allah gesprochen. Er hat mir gesagt, er will dich noch nicht haben.“

Marrakesch, 30. September 1916, 9:30 Uhr Ortszeit

Die vier Auserwählten hatten gerade das Frühstück beendet, als Jewgeni den Mann mit der braunen Kutte und dem roten Kopftuch entdeckte. Er wandte sich an Phil Taylor.

„Ist das nicht der Typ, der uns gestern in Magueres Laden in die Arme gelaufen ist?“, fragte er ihn.

Der Engländer nickte.

„Was will der von uns?“, fragte Dirk Hemmler.

„Finden wir es heraus.“

Die Freunde folgten dem Mann in einen anderen Raum des Hotels. Es war der Rauchsalon. Der Fremde wartete in einer Nische.

„Was gibt’s?“, fragte ihn Phil Taylor.

„Du hast mir das Leben gerettet. Von diesem Moment an ist Safir dein Sklave geworden.“

„Genug Vanille, weiter.“, sagte Phil.

„Safir zeigte auf ein rotes Brokatband, das von der Decke hing.

„Das ist das Band, das das Leben zum Tode befördert. Da drüben der Sessel.“

Er zog daran. Sofort sprangen aus der Armlehne des Sessels drei Messer.

„Hey! Da liegen ja die Nieren frei.“, sagte Phil.

„Die haben vor, euch umzubringen seit ihr hier seid. Der große Allah möge euch beschützen. Der Gefangene wurde in ein neues Versteck gebracht. Sucht ihn in der alten Festung am Alten Markt.“

Begleitet von Youssef, ihrem Guide, gingen die vier Freunde erst einmal zur Polizei und erneuerten ihr Angebot. Der Polizeichef war jedoch weiterhin skeptisch. Doch schließlich siegte das Herz über den Verstand. „Also schön. 246

Shermine und Mandara gehen straffrei aus. Allerdings müssten sie das Land verlassen und würden mit einem lebenslangen Einreiseverbot belegt.“, sagte er dann.“

„Warum denn dieses?“

„Nun, es gibt einige sehr einflussreiche Leute in Marrakesch, die gegen Mandara Anzeige erstattet haben. Diese Leute wären nur dann bereit auf ihr Recht zu verzichten, wenn Shermines Schwester sich zum einen freiwillig stellt, und zum anderen umfassend aussagt.“, sagte der Polizist.

„Wir würden die beiden Schwestern mitnehmen. Ich hätte nichts gegen die Hilfe der beiden einzuwenden.“

Dirk Hemmler hatte diese Worte ausgesprochen.

„Wenn das so ist, warum nicht? Allerdings möchte ich noch einmal darauf aufmerksam machen, dass sie schon ziemlich gute Argumente haben müssen, damit die Herrschaften, die Anzeige gegen Mandara gestellt haben, der Amnestie überhaupt zustimmen.“, sagte der Polizeipräsident.

Kaum hatte er seinen Satz beendet, da betraten mehrere Männer den Raum, die ihrem Aussehen nach sehr wohlhabende Händler sein mussten. Einer der Männer trat vor. Lars Eric Holm und Jewgeni Moskrovnovitch musterten ihn aufmerksam. Der Mann trug einen schwarzen Kaftan und einen weißen Turban. Seine braunen Augen schienen den Polizeipräsidenten regelrecht zu durchbohren.

„Wie lange sollen wir noch warten? Mandara läuft immer noch frei herum. Wir geben ihnen und ihren Leuten noch drei Tage, um sie zu fassen. Danach nehmen wir die Sache selbst in die Hand.“, sagte der Mann.

Lars Eric Holm stand auf und ging auf ihn zu.

„Ich kann verstehen, dass sie und ihre, ich sag jetzt mal „Mitstreiter“, alles andere als erfreut sind, dass es nicht so läuft, wie sie sich das wünschen. Aber ich bin sicher, dass wir uns irgendwie einig werden können.“, sagte er.

„Sehen wir so aus, als ob wir mit uns feilschen lassen?“

„Den Eindruck habe ich nicht. Aber ich denke, dass sie und auch ihre Freunde, vernünftige Menschen sind, die bereit sind, sich auch Alternativvorschläge anzuhören.“, sagte Lars Eric.

Der Mann dachte nach. Dann wandte er sich zu den anderen um. Ein einstimmiges Nicken war zu beobachten.

„Also schön. Was haben sie anzubieten?“, fragte der Mann den Schweden. 247

„Meine Freunde und ich werden Marrakesch in Kürze verlassen. Wir würden Shermine und Mandara mitnehmen. Immer vorausgesetzt, sie und ihre Freunde sind einverstanden.“

Der Mann drehte sich erneut zu den anderen um. Doch einige schüttelten den Kopf.

„Sieht so aus, als ob einige meiner „Mitstreiter“, wie sie uns vorhin so nett genannt haben, mit ihrem Vorschlag nicht ganz einverstanden sind. Was haben sie sonst noch vorzubringen?“, sagte der Marokkaner zu Lars Eric.

„Wären sie und ihre Freunde bereit, Mandara gehen zu lassen, wenn sie umfassend aussagt und die Hintermänner ans Messer liefert?“

Der Schwede beobachtete die anderen Männer der Gruppe genau. Sie nickten erneut.

„Wir sind einverstanden. Aber es bleibt bei unserer Frist von drei Tagen.“, sagte der Mann.

„Dann ist das abgemacht.“

Youssef brachte die vier Freunde mit seinem Taxi zum Marktplatz. Dort trafen sie auf Shermine. Lars Eric Holm entging der traurige Ausdruck in ihrem Gesicht nicht.

„Was ist passiert?“, fragte er Shermine.

Mandaras ältere Schwester schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.

„Sie haben unseren Bruder getötet.“, sagte sie dann.

„Wer?“

„Abdul und Mahmoud. Mahmoud war heute Morgen da und hat Mandara und mir ein Ultimatum gestellt.“, sagte Shermine.

„Was hat er gesagt?“

„Er hat gesagt, wenn es mir und Mandara nicht bis 8:45 Uhr gelingt 85.000 Dirham aufzutreiben, dann würde er Said dem Tod überantworten.“, sagte sie.

Lars Eric legte Shermine eine Hand auf die Schulter.

„Ich weiß, meine Worte sind im Moment ein schwacher Trost. Aber du und deine Schwester werdet bald frei sein. Die Polizei gewährt euch beiden Straffreiheit. Und auch einige Leute mit Einfluss sind bereit, ihre Anzeigen gegen 249

deine Schwester zurückzuziehen. Allerdings müsste Mandara umfassend aussagen und die Hintermänner ans Messer liefern.“, sagte er.

„Verstehe. Dennoch Danke für eure Hilfe.“

Die vier Freunde und ihr Guide gingen weiter. An einem der vielen Stände entdeckten sie einen Mann, der sich mit dessen Betreiber stritt.

„Heute Abend bei Marktschluss komme ich wieder. Wenn du nicht bis dahin die 16.000 Dirham beisammen hast, zünden wir dein Haus an.“, sagte er.

Doch als er an den Freunden vorbei ging, packte ihn Dirk Hemmler am Kragen und drückte ihn gegen eine Hauswand.

„Du und deine Freunde zündet niemandem mehr das Haus über dem Kopf an. Eure Terrorherrschaft ist zu Ende.“, sagte der Deutsche.

„Du und deine Freunde, wisst nicht, mit wem ihr euch hier anlegt. Noch ehe die Sonne aufgeht, seid ihr tote Männer.“

Lars Eric Hol riss der Geduldsfaden.

„Håll käften! Oder ich brech dir sämtliche Knochen. So und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor ich Ernst mache.”, sagte er.

Der Mann verschwand.

„Folgen wir ihm. Ich bin sicher, er geht zu Abdul und Mahmoud.“, sagte Jewgeni.

„Gehen wir.“

Zusammen mit Youssef folgten die Freunde dem Mann, bis er an einem Haus anhielt. Aus sicherer Entfernung beobachteten die vier Überlebenden wie sich die Tür öffnete. Sie erkannten Abdul, der auf die Straße trat. Sie schlichen näher heran, um die Unterhaltung mithören zu können.

„Was gibt es, Khalid?“, fragte Abdul.

„Die Fremden haben mitbekommen wie ich Hamza, dem Stoffhändler, gedroht habe.“

„Ist das alles?“, fragte Abdul.

„Schön wärs. Dieser Deutsche, Dirk Hemmler, hat mich am Kragen gepackt und an die Hauswand vom Haus gegenüber gedrückt. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass unsere Terrorherrschaft hier auf dem Markt vorbei ist.“

„Hast du ihm gesagt, dass wir ihn und seine Freunde umbringen, wenn sie sich nicht aus unseren Angelegenheiten raushalten?“, fragte Mahmouds Partner. 250

„Hab ich. Aber dann ist mir dieser Schwede, Lars Eric Holm, über den Mund gefahren. Ich sage dir Abdul, diese Männer sind Feinde auf Augenhöhe.“

„Hör zu, Khalid. Du gehst jetzt zur alten Festung und warnst Mahmoud. Aber pass auf, dass diese Fremden dir nicht folgen. Hast du mich verstanden?“, sagte Abdul.

„Sicher.“

„Dann geh, und danke, dass du mich gewarnt hast.“, sagte Abdul.

Khalid wandte sich gerade zum Gehen, da nahmen ihn Jewgeni und Dirk in die Zange, während Lars Eric und Phil Abdul in die Mangel nahmen.

„Halt Abdul. Hier ist Endstation für dich.“, sagte Phil mit seiner tiefen Bassstimme.

„Das wirst du noch bereuen, Fremder.“

„Knulla din mamma. Du bist nichts weiter, als eine miese kleine Kanalratte. Das sowas wie du überhaupt frei rumlaufen darf, ist ein Skandal.”, sagte Lars Eric Holm.

„Wartet nur, ihr Ungläubigen. Mein Freund und Partner Mahmoud wird euch in Stücke reißen.“

Als Antwort rammte ihm der Schwede den Ellenbogen in die Magengrube.

„Skogsfen på rumpan. Deinen Freund kriegen wir auch noch. Verlass dich drauf.”, sagte Lars Eric.

„Ich will ja nichts gesagt haben, Briderchen. Aber da vorne kommt eine Polizeistreife.“

In diesem Moment sahen es auch die anderen. Vier Polizeibeamte waren auf dem Platz erschienen. Abdul und Khalid versuchten sich loszureißen, um zu fliehen, doch gegen die vereinten Kräfte ihre Gegner konnten sie nicht viel ausrichten. Die Beamten nahmen die beiden mit. Die Auserwählten machten sich auf den Weg zur alten Festung, die auf einem Hügel über dem alten Marktplatz thronte. Youssef öffnete leise die Tür und bedeutete den Freunden ihm zu folgen. Sie waren noch nicht weit gegangen, da hörten sie zwei Stimmen. Die eine war die einer Frau. Jewgeni erkannte sofort die Stimme von Shermine. Die andere war eine männliche.

„Hör zu Shermine. Deine Schwester hat noch gerade einmal zwei Tage, bis Freitagabend um diese Zeit, zusätzlich zu den von uns verlangten 85.000 Dirham noch einmal 200.000 Dirham aufzutreiben. Sollte sie bis zum Ablauf der Frist das Geld nicht beisammen haben, dann stirbst du als nächste.“, sagte 251

der Mann.

Shermine schrie lautstark um Hilfe, wurde aber von ihrem Peiniger mit einem Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht zum Schweigen gebracht.

„Hör auf, um Hilfe zu rufen. Hier hört dich sowieso kein Mensch.“, sagte der Mann erneut.

Dann stopfte er Shermine einen Knebel in den Mund.

„Damit du endlich den Mund hältst.“, sagte er.

Dann ging er lachend davon. Rasch eilten die Freunde zu Shermine und befreiten sie aus ihrer misslichen Lage.

„So und jetzt nehmen wir uns mal diese Käsemilbe da mal vor.“, sagte Lars Eric.

„Wäre auch mein Vorschlag gewesen. Hat jemand von euch gesehen, wo er hin ist?“

„Er ist die Treppe da rauf.“, sagte Youssef.

„Wohin führt sie?“

„Auf den Wehrgang. Dort sind auch die Kanonen aufgestellt. 10 Stück auf jeder Seite.“, sagte Shermine, ehe sie in Ohnmacht fiel.

Youssef hob Shermine auf seine Arme und brachte sie an die frische Luft, während die anderen die Treppe zum Wehrgang hinauf stiegen. Oben angekommen, wartete bereits ein Wachposten. Doch dieser wurde durch einen Schlag ins Gesicht von Phil Taylor zu Boden gestreckt. Aus dem Nichts tauchte ein zweiter Wachposten auf und hieb mit seinem Säbel nach Jewgeni. Doch der Russe duckte sich weg. Dann tippte er ihm auf die Schulter.

„Duhu.“, sagte er.

Der Soldat drehte sich um.

„Schelle links“, sagte Jewgeni und verpasste dem Posten eine Schelle auf die linke Seite.

„Schelle rechts.“, eine Schelle auf die rechte Seite folgte.

Der Soldat blieb am Boden liegen, als ein zweiter Wachsoldat auftauchte. Lars Eric Holm nahm diesen in Empfang. Er verdrehte ihm den Arm auf den Rücken und verpasste ihm einen Schlag in die Magengrube. Dann wurde er vom Schweden unsanft zur Seite geschoben.

„Stell dich dahin du Lümmel.“, sagte Lars Eric Holm. 252

Der erste Soldat, den Phil Taylor niedergeschlagen hatte, kam wieder zu sich. Doch der Engländer war schon zur Stelle und zog ihn am Ohr nach oben.

„Lümmel dich hier nicht so auf Fußboden rum.“, sagte Phil.

Dann baute sich Dirk Hemmler vor dem Wachposten auf.

„Wo ist Mahmoud?“, fragte er ihn.

„Weiß ich nicht.“

„Sicher weißt du es. Und je schneller du uns sagst, wo wir ihn finden, umso weniger musst du leiden.“, sagte Dirk.

„Ich weiß nichts.“

„Hör zu, Freundchen. Wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist das, wenn man versucht mich zu verarschen. Also spuck endlich aus.“, sagte der Deutsche.

„Ich weiß es aber doch nicht.“

Nun riss dem ehemaligen Heizer der Goeben der Geduldsfaden. Er packte den Wachsoldat am Halsschutz seiner Rüstung.

„Willst du sprechen Mann, oder ich lass dich vor eine Kanone binden!“, sagte Dirk streng.

„AUFHÖREN!“

Eine Frauenstimme war aus dem Nichts ertönt. Dirk fuhr herum, ließ den Soldaten aber nicht los. Vor ihnen stand Mandara. Mystisch und Geheimnis umwittert zugleich.

„Ich weiß, wo sich Mahmoud versteckt hält. Ich werde euch hinbringen. Und ich bin auch bereit umfassend auszusagen.“, sagte sie.

Es war Mittag, als die Auserwählten das Haus erreichten, in dem sich Mahmoud versteckt hielt.

„Wir sind da.“, sagte Mandara.

Das Haus, vor dem die Auserwählten standen, war aus allerfeinstem Marmor errichtet, mit goldenen Fenstern und goldenen Türen. Dazu kamen noch vier Minarette mit goldenen Dächern und goldenen Zinnen.

„Was für ein Protzbunker.“, sagte Jewgeni.

„Mahmoud ist der reichste Mann der Stadt, wenn mal von Abdul absieht.“

„Ist der Haupteingang bewacht, Mandara?“, fragte Lars Eric Holm. 253

„Ist er. Zwei Wachen auf der Außenseite, zwei hinter der Tür. Aber es gibt einen Seiteneingang, den nur sehr wenige kennen. Kommt.“

Mandara führte die Gefährten zu einer Seitentür auf der rechten Seite, die im Schatten des Nachbarhauses lag, und vom Dach des Marmorhauses nicht zu sehen war. Leise öffnete Shermines Schwester die Tür und spähte hinein. Es war nichts zu sehen.

„Kommt, die Luft ist rein.“, sagte Mandara.

Sie führte die Freunde einen langen Flur entlang, ehe sie an einer Tür anhielt.

„Dahinter ist Mahmouds Arbeitszimmer. Aber um diese Zeit ist er meistens im großen Saal.“, sagte Mandara.

„Wo befindet sich der Saal?“

„Im ersten Stock. Aber um dort hinzukommen, müssen wir durch das Arbeitszimmer. Und der hinter der Tür stehen zwei Wachposten.“, sagte Mandara leise.

Phil Taylor öffnete die Tür, die sich mit einem lauten Knarren öffnen ließ. Die Wachposten stürmten los, doch der Engländer schlug ihnen die Tür ins Gesicht und sie fielen um. Mahmouds Büro war schnell durchquert. Doch bevor Phil Taylor die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnen konnte, waren die Wachen wieder zu sich gekommen. Sie stürmten mit gezogenen Säbeln auf den Engländer zu. Dem ersten wich Phil aus und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. Den zweiten nahm er auch in Empfang.

„Komm her, dir werde ich auch einen vorn Ständer kleistern.“, sagte Phil Taylor und schlug auch diesen Wachposten nieder.

Hinter dem Büro führte eine Treppe aus schwarzem Marmor in den ersten Stock. Mandara drehte sich zu den Freunden um.

„Nur noch diese Treppe, dann sind wir da.“, sagte sie.

Die Freunde folgten Shermines Schwester nach oben. Zuerst erreichten sie einen langen Flur, an dessen Wänden auf beiden Seiten Portraits hingen.

„Das dürften wohl Mahmouds Vorfahren sein.“, sagte Jewgeni.

Mandara ging voraus und blieb vor einer großen, goldenen Doppeltür stehen, die von zwei Wachposten bewacht wurde. Lars Eric Holm fackelte nicht lange und schlug die beiden mit den Köpfen aneinander. Die beiden verloren sofort das Bewusstsein. Danach stieß der Schwede die Tür auf und die vier Freunde betraten, von Mandara begleitet, den Raum. Mahmoud saß auf einem Thron der auf einer Empore stand. Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ keinen 254

Zweifel daran aufkommen, dass er es hasste, wenn man ihm in die Suppe spuckte. Dennoch machte Mahmoud gute Miene zum bösen Spiel, als er sprach.

„Sie haben mir allerhand böse Überraschungen präsentiert, Gentlemen. Da dachte ich mir, warum soll ich sie nicht auch mal überraschen. Nun was halten sie vom alten Mahmoud in mitten seines antiken Palastes?“, sagte er.

Phil Taylor in seiner raubeinigen Art polterte gleich los.

„Nicht mal wenn ich ne Braut wär, könnten sie mir mit diesem Nobelschuppen im Messinglook imponieren.“

Mahmoud kochte innerlich vor Zorn. Denn der Engländer hatte ihn beleidigt, indem er sich abfällig über sein Zuhause geäußert hatte. Für ihn war das ein Frevel. Am liebsten hätte er Phil Taylor persönlich den Hals umgedreht. Doch Mahmoud konnte seine Wut gerade so im Zaum halten. Er wusste, dass die vier Freunde nicht zögern würden, und ihn den Behörden übergeben würden, wenn er sich verplapperte.

„Sie sind ein außergewöhnlicher Mann, Mr. Taylor. Machen sie und ihre Freunde mir die Freude und trinken sie einen Kaffee mit mir.“, sagte er und wandte sich dann an einen kleinwüchsigen Mann, den Dirk Hemmler der Deutsche, und Jewgeni der Russe als Maguere identifiziert hatten, und sagte: „Maguere.“

„Kaffee! Gut Kaffee! Schön süß!“

Maguere goss etwas Mokka in eine goldene Tasse, Doch Phil Taylor war noch nicht fertig mit seinen Nadelstichen.

„Ich hab viel Sinn für Mummenschanz. Aber wem wollen sie eigentlich mit diesem Schwachsinn imponieren. Und ihr Kaffee dürfte so schmecken wie es hier aussieht.“, sagte er kalt.

Jetzt riss Mahmoud endgültig der Geduldsfaden.

„Sie haben nicht nur meinen Langmut missbraucht, sie haben auch mein Haus beleidigt.“, fauchte er.

Dann gab er den Wachen im Saal ein Zeichen. Sofort stürmten mehrere Soldaten mit gezückten Säbeln auf die Freunde zu. Jewgeni wich einem Hieb aus und schlug dem Soldaten dann ins Gesicht, sodass dieser seinen Säbel verlor. Der Russe nahm die Waffe selber auf und lieferte sich mit einem anderen Gardisten eine kleine Fechteinlage, ehe er seinem Gegner dessen Säbel aus der Hand schlug und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasste. Der Soldat taumelte nach hinten stürzte und fiel mit Kopf in einen Pranger, dessen oberes Ende sofort zufiel, und den Mann fixierte. 255

„Herein mit dir in die Birnenschleuse.“, sagte Jewgeni.

Mandara hatte inzwischen eine Vase gepackt, die sie dem eingeklemmten Soldaten über den Kopf zog. Lars Eric Holm hatte unterdessen einen anderen Wachsoldaten mit ein paar Schlägen bearbeitet, ehe er ihn am Rücken seiner Uniformjacke packte und ihn vorwärts gegen einen riesigen Gong schleuderte, der im Raum hing. Mahmoud sah dies mit wenig Begeisterung. Er deutete auf den Schweden und rief: „FESSELN! Nehmt ihn fest und fesselt ihn! Fesselt ihn!“

Maguere hatte eine große Vase geworfen.

„Hier ist nichts mit fesseln!“, sagte Lars und fälschte die Flugbahn der Vase so ab, dass sie den Herrn des Hauses am Kopf traf, und ihn ins Reich der Träume beförderte.

Dirk Hemmler hatte sich unterdessen eine Schmiedezange geschnappt, mit der er einem Wächter die Klinge von dessen Säbel kürzte um ihm dann einen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Im Eifer des Gefechts hatte niemand bemerkt, wie ein paar Wachen den Engländer umzingelt hatten.

„Na, was ist? Was soll das werden?“, fragte Phil Taylor.

Mandara hatte hinter einem mit einem Tuch verdeckten Stuhl ein Versteck gefunden, als sich ihre Schwester zu ihr gesellte.

„Lass du dir doch auch mal was einfallen, Mandara.“, sagte Shermine.

„Moment. Vielleicht funktioniert das.“

Mandara zog an einer goldenen Borte. Sofort löste sich der Stoffbaldachin über dem Engländer und den Wachen. Sofort entbrannte eine wilde Schlägerei. Der Hauptmann der Garde versuchte zu entkommen, doch als er an den Wachen, die unter dem Baldachin verborgen waren, vorbeikam, zerriss der Engländer den Stoff und schnappte ihn sich.

„Komm her! Du hast einen Kopf wie ein Hauklotz, also muss man draufhauen.“, sagte er und drückte ihn an einen Pfeiler und schlug auf ihn ein.

Und während der Engländer den Anführer von Mahmouds Wachen mit Schlägen traktierte hatten der Schwede und der Russe Mahmoud in die Zange genommen. Dieser sah angsterfüllt von einem zum anderen.

„Ihr denkt doch wohl nicht, dass die Sache damit erledigt ist?“, fragte er.

„Oh nein.“

„Nein.“, sagte Jewgeni.

Dann verpassten beide dem Marokkaner eine doppelte Kieferquetsche, 256

die ihn komplett außer Gefecht setzte. In der Zwischenzeit hatte Phil Taylor den Chefgardisten weiter bearbeitet.

„Dir spitz ich den Spargel an, bis man dich fürn Pfirsich hält! Komm her!“

Danach wurde der Oberst unsanft vom Engländer nach draußen auf den Balkon befördert.

„Jetzt geht’s ein bisschen an die frische Luft! Komm her!“, sagte Phil Taylor und verpasste dem Mann einen Schlag in die Magengrube.

Dann schleifte er ihn an eine der Zinnen und begann, ihn weiter mit Schlägen zu bearbeiten.

„Die Fresse werde ich dir nicht einschlagen! Sonst muss ich dich in Gips nachformen lasse, damit man dich im Gericht erkennt! Steh auf! Komm her!“

Da zerriss Shermines wütende Stimme die Luft.

„Überlass mir diesen Wurm! Sein Tod soll langsam und qualvoll sein, damit unser Bruder Said gerächt wird.“, sagte sie.

„Tut mir leid, aber die Made gehört mir.“

Shermine ging auf den Gardisten zu und hielt ihm einen Dolch unter die Nase.

„Warum soll er im Gefängnis weiterleben, wenn die Wüste für seine Bestattung sorgen kann? Überlassen wir ihn doch lieber den Geiern.“, zischte sie.

Phil Taylor drückte sanft ihre Hand nach unten.

„Das geht nicht, da werden die lieben Tierchen vergiftet.“

Shermine sah Phil Taylor in die Augen. Zorn flackerte in ihren Augen. Dann seufzte sie.

„Ich werde dein Gesetz leider nie verstehen.“, sagte Shermine.

Auf dem Polizeirevier löste Mandara ihr Versprechen ein, und plauderte aus dem Nähkästchen. So berichtete sie, wie Mahmoud und Abdul sie und ihre Schwester sowie ihre Mutter Aysan und ihren Bruder Said von zu Hause fortgeholt und ihren Vater eiskalt ermordet hatten. Wie die beiden ihre Mutter an einen reichen Scheich für dessen Harem verkauft hatten. Sie berichtete von den seelischen Leiden, die sie und Shermine jahrelang erdulden mussten. Mandara berichtete sogar von den Gräueltaten der beiden Männer. Vor allem erzählte sie von einem gedungenen Meuchelmörder, der Said den Atem genommen hatte.

Keiner der Umstehenden sagte ein Wort. Doch Abdul und Mahmoud bedachten Mandara und Shermine mit einem tödlichen Blick.

„Euer Bruder hätte schon lange tot sein sollen. Es sollte eine Warnung an euch sein, damit ihr tut, was wir euch befehlen.“, sagte Abdul.

Shermine wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als die Tür der Polizeistation aufging und ein älterer Mann eintrat, der Rachid, dem Antiquitätenhändler, wie ein Ei dem anderen glich. Mahmoud und Abdul wurden kreidebleich, als sich der Mann als Ismail vorstellte.

„Ich möchte gerne aussagen.“, sagte Ismail.

Der diensthabende Beamte nickte. Und so erzählte Ismail, was er wusste.

„Und sie irren sich bestimmt nicht, Ismail?“, fragte der Polizist.

„Allah soll mein Zeuge sein! Denn der gedungene Meuchelmörder war ich selbst.“

„Du verräterischer Hund!“, brüllte Mahmoud.

„Wollen wir beide ein Gespräch über niedere Hunde führen, du Mörder der Unschuldigen?“

257

Buch 2 - Kapitel 10

Buch 2 – Kapitel 10

Aus den Chroniken der Kleeblattinsel:

„Es ist geschafft! Die erste Hürde ist genommen. Unsere Retter haben in Marrakesch das letzte Kartenstück sicher gestellt. Shermine und Mandara haben sich ihnen ebenfalls angeschlossen. Möge ihnen Fortuna weiterhin ihre Gunst erweisen und möge Iduna weiterhin ihre schützende Hand über sie halten.“

Jelenas Palast auf der Kleeblattinsel

Es war ein sonniger Morgen auf der Kleeblattinsel. Jelena war gerade aufgewacht. Seit ihr Liebster zusammen mit den anderen Auserwählten aufgebrochen war, schlief sie nicht mehr so gut wie früher. Die grausamen Bilder, die Jelena in ihren Träumen heimgesucht hatten, waren zurückgekehrt. Die erste Königin Oamarus streckte sich. Dann stand sie auf und trat vor den Spiegel. Und was Jelena sah, gefiel ihr gar nicht. Ihre schönen brünetten Haare waren an einigen Stellen bereits grau. Es klopfte an der Tür des königlichen Schlafgemachs.

„Einen Moment noch!“, rief Königin Jelena.

Rasch zog sie sich ihren roten Morgenmantel aus Chinaseide an.

„Herein!“, sagte die Königin.

Ihr persönlicher Diener betrat den Raum.

„Was gibt es, Jean-Pierre?“, fragte Jelena.

„Mylady, eure Cousine, Königin Wioletta, ist gerade eingetroffen. Sie wünscht euch zu sehen.“

Die erste Königin der Kleeblattinsel nickte.

„Ich zieh mich schnell an, Jean-Pierre. Sag meiner Cousine, dass ich gleich bei ihr bin.“, sagte Jelena.

10 Minuten später kam Jelena in den Audienzsaal, wo Wioletta, die dritte Königin Oamarus auf sie wartete. Die beiden Cousinen umarmten sich.

„Es gibt Neuigkeiten von unseren Liebsten.“, sagte Wioletta.

„Wie geht es ihnen?“

„Sie sind wohlauf.“, sagte Jelenas Cousine. 258

„Iduna sei Dank! Ich mach schon seit Monaten kaum ein Auge zu.“

„Frag mich mal, Cousine. Eliska und Shakira geht es nicht anders.“, sagte Wioletta.

„Gibt es sonst noch was neues, Wioletta?“

„Sie haben Marrakesch vor zwei Tagen verlassen. Jetzt sind sie an Bord der RMS Olympic unterwegs nach Puerto Barrios in Guatemala.“, sagte Wioletta.

Puerto Barrios, Guatemala, 3. Oktober 1916, 9:45 Uhr Ortszeit

In der Hafenstadt Puerto Barrios herrschte an diesem Morgen ein derart geschäftiges Treiben, dass niemand auf die kleine Reisegruppe achtete, die den englischen Passagierdampfer verließ, der um 9:35 Uhr im Hafen angelegt hatte. Die RMS Olympic, betrieben von der White Star Line, war ein imposanter Anblick. Mit ihren 269,04 m Länge war sie größer, als die meisten anderen Passagierschiffe im Hafen. Die Schlepper waren, verglichen mit der Olympic, die reinsten Nussschalen. Die vier gelben Schornsteine stachen schon von weitem ins Auge.

Die kleine Reisegruppe hatte am Bahnhof von Puerto Barrios einen Zug bestiegen, der sie nach Melchor de Mencos bringen sollte, da diese Stadt am nächsten an der alten Mayametropole Tikal, dem eigentlichen Ziel ihrer Reise, gelegen war. Der Zug bestand aus drei Wagen und wurde von einer Schmalspurlokomotive, amerikanischer Bauart, aus dem Hause Baldwin gezogen.

Von dort ging es mit Eselskarren weiter zur alten Mayametropole. Die Reise dorthin dauerte drei Tage, sodass die Gruppe erst am 6. Oktober in Tikal eintraf. Doch nun war guter Rat teuer. Denn wo sollte man den Opal suchen? Da die alte Mayastadt mehrere Tempelkomplexe umfasste, glich die Suche nach dem Edelstein der Suche nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen. Doch plötzlich geriet Shermine ins Wanken und wäre fast gestürzt, hätte der Schwede sie nicht aufgefangen.

„Ist alles in Ordnung, Shermine?“, fragte er vorsichtig.

„Es geht.“

„Was ist passiert?“, fragte Mandara ihre ältere Schwester.

„Ich hatte gerade eine Art Vision.“

„Was hast du gesehen, Shermine?“, fragte Jewgeni.

„Ich sah den Stein den wir suchen. Er war in einer Art Grabkammer.“ 259

„Hast du auch das Gebäude gesehen, Shermine.“, fragte Phil Taylor.

Shermine zeigte auf einen Tempel.

„Dieses da.“, sagte sie.

„Das ist Tempel IV.“

„Gehen wir rein.“, sagte Mandara.

„Wir sollten aber vorsichtig sein.“

„Wie sieht es eigentlich mit Fackeln aus?“, fragte Dirk in die Runde.

„Wir werden keine brauchen. Das wird uns den Weg weisen.“, sagte Shermine und entzündete ein kleines Irrlicht.

„Ich wusste gar nicht, dass du über magische Kräfte verfügst.“

„Nicht nur ich habe welche. Meine Schwester Mandara besitzt ebenfalls magische Kräfte.“, sagte Shermine zu Lars.

Mandara ergänzte: „Leider reichen unsere Kräfte nicht aus, um unser volles Potenzial zu entfalten.“

Unterdessen hatte Shermine dem Irrleicht den Befehl gegeben, sie und die anderen zum Versteck des Feueropals zu führen. Das kleine Licht sprang die Stufen des Tempels hoch, und die anderen folgten ihm. Es kostete schon einiges an Kraft, um die steile Treppe zu bezwingen, die zum Allerheiligsten des Bauwerks führte: Dem Dachtempel auf der Pyramidenspitze. Oben angekommen verschwand das kleine Irrlicht sofort im Inneren des Heiligtums. Es führte die kleine Gruppe einen langen Korridor entlang, ehe es an einer Weggabelung stehen blieb. Jewgeni, der Russe fand einen kleinen Zettel mit einer Notiz auf dem Boden, den er aufhob. Die anderen sahen ihn fragend an.

„Was steht auf diesem Fetzen Papier?“, fragte der Deutsche.

„Ich les mal kurz vor. Hier steht: „Nur Shermine, darf den Feueropal berühren.“

Das Irrlicht hatte inzwischen seinen Weg fortgesetzt. Allerdings hatten die Worte auf dem Zettel die Auserwählten und die beiden Frauen so verwirrt, dass keiner diesen Umstand bemerkt hatte. Erst als das kleine blaue Lichtwesen wütend zwitschernd über der kleinen Gruppe schwebte, begriffen die Gefährten, was los war. Sie waren gerade im Begriff wertvolle Zeit zu vergeuden.

Shermines Irrlicht führte sie und ihre Freunde einen weiteren Gang entlang, bis es vor einer Steintür stehen blieb. Auf dieser Tür war ein großer ovaler Stein eingemeißelt. 260

„Hinter dieser Tür muss der Feueropal versteckt sein.“, sagte Dirk Hemmler.

„Was macht dich da so sicher?“

„Das Symbol auf der Tür, Jewgeni.“, sagte Dirk.

„Es könnte auch eine Falle sein.“

Diese Warnung kam von Phil Taylor. Der Deutsche drehte sich zu ihm um.

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aber wir müssen es versuchen.“

Mandara trat nach vorne und berührte mit ihrer linken Hand sanft den Stein. Wie von Zauberhand glitten die beiden Hälften des Steins auseinander. Aus der Kammer dahinter glomm ein rotes Leuchten. Dirk Hemmler wollte den Raum betreten, doch Shermine hielt ihn zurück.

„Nicht so schnell. Ich habe ein ungutes Gefühl. Lasst mich und Mandara gehen.“, sagte sie.

Der Deutsche atmete tief durch. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ungern.“, sagte er dann.

„Es wird zu gefährlich, wenn wir alle gehen. Ihr habt eine Aufgabe zu erfüllen. Meine Schwester und ich haben nichts mehr zu verlieren.“

Noch ehe Dirk Hemmler etwas sagen konnte, hatte sich Shermine von ihm abgewandt und war auf die Kammer zugegangen. Ihre Schwester folgte ihr. Die vier Freunde blieben zurück. Eine Zeitlang sagte keiner ein Wort.

„Ich hätte Shermine und Mandara nicht gehen lassen dürfen.“, brach Dirk Hemmler das Schweigen.

„Die beiden werden schon wissen, was sie zu tun haben. Außerdem darf nur Shermine den Feueropal berühren. Vergiss das nicht, Dirk.“

Jewgeni hatte diese Mahnung an den Deutschen gerichtet.

Die vier Auserwählten warteten, was anderes blieb ihnen nicht übrig. Nach einer halben Stunde, die den vier wie eine Ewigkeit vorkam, kehrten die beiden Schwestern zurück. Shermine trug auf ihren Händen den Opal, Oamarus Heiligtum. Die vier Freunde waren erleichtert, sowohl den Stein, als auch die beiden Schwestern zu sehen.

„Ein Glück, dass euch nichts passiert ist.“, sagte Lars.

„Wie meine Schwester schon sagte: Wir haben nichts zu verlieren.“

Der Russe schaltete sich in die Konversation ein. 261

„Jetzt, wo wir den Stein haben, sollten wir schleunigst von hier verschwinden.“, sagte Jewgeni.

„Du hast Recht. Machen wir, das wir wegkommen.“

Puerto Barrios, Guatemala, 12. Oktober 1916, 15:45 Uhr Ortszeit

Im Hafen von Puerto Barrios herrschte wieder geschäftiges Treiben. Passagiere, die eine Fahrt über den Atlantik buchen wollten, standen an den Schaltern der jeweiligen Reedereien Schlange. Im Hafen lagen gleich drei große Transatlantikliner. Es waren die France der Compagnie Générale Transatlantique, die Aquitania der britischen Cunard Line und die Imperator der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft. Die France war mit ihren 214 Metern das kleinste der drei Schiffe, während Aquitania und Imperator über 270 Meter lang waren.

Gerade wurde der deutsche Transatlantikliner für die Rückfahrt nach Hamburg fertig gemacht. Die Passagiere gingen an Bord, während ihr Gepäck von den HAPAG-Leuten an Bord gebracht wurde. Die beiden Ladekräne vorn und achtern nahmen Proviant und Kohlen an Bord. Um 16:00 Uhr lief die Imperator aus. Nun begannen die Vorbereitungen zum Auslaufen der France. Auf diesem Schiff schiffte sich die kleine Reisegruppe ein, die am Morgen mit dem Zug in Puerto Barrios eingetroffen war.

Dieser Reisegruppe hatte sich ein Mann an die Fersen geheftet, der sich in Melchor de Mencos aufgehalten hatte. Er trug einen schwarzen Anzug, darüber einen hellbraunen Ledermantel. Dazu trug er einen braunen Krempenhut aus Leder. Den Kragen seines Mantels hatte der Fremde hochgeschlagen, um seine Hörner zu verbergen. Denn es war niemand anderes als Tosh Kamar, der wieder in seiner Verkleidung als Toshiro Kamaru auftrat.

Die kleine Gruppe ging gerade an Bord des französischen Luxusliners, als Mandara den Fremden in der Schlange entdeckte. Rasch warnte sie die anderen.

„Er ist immer noch da.“, sagte sie.

„Wer?“

„Der Mann, dem wir begegnet sind, als wir in Melchor de Mencos den Zug hierher genommen haben. Jede Wette, er verfolgt uns.“, sagte Shermines Schwester zum Engländer.

„Wer mag er wohl sein?“

„Keine Ahnung. Aber mein Instinkt sagt mir, das er Böses im Schilde führt.“, sagte Mandara. 262

Shermine wandte sich an ihre Schwester.

Was macht dich da so sicher?“, fragte sie.

„Du kennst mich Schwester. Ich weiß genau, dass ich mich bei dem Kerl nicht irre. Frag mich nicht wieso.“

Um 17:30 Uhr lief die France aus Puerto Barrios aus. Tosh Kamar, alias Toshiro Kamaru, hatte sich in seine Kabine zurückgezogen. Für ihn war der Zeitpunkt, sich den Auserwählten zu erkennen zu geben, noch nicht gekommen. Damit würde er warten, bis sich die France auf dem Panamakanal befand. Doch es stellte sich die Frage, wie er an die an die Gruppe herankommen sollte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Die übrigen Passagiere und die Besatzung des französischen Luxusliners waren immer irgendwo auf dem Schiff unterwegs, und konnten ihm dazwischen grätschen. Warum, in Idunas Namen, mussten diese Transatlantikliner immer so groß sein?

Auch beim Abendessen ließ er sich blicken. Denn es galt, für Nervosität bei den Freunden zu sorgen. Irgendwann mussten sie einen entscheidenden Fehler machen, der ihm den Feueropal in die Hände spielen würde. Und wenn Tosh Kamar das Allerheiligste in seinen Händen hielt, dann würde er den Opal an der tiefsten Stelle des Ozeans dem Ozean überantworten. So hatte er es sich zumindest vorgenommen.

Nach Einbruch der Dunkelheit ging die kleine Gruppeauf das Achterdeck an die frische Luft. Tosh Kamar folgte ihnen. Er wollte nicht mehr warten, bis sich das Schiff auf dem Panamakanal befand. Außerdem bestand so die Möglichkeit den Auserwählten und den beiden Frauen einen derartigen Schrecken einzujagen, damit sie in aller Hast und Eile den Opal über Bord warfen.

Mandara stand an der Heckreling und starrte auf das Kielwasser der France. Jewgeni, der Russe, stand neben ihr. Shermine saß mit Lars Eric Holm, dem Schweden und dem Deutschen Dirk Hemmler auf einer Bank. Nur einer fehlte. Es war Phil Taylor, der Engländer. Er beschattete Tosh Kamar. Ihm war klar geworden, dass Mandara mit ihrer Vermutung Recht hatte. Und er ahnte warum. Der Fremde wollte den Feueropal, sonst hätte er sich kaum die Mühe gemacht, ihn und seine Gefährten zu beschatten.

Tosh Kamar trat aus einer Seitentür auf das Achterdeck des französischen Schiffes.

„Konbanwa, Mesdames et Messieurs.“, sagte er freundlich.

Shermine drehte sich zu ihm herum.

„Wer sind sie?“, fragte sie dann. 263

„Gestatten sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Tosh Kamar. Aber in dieser Welt, können sie mich ruhig Toshiro Kamaru nennen.“

Der Schwede meldete sich zu Wort.

„Was verschafft uns die Ehre, dass sie uns mit ihrer Anwesenheit beehren?“, fragte Lars Eric Holm.

„Ist ihnen meine Gesellschaft etwa lästig?“

„Das haben sie gesagt. Also, was wollen sie wirklich?“, fragte der Schwede noch einmal.

Und dieses Mal war sein Tonfall etwas unfreundlicher. Tosh Kamar musste also mit der Wahrheit rausrücken.

„Sie und ihre Freunde haben etwas in ihrem Besitz, das mir gehört. Händigen sie es mir aus, und ich lasse sie gehen.“, sagte er.

„Den Feueropal?“

„Das haben sie sehr richtig erkannt, Holm San.“, sagte Tosh Kamar.

„Und was machen sie, wenn sie den Opal haben? In den Tempel zurückbringen werden sie ihn sicher nicht.“

„Natürlich nicht. Ich werde ihn an der tiefsten Stelle des Ozeans ins Meer werfen. Dann ist er auf immer verloren, und die Kleeblattinsel wird für immer in den Fluten versinken. Ich will Rache. Und ich lasse mich nicht darum betrügen.“, sagte der böse Herrscher.

„Und die vier Königinnen?“

„Was soll mit ihnen sein, Mr. Holm? Sie werden mit ihrer schönen Insel untergehen. So einfach ist das.“, sagte Tosh Kamar.

Lars Eric Holm wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als Phil Taylor hinter dem Bösen auftauchte.

„Können sie mir mal verraten, worum es hier geht?“, fragte der Engländer Tosh Kamar.

Dieser wollte zu einem Schlag ausholen, als er „Sofort“, sagte.

Doch er bekam einen Schlag auf den Hinterkopf, der ihn gegen eine der Metallstreben prallen ließ, die die Stahldecke und die darüber liegende Etage stützten. Tosh Kamar taumelte nach hinten, wurde aber vom Engländer am Kragen seines Mantels gepackt, und bekam noch einmal einen Schlag auf den Hinterkopf, der ihn gegen die Strebe davor beförderte. 264

Phil Taylor verpasste ihm einen Schlag in die Magengrube, ehe er ihn mit einem „Und Klick Klack, Köpfchen ab“ an die Trennwand beförderte.

Tosh Kamar blieb erst mal am Boden liegen.

„Das werden sie noch bereuen, Taylor San. Das schwöre ich ihnen.“, sagte er.

„An deiner Stelle würde ich mal den Ball flach halten, du Strolch.“

„Seien sie nicht so vorlaut. Ihr wisst wohl nicht, mit wem ihr euch hier anlegt.“, sagte Tosh Kamar.

Doch dann wurde er von Dirk Hemmler unsanft auf die Füße gezogen und bekam einen Schlag ins Gesicht, der ihn wieder zu Boden schickte.

„Ärztliche Diagnose: BRETT VORM KOPF!“, sagte der Deutsche.

Jewgeni kam dazu.

„Probleme?“, fragte er.

„Nur diese nerv tötende Hämorride, da.“

„Den sind wir gleich los, Lars.“, sagte der Russe.

Dann zog er Tosh Kamar an seinem linken Ohr auf die Füße.

„Lümmel dich hier nicht so auf dem Decksboden rum, Durak.“, sagte Jewgeni.

Dann folgte etwas, womit niemand gerechnet hatte. Der Russe warf den Bösen eiskalt lächelnd über Bord.

„Do svidaniya, Arschloch.“, sagte Jewgeni.

Mit einem lauten Klatschen schlug Tosh Kamar auf der Wasseroberfläche auf.

„Den wären wir los.“, sagte Lars Eric.

„Fragt sich nur, wie lange.“

In seinem Palast wütete Tosh Kamar. Er hatte gehofft, die Auserwählten und die beiden Frauen mit seiner drohenden Art einzuschüchtern, aber dieser Engländer, Phil Taylor, hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber nicht nur er. Auch den anderen dreien gebrach es nicht an Mut. Das machte es schwieriger, den Opal für immer verschwinden zu lassen. Aber noch war nichts verloren. Die France würde zwar erst noch durch den Panamakanal fahren müssen, aber das dauerte auch wieder ein paar Tage. Im Moment arbeitete die Zeit für den bösen Herrscher.

An Bord der France 265

Die Freunde und ihre weiblichen Begleiterinnen hatten sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Die Begegnung mit Tosh Kamar hatte ihnen die Laune verdorben. Der Schlaf kam schnell, und mit ihm die bösen Träume. Shermine wachte mitten in der Nacht mit einem lauten Schrei auf. Sie saß senkrecht im Bett und kalter Schweiß lief über ihre Stirn. Ihr Atem ging stoßweise und ihr Puls raste. Ihre Schwester Mandara war durch den Schreckensschrei ihrer älteren Schwester erwacht.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie Shermine.

„Nein. Ich habe die Insel gesehen, zu der wir unterwegs sind. Und ich habe einen Riesenkalmar mit einem roten Hummer auf dem Rücken gesehen, der aus den Tiefen des Ozeans aufgetaucht ist. Das Tier hat einen Strudel entfacht, der die Insel in die Tiefe gezogen hat.“

„Wie viel Zeit bleibt uns noch, Schwesterherz?“, fragte Mandara.

„Ich weiß es nicht.“

Jelenas Palast auf der Kleeblattinsel

Die vier Königinnen hatten sich im Besprechungszimmer von Jelenas Palast versammelt. Königin Jelena, die erste Königin der Kleeblattinsel, eröffnete die Zusammenkunft.

„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte sie in die Runde.

„Unsere Liebsten sind auf dem Weg hierher. Sie haben den Feueropal gefunden. Jetzt sind sie an Bord der France.“

„Wo befindet sich das Schiff jetzt, Eliska?“, fragte Jelena ihre Schwester.

„Die France befindet sich zurzeit an der Einfahrt zum Panamakanal. Sie dürfte den Pazifik innerhalb der nächsten vier Tage erreichen.“

„Wann würde sich Tosh Kamars Fluch erfüllen, Wioletta?“, fragte die erste Königin ihre Cousine.

„In acht Tagen, Cousine.“

„Das würde bedeuten, dass unsere Freunde erst im letzten Augenblick die Insel erreichen.“, sagte Jelena.

„Immer vorausgesetzt, Tosh Kamar legt ihnen keine weiteren Steine in den Weg.“

An Bord der France, Dienstag, 10. Oktober 1916

Der französische Luxusliner hatte den Panamakanal hinter sich gelassen, 266

und war auf dem Weg nach Los Angeles. Doch auf Höhe der Kleeblattinsel, lief eines der Wellenlager heiß. Phil Taylor, der sich damit auskannte, bot dem Kapitän seine Hilfe bei der Reparatur an, wenn dieser die Insel ansteuern würde. Der Kapitän lehnte ab, bot aber an, die Freunde am Riff abzusetzen.

Als der französische Luxusliner die Insel erreicht hatte, ließ der Kapitän ein Boot zu Wasser, und die Besatzung brachte die kleine Gruppe an Land. Danach kehrte das Boot um und fuhr zur France zurück. Die kleine Gruppe stieg den Strand hinauf und stand bald vor dem Palmenhain. Dirk Hemmler, der als erster auf der Insel angekommen war, erinnerte sich, dass im Zentrum der Insel die magische Quelle war, die jedem ewige Jugend verlieh, der aus ihr trank. Wioletta hatte sie ihm gezeigt. Zielstrebig führte der Deutsche die anderen zu dieser Quelle. Die Schwestern sahen einander fragend an. Schließlich ergriff Shermine das Wort.

„Warum hast du uns hierher gebracht, Dirk?“, fragte sie den Deutschen.

„Du hast doch gesagt, dass du und deine jüngere Schwester über magische Kräfte verfügt, die noch nicht ganz entfaltet werden können. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, wird euer ganzes magisches Potenzial freigesetzt, sobald ihr in dieser Quelle gebadet habt.“

„Also ich könnte ein Bad vertragen. Nach all dem Trubel.“, sagte Mandara.

Shermine nickte. Dann entkleideten sich die beiden Schwestern und stiegen zögerlich in die Quelle. Sie hatten Angst, dass sie sterben würden, wenn sich ihre magischen Kräfte voll entfalteten. Zuerst kribbelte es ein wenig, als das Wasser die Haut der beiden Frauen berührte. Doch je tiefer Shermine und Mandara in den Teich gingen, wurde das Kribbeln heftiger. Als die beiden Schwestern bis zu den Hüften in der Quelle standen, fing das Wasser an zu lumineszieren. Und bevor Shermine und ihre jüngere Schwester überhaupt wussten, was passiert war, war es auch schon wieder vorbei.

Nachdem sich Shermine und Mandara wieder angezogen hatten, machte sich die kleine Gruppe auf den Weg zum Tempel. Sie hatten die Quelle gerade verlassen, als eine gigantische schwarze Spinne ihnen den Weg versperrte. Es war Kankra, eines von Tosh Kamars Geschöpfen. Sie war so hoch, wie ein dreistöckiges Wohnhaus und hatte Beine, wie Säulen. Das mächtige Tier wollte sich auf den Russen stürzen, da wurde es von einem Ball aus magischem Feuer getroffen, den Mandara abgefeuert hatte. Gegen die Flammen hatte Kankra keine Chance.

Es war früher Nachmittag, als die Gruppe dann endlich den Tempel erreicht hatte. Denn Tosh Kamar hatte ihnen noch mehr seiner dunklen Kreaturen entgegen geworfen. So unter anderem eine riesige Kobra, die jedoch von Shermine mit einem Energieblitz in die ewigen Jagdgründe geschickt wurde. 267

Als die vier Auserwählten und die beiden Schwestern auf den Vorplatz des Tempels kamen, wartete dort ein wütender Tosh Kamar. Der dunkle Herrscher kochte innerlich vor Zorn, weil einfach nichts so lief, wie er es sich das vorgestellt hatte.

„Ich kann es nicht leugnen, ihr anmaßenden Sterblichen, Iduna war euch gewogen. Aber euer Glück endet hier. Denn es ist undenkbar, dass ihr mich um meine Rache betrügt.“, sagte er.

„Wie wärs, wenn du einfach mal dein vorlautes Mundwerk hältst, du Armleuchter.“

„Keine Beleidigungen, Holm San. Sonst kannst du was erleben.“, sagte Tosh Kamar.

Shermine und Mandara warfen sich einen kurzen Blick zu. Dann nickte die jüngere der beiden Schwestern. Aus dem Nichts ließen sie erst einen Blitz vom Himmel zucken, dem ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte, der Tosh Kamar aus dem Gleichgewicht brachte. So schnell es ging, erklommen die sechs Freunde die Treppe zum Dachtempel an der Spitze der Pyramide. Bevor sie den Tempel betraten sah sich Mandara noch einmal um. Am Horizont sah sie die Sonne untergehen, und den Himmel blutrot färben.

„Wir sollten uns beeilen, Freunde. Die Sonne geht unter.“, sagte sie.

Die vier betraten den Tempel und Dirk Hemmler suchte nach dem Stein, mit dem Opal über dem Feuer. Er brauchte nicht lange, bis er ihn gefunden hatte. Er drückte darauf und wie vor 304 Jahren öffnete sich die Tür, die den Weg zur heiligen Kammer versperrte. Die Gruppe ging hinein. Doch wie damals wurde der Zugang zu dem Raum durch die Feuerwand versperrt. Es war Lars Eric Holm, der diese Falle deaktivierte. Dann ging die kleine Gruppe in den Raum. Shermine ging auf die Empore zu, auf der die Schale stand, in der der Feueropal zu ruhen pflegte.

Während Shermine den Edelstein aus dem Beutel nahm, den sie die ganze Zeit bei sich getragen hatte, tauchte aus den Tiefen des Ozeans Tosh Kamars Geschöpf, der Riesenkalmar auf. Das Tier durchbrach die Wasseroberfläche und wühlte mit seinen Fangpeitschen wieder die See auf. Seine Schreie hallten über die ganze Insel. Dann verschwand der Kalmar wieder unter der Meeresoberfläche und schwamm einmal um die Insel. Ein Sog bildete sich, der aber noch nicht stark genug war, um die Insel zu verschlingen.

Gerade als der Kalmar seine zweite Runde beenden wollte, legte Shermine den Opal in die Schale. Ein mächtiger Donnerschlag ertönte, dessen Echo sogar noch unter Wasser zu hören war. Tosh Kamar stieß einen lauten Schrei der Wut aus und verschwand wieder in seinem Korallenpalast auf dem Boden des Ozeans. 268

Es war bereits Mitternacht, als die vier Auserwählten zusammen mit den beiden Schwestern an Jelenas Palast ankamen. Die Wachposten, die die mächtige Doppeltür flankierten, kreuzten ihre Speere.

„Es darf niemand mehr eintreten.“, sagte einer.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Königin Jelena kam ins Freie. Als sie Phil Taylor und die anderen erblickte, hellte sich ihr Gesicht auf. Dann wandte sie sich an die beiden Wächter.

„Lasst Phil und seine Freunde eintreten. Ich möchte nicht, dass unsere Retter die Nacht unter freiem Himmel verbringen müssen. Ein Sturm zieht auf. Ihr solltet lieber auch Schutz suchen. Ich will euch nicht verlieren.“, sagte die erste Königin Oamarus.

„Sie macht sich mehr Sorgen um ihre Männer, als um sich selbst. Ich muss zugeben, auch wenn es gegen alle Vernunft ist, ich mag diese Königin.“

Dieser Gedanke schoss Mandara durch den Kopf.

Die Freunde waren Jelena gerade in den Palast gefolgt, und die Wachen hatten nun dahinter Posten bezogen, da brach das Unwetter los. Blitze zuckten vom Himmel, denen laute Donnerschläge folgten. Die vier Königinnen und die sechs Reisenden hatten sich in der Bibliothek versammelt. Draußen war wieder der Riesenkalmar aufgetaucht und schlug mit seinen Fangpeitschen auf das Wasser.

„Tosh Kamar wird wiederkommen.“, sagte Jelena.

„ Was macht dich da so sicher, Sweetheart?“

Die erste Königin Oamarus drehte sich zu ihrem Liebsten um.

„Dieses Mal ist die Sache noch mal gut für uns ausgegangen, Liebling. Doch Tosh Kamar gibt nicht so schnell auf. Ihm fällt garantiert etwas Neues ein, um sich an uns zu rächen.“, sagte sie dann. 269

Im 21. Jahrhundert 2

Im 21. Jahrhundert 2

Jelena klappte das Buch zu. Dann sah sie in die Runde.

„Hat irgendjemand Fragen, die ich beantworten kann?“, fragte die erste Königin Oamarus.

„Was ist eigentlich aus Shermine und Mandara geworden?“

„Sie leben noch. Mandara und Shermine wurden von den Hoda zu deren Schutzgöttinnen erkoren, mein Sohn.“

„Habt ihr Tosh Kamar noch einmal gesehen, nachdem die Insel vor dem Untergang gerettet wurde?“, fragte Catherine.

„Ja. Wir haben uns an jenem Tag in Wiolettas Palast getroffen. So wie es bei uns auf der Kleeblattinsel Brauch ist.“

Melissa zog skeptisch die Stirn in Falten.

„Was für ein Brauch wäre das?“, fragte sie dann.

„An jedem Monatsersten treffen sich die vier Königinnen im Wechsel im jeweiligen Palst. Damals war Wioletta dran.“

„Was hat sich damals ereignet?“, fragte Catherine.

„Tosh Kamar ist aus heiterem Himmel aufgetaucht und hat einen Fluch verhängt.“

„Tante Wioletta hat etwas von einem Unfruchtbarkeitszauber erzählt, den er verhängt hat, Mutter.“, sagte Kevin.

„Tante Shakira hat mir genau dasselbe erzählt.“

„Nichts desto trotz ist Tosh Kamars Plan nicht ganz aufgegangen.“, sagte Königin Jelena.

„Inwiefern?“

„Er hatte geplant, uns alle zum selben Zeitpunkt unfruchtbar zu machen. Aber weil meine Schwester und ich von euren Vätern schon schwanger waren, hat sein Fluch bei uns nichts bewirkt. Bei Wioletta und ihrer Schwester war das krasse Gegenteil der Fall.“, sagte Jelena.

„Hätte Tosh Kamar uns denn nicht durch einen Zauber töten können, als wir noch nicht geboren waren?“

„Nein Catherine. Sowie eine Königin Oamarus ein Kind unter ihrem Herzen trägt, ist es durch Idunas Macht geschützt.“, sagte Kevins Mutter. 270

„Was ist eigentlich aus Abdul und Mahmoud geworden, Mutter?“

„Sie wurden dem Haftrichter vorgeführt und zum Tode durch Hinterherschleifen verurteilt.“, sagte Jelena.

„Davon wird Shermines und Mandaras Bruder aber auch nicht wieder lebendig. Und die Mutter dürfte auch schon tot sein.“

„Da hast du Recht, mein Sohn.“, sagte die erste Königin Oamarus.

„Was ist eigentlich aus unseren Vätern geworden, nachdem wir geboren worden sind?“

„Tosh Kamar hat sie getötet, Nichte. Es hat mir das Herz gebrochen, als Kevins Vater in meinen Armen starb. Ich habe nie wieder geheiratet.“, sagte Jelena.

„Was mich jetzt noch interessieren würde, ist, was Tosh Kamar zurzeit tut, um euch schlaflose Nächte zu bereiten?“

„Er schickt uns böse Träume. Aber sie sind nicht immer gleich.“, sagte Königin Jelena.

In diesem Moment begann Frigga nervös auf ihrem Platz auf der Gardinenstange hin und her zu hüpfen. Tanet ihre Herrin bemerkte dies.

„Was hast du Frigga?“, fragte sie.

„Jemand hat gerade die Wohnung betreten.“

„Wer?“, fragte Tanet.

„Weiß ich nicht, Herrin.“

Kevin ahnte, wer der mysteriöse Besucher sein mochte.

„Würde mich nicht überraschen, wenn Tosh Kamar gleich hier im Wohnzimmer aufkreuzt.“, sagte er.

Umso überraschter war er, als er seine Patentante, Königin Wioletta, eintreten sah.

„Was verschafft uns die Ehre deiner Anwesenheit?“, fragte Kevin Wioletta.

„Wie wäre es erst mall mit einer netten Begrüßung, mein Junge?“

Die dritte Königin Oamarus nahm Jelenas Sohn in die Arme und drückte ihn ganz fest.

„Habt ihr auch das zweite Buch gelesen?“, fragte sie ihr Patenkind.

„Wir sind gerade fertig geworden.“ 271

„Ich hoffe, ihr habt gut aufgepasst, Kevin.“, sagte Wioletta.

„Sicher.“

„Gut, dann werdet ihr auch die Fragen beantworten können, die euch die Wächterin stellen wird.“, sagte Jelenas Cousine.

„Was für eine Wächterin?“

Catherine Parsons hatte diese nicht unerhebliche Frage gestellt.

„Es ist die Wächterin, die das Tor zwischen eurer und unserer Welt hütet. Es gäbe zwar noch den irdischen Weg, aber dieser Weg ist kürzer.“, sagte Wioletta.

„Was wird sie tun?“

„Sie wird euch, wie schon gesagt, Fragen stellen, die ihr beantworten müsst. Wenn ihr auch nur eine einzige davon falsch beantwortet, wird sie nicht zögern und euch töten.“, sagte Wioletta.

„Sind ja rosige Aussichten, Tante.“

Wioletta hob tadelnd den Zeigefinger.

„Kevin… An deiner Stelle wäre ich nicht so sarkastisch. Dafür hast du später Zeit, wenn eure Aufgabe erledigt ist.“, sagte sie dann.

Jelenas Sohn wusste durchaus, dass seine Patentante Recht hatte, doch im Moment ging sie ihm tierisch auf die Nerven. Doch dann schoss ihm eine Frage durch den Kopf, die nicht unwichtig war.

„Gibt es einen Eingang zum Reich der Wächterin?“, fragte er so ruhig wie möglich.

Es war jedoch seine Mutter, die antwortete.

„Es gibt einen. Aber er ist nicht hier. Der Eingang befindet sich in den schottischen Highlands an den Ufern des Loch Ness.“, sagte Jelena.

„Wie sieht er aus, Mutter?“

„Er sieht aus wie ein Totenschädel, der in den Felsen eingelassen ist. Der offene Mund ist das Tor, durch das man in Alenjas Reich gelangt.“, sagte die erste Königin der Kleeblattinsel.

„Ich nehme an, Alenja ist der Name der Wächterin.“

Elenia, die Banshee, nickte.

„Das ist in der Tat richtig, Mylady.“, sagte sie zu Catherine.

Catherine Parsons verdrehte entnervt die Augen.

„Bitte nicht schon wieder. Ich bin keine Prinzessin. Ich bin einfach nur Catherine Parsons.“, sagte sie.

„Jetzt hör mir mal gut zu, Nichte.“, sagte Jelena und ergänzte: „Du bist die Tochter meiner Schwester Eliska, der vierten Königin von Oamaru. Ihr Blut fließt auch durch deine Adern. Du bist eine Prinzessin, Catherine. Ober dir das gefällt oder nicht.“

„Und eine Prinzessin spricht man immer mit Mylady an. Das gehört zum guten Ton dazu.“

„Und wieso hat meine Mutter dann von meinem Vater nicht denselben Respekt verlangt, als beide noch nicht verheiratet waren?“, fragte Catherine Wioletta.

„Das musst du deine Mutter fragen.“

Melissa Conway räusperte sich.

„Bevor wir uns hier gegenseitig wegen Nichtigkeiten zerfleischen, würde mich eines brennend interessieren.“, sagte sie.

„Dann bitte.“

„Ich nehme an, dass wir nicht allzu viel Zeit haben. Gibt es einen ganz bestimmten Zeitpunkt, an dem wir vor Alenja erscheinen müssen?“, wollte Melissa wissen.

Es war Tanet, die Melissas Frage beantwortete.

„Ihr müsst am ersten Vollmond des November in Alenjas Reich sein.“

„Wir haben jetzt Mitte Oktober. Dass bedeutet, wir noch knapp zwei Wochen haben, um nach Schottland zu reisen.“, sagte Kevin.

„Kommt hin, holder Cousin.“

Es wurde wieder Nacht und alle zogen sich zurück. Noch ahnte keiner, was als nächstes passieren würde.

Am nächsten Morgen, es war Montag der 19.10.2020, traf sich die Firmenleitung zu einer Krisensitzung. An der Spitze des langen Konferenztisches saß Mortimer Duke, der Firmeninhaber. Zu seiner Rechten sein Bruder Randolph, seines Zeichens CEO des Unternehmens. Auf den jeweiligen Plätzen die Bereichsleiter.

„Gentlemen. Ich habe sie heute zu dieser, zugegeben, ziemlich kurzfristigen Konferenz zusammengetrommelt, weil ich ihnen persönlich mitteilen will, wie es um die Zukunft der Firma bestellt ist.“, sagte Mortimer. 272

Die Bereichsleiter sahen die beiden Brüder an. Mortimer Duke war ein älterer Mann in den 80ern, ebenso wie sein Bruder Randolph. Allerdings unterschieden sich die beiden erheblich voneinander. Während Mortimer 1,79 m groß war sein Bruder Randolph 6 cm größer und maß 1,85 m. Man sah den beiden Männern an, dass sie gutes Essen durchaus zu schätzen wussten, denn sie hatten beide einen leichten Bauchansatz. Und noch etwas unterschied die beiden Brüder. Mortimer hatte ein ovales Gesicht und braune Augen, sein Bruder Randolph ein rundes Gesicht mit braunen Augen. Und während der jüngere der beiden Brüder, Randolph, sich jeden Morgen rasierte, trug sein älterer Bruder, Mortimer, einen Schnurrbart. Beide trugen die für Geschäftsleute typische Kleidung.

Mortimers Stimme holte die Anwesenden in die Gegenwart zurück.

„Unsere Firma hat in den letzten Monaten finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Sei es jetzt durch die Streichung kommunaler Fördergelder, oder das Ausbleiben neuer Kunden. Fakt ist leider, dass diese Gewinneinbrüche eine Umstrukturierung von Duke Advertisement Ltd. unumgänglich machen. Mein Bruder Randolph und ich haben uns zusammengesetzt und beratschlagt, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um so wenige Arbeitsplätze wie möglich zu vernichten. Deshalb bitten wir sie, uns einen kurzen Überblick über die Anzahl der Mitarbeiter in ihren Bereichen zu geben. Fangen wir mit ihrem Bereich an, Mr. Jenkins. Sie sind meines Erachtens für den Großraum New York City zuständig.“, sagte Mortimer.

„Ja, das stimmt, Mr. Duke. In meinem Bereich arbeiten 70 Leute in 10 Abteilungen.“

„Welche davon ist die effektivste?“, fragte Randolph Duke.

„Die von Mr. Howard. Danach kommt die von Melissa Conway.“

„Wir werden die Abteilung von Miss Conway auflösen, und einen Teil der Mitarbeiter Mr. Howard zuweisen.“, sagte Randolph.

Sein Bruder Mortimer kam mit der nächsten Frage.

„Wer arbeitet alles in Melissa Conways Abteilung?“, fragte er.

„Kevin McDyne und Catherine Parsons, Sir. Dann noch Leonard Weinstein, Jeffrey Gates, Bill Sullivan, Katie Love und Dennis Holbrooke.“

„Wir kennen Mr. McDynes Reputation, er ist ein hervorragender Mann. Deshalb schmerzt es mich, ihn zu entlassen. Und auch Miss Parsons hat in den zwei Wochen, in denen sie bei uns ist, einen hervorragenden Job gemacht. Und deshalb tut es mir weh, auch sie wieder wegzuschicken. Und Miss Conway wird auch gehen müssen.“, sagte Mortimer Duke. 273

„Ihnen ist schon klar, dass sie mir damit drei Leistungsträger nehmen, die ich nur sehr schwer ersetzen kann.“

„Mister Jenkins. Ich möchte ihnen eine Tatsache mal vor Augen führen. Ihr Bereich ist verglichen mit den anderen noch ziemlich gut weggekommen. Sie verlieren nur eine Abteilung. Mister Coleman verliert gleich 3 Abteilungen. Stellen sie sich mal seinen Unmut vor.“, sagte Randolph Duke.

Später am Tag trafen dann Melissa Conway sowie Kevin McDyne und Catherine Parsons in der Werbeagentur ein. Mortimer Duke hatte die drei einbestellt.

„Ich habe sie drei her gebeten, weil ich einige wichtige Neuigkeiten habe, die sie betreffen.“, sagte er als ihm das Trio gegenübersaß.

Catherine ahnte, dass diese Gesprächseröffnung nichts Gutes zu bedeuten hatte.

„Schlechte Neuigkeiten, Sir?“, fragte sie.

„Bedauerlicherweise, Miss Parsons. Sie drei gehören zu den besten Mitarbeitern hier.“

„Warum feuern sie uns dann, Mr. Duke?“, fragte Kevin gerade heraus.

„Weil die finanzielle Situation es nicht mehr zulässt, Mr. McDyne. Glauben sie mir, die Entscheidung, sie, Miss Parsons und Miss Conway zu entlassen, ist mir wirklich nicht leicht gefallen. Und keine Bange, sie drei kriegen noch ihr volles Gehalt für Oktober ausgezahlt.“

„Sollen wir heute noch was arbeiten?“, fragte Melissa.

„Nein, Miss Conway. Sämtlich Mitarbeiter, die von der Kündigung betroffen sind, sind mit sofortiger Wirkung vom Dienst freigestellt.“

Geknickt verließen Kevin, Melissa und Catherine die Firma, die ihnen in den letzten Wochen und Monaten ihr täglich Brot beschert hatte. In einem Cafe´ ließen die drei das ganze erst mal sacken.

„Ich kann es noch gar nicht glauben.“, sagte Catherine.

„Ich auch nicht. Wie soll es jetzt weitergehen?“

„Seht es mal so, Ladies, jetzt haben wir genug Zeit um unsere Reise nach Schottland zu planen.“, sagte Kevin.

„Auch wieder wahr. Aber es ist trotzdem irgendwo eine Scheißsituation.“

„Keiner hört gern, dass er seinen Job los ist, Melissa.“, sagte Kevin.

„Stimmt. Aber der Verlust schmerzt trotzdem.“ 274

Zurück in seinem Apartment setzte sich Kevin erst mal auf seine Couch. Catherine und Melissa waren in Catherines Apartment.

„Jetzt werde ich dieses Apartment wohl räumen müssen.“, dachte er.

Kevin war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, wie seine Mutter ins Wohnzimmer kam. Er bemerkte sie erst, als sie vor ihm stand. Nackt, so wie Gott sie geschaffen hatte, setzte sie sich auf den Sitzsack und sah ihn aus ihren braunen Augen an.

„Alles in Ordnung, Kevin?“, fragte sie sanft.

„Nein, Mutter.“

„Was ist los? Was bedrückt meinen Jungen?“, fragte Königin Jelena.

„Ich habe heute meinen Job verloren.“

„Tut mir leid das zu hören. Soll ich mit deinem Chef reden, und ein gutes Wort für dich einlegen?“, fragte die erste Königin der Kleeblattinsel.

„Den alten Duke stimmst du nicht um, Mutter. Wen er einmal feuert, den stellt er nicht mehr ein.“

„Kriegst du wenigstens noch dein Gehalt?“, fragte Jelena.

„Das hat er mir versprochen.“

„Wenigstens etwas. Kann ich sonst noch etwas tun, um dich aufzumuntern?“, fragte Jelena ihren Sohn.

„Geht schon. Aber ich bin nicht der einzige, der gefeuert wurde.“

„Wer denn noch?“, wollte Jelena wissen.

„Melissa und Catherine.“

„Warum denn das?“, fragte Jelena.

„Finanzielle Probleme. Unsere Abteilung wird aufgelöst und mit einer anderen zusammengelegt.“

„Das ist nicht gerecht, Kevin. Das ist einfach nicht fair. Ich meine, du reißt dir den Arsch auf, quälst dich aus dem Bett hetzt auf die Arbeit, um am Ende des Tages wieder müde und erschöpft in deine Furzmulle zu fallen.“, sagte Königin Jelena.

„Furzmulle?“

„So hat dein Vater immer liebevoll unser Bett genannt.“, sagte Kevins 275

Mutter.

„Was für ein Banause.“

„Es gab Tage, da konnte man deinen Vater partout nicht aus dem Bett kriegen. Ich konnte machen, was ich wollte, aber wenn Phil nicht aufstehen wollte, dann konnte ihn nichts und niemand umstimmen.“, sagte Jelena.

„Nicht mal seine eigene Ehefrau?“

Jelena lächelte.

„Die am allerwenigsten.“, sagte sie lachend.

„Auch wenn der Verlust meiner Arbeit schmerzt, versuche ich dennoch zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.“

„Sie es mal so, Kevin. Wenn du nach Hause kommst, brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, wie du über die Runden kommen sollst. Dann wird es dir an nichts fehlen.“, sagte Jelena. 276

Die Reise

Die Reise

Central Park, New York City

Catherine Parsons saß auf einer Bank am großen Weiher. Das tat sie immer, seit sie ihren Job in der Werbeagentur von Mortimer Duke verloren hatte. Sie war traurig. Denn sie hatte gerne in dieser Agentur gearbeitet. Ein junger Jogger machte seine Runde im Park, als er die zierliche Brünette auf der Bank sitzen sah, an der er immer Rast zu machen pflegte.

Er war ein 1,70 m großer, 27 Jahre alter, athletisch gebauter Mann mit schwarzen Haaren und braunen Augen. Das ovale Gesicht mit dem adrett rasierten Dreitagebart war ein echter Hingucker. Seine Nase war nicht zu dünn und nicht zu dick. Bekleidet war er mit einer schwarzen Jogginghose, einem auberginefarbenen eng anliegenden T-Shirt weißen Tennissocken und schwarzen Laufschuhen.

Der Jogger blieb stehen und beobachtete die junge Frau, die er auf 27 – 29 Jahre schätzte. Catherine Parsons war eine 1,71 m große Brünette mit braunen Augen und einem ovalen Gesicht. Ihre Nase hätte der junge Sportler als elegant bezeichnet. Ihre Haare trug Catherine Parsons offen, sodass sie weit über ihre Schultern fielen. Der Körper hätte glatt einem Supermodel gehören können. Bekleidet war Catherine mit einem schwarzen, eng anliegenden Minikleid und schwarzen High Heels.

Der junge Mann glaubte, dass er dieser Lady in Black schon einmal begegnet war. Aber wo? Dann fiel der Groschen. Diese Frau wohnte im selben Haus wie er. Nur eine Etage höher. Vorsichtig ging er ein paar Schritte auf seine Nachbarin zu.

„Alles in Ordnung, Miss Parsons?“, fragte er vorsichtig.

„Kennen wir uns?“

„Wir wohnen im selben Haus. Ich wohne ein Stockwerk unter ihnen, Miss Parsons.“, sagte der junge Mann.

„Oh… ja natürlich. Entschuldigen sie bitte. Ich bin im Moment etwas neben der Spur.“

„Entschuldigen sie bitte meine Offenheit, Miss Parsons. Aber sie sehen aus, als hätte man ihnen den Lutscher geklaut.“, sagte Catherines Nachbar.

„Ich hab gerade erst meinen Job verloren. Da kann ich nicht einfach weitermachen, als wäre nichts passiert.“

„Das verstehe ich. So was zieht einem den Boden unter den Füßen weg. 277

Wie unhöflich von mir, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Alan Painter.“, sagte Alan.

„Sehr erfreut. Aber sie verstehen meine Situation nicht wirklich, Mister Painter.“

Doch Alan Painter gab sich nicht so leicht geschlagen.

„Doch das verstehe ich sehr wohl, Miss Parsons. Ich habe erst gestern meinen Job verloren. Ich habe hier in dem Cafe auf der anderen Straßenseite als Barista gearbeitet. Vor kurzem gab es einen Pächterwechsel. Die neue hat mich einfach auf die Straße gesetzt. Genau wie ihr Chef sie auf die Straße befördert hat.“, sagte Alan.

Catherine runzelte die Stirn.

„Einfach so?“, fragte sie.

„Ich wollte nicht so wie sie wollte.“

„Was wollte sie denn?“, fragte Catherine.

„Na was wohl? Das berühmte Wort mit den Buchstaben S, E und X.“

„Lassen sie mich raten, Mr. Painter. Sie haben eine Freundin.“, sagte Catherine.

„Eben nicht. Und das war wohl der Grund, warum meine Ex-Chefin gedacht hat, sie könnte mich in ihr Bett holen. Aber ich bin keiner von denen, die nur mit ihrem „besten Stück“ denken.“

„So schätze ich sie auch gar nicht ein, Alan.“, sagte Catherine.

„Wenigstens eine, die mich nicht als Macho ansieht.“

„Was war eigentlich der Grund für ihren Rausschmiss?“, wollte Catherine wissen.

„Vergangenen Samstag kam meine Chefin mit einem roten Pailletten-Kleid und roten High Heels an und hat mich gefragt, ob mir ihr Aussehen gefällt?“

„Was haben sie ihr geantwortet?“

„Ich habe folgendes zu ihr gesagt: „Wenn du so im Wald stehst, steigen ja die Vögel hoch.“ Das wars, jetzt kennen sie meine Geschichte. Darf ich ihre hören?“

Catherine sah ihren Nachbarn an. Dann sagte sie: „Meine Geschichte ist zu verrückt, als dass sie sie glauben würden.“

„Finden sie, Catherine?“ 278

„Ich habe meinen Job verloren, weil in der Werbeagentur eine Umstrukturierung stattfindet. Meine Abteilung wurde aufgelöst. Finanzielle Engpässe.“, sagte Catherine.

„Und das finden sie verrückt?“

„Nein. Verrückt ist, was ich den letzten beiden Tagen über mich herausgefunden habe.“, sagte Catherine.

„Hat man ihnen nie erzählt, wer sie sind und woher sie kommen?“

„Nein. Man hat mich von vorn bis hinten verarscht.“, sagte Catherine Parsons.

„Verarscht? Was meinen sie, Catherine?“

„Was schätzen sie, wie alt ich bin, Alan?“, fragte Catherine ihren Nachbarn.

„Äh… 27?“

„So sehe ich aus, ja. Aber in Wirklichkeit bin ich 102.“, berichtete Catherine.

„WTF!? Darf ich fragen, wie das möglich ist?“

„Und genau, dass ist der verrückte Teil. Ich bin nicht in Dayton, Ohio geboren. Sondern auf eine Insel irgendwo im Pazifik.“, sagte Catherine.

„Die Kleeblattinsel?“

„Sie wissen davon?“, fragte Catherine baff.

„Mein Vater und meine Mutter haben nach der Insel gesucht. Sie wollten mich und meine Schwester Kimmy mitnehmen, aber wir hatten andere Pläne.“

„Wann war das?“, wollte Catherine Parsons wissen.

„Vor drei Jahren. Wieso fragen sie mich das, Catherine?“

Catherine stand auf.

„Komm heute um 18:00 zu mir. Und schau vorher noch einmal in deiner Abstellkammer nach, ob du nicht irgendwelche Gegenstände wie eine Schatulle und ein Buch findest. Kann auch sein, dass du ein Gemälde findest. Wundern würde es mich nicht.“, sagte Catherine und ging.

Alan Painter wollte ihr noch etwas hinterher rufen, doch sie war schon außer Hörweite. Ihr Nachbar setzte seine Runde fort, brach sie aber ab, als er merkte, dass er nicht ganz bei der Sache war. Alan Painter ging nach Hause, denn es war kühler geworden und der Himmel hatte sich zugezogen. Alan Painter war gerade durch die Wohnungstür gegangen, das fing es auch schon an zu regnen. 279

„Ah, schwarze Wolke. Du hast wieder nicht genehmigte Regentänze gemacht.“, hörte Alan eine Frauenstimme.

Kurze zeit später kam seine Schwester Kimmy aus dem Bad. Sie war eine 1,57 m große Brünette. Ihr rechter Oberarm wurde von einem Rosentattoo verziert. Ihr zierlicher Körper wurde von einem Handtuch bedeckt. Offenbar war Kimmy Painter gerade aus der Dusche raus. Sie hob den Kopf und sah ihrem älteren Bruder ins Gesicht.

„Alles in Ordnung? Du wirkst so nachdenklich, Bruder.“, sagte Kimmy.

„Ich habe vorhin im Park meine Nachbarin getroffen. Catherine Parsons. Wenn sie die Wahrheit gesagt hat, dann ist sie eine Prinzessin der Kleeblattinsel.“

„Der Insel, nach der Mom und Dad gesucht haben?“, fragte Kimmy.

Ihr Bruder nickte.

„Ja.“

„Meinst du, unsere Eltern leben noch?“, fragte sie ihn.

„Ich weiß es nicht.“

„Diese Ungewissheit macht mich noch krank.“, sagte Kimmy.

„GLAUBST DU MICH NICHT???“

Kimmy bekam einen Schreck, denn so hatte ihr Bruder sie noch nie angefahren.

„Tut mir leid, Alan. Ich… das hab ich nicht gewollt.“, sagte Kimmy.

„Schon gut, Kleines. Die Zeiten sind für uns beide hart.“

Alan Painter nahm seine Schwester in die Arme. Kimmy fing an zu weinen.

„Es kommt alles wieder ins rechte Lot. Wir haben schon so einiges durchgestanden, oder?“, sagte Alan zu Kimmy.

Diese nickte stumm.

„Hör zu. Miss Parsons hat mich heute zu eich eingeladen. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst.“, sagte Alan.

„Meinst du, dass deine Nachbarin nicht ausflippt, wenn du mich mitbringst? Immerhin hat sie nur dich eingeladen.“

„Wenn sie etwas weiß, dann hast du ebenso ein Recht darauf es zu erfahren, wie ich.“, sagte Alan zu seiner Schwester.

In seiner Wohnung saß Kevin mit seiner Mutter in der Badewanne. Die erste 280

Königin Oamarus wusch ihrem Sohn gerade den Rücken ab.

„Eigentlich kann ich das alleine.“, sagte Kevin mürrisch.

„Lass mir doch mal meine Freude, mein Junge. Ich hatte nie die Gelegenheit, dir mal den Rücken zu waschen. Vielleicht kriege ich sie nie wieder.“

„Sag doch sowas nicht, Mutter.“, sagte Kevin.

Jelena seufzte.

„Du bist in letzter Zeit so angespannt und gereizt. Bei unserem Wiedersehen war das noch ganz anders. Da warst du die Ruhe in Person.“, sagte sie dann.

„Damals wusste ich auch noch nicht, dass ich von meinem Brötchengeber den sprichwörtlichen Tritt in den Arsch kriege.“

„Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist. Und dass du dir Sorgen machst, von was du leben sollst, wenn dir das Geld ausgehen sollte. Ich hab dir ein bisschen was mitgebracht. Reichen 5.000 Dollar, mein Sohn?“, sagte Jelena.

„Als Notgroschen ist das leider nicht sehr viel. Aber fürs erste wird’s gehen.“

Später saßen Mutter und Sohn wieder im Wohnzimmer. Jelena trug wieder das rote Paillettenkleid, das sie am Tag ihres Wiedersehens getragen hatte. Auf dem Tisch vor der Couch standen zwei Becher mit Kaffee. Eine Zeitlang sagte keiner ein Wort. Bis Kevin das Schweigen brach.

„Darf ich dich mal was fragen, Mutter?“, fragte er Jelena.

„Nur zu.“

„Vor vier Tagen hast du mir eine Schriftrolle mitgebracht, die ein magisches Portal in Alenjas Reich öffnet. Und gestern erzählst du mir, dass der Eingang zu ihrem Reich in den schottischen Highlands zu finden ist. Was also stimmt jetzt?“, wollte Kevin von seiner Mutter wissen.

Diese tat sich mit der Antwort etwas schwer.

„Im Großen und Ganzen stimmt beides. Allerdings ist die Nutzung der Schriftrolle mit nicht unerheblichen Risiken verbunden.“, sagte Jelena.

„Was denn für Risiken?“

„Es hängt davon ab, wie man die Zauberformel, die das Portal öffnet, aufsagt. Wenn du ein Wort falsch aussprichst, landest du überall, nur nicht in Alenjas Reich. Du kannst zum Beispiel im Reich der Bergtrolle landen. Und mit denen ist nicht zu spaßen.“, sagte Jelena. 281

„Dann korrigiert man einfach, Mutter.“

„Das kannst du knicken, mein Junge. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich dir gesagt, dass du das Portal nur EINMAL öffnen kannst. Wenn du also beim Aufsagen einen Fehler machst, und woanders rauskommst, dann bist du dort gestrandet. Und das für immer.“, sagte Königin Jelena.

Um 18:00 Uhr klingelte es an der Tür von Catherine Parsons Apartment. Königin Eliskas Tochter sah durch den Türspion. Vor der Tür stand ihr Nachbar Alan Painter. Doch er war nicht allein. Eine Frau war bei ihm. Catherine öffnete die Tür und ließ ihren Nachbarn und dessen Begleiterin eintreten. Im Wohnzimmer stellte Alan Painter seiner Nachbarin seine Begleiterin vor.

„Darf ich vorstellen: Meine jüngere Schwester Kimmy.“, sagte er und ergänzte: „Und das ist meine Nachbarin Catherine Parsons.“

„Freut mich sehr, Miss Parsons.“, sagte Kimmy und hielt Eliskas Tochter die Hand hin.

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Bitte setzt euch. Möchtet ihr was zu trinken?“

„Gern. Ich bin eher der Orangensafttrinker.“, sagte Alan.

„Dafür bin ich auch zu haben.“

„Alles klar. Bin gleich zurück.“, sagte Catherine.

Kimmy sah, wie ihr älterer Bruder seiner Nachbarin hinterher sah.

„Zugegeben, sie ist wirklich sexy.“, sagte sie deshalb.

„Obwohl man ihr das Alter gar nicht ansieht.“

„Was meinst du, Alan?“, fragte Kimmy.

„Catherine hat mir heute, als ich sie im Central Park getroffen habe, verraten, dass sie 102 ist.“

Kimmy sah ihren Bruder entgeistert an. Musste sie sich Sorgen um ihn machen? War es möglich, dass er sogar den Verstand verloren hatte?

„102 Jahre?“, fragte sie deshalb noch einmal nach.

„102 Jahre.“

„Und das ist kein Scherz?“, fragte Kimmy.

„Kein Scherz.“ 282

„Wie ist das möglich? Ich meine, welcher Mensch kann seine natürliche Schönheit bis ins hohe Alter bewahren?“, fragte Kimmy weiter.

„Jemand, der aus der heiligen Quelle trinkt, oder in ihr ein Bad nimmt.“

Unbemerkt hatte Catherine Parsons wieder den Raum betreten und nahm Kimmy Painter genauer in Augenschein.

Alan Painters jüngere Schwester war eine 25jährige, 1,57 m große Brünette mit braunen Augen und Haaren, die bis zur Armbeuge reichten. Kimmy hatte einen schlanken Körper, der dem eines Models glich. Das Rosentattoo auf ihrem rechten Oberarm fiel Catherine sofort auf. Kimmy Painter hatte ein ovales Gesicht mit einer grazilen Nase, deren Flügel leicht in die Breite gingen. Bekleidet war Alan Painters jüngere Schwester mit einem petrolfarbenen Kleid mit Rosenmuster und schwarzen Riemchensandalen. Um den Hals trug sie eine Kette mit fünf Smaragden.

Catherine Parsons setzte sich in einen schwarzen Schwingsessel und bat ihre Gäste, auf der Couch gegenüber Platz zu nehmen. Dann richtete sie das Wort an Alan Painter.

„Habt ihr in eurer Abstellkammer nachgesehen?“, fragte Catherine.

„Ich hab das erledigt, bevor mein Bruder nach Hause kam.“

„Deswegen die Dusche.“, sagte Alan zu Kimmy.

„Ja. Und das Ergebnis war, um es vornehm auszudrücken, mager.“

„Was hast du gefunden?“, fragte Catherine.

Kimmy legte eine Pergamentrolle auf den Tisch. Catherine nahm sie und löste das rote Brokatband. Dann entrollte sie die Rolle. Die Zeichnung zeigte einen Gebirgskamm, in den eine Art Tor eingearbeitet war. Der obere Teil erinnerte an einen Totenschädel, obwohl die elfenbeinernen Stoßzähne gar nicht zu einem Menschen gehörten. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Catherine, dass der Eingang eher dem Schädel eines Mastodon, eines Urzeitelefanten, ähnelte. Ein Pfad schlängelte sich von den Hügeln zum Eingang der Höhle. Catherine war sich sicher. Die Zeichnung auf dem Pergament stellte den Eingang zu Alenjas Reich dar. Sie nickte.

„Gut. Das ist schon mal was. So wissen wir wenigstens, worauf wir achten müssen. Kennt ihr euch in der Gegend um Loch Ness eigentlich aus?“, sagte sie dann.

„Wir kommen von dort. Unsere Großeltern haben dort eine kleine Pension. Dort könnten wir unterkommen.“ 283

„In Ordnung. Aber verratet mir noch eines. Warum wollt ihr meinen Cousin und mich auf unserer Reise unbedingt begleiten?“, sagte Catherine Parsons an die Geschwister gewandt.

Kimmy Painter sah sie mit einem entschlossenen Blick an. Dann sagte sie: „Unsere Eltern sind seit drei Jahren verschollen. Wir haben Fragen, auf die wir Antworten wollen.“

Catherine Parsons hatte eine zu gute Menschenkenntnis, um nicht zu ahnen, dass nichts und niemand die beiden Geschwister davon abhalten würde, sie und ihren Cousin auf ihrer Reise zu begleiten. Das Klingeln ihres Smartphones riss Eliskas Tochter aus ihren Gedanken.

„Parsons.“, meldete sie sich.

„Kevin hier. Hast du Zeit?“

„Ich hab gerade Besuch. Ist es wichtig?“, fragte Catherine.

„Wir müssen schon morgen aufbrechen. Ein Hurrikan nähert sich der New Yorker Küste. Wenn die Daten der Meteorlogen stimmen wird er übermorgen die Küste Manhattans erreicht haben.“

„Danke für deine Info, Cousin. Hör zu mach du die Flugtickets klar. Aber buche für 6 statt für 4 Leute.“, sagte Catherine.

„Warum denn dieses?“

„Meine Besucher sind ein Geschwisterpaar, deren Eltern seit drei Jahren verschollen sind. Und selbst du wirst sie nicht davon abbringen können, uns zu begleiten.“, sagte Catherine.

„Was bitte schön haben die beiden mit unserer Heimat zu tun?“

„Das mögen sie dir selbst sagen.“, sagte Catherine und aktivierte den Lautsprecher ihres Telefons.

„Mein Name ist Alan Painter. Ich bin der Nachbar von Miss Parsons. Unsere Eltern haben zuletzt nach der Kleeblattinsel gesucht. Und ich denke meine Schwester hat Recht, wenn sie sagt, dass wir ein Recht darauf haben, zu erfahren, was passiert ist.“, sagte Alan Painter.

„Einverstanden. Allerdings will ich euch nicht belügen. Das könnte eine gefährliche Angelegenheit für uns alle werden. Denn unser Gegenspieler ist nicht zu unterschätzen.“

„Darf man nach dem Namen fragen?“, fragte Kimmy.

„Man darf. Hier kennt man ihn als Toshiro Kamaru. Sein richtiger Name 284

ist allerdings Tosh Kamar.“

Catherine Parsons beendete das Telefonat. Dann wandte sie sich wieder an Alan und Kimmy.

„Hört zu. Packt nur das nötigste zusammen und kommt dann wieder zu mir. Dann brauche ich nicht bei euch klingeln.“, sagte sie.

Am nächsten Morgen traf sich die kleine Reisegruppe am John F. Kennedy International Airport. Kevin hatte einen Last-Minute-Flug nach Edinburgh entdeckt und noch 5 Tickets ergattern können. Es war noch mitten in der Nacht als ein Taxi die Gruppe abgeholt, und zum Flughafen gebracht hatte. Den Check-In hatte man ohne Probleme erledigen können. Auch die Sicherheitsschleuse passierten Kevin McDyne und seine Cousine Catherine Parsons und die anderen ohne Probleme. Tosh Kamar hätte am liebsten den Kurs des Hurrikans beschleunigt, besann sich aber eines anderen. Sollten Jelenas und Eliskas Kinder ruhig nach Schottland reisen. Dort würde er dafür sorgen, dass sie und ihre Begleiter ihr Ende fanden.

Um 10:00 Uhr startete die Maschine. Es war ein Airbus A380-800 der Lufthansa. Der deutsche Pilot schob die Gashebel des europäischen Großraumflugzeugs nach vorne, und die Maschine beschleunigte. Nach einer Flugzeit von 6 Stunden und 30 Minuten landete die Lufthansa-Maschine auf dem Edinburgh Airport. Von dort aus ging es mit einem Regionalzug nach Inverness und von dort mit einem Bus nach Drumnadrochit. Dort mietete sich das Quintett in der Pension von Alan und Kimmys Großeltern ein.

Beim Abendessen leisteten die Großeltern der beiden Geschwister den Reisenden Gesellschaft. Kevin und Catherine erzählten ihnen ihre Geschichte. Kimmy stellte Fragen zum Verbleib ihrer Eltern.

„Seit dem Tag ihres Aufbruchs haben wir nichts mehr von euren Eltern gehört. Was wir aber mit definitiver Sicherheit wissen, dass sie ab hier nur noch eine Maschine benutzt haben. Die andere haben sie hier zurückgelassen.“, sagte Alan und Kimmys Großvater.

„Warum? Das sieht den beiden nicht ähnlich. Sie haben immer zwei Flugzeuge genommen, damit einer zurückkehren kann, wenn der andere es nicht schafft.“

„Die Maschine eurer Mutter hatte einen Defekt und war nicht flugfähig. Sie wollte aber nicht zurückbleiben. Wir haben alles versucht, um sie umzustimmen. Aber ihr kennt eure Mutter. Sie kann so stur sein.“, sagte der alte Mann.

Die Tage vergingen wie im Flug. Doch dann war der Tag gekommen, an dem Kevin und Catherine zusammen mit Melissa und den Geschwistern zu Alenja gehen mussten. Alans und Kimmys Großeltern brachten sie mit ihrem alten Land Rover zu dem Ort, an dem sich das Felsentor befand. 285

„Lebt wohl. Und hoffentlich könnt ihr eure Aufgabe vollenden und diesem Tosh Kamar in den Arsch treten.“, sagte die Großmutter der Geschwister.

„Na, na. Was sind denn das für Töne, Caroline?“

Kevin trat noch einmal vor die beiden Senioren.

„Vielen Dank für ihre Gastfreundschaft und auch für ihre Unterstützung.“, sagte er.

„Nicht der Rede wert, Kevin. Und jetzt geht, sonst kommt ihr zu spät.“

Die fünf gingen auf den Eingang der Höhle zu. Kurz vorher drehten sie sich noch einmal um. Die beiden alten Leute waren schon aufgebrochen.

„Allright. Lets go.“, sagte Catherine.

Melissa entzündete ein kleines Irrlicht, das vor ihnen her hüpfte. Hinter dem Eingang führte eine Wendeltreppe die kleine Gruppe nach unten. Überall an den Wänden konnten die fünf Reisenden keltische Symbole erkennen. Auf einer Ebene führte ein Tunnel nach rechts. Doch das Irrlicht ignorierte ihn, als ob es wusste, wohin es gehen musste. Auf der nächsten Ebene führte eine Steinbrücke über einen Abgrund. Das Irrlicht ignorierte auch diese und führte die kleine Gruppe noch weiter nach unten.

In seinem Reich unter dem Ozean fluchte Tosh Kamar. Dieses miese kleine Irrlicht machte alle seine Pläne zunichte. Doch er wusste aber auch, wenn er dieses kleine Lichtwesen jetzt vernichtete, würde das sofort Liasanya auf den Plan rufen. Und sie würde mit ihm kurzen Prozess machen. Auf der anderen Seite, so musste er sich eingestehen, hatte die kleine Gruppe noch eine weitere weibliche Person dabei. Wenn es ihm gelang, Kimmy Painter in der heiligen Quelle zu schwängern, dann konnte er nicht nur die Kleeblattinsel vernichten, sondern auch das Götterreich erobern. Und wenn Tosh Kamar ehrlich zu sich selbst war, dann war es doch geschickter, Kevin und Catherine mit Melissa und den Geschwistern nach Oamaru reisen zu lassen, und sie an der heiligen Quelle in Empfang zu nehmen.

Erst auf der dritten und letzten Ebene bog das kleine Irrlicht in einen Gang ab. Die Dunkelheit dort, schien die kleine Gruppe regelrecht zu erdrücken. Kimmy fing an zu frösteln, doch sie blieb tapfer. Doch sie bekam einen ordentlichen Schreck als vor ihnen eine riesige Spinne aus der Dunkelheit auftauchte. 286

Alenja

Alenja

Das riesige Insekt versperrte den fünf Reisenden den Weg. Keiner wagte es, sich zu bewegen, geschweige denn, auch nur einen Laut von sich zu geben. Denn zu beiden Seiten, des Ganges waren Löcher in den Wänden zu erahnen, in denen ebenfalls solche achtbeinigen Monster lauern mochten. Kimmy fühlte, wie Panik in ihr aufstieg, denn sie hatte eine Heidenangst vor Spinnen. Doch lange musste sie nicht leiden, denn aus der Dunkelheit erklang eine Frauenstimme.

„Genug jetzt! Du hast deinen Spaß gehabt, Gedren. Und jetzt: Husch, husch ins Körbchen.“, sagte die Stimme.

Widerwillig kroch die Spinne von dannen. Kaum hatte sie den Weg frei gemacht, da erschien aus dem Dunkel eine Frau. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Auch ihre Haare waren schwarz und reichten bis zur Oberkante ihrer Brüste. Braune Augen, die in einem ovalen Gesicht ruhten, musterten die Neuankömmlinge. Die Nase war lang und schmal. Aus dem Rücken wuchsen Knochen, die an die Beine einer Spinne erinnerten. Ihre Arme steckten in schwarzen Handschuhen, die fast bis zu den Achselhöhlen reichten.

„Seid willkommen, Fremde.“, sagte die unbekannte Frau.

„Ich nehme an, dass ihr Alenja seid.“

„Nein. Mein Name ist Sinja. Alenja ist meine Herrin. Wenn ihr die Güte haben wollt, mir zu folgen.“, sagte Sinja und ging in den Gang zurück.

Melissas Irrlicht folgte ihr. Kevin und die anderen folgten direkt dahinter. Und im Vorbeigehen bewahrheitete sich Kimmys Befürchtung. In jedem Loch auf beiden Seiten des Ganges lauerte eine Spinne auf Beute. Doch geblendet durch Melissas Irrlicht, war es den Tieren unmöglich eine gezielte Attacke zu starten.

Der Gang mündete in einem großen Raum. Kevin und Catherine sahen sich aufmerksam um. In der Mitte des Raumes stand ein großer Thron aus massivem Granit. Auf ihm saß eine Frau. Genau wie Sinja ganz in schwarz gekleidet. Allerdings waren ihre Haare, die ebenfalls schwarz waren, jedoch kürzer und reichten nur bis zur Schulter. Alenja hatte im Gegensatz zu ihrer Dienerin jedoch grüne Augen, in denen Eiseskälte lag. Und noch etwas unterschied Herrin und Dienerin. Bei der Wächterin fehlten die spinnenähnlichen Knochenwüchse. Und nicht nur das. Alenjas schwarzes Kleid war im Schulterbereich mit mehreren schwarzen Stoffstreifen verziert, während Sinjas Kleid im Bauchbereich transparent war. Und dieser Unterschied war bei weitem nicht der einzige, der den Reisenden auffiel. Während Sinja, die Dienerin schwarze Schuhe mit flachen Absätzen trug, verzichtete ihre Herrin komplett auf jegliches Schuhwerk, wie ein Fuß zeigte, der auf einem vorgelagerten Steinblock ruhte. 287

Alenja musterte die Neuankömmlinge, die den Weg zu ihr gesucht und gefunden hatten.

„Seid willkommen in meinem Reich. So nennt mir nun euer Begehr.“, sagte die Wächterin mit einer weichen, gutmütigen Stimme.

„Wir wünschen, nach Oamaru zu reisen.“

„Nennt mir den Grund für eure Reise.“, sagte Alenja.

„Unsere Heimat wird bedroht. Von Tosh Kamar.“

Es war Catherine, die geantwortet hatte.

Dann sah Alenja die Geschwister an.

„Welchen Grund habt ihr, auf die Insel zu reisen?“, fragte sie dann.

„Unsere Eltern sind vor drei Jahren aufgebrochen, um nach der Insel zu suchen. Man nie wieder etwas von ihnen gehört. Wir wollen herausfinden, was passiert ist.“

Kimmy hatte geantwortet.

Alenja legte ihre Fingerspitzen aneinander. Dann richtete sie wieder das Wort an Kimmy und Alan Painter.

„Ich gehe davon aus, dass ihr die beiden Bücher nicht gelesen habt. Dennoch gewähre ich euch die Fortsetzung eurer Reise.“, sagte die Wächterin und sagte zu Kevin, Catherine und Melissa gewandt: „Nun denn. Seid ihr bereit für meine Fragen?“

Kevin nickte kurz.

„Gut. Aber bevor ich anfange, möchte ich euch zeigen, was euch erwartet, wenn ihr eine falsche Antwort gebt.“, sagte Alenja.

Die Wächterin klatschte in die Hände. Eine Seitentür öffnete sich und zwei maskierte Gestalten führten zwei Frauen herein. Kimmy Painter nahm die beiden genauer in Augenschein. Obwohl beide gleich groß waren, Kimmy schätzte die Größe auf 1,70 m, konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Zwar hatten beide Frauen braune Augen, aber damit endeten die Gemeinsamkeiten. Denn die eine der beiden Frauen hatte feuerrote Haare, ihre Begleiterin grüne. Und noch etwas fiel Alan Painters jüngerer Schwester auf. Gestik und Mimik unterschieden sich ebenfalls. Während die Grünhaarige vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, war der Rotfuchs eher ängstlich und unterwürfig. Und noch etwas fiel Kimmy auf. Beide Frauen trugen auf dem linken Oberarm eine merkwürdige Tätowierung. 288

Alenjas Stimme riss Kimmy Painter aus ihren Gedanken.

„Würdest du bitte zu mir kommen, Kimmy?“, fragte Alenja.

Kimmy nickte stumm und stieg die Stufen des Throns empor. Oben angekommen sagte Alenja: „Setz dich bitte zu mir.“

Kimmy tat, wie ihr geheißen. Alenja sah sie aus ihren grünen Augen an.

„Was denkst du, hat es mit den Malen der beiden Frauen auf sich?“, fragte die Wächterin Alan Painters Schwester.

„Ich bin mir nicht sicher. Aber… es könnte ein Bindemal sein.“

„Gut beobachtet. Es ist ein Bindemal. Und die Rothaarige ist die, die gebunden wurde. Siehst du? Das Mal auf dem Oberarm der Grünhaarigen ist seitenverkehrt. Das heißt, dass sie das Mädchen an sich gebunden hat. Solange die Rothaarige ihr Mal trägt, wird sie sterben, wenn die Grünhaarige stirbt.“, sagte Alenja.

„Kann man denn nichts zu ihrer Rettung tun?“

„Doch, Kimmy. Man muss nur das Mal entfernen. Aber das wird diese Hexe nicht zulassen, dessen kannst du sicher sein.“, sagte Alenja.

Dann wandte sich die Wächterin an den Rotfuchs.

„Wie ist dein Name?“, fragte sie das Mädchen.

Die Frau mit den grünen Haaren wollte schon zu einer Antwort ansetzen, doch Alenja gebot ihr mit einer entsprechenden Geste zu schweigen.

„Dich habe ich nicht gefragt. Deine Begleiterin soll selbst antworten.“, fauchte Alenja die Hexe an.

Das Mädchen antwortete nur zögernd.

„Mein… Name ist… Illasera.“, sagte die Rothaarige.

Kimmy beugte sich zu Alenja herunter.

„Ich möchte nicht, dass Illasera sterben muss, wegen dieser Bitch. Wenn es sein muss, werde ich das Mal entfernen“, flüsterte sie der Wächterin ins Ohr.

„Dein Mut ehrt dich. Aber es ist ein magisches Mal. Nur ich habe genug Macht, um es zu entfernen. Willst du, das ich es versuche?“

Kimmy nickte.

„Ich bitte dich darum.“, sagte sie. 289

Alenja richtete das Wort wieder an Illasera.

„Würdest du bitte zu mir kommen?“, bat sie die Rothaarige.

Illasera wollte sich in Bewegung setzen, doch die Grünhaarige hielt sie mit einer energischen Geste zurück.

„Du gehst nirgendwo hin. Du weißt wo dein Platz ist.“, sagte sie zu Illasera.

Alenja sah Kimmy an.

„Was habe ich dir gesagt, Kimmy? Sie wird sie nicht freiwillig gehen lassen.“, sagte sie.

Dann wandte sich die Wächterin wieder an Illasera.

„Komm zu mir.“, sagte sie erneut.

Und dieses Mal ging das rothaarige Mädchen zu ihr. Immer einen Fuß vor den anderen setzend.

„Komm sofort zurück!“, rief die Hexe.

Doch Illasera reagierte nicht. Sie ging weiter.

„Hast du nicht gehört, was ich dir befohlen habe?“, schrie die Grünhaarige.

Doch das Mädchen zeigte noch immer keine Reaktion. Illasera setzte weiterhin einen Fuß vor den anderen. Sie hatte den Thron schon erreicht, da zuckte aus heiterem Himmel vor ihren Augen ein Blitz in den Boden.

„Wenn ich sage, du kommst zurück, dann kommst du gefälligst zurück. Hast du mich verstanden, Illasera.“, rief die Hexe.

Doch ihre einstige Weggefährtin stieg die Stufen des Throns empor. Vor Alenja kniete sie nieder. Die Wächterin streckte ihre linke Hand aus und fuhr sanft über das Mal am Oberarm Illaseras.

„Rühr sie nicht an!“, keifte die Grünhaarige.

Nun riss Kimmy der Geduldsfaden. Sie spielte mit dem Gedanken, sich vor dieser widerwärtigen Schnepfe aufzubauen und ihr ihre Meinung offen und schonungslos ins Gesicht zu sagen. Doch sie besann sich eines Besseren. Denn hier auf dem Thron wäre sie durch die magischen Kräfte Alenjas geschützt. Zumindest hoffte sie das. Doch ihren Zorn konnte sie nicht mehr zügeln.

„Kannst du nicht mal für 5 Minuten die Schnauze halten? Du nervst.“, sagte Kimmy.

„Wer bist du eigentlich, dass du die Wächterin in Schutz nimmst?“ 290

„Nenn mich ruhig Kimmy. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“, konterte Kimmy Painter.

„Ich bin Morgana. Und nur damit du bescheid weißt, du freche Göre. Illasera gehört mir. Und das bleibt so.“

„Mann halt doch einfach mal dein vorlautes Mundwerk. Bei deinem Gekeife bekommt man ja einen Tinitus.“, sagte Kimmy.

„Für diese Frechheit wirst du mir büßen, Kimmy. Ich werde dich erst in eine Kröte verwandeln und dann werde ich Illasera töten.“

„Halts Maul, Morgana.“, sagte Kimmy.

Zum allerersten Mal erhob Alenja ihre Stimme.

„Es reicht jetzt! Dies ist mein Reich. Und in meinem Reich gelten meine Gesetze, Morgana. Du wirst das Mal von Illaseras Arm entfernen. Weigerst du dich, werde ich das machen.“, sagte sie.

Doch Morgana dachte gar nicht daran, Illasera freizugeben. Sie gehörte ihr, und das würde so bleiben.

„Wage es ja nicht, das Mal zu entfernen, Wächterin.“, sagte sie zu Alenja.

Kimmy mischte sich wieder ein.

„Sonst was?“, fragte sie zynisch.

„Das wirst du schon sehen, du vorlaute Göre.“

„Was gibt dir das Recht, Illasera gegen ihren Willen an dich zu binden?“, fragte Kimmy.

„Eigentlich geht es dich nichts an, aber da du ohnehin sterben wirst, kann ich es dir ruhig sagen. Ich frage nicht, ob jemand von mir gebunden werden will, ich tu es einfach. Und dann ist es mir gleich, ob die Person will oder nicht. Illasera ist da keine Ausnahme. Sie gehört mir und dabei bleibts.“

„Du widerst mich an, Morgana.“, sagte Kimmy.

Morgana kochte innerlich vor Zorn. Sie wusste, Alenja würde das Mal entfernen, wenn sie es nicht verhinderte. Sie wollte einen Zauber wirken, um den Todeszauber im Mal auszulösen, doch sie kam nicht mehr dazu. Denn Sinja, Alenjas Dienerin hatte einen Zauber gewirkt, der Morganas Körper zu deren Gefängnis machte. Auf diese Weise ihrer magischen Kräfte beraubt, blieb Morgana nichts anderes übrig, als hilflos mit anzusehen, wie die Wächterin Illaseras Mal entfernte. Sie stieß einen lauten Wutschrei aus. 291

„Musst du so rumbrüllen? Soll uns vielleicht die Decke auf den Kopf fallen, du klingonischer Vollpfosten?“, fragte Kimmy genervt.

„Das wäre das richtige Ende für euch. Ihr Diebe. Ihr habt mir Illasera gestohlen.“

„Das sind Anschuldigungen, die du erst einmal beweisen musst, du Backpflaume.“, sagte Kimmy.

Nun schaltete sich Alenja wieder ein.

„Ich finde es reicht jetzt. Wir können diese Diskussion noch ewig weiterführen. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass du meine Gesetze gebrochen hast, Morgana. Und auf Gesetzesbruch steht bei mir die Todesstrafe.“, sagte die Wächterin.

An Kimmy gewandt fuhr sie fort: „Wenn du willst, darfst du bestimmen, wie Morgana sterben soll.“

„Ich finde, das soll Illasera selbst entscheiden.“

Nun schaltete sich Catherine Parsons in dieses Gespräch ein.

„Ich denke, dass die Strafe für Morgana, entsprechend der Schwere ihrer Verbrechen verhängt werden sollte.“, sagte sie.

Alenja nickte.

„Wohl wahr.“, sagte sie und fuhr an Illasera gerichtet fort: „Würdest du mir berichten, wie Morgana dich behandelt hat?“

Die junge Adeptin nickte.

„Morgana sucht immer nach den schönsten Frauen für ihre Goblins. In der Regel sind das die Töchter armer Bauern. Und sie sucht gerade nach jungen Mädchen, die magische Kräfte besitzen. Aber nicht um sie zu unterweisen, sondern um sich ihre Kräfte anzueignen. Danach sind die Mädchen Freiwild für die Goblins.“, sagte Illasera.

„Du lügst doch wie gedruckt. Warte nur, wenn wir wieder zu Hause sind. Dann erwartet dich eine harte Strafe.“

Kimmy hatte genug. Sie stürmte auf Morgana zu und verpasste ihr eine Ohrschelle, die die Hexe von den Beinen holte.

„Gehörst du schon zur Fraktion der Kalkleisten oder bist du von vornherein so schlecht möbliert im Oberstübchen?“, fragte sie kalt.

Doch bevor Morgana antworten konnte, hatte ihr Kimmy ihren rechten Fuß auf den Kehlkopf gestellt und fixierte sie so am Boden. 292

„Nur damit wir uns klar verstehen: Ich kann solche hinterhältigen Bitches wie dich nicht leiden.“, sagte Kimmy.

Morgana wollte Kimmys Fuß nach oben drücken, um etwas erwidern zu können, doch Kimmy fixierte weiter am Boden.

„Du bist echt das allerletze, Morgana. Ne miese Ratte bist du. Ne ganz miese. Wenn ich sowas wie dich schon sehe, kriege ich das heilige Kotzen.“, sagte Kimmy.

Inzwischen hatte Illasera ihren Bericht beendet.

„Was denkst du, wäre die gerechte Strafe für Morgana, Illasera?“, fragte Alenja.

„Der Tod. Sie hat es verdient zu sterben. Aber es soll kein schneller Tod sein. Tausend mal soll die Sonne über den Himmel ziehen. Tausend mal sollen sich die Wellen des Ozeans an den Ufern brechen. Morgana soll leiden, so wie ich leiden musste.“

Kimmy rieb sich nachdenklich das Kinn, ehe sie mit einem Vorschlag aufwartete.

„Wie wäre es, wenn wir Morgana in einem Treibsand, - oder Moorloch versinken lassen?“, schlug sie vor.

„Das wäre genau das richtige Ende für dich, du unverschämte, vorlaute Göre.“

Nur mühsam hatte Morgana diese Worte hervorbringen können.

„Wenn du nicht willst, dass ich dir die Zunge rausreiße, dann halt die Schnauze.“, sagte Kimmy.

Alenja meldete sich zu Wort.

„Dein Vorschlag ist gar nicht mal so schlecht. Aber du hast Illasera gehört. Sie will, dass ihre Peinigerin leiden muss.“, sagte sie.

„Und warum spielt ihr dann nicht Mind Games?“

Die Adeptin und die Wächterin wechselten einen fragenden Blick. Schließlich wandte sich Illasera an Kimmy.

„Was sind eigentlich „Mind Games“? Dieses Wort höre ich heute zum ersten Mal.“, sagte sie.

„Das sind Psychospielchen. Es gibt keinen besseren Weg als einen Menschen psychisch zu brechen.“

„Dann soll es so geschehen.“, sagte Alenja.

Sinja, ihre Dienerin, räusperte sich. Die Wächterin sah sie an.

„Du willst mir etwas mitteilen, Sinja?“, fragte Alenja.

Sinja nickte.

„Bitte, ich höre.“, sagte die Wächterin.

„Herrin, wäre es nicht besser Morgana in Gedrens Reich zu schicken? Ihr wisst, wie sehr sie es liebt, mit Todgeweihten Kopfspielchen zu spielen.“

„Illasera?“, richtete Alenja das Wort an die junge Adeptin.

„Das ist die angemessene Strafe. So soll sie sterben.“

Morgana wurde von zwei Wächtern in die Mitte genommen, und auf Geheiß ihrer Herrin zu einer Tür gebracht, die in der Wand versteckt war. Die Wächter stießen die grünhaarige Hexe unsanft durch die Tür, die sich gleich hinter ihr wieder schloss. Wie von Geisterhand wurde der Fels durchsichtig und ein Wald wurde sichtbar. Auf den ersten Blick wirkte alles ganz friedlich. Doch das änderte sich, als wie von Geisterhand eine Höhle sichtbar wurde, in der eine blaue Tarantel ungeduldig mit ihren Beinen scharrte.

„Das ist Gedren. Ihr seid ihr schon begegnet.“, sagte Alenja.

Kimmy erinnerte sich. Und daran, wie sehr sie das vier Stockwerke große Insekt erschreckt hatte. Alenjas Stimme holte sie zurück in die Gegenwart.

„Willst du die Jagd eröffnen, Kimmy?“, fragte die Wächterin.

„Dein Angebot ehrt mich. Aber diese Ehre sollte einzig und allein Illasera gebühren.“

„Wie du willst.“, sagte Alenja.

Illasera drückte auf einen versteckten und im Wald glitt lautlos eine Felstür zur Seite, die Gedren den Weg nach draußen ebnete. Morgana hatte aber einige Schutzzauber gewirkt, die es der blauen Spinne unmöglich machen sollten, ihre mentale Barriere zu durchbrechen. Allerdings war auch die blaue Tarantel ein Geschöpf der Magie und brauchte solche einfachen Schutzzauber nicht zu fürchten. Morgana hatte gerade einen kleinen Bach erreicht, als das riesige blaue Insekt hinter einem Hügel auftauchte, und auf sie zu kam. Morgana schleuderte einen Energieblitz, doch dieser tötete Gedren nicht. Die Hexe bekam es mit der Angst zu tun. Doch noch blieb sie standhaft.

Doch dann hörte die Grünhaarige Stimmen in ihrem Kopf. Gedren hatte ihre Schutzzauber überwunden und ihre mentale Barriere gebrochen.

Du kannst mir nicht entkommen. Dies ist mein Reich. Du kannst dich verstecken so oft du willst, ich werde dich immer finden, du dumme kleine Hexe. 293

Morgana verschwand in einer Wolke aus weißem Rauch und kam auf einem Felsplateau wieder heraus. Doch lange konnte sie nicht verschnaufen, denn sie sah die blaue Tarantel den Gipfelweg heraufkommen.

Hihihi. Ich sagte doch, ich finde dich. Wohin wirst du als nächstes flüchten wollen? Sag nichts, lass mich raten: Zu den Feuerbergen. Doch wisse, ich werde immer einen Schritt vor dir da sein.

Morgana verschwand wieder in einer Wolke aus weißem Rauch, nur um in einem Moorgebiet wieder aufzutauchen. Sie hatte sich gerade an einen Felsen gelehnt, als sie wieder Gedrens Stimme in ihrem Kopf vernahm.

Du bist wirklich saudumm.

„WO BIST DU?“, schrie Morgana.

Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Dreh dich mal um.

Morgana drehte sich um und sah, wie die Spinne über eine Hügelkette auf sie zukam. Auf dem vorletzten Hügel blieb Gedren erst einmal stehen.

Und wohin jetzt? Wenn du ins Moor läufst kann ein falscher Schritt den Tod für dich bedeuten.

Die blaue Tarantel machte zwei Schritte auf Morgana zu.

Du solltest dich entscheiden. Je länger du zögerst, umso schmäler werden deine Chancen, nicht von mir gefressen zu werden.

Gedren machte noch einen weiteren Schritt. Morgana wandte sich um und rannte voller Furcht ins Moor. Die Spinne folgte ihr die ersten Meter. Doch dann nahm sie eine Abzweigung, die einen Ring um die vielen Moorlöcher bildete. Von dort aus führten Pfade zu den Löchern. Morgana hingegen rannte um ihr Leben. Sie sah immer wieder nach hinten, um zu sehen, ob Gedren ihr noch folgte, und achtete nicht darauf, wo sie hinrannte. Und so übersah sie ein Moorloch. Erst als sie bis zu den Knien im Morast steckte, erkannte die Hexe die Gefahr in der sie schwebte. Panik stieg in ihr auf, und sie versuchte sich mit hektischen Bewegungen aus dem Moorloch zu befreien. Doch durch ihre Bewegungen sank sie immer tiefer. Als ihr der Morast bis zu den Brüsten reichte, kam Gedren hinter einem Stein hervor und blieb vor dem Moorloch stehen.

Es hält einen wie der Teufel nicht wahr? Aber wehre dich nicht! Versuche ganz ruhig zu bleiben. Keine Panik! Der einzige Weg herauszukommen ist der sich hinzulegen. Dadurch verteilst du dein Gewicht gleichmäßiger auf der Oberfläche. Dann könnest du versuchen, dich auf festen Boden vorzuarbeiten. Die 294

Chancen stehen deutlich gegen dich. Ich habe schon so viele Männer und Frauen auf diese Weise ertrinken sehen. Ich nehme an, das menschenfreundlichste wäre es, dich von deinem Elend zu erlösen.

Die blaue Tarantel stieß einen markerschütternden Schrei aus. Morgana zuckte zusammen und sank noch einmal tiefer. Sie wehrte sich aus Leibeskräften, doch das Moor zog sie immer tiefer. Bald war ihr Kopf im Morast verschwunden. Nur noch ihre rechte Hand war zu sehen, die aber ebenfalls im Moor versank.

Die Felswand materialisierte wieder. Alenja richtete das Wort wieder an die Reisenden.

„Nun habt ihr einen Vorgeschmack auf das bekommen, was euch erwartet, wenn ihr auch nur eine einzige Frage falsch beantwortet. Seid ihr bereit?“, sagte sie.

Ein einstimmiges Nicken folgte.

„Dann hört meine erste Frage. Nennt mir den Namen von Blackbeards Schiff.“, sagte Alenja.

Kevin antwortete.

„Es war die „Queen Anne’s Revenge“.“, sagte er.

Alenja nickte.

„Gut. Die Frage ist damit richtig beantwortet. Nächste Frage: Wie heißt das Schiff, auf dem Dirk Hemmler als Heizer diente?“, sagte Alenja.

„Es war der große Kreuzer „Goeben“.“

Catherine Parsons hatte geantwortet.

„Auch das ist korrekt. Kommen wir nun zur dritten und letzten Frage. Nennt mir den Wahlspruch der HMS Repulse. Sowohl in Latein, als auch in eurer Sprache.“, sagte Alenja.

„Der Spruch lautet: „Qui Tangit Frangatur“. In unserer Sprache bedeutet das: „Wer (mich) berührt, soll zerbrochen werden!“.“

Es war Melissa, die auf diese Frage geantwortet hatte.

„Ich sehe, ihr habt aufgepasst. Nun gut. Ich gebe den Weg nach Oamaru frei.“, sagte Alenja.

Dann öffnete sie ein Tor, das den direkten Weg zur Kleeblattinsel bildete. Catherine ging als erste und war bald verschwunden. Kevin wollte gerade gehen, als ihn Illasera zurückhielt. 295

„Bitte. Nehmt mich mit. Ich kann nicht mehr in meine Heimat zurück. Und ich möchte nicht hier bleiben.“, sagte sie.

Kevin sah die anderen verbliebenen an. Ein einstimmiges Nicken war die Antwort. Alan Painter half der jungen Adeptin auf die Beine und sie hakte sich bei ihm unter. Dann gingen Kevin und Melissa Arm in Arm durch das Tor und kamen in Jelenas Palast wieder heraus. Kurz darauf kam Kimmy Painter und nach ihr Alan Painter und Illasera.

Die junge Rothaarige sah sich um. Offenbar befanden sie sich in einem Baderaum. 296

Tosh Kamars Ende

Tosh Kamars Ende

Eine Seitentür öffnete sich und Königin Jelena betrat den Raum. Wie damals an jenem Tag, als Kevins Vater auf Oamaru gestrandet war, trug die erste Königin wieder ihren Bademantel aus edelster Seide. Sie kam auf Kevin und die anderen zu und lächelte gütig.

„Willkommen zu Hause mein Sohn. Lass dich von deiner Mutter mal umarmen.“, sagte Jelena und nahm Kevin in die Arme.

Dann wandte sie sich an Catherine.

„Schön dich zu sehen, Nichte. Lass dich drücken.“, sagte Kevins Mutter und drückte ihre Nichte.

Melissa Conway war die dritte, die von der ersten Königin der Kleeblattinsel herzlich begrüßt wurde. Doch dann entdeckte Jelena die beiden Geschwister und Illasera.

„Und wen habt ihr mitgebracht?“, fragte sie ihren Sohn.

„Alan und Kimmy Painter und eine junge Adeptin. Ihr Name ist Illasera.“

„Seid willkommen in meinem Haus.“, sagte Jelena.

Illasera tippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Sie wusste nicht, wie sie diese Geste der Gastfreundschaft erwidern sollte. Zumal sie einer Königin gegenüberstand. Kevins Mutter musterte die junge Adeptin. Illasera war 1,62 m groß und hatte feuerrote Haare, die bis zur Oberkante ihrer Brüste reichten. Sie besaß ein ovales Gesicht mit braunen Augen, in denen sich der seelische Schmerz der jungen Frau wiederspiegelte.

„Wie sehr hat sie leiden müssen.“, schoss es Jelena durch den Kopf.

Da die junge Adeptin außer schwarzen, halterlosen Nylonstrümpfen und schwarzen, fast bis zur Achselhöhle reichenden Handschuhen nichts trug, konnte Königin Jelena einen intensiven Blick auf Körper und Brüste erhaschen. Als Illasera dies jedoch bemerkte, bedeckte sie Brust und Scham mit ihren Händen und sah verlegen zu Boden. Jelena hatte dafür Verständnis. Daher schenkte sie der jungen Adeptin ein gütiges, warmherziges Lächeln.

„Du brauchst dich deines Körpers nicht zu schämen, Illasera.“, sagte Jelena.

Die Worte von Königin Jelena taten der jungen Frau gut. Sie waren wie Balsam für ihre geschundene Seele. Noch nie hatte jemand zu ihr gesagt, dass sie schön war. Illasera fing an zu weinen. Kimmy Painter legte ihr eine Hand auf die Schulter. 297

„Es ist keine Schande, wenn man weint. Manchmal kann es befreiend sein, zu weinen.“, sagte sie.

Illasera wurde von ihren Gefühlen übermannt. Sie ging in die Knie und kippte auf die rechte Seite weg. Nun weinte sie hemmungslos. Königin Jelena wandte sich an ihren Sohn Kevin und die anderen.

„Würdet ihr uns bitte allein lassen?“, fragte sie.

„Wenn du schon so lieb darum bittest, Mutter.“

Eine Dienerin der ersten Königin Oamarus führte das Quintett in eines der Nebenbadezimmer. Königin Jelena blieb mit Illasera zurück. Sie ließ ihren Bademantel Fallen und kniete sich neben die junge Frau. Ganz sanft strich Jelena der Rothaarigen durch ihre Haare und sprach ganz sanft mit ihr.

„Es wird alles gut. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Hier bist du frei. Hier wird dir niemand mehr etwas tun.“, sagte die Königin.

Jelenas Worte und ihre zärtlichen Streicheleinheiten beruhigten Illasera. Schließlich richtete sie sich auf und sah Jelena aus ihren braunen Augen an.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Jelena.

„Besser. Ihr seid die erste Person, die nett zu mir ist.“

„Waren die anderen denn nicht nett zu dir?“, wollte Jelena wissen.

„Nein. Ich habe zu keinem Zeitpunkt ein freundliches Wort gehört. Oder wurde für das, was ich getan habe gelobt. Mich hat niemand in den Arm genommen und getröstet, wenn ich traurig war. Ich wurde immer nur kritisiert und herum geschubst.“

„Wenn du willst kannst du hier bei uns auf Oamaru bleiben. Aber du kannst auch gehen, wenn du möchtest. Keiner wird dich zurückhalten, wenn du diesen Weg wählen solltest.“, sagte die erste Königin.

„Ich möchte bleiben.“

„Es freut mich, dass du hier auf der Insel bleiben willst.“, sagte Jelena.

Illasera lehnte ihren Kopf an die Schulter der Königin und schloss die Augen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, geliebt und akzeptiert zu werden. Und zum ersten Mal fühlte sie sich geborgen.

Später am Abend hatten sich alle im großen Speisesaal versammelt. Es fehlten nur noch die Königin und Illasera.

„Wo bleiben die beiden bloß“, fragte Kimmy in die Runde.

Catherine zuckte mit den Schultern.

„Immer mit der Ruhe. Vielleicht hat die Suche nach einem passenden Outfit für Illasera etwas länger gedauert.“, sagte sie dann.

Schließlich kamen Königin Jelena und Illasera. Im Gegensatz zu Kevins Mutter, die wieder ihr rotes Paillettenkleid trug, trug die junge Adeptin ein fast bis auf den Boden reichendes, eng anliegendes und figurbetonendes schwarzes Kleid, passend zu ihren Handschuhen.

Nach dem Abendessen bat Königin Jelena ihren Sohn und die anderen in der Bibliothek noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken.

„Was hat dein Weinkeller denn so zu bieten, Mutter?“, fragte Kevin.

„Das hängt von deinem persönlichen Geschmack ab, Kevin.“

Kevin kratzte sich verlegen am Kopf. Denn eigentlich war er nicht der große Weintrinker. Und nicht bloß das. Er trank auch so gut wie keinen Alkohol. Seiner Mutter entging das Kratzen nicht.

„Stimmt was nicht, mein Junge?“, fragte Jelena deshalb.

„Nun ja… ich trinke so gut wie keinen Alkohol. Hast du vielleicht roten Traubensaft mir für mich?“

„Wenn´s nur das ist.“, sagte Jelena.

Als die Sonne am Horizont versank sah Königin Jelena durch eines der Fenster auf den Ozean hinaus.

„Tosh Kamar ist allgegenwärtig. Sein Riesenkalmar taucht zwar nicht wie damals aus den Fluten auf und peitscht das Wasser. Aber man hört seine Schreie.“, sagte sie.

„Ist das der Grund für deine schlimmen Träume, Mutter?“

„Mitunter, Kevin. Aber du hast selbst am eigenen Leib erfahren, wozu Tosh Kamar in der Lage ist. So wie er sich zu deinen Träumen Zugang verschaffen kann, so kann er es auch bei mir.“, sagte Jelena.

„Wir sollten ihn nicht unterschätzen.“

Kimmy schaltete sich in die Konversation ein.

„Wie sieht der nächste Schritt aus?“, fragte sie.

„Melissa muss in der heiligen Quelle baden, damit sich ihre magischen Kräfte voll entfalten können.“ 298

Alan Painter rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Tosh Kamar wird dies sicher verhindern wollen.“, sagte er dann.

Jelena nickte.

„Das wird er. Er wurde schon einmal um seine Rache betrogen. Ein zweites Mal wird er das sicher nicht zulassen. Aber wir müssen jetzt vorsichtig sein. Denn Tosh Kamar wird es entweder auf Illasera oder auf deine Schwester abgesehen haben.“, sagte die erste Königin der Kleeblattinsel.

„Wie bitte!?“

„Du hast mich richtig verstanden, Kimmy. Tosh Kamar wurde von Iduna für seinen Verrat mit einer seltenen Blutkrankheit bestraft. Er kann diesen Fluch nur aufheben, wenn er sich mit einer Frau aus eurer Welt paart und ein Kind mit ihr zeugt.“, sagte Jelena.

Alan richtete eine weitere Frage an die Königin.

„Wird er nicht dennoch versuchen, Melissa zu töten? Einfach um auf Nummer sicher zu gehen?“

„Diese Möglichkeit besteht durchaus.“, sagte Jelena.

Illasera meldete sich zu Wort.

„Ich könnte Melissa beschützen. Das einzige was ich brauche ist ein Dolch.“, sagte sie.

„Tosh Kamar könnte aber versuchen, dich als sein Werkzeug zu benutzen, um Melissa zu töten.“

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Kevin. Ich bin alles, aber nicht schlecht möbliert im Oberstübchen.“, sagte Illasera.

Nach Einbruch der Dunkelheit gingen alle zu Bett. Tosh Kamar sah seine Stunde gekommen. Diese Adeptin, Illasera, war ein Geschenk des Himmels. Er würde sie korrumpieren und sie dazu bringen, Melissa Conway zu töten. Danach würde er Kimmy Painter in der heiligen Quelle schwängern. Das war zumindest sein Plan.

Illasera war gerade eingeschlafen, als sie dem bösen Herrscher im Traum begegnete.

„Du wolltest doch einen Dolch, oder etwa nicht?“, fragte Tosh Kamar Illasera.

„Und wenn schon. Das geht sie nichts an.“

„Aber, aber. Ich will dir helfen, Illasera.“, sagte der böse Herrscher. 299

„Auf ihre Hilfe gebe ich keinen Pfifferling. Königin Jelena hat mir alles über sie erzählt.“

„Dann solltest du auch meine Sicht der Dinge hören. Erst dann vermagst du dir ein Urteil zu bilden.“, sagte der Böse.

„Warum sollte ich ihnen glauben?“

„Ob du mir glaubst oder nicht, überlasse ich dir. Was nun aber den Dolch angeht, so darfst du ihn behalten.“, sagte Tosh Kamar.

„Wieso gebt ihr mir eine solche Waffe? Ich meine, ihr tut das nicht einfach so. Da steckt doch eine Absicht dahinter.“

„Natürlich überlasse ich dir den Dolch nicht einfach so. Alles hat seinen Preis. Und für dieses hübsche Artefakt schuldest du mir einen Gefallen.“, sagte der Verräter.

„Was verlangt ihr von mir?“

„Ich will, dass du Melissa Conway tötest, wenn sie in der Quelle badet. Danach werde ich mir Kimmy Painter vornehmen. Sie ist nämlich genau die richtige für meine Pläne.“, sagte Tosh Kamar.

„Angenommen, ich würde euch helfen, eure Pläne zu verwirklichen. Was hätte ich als Belohnung zu erwarten?“

„Macht. Die Macht über diese Insel hier. Du wärest die alleinige Herrscherin über die Kleeblattinsel.“, sagte der böse Herrscher.

„Wer garantiert mir, dass ihr mich nicht über den Tisch zieht, Tosh Kamar?“

„Eine Garantie gibt es nicht. Aber jetzt muss ich gehen. Der Dolch liegt auf deinem Nachttisch. Wenn die Zeit reif ist, wirst du wissen, was du zu tun hast, Illasera.“, sagte Tosh Kamar, ehe er in einer Wolke aus weißem Rauch verschwand.

Am nächsten Morgen fand Illasera, als sie erwachte, tatsächlich einen Dolch auf ihrem Nachttisch. Die Klinge war 30 cm lang und war aus Damaststahl geschmiedet worden. Der Griff war aus purem Gold und mit Rubinen und Smaragden verziert. Illasera verstand, was das zu bedeuten hatte. Dies sollte die Waffe sein, die Melissa Conway töten sollte. Illasera beschloss, sich Königin Jelena anzuvertrauen. Doch bedauerlicherweise kannte sich die rothaarige Adeptin im Palast von Kevins Mutter nicht aus und hatte sich bald verlaufen. Zum Glück begegnete die junge Adeptin, Jelenas persönlichem Diener Jean-Pierre.

„Hast du dich etwa verirrt?“, fragte er Illasera. 300

„Ich wollte zu Königin Jelena. Aber ich kenne mich hier noch nicht aus.“

„Königin Jelena schläft noch. Und ich kann dir eines sagen: Sie hasst es, wenn sie geweckt wird.“, sagte Jean-Pierre.

„Was passiert dann?“

„Wenn du Glück hast, dann kriegst du nur ein Kissen ab. Aber wenn sie richtig grantig ist, dann kann es auch sein, dass sie einen ihrer Pantoffeln nach dir wirft. Und glaub mir, Königin Jelena kann verdammt gut zielen.“, sagte der Diener.

Jean-Pierre führte Illasera zu den königlichen Gemächern. Doch eine Frage beschäftigte ihn. Er wollte wissen, was eine Adeptin war. Hatte er diesen Begriff doch noch nie gehört.

„Darf ich dich was fragen?“, fragte Jean-Pierre Illasera.

„Nur zu.“

„Was ist eigentlich eine Adeptin? Ich habe noch nie von so etwas gehört.“, sagte Jelenas Diener.

„Als Adepten oder Adeptinnen bezeichnet man Menschen, die in alte Künste, wie Alchemie, eingeweiht sind, oder die Anhänger solcher alten Wissenschaften sind.“

„Verstehe. Okay, wir sind da. Äh… wie ist eigentlich dein Name?“, sagte Jean-Pierre.

„Illasera. Und wie heißt du?“

„Jean-Pierre. Ich bin Königin Jelenas persönlicher Diener.“, sagte Jean-Pierre.

Illasera klopfte zaghaft an die Tür zu Königin Jelenas Schlafgemach. Es dauerte eine Weile, doch dann hörte die junge Adeptin die Stimme der Königin.

„Wer ist da?“, fragte Jelena.

„Illasera.“

„Komm rein.“, sagte die Königin.

Illasera betrat das Gemach. Die erste Königin Oamarus saß in ihrem Bett. Sie sah Illasera an.

„Was führt dich zu mir, Illasera?“, fragte Jelena.

„I… ich wollte… euch fragen, ob ihr vielleicht… einen Augenblick für… mich erübrigen könnt?“ 301

„Für dich immer. Komm, setz dich zu mir.“

Die junge Frau setzte sich auf die Bettkante und sah der Königin in die Augen.

„Ich sehe, dass dich etwas beschäftigt. Willst du mit mir darüber reden?“, fragte Jelena.

Illasera nickte.

„Dann bitte.“, sagte die Königin.

„Heute Nacht, ist mir eine merkwürdige Kreatur im Traum erschienen.“

„Kannst du sie mir beschreiben?“, fragte Jelena.

Wieder nickte Illasera.

„Dieses Geschöpf hatte rote Augen. Außerdem sind mir die Mufflonhörner an beiden Seiten des Kopfes aufgefallen. Und dann die Klauenhände.“

„War sonst noch etwas auffällig?“, fragte Jelena.

„Die Haut hatte an mehreren Stellen des Kopfes mehrere Auswüchse. Diese Kreatur trug ein blaues Gewand mit braunem Lederkragen.“

„Dann war es Tosh Kamar, der dir im Traum erschienen ist. Was wollte er von dir?“, fragte Jelena weiter.

„Er verlangte von mir, dass ich Melissa Conway töte, wenn sie in der Quelle badet. Danach will er sich Kimmy Painter vornehmen. Er hat etwas mit ihr vor. Aber ich weiß nicht was.“

„Es gibt nur eine logische Erklärung. Tosh Kamar will Kimmy schwängern, um Idunas Fluch von sich zu nehmen. War das alles, was er dir gesagt hat?“, sagte Jelena.

„Nein. Er hat noch gesagt, dass der Dolch, mit dem ich Melissa töten soll, auf meinem Nachttisch liegt. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, habe ich auf besagtem Tisch, diesen Dolch hier gefunden.“

Illasera reichte den Dolch an die erste Königin weiter. Jelena begutachtete die Waffe und sah dann die junge rothaarige Adeptin an.

„Du hast gut daran getan, sofort zu mir zu kommen. Ich danke dir für deine Aufrichtigkeit.“, sagte die Königin.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Hat Tosh Kamar noch etwas zu dir gesagt, bevor er verschwunden ist?“, fragte Königin Jelena. 302

„Ja. Er sagte, wenn die Zeit gekommen ist, würde ich wissen, was ich zu tun habe.“

„Du hast gesagt, dass du Melissa Conway beschützen wirst. Gilt dein Versprechen noch?“, sagte Jelena.

„Mehr als alles andere.“

„Gut. Es gibt etwas, was du wissen solltest. Melissa muss bei Vollmond in der Quelle baden. Erst dann wird sie ihre magischen Kräfte voll einsetzen können.“, sagte Kevins Mutter.

„Weiß sie es schon?“

„Nein. Ich sage es ihr beim Frühstück.“, sagte Jelena.

Bereits drei Tage nachdem Tosh Kamar Illasera den Dolch überlassen hatte war es dann soweit. Angeführt von Königin Jelena machten sich Kevin und die anderen auf den Weg zur heiligen Quelle. Auch die anderen drei Königinnen waren mitgekommen. Dirk Hemmler und Lars Eric Holm waren ebenfalls dabei. Beide hatten mit Tosh Kamar noch eine Rechnung zu begleichen, hatte er doch ihre Freunde Phil Taylor und Jewgeni Moskrovnovitch mit seinen Machtblitzen kaltblütig umgebracht.

Als der Mond aufging hatte die Gruppe die Quelle erreicht. Am Ufer des Sees stand Amelia mit ihrer Schülerin AJ. Als der Mond voll aufgegangen war, zog Melissa ihre Kleider aus und ging, gefolgt von Illasera, in die Quelle.

Tosh Kamar verfolgte dies mit Freude. Es lief alles genau so, wie er es geplant hatte. Unbemerkt trat er hinter einem Busch hervor und packte Kimmy Painter von hinten. Als nächstes ließ der böse Herrscher Kimmys Bruder und die anderen außerhalb der Quelle in ihrer Bewegung erstarren.

„Wenn dir das Leben deiner Freunde etwas wert ist, dann sei brav und tu was ich dir sage.“, sagte er. An Illasera gewandt fuhr er fort: „Die Zeit ist reif, Illasera. Töte Melissa!“

„W… was soll ich tun?“, fragte Kimmy leise.

„Zieh dich aus. Und mach keine Dummheiten. Vergiss nicht, dass ich deine Freunde mit einem einzigen Fingerschnips ins Jenseits befördern kann.“

Kimmy kam Tosh Kamars Aufforderung nach. Schließlich hatte sie keine andere Wahl. Denn der Böse hatte ihren Bruder mit einem magischen Würgegriff in seiner Gewalt. Als auch ihr Slip fiel, grinste der böse Herrscher diabolisch.

„Gut. Sehr gut. Jetzt befriedige dich selbst. Ich will, dass du schön nass bist, wenn wir uns paaren.“, sagte er. 303

Kimmy sah hilfesuchend zu Königin Jelena. Doch diese nickte mit einem resignierenden Ausdruck in ihrem Gesicht. Kimmy griff sich zwischen die Beine. Und fing an, Tosh Kamars Wunsch nachzukommen.

„Du machst das gut. Braves Mädchen. Du darfst dich glücklich schätzen, dass du meine Kinder auf die Welt bringen darfst.“, sagte Tosh Kamar.

Schließlich bugsierte Tosh Kamar sein hilfloses Opfer in Richtung Quelle. Auf diesen Augenblick hatte Illasera gewartet. Sie stieß den Dolch durch die Wasseroberfläche in Tosh Kamars Spiegelbild und zog ihn aufwärts. Ein brennender Schmerz durchfuhr den Körper des schändlich bösen. Ungläubig schaute er die junge Adeptin an. Sie hatte ihn verraten.

„Glaubst du Scheusal wirklich, ich lasse mich kaufen?“, fragte Illasera.

„Diesen Verrat wirst du mir büßen, verfluchtes Miststück.“

„Irrtum, Tosh Kamar. Büßen wird nur einer. Und das bist du. Lass Kimmy los. Und dann kämpfe mit mir.“, hörte Tosh Kamar Melissas Stimme hinter sich.

Nur widerwillig ließ er Alan Painters Schwester los. Dann wandte er sich unter Schmerzen zu Melissa Conway um. Nackt, so wie Gott sie geschaffen hatte, stand sie vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. Von ihrem Körper rannen noch die Tropfen vom Bad in der Quelle.

„So. Und jetzt werden wir diese Angelegenheit ein für allemal zu Ende bringen.“, sagte Melissa.

„Aber gerne doch. Dir blas ich noch das Licht aus.“

Melissa hob ihre Arme und entfesselte einen Wirbelsturm, wie er auf Oamaru noch nie vorgekommen war. Tosh Kamar wurde von den Füßen geholt und durch die Luft gewirbelt, ehe die heilige Eiche an der Quelle seinem Flug ein schmerzhaftes Ende bereitete. Der böse Herrscher revanchierte sich auf seine Art und Weise. Er ließ Melissa Conway in einem Moorloch versinken. Doch seine Gegnerin war nicht auf den Kopf gefallen. Als sie bis zu den Brüsten im Morast steckte, sorgte sie mit einem Zauberspruch dafür, dass sie nicht weiter einsank. Danach ließ sie einen Feuerzauber auf Tosh Kamar los, indem sie einen goldenen Drachen herbeirief. Die mächtige Echse spie einen langen und verdammt heißen Feuerstrahl, der den bösen Herrscher ohne Vorwarnung erwischte. Gegen das Feuer des Drachen hatte Tosh Kamar nicht den Hauch einer Chance.

Nachdem der Drache mit dem Feuerspeien aufhörte, verschwand er genauso schnell, wie er erschienen war. Von Tosh Kamar blieb nicht einmal Asche übrig. Melissa befreite sich aus dem Moorloch und kletterte ans Ufer.

„Geht’s dir gut, Melissa?“, fragte Kevin. 304

„Mach dir nicht ins Hemd Kevin. Ich bin vielleicht etwas dreckig vom Morast, aber das kann man auch wieder abwaschen.“

Kimmy eilte auf Melissa zu und umarmte sie. Das sie dadurch etwas Moorschlamm abbekam kümmerte sie nicht.

„Danke, Melissa.“, sagte sie schluchzend.

Dann fing sie an zu weinen.

Melissa legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Hab ich doch gern gemacht. Außerdem hätte ich dich nie im Stich gelassen.“, sagte Melissa. 305

Epilog

Epilog

Tosh Kamar war tot. Nachdem der goldene Drache ihn vernichtet hatte, war mit einem lauten Donnerschlag sein Fluch aufgehoben worden. Königin Wioletta und Königin Shakira waren nun wieder fruchtbar. Am darauffolgenden Tag hatten sich alle in Wiolettas Palast zu einer kleinen Feier versammelt. Im großen Saal, in dem für gewöhnlich die Besprechungen abgehalten wurden, fand das Fest statt. Königin Wiolettas Küchenchefs hatten sich schwer ins Zeug gelegt, und ein Buffet gezaubert, dass diesem besonderen Anlass würdig war. So waren neben verschiedenen Suppen, wie Aalsuppe, auch andere Delikatessen zu finden. Auch Hummer war dabei. Doch Kevin konnte vielen der Gerichte, die die Köche zubereitet hatten, nicht viel abgewinnen. Er war die New Yorker Kost gewohnt. Doch er probierte wenigstens, einfach um die Chefs de Cuisine seiner Patentante nicht zu kränken.

Er sah gerade zu einem der Fenster hinaus, als ihm seine Patentante von hinten die Augen zuhielt.

„Lass das, Tante.“, sagte er.

„Mist. Du merkst aber auch alles.“

Dann trat Wioletta neben ihr Patenkind.

„Du denkst doch an irgendetwas Kevin. Willst du mit mir darüber reden?“, sagte die dritte Königin.

„Ich finde es nicht gerecht, dass Alan und Kimmy Painter immer noch nicht wissen, was mit ihren Elter passiert ist. Sie haben so oft gefragt, wenn wir uns getroffen haben. Aber immer sind sie auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Warum sagt man den beiden einfach nicht die Wahrheit? Sie haben ein Recht darauf.“

„Man kann nichts weitergeben, was man nicht weiß, Neffe. Wir haben den Absturz der Maschine beobachtet. Die Krieger der Stämme durchkämmen noch immer das Gebiet rund um die Absturzstelle. Aber von den Insassen fehlt bisher jede Spur.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und zwei Krieger der Hoda betraten den Raum. Wioletta wandte sich ihnen zu.

„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte sie dann.

„Mylady, einer unserer Suchtrupps hat zwei Menschen gefunden. Einen Mann und eine Frau. Der Mann ist tot. Die Frau lebt noch.“

„Wie ist ihr Zustand?“, fragte Kevin. 306

„Kritisch. Es ist ein Wunder, dass die beiden überhaupt solange durchgehalten haben.“

„Was meint ihr damit?“, fragte Wioletta.

„Das einzige, was wir in Erfahrung bringen konnten, ist, das beide ein Ehepaar sind und sie seit drei Jahren durch den Dschungel irren. Danach hat die Frau das Bewusstsein verloren.“

„Wie lauten die Namen der beiden?“, fragte Wioletta vorsichtig.

„Wir kennen nur den Namen der Frau. Sie heißt Belmira Painter.“

„Das ist der Name unserer Mutter.“, entfuhr es Kimmy.

„Wo ist sie jetzt?“

„Wir hielten es für angebracht, sie schnell herzubringen. Sie befindet sich jetzt im Ruheraum. Allerdings ist es nicht ratsam, sie jetzt schon aufzusuchen. Sie ist immer noch bewusstlos. Außerdem ist sie stark dehydriert. Wenn sie nicht bald Flüssigkeit zu sich nimmt, wird sterben.“, sagte einer der Hoda.

„Ich werde das sofort veranlassen.“

Wioletta klatschte in die Hände und ließ ihren Leibarzt rufen. Nach dem dieser seine Anweisung erhalten hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Patientin.

Es dauerte drei Tage, bis die Mutter von Alan und Kimmy das Bewusstsein wieder erlangte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie ihren Sohn und ihre Tochter neben dem Bett sitzen.

„Wie geht es dir, Mom?“, fragte Kimmy.

„Frag nicht nach Sonnenschein, Kimmy. Ich fühle mich hundeelend.“

„Mom. Du lebst, das ist alles was im Moment zählt.“, sagte Kimmy.

„Aber dein Vater nicht. Er starb als er mir zu Hilfe eilen wollte.“

„Was ist passiert, Mom?“, fragte Alan.

„Ein Tiger ist aus heiterem Himmel dem Dickicht aufgetaucht. Wir haben ihn nicht gehört. Erst als er direkt vor uns stand und seine Zähne gefletscht hat, haben wir ihn wahrgenommen. Euer Vater hat sofort seinen alten Army Revolver auf das Tier gerichtet und abgedrückt. Aber der Tiger konnte entkommen.“

„Und weiter?“, fragte Kimmy.

„Wir sind gerannt. Aber der Tiger war uns auf den Fersen. Jedes Mal, wenn wir dachten wir wären in Sicherheit, hat er uns wieder aufgestöbert. Vor drei 307

Tagen hat er uns wieder gefunden. Und dieses Mal hatte euer Vater nur noch eine Patrone. Er sagte, ich soll laufen. Er würde den Tiger aufhalten. Ich… blieb bei ihm. Euer Vater hat noch mit dem Tiger gekämpft, bis dieser ihn auf den Rücken geworfen und ihm die Kehle durchgebissen hat. Dann kamen die Hoda. Sie haben den Tiger getötet.“

Es dauerte noch eine ganze Woche, bis sich Belmira Painter so weit wieder erholt hatte, dass sie ihr Krankenlager verlassen konnte. Ihre Kinder waren die ganze Zeit bei ihr und löcherten sie mit Fragen. Doch dann war auch für sie der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihrer Mutter Rede und Antwort stehen mussten.

„Warum? Warum nur seid ihr uns gefolgt?“, fragte Belmira ihre Kinder.

„Was hättest du an unserer Stelle getan, wenn wir nicht zurück gekehrt wären?“

„Ich hätte euch gesucht. Und ich hätte mir unvorstellbare Sorgen gemacht. Am Ende hätte ich mir sogar noch schwere Vorwürfe gemacht, dass ich euch hätte gehen lassen.“, sagte Belmira zu Kimmy.

„Und fast genau so ist es uns ergangen, Mom. Wir haben uns richtige Sorgen gemacht. Wir sind innerlich fast daran zerbrochen.“

Belmira bekam einen Schreck. Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Ich hätte in Schottland bleiben sollen. Oh wenn ich das nur gewusst hätte.“, sagte sie.

„Jetzt mach mal halb lang, Mom. Wir sind hier. Und wir sind wieder zusammen. Ich denke, Dad wäre stolz auf uns.“

„Bestimmt wäre er das. Er hätte euch vielleicht zuerst eine Standpauke gehalten, weil ihr einfach losgezogen seid. Aber dann hätte er euch umarmt und euch gesagt, wie stolz er auf euch ist.“

Königin Wioletta machte gerade ihren Nachmittagsspaziergang durch den Garten ihres Palastes, als sie an den Rosenbüschen vorbeikam. Dort saßen bereits Belmira und ihre Kids. Wioletta nahm Belmira Painter genauer in Augenschein. Die Mutter von Alan und Kimmy war eine 1,69 m große Frau mit einem Modelkörper und einer entsprechenden Oberweite. Belmira hatte schwarze Haare, die sie offen trug, sodass sie bis zum oberen Ansatz ihrer Hüfte reichten. In ihren Haaren steckte eine Guzmanie. Alan und Kimmys Mutter hatte ein rundes Gesicht mit braunen Augen.

Wioletta freute sich für Alan und Kimmy. Hatten sie doch zumindest ihre Mutter wiedergefunden. Sie beschloss den dreien etwas Gesellschaft zu leisten. 308

„Was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?“, fragte sie freundlich.

„Ich bin die letzte, die „NEIN“ sagt.“

„Danke, Kimmy.“, sagte Königin Wioletta und setzte sich auf einen freien Stuhl.

Dann wandte sie sich an Belmira Painter.

„Ich finde ihren Vornamen sehr hübsch. Hat er eine Bedeutung?“, fragte sie.

„Belmira ist portugiesisch und bedeutet „Schöner Stern“.“

„Ein schöner Name. Meiner ist einer Blume nachempfunden. Wioletta bedeutet „Veilchen“.“, sagte Wioletta.

„Auch ein schöner Name. Ich danke ihnen dafür, dass sie mich und auch meine Kinder hier aufgenommen haben.“

„Ist nicht der Rede wert. Hier auf Oamaru ist Gastfreundschaft eine der am meisten geschätzten Tugenden.“, sagte Wioletta.

9 Monate später

Eine kleine Gruppe hatte sich an der heiligen Quelle eingefunden. Königin Wioletta und Königin Shakira waren von Belmira Painter und ihrer Tochter Kimmy in die Quelle geführt worden, wo sie sich auf den Rücken legten. Als die Wehen einsetzten waren Belmira und Kimmy helfend zur Stelle und begleiteten die beiden Königinnen auf diesem schmerzhaften Weg. Nach einer Stunde brachte Wioletta eine Tochter auf die Welt. Sie nannte das Mädchen, auf Anraten von Belmira Painter, Dayani. Shakira, ihre Schwester, gebar einen Sohn, den sie Finn nannte.

20 Jahre später

Dayani stand am Strand und sah auf den Ozean hinaus. Sie nahm einen tiefen Atemzug und ließ das Panorama auf sich wirken. Dann schloss sie die Augen und ließ sich in den Sand fallen. Die aufgehende Sonne streichelte ihre Haut. Dayani fühlte sich geborgen. Hier auf Oamaru hatte sie alles, was sie zum Leben brauchte.

„Was mag wohl hinter dem Horizont liegen?“, dachte sie. 309



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