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Vom Fuchs und Raben (NEU!)

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Als der Rabe den Fuchs störte

„Vom Fuchs und Raben“

Prolog: Als der Rabe den Fuchs störte
 

Es war spätnachts, der Mond hatte sich bereits in den schönsten Farben über dem dunkelblauen Nachthimmel breitgemacht und tränkte die nächtliche Stimmung in ein theatralisches Spiel von Licht und Schatten. Ungewöhnlich ruhig war es im 20. Bezirk geworden, seit Ken Kaneki, der Tausendfüßler, nicht mehr gesichtet worden war. Die Ghule halfen sich untereinander, das Antik fand immer mehr Zulauf von schwächeren Krallenträgern und sorgte für Harmonie unter der Gattung. Doch diese Nacht war anders, musste Renji Yomo feststellen, als er seine nächtliche Streife - sie war ihm stets ein Privileg – vollzog. Irgendetwas schien den nebligen Dunst aufzulockern, Spannung und der Geruch von frischem Blut durchdrang seinen ausgeprägten Geruchssinn. Woher kam das? Yoshimura hatte ihn damit beauftragt, sich genau umzusehen.

Gerüchte gingen um, von einem Ghul aus einem anderen Bezirk, der für Unruhen stiftete, ja sogar Kannibalismus betreiben sollte.

Natürlich waren es nur Tuschelein, doch ein Funken Wahrheit musste hinter allem stecken und nun galt es an ihm, diesen besagten Ghul zu finden und ins Antik zu bringen. Yomo folgte dem Geruch, der stets stärker zu werden, fast beißend schien. Er war sich sicher, er würde den Auslöser dafür finden, doch musste er ruhig an die Sache herangehen.

Träfe er nun wirklich auf einen Kannibalen, musste er gewappnet sein. Er ließ seine Kagune erscheinen, beobachtet, lauschte, sah sich ganz genau um. Da war es! Das Knirschen von Zähnen, das beim Verzehr von Menschenfleisch zu hören war und das bedrohliche Beben einer durchbluteten Kralle. Er begab sich in die Lüfte, schaute von oben auf das Spektakel herab. Ein in einen Jogginganzug gekleideter Ghul kaute auf einem menschlichen Arm, das Gesicht mit einer Maske bedeckt und einer Kapuze überzogen. Daneben das erloschene Leben, blass, starr, in einem Blutbad versinkend.

Yomo trat einen Schritt näher heran. Erst jetzt bemerkte er, dass neben der Leiche ein Bild an die Wand gemalt war. Doch nicht irgendein Bild. Es war das Opfer selbst, verewigt in den tiefen Rottönen seines eigenen Blutes. Wie krank dachte, sich Yomo. Wer tat so etwas? Der Essende schien sich nicht gestört zu fühlen, geschweige denn schien er ihn überhaupt bemerkt zu haben. Das war seine Chance! Jetzt könne er angreifen ohne ein erschwertes Risiko einzugehen, die Konfrontation suchen. Er machte einen großen Satz, breite seine dunkle Federkralle aus, packte den Anderen an den Schultern. Zog ihn – er strampelte unbeholfen – in die Lüfte, auf einen Absprung und drückte ihn gegen die Wand. Stille trat ein.

„Was soll das, verdammt!“, kam es hinter der Maske, die einen geschwungenen Fuchs ganz abbildete, hervor.

„Wer bist du?“, fragte Yomo mit ruhiger Stimme. Sein Griff war so fest, dass ein Lösen daraus unmöglich war. Er meinte es ernst. „Nimm die Maske ab.“ „Nein!“ Der Andere strampelte, versuchte seine Füße zur Wehr einzusetzen, doch es gelang ihm nicht. Es blieb nichts anderes übrig. Eine Hand zurückziehend, der Gegner konnte sich trotz alledem nicht befreien, griff Yomo nach der Maske. Vorsichtig und ohne Hast zog er sie samt Kapuze vom Gesicht. Und erschrak.

„Was?“, schnappte sein Gegenüber zurück. Lange, in Wellen fließend fallende Strähnen in lila/schwarz-weiß Verlauf fielen hervor, den Blick scharf auf ihn gerichtet. Blutgetränkte, volle Lippen und mandelförmige Augen. Eine Frau!

Erst jetzt, der Mond warf seinen Schein auf die junge Dame, konnte man sogar die weiblichen Rundungen im gegensätzlich schlabbrigen Jogginganzug erkennen. „Was willst du, hm?“ Sie schnauzte ihn weiter an. „Du bist eine Ghula.“ „Echt? Das wusste ich gar nicht.“ Sarkastisch verdrehte sie ihre Augen. „Kannst du mich bitte loslassen?“ Yomo schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Dann sag doch, was du willst!“ Kurz trat wieder Stille ein. „Bist du der Ghul aus dem anderen Bezirk?“.

Es war ihm sicher bewusst, doch er wollte die Bestätigung aus ihrem Mund hören. „Hast du mich schon einmal hier gesehen?“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Na, dann bin ich wohl genau die, nach der du suchst.“, sie leckte das Blut mit der Zunge von ihren Lippen. „Und jetzt lass los!“ Langsam löste der silberhaarige, junge Mann seinen muskulösen Griff.

Ein Fehler, denn im selben Moment sprang die Ghula, sie grinste ihn frech an, mit ihrer Maske in den Händen davon. „Fang mich doch, wenn du kannst!“ Genervt von seiner eigenen Naivität zu glauben, sie würde sich wirklich ruhig anhören, was er zu sagen hatte, verfolgte er sie. Was blieb ihm anderes übrig, wenn er seinen Auftrag korrekt ausführen wollte?

Das könnte mehr Zeit in Anspruch nehmen, schoss es ihm durch den Kopf. Nichtsahnend, dass er dabei richtig lag.

Bis zu einem Platz nahe am städtischen Kanal unter einer Überbrückung folgte er ihr. Yomo blickte sich um.

Er war sich bewusst, worauf der weibliche Ghul hinauswollte. Der Platz bot eine enorme Kampffläche, gute Versteckmöglichkeiten, einen festen Halt unter den Füßen. Wenn er sie mit seiner Botschaft wirklich erreichen wollte, musste er wohl oder über gegen sie antreten. „Spielst du mit?“, rief sie ihm neckisch entgegen. Er nickte. Im nächsten Augenblick hatte sie auch schon ihre Kagune ausgefahren.

Kapitel 1: Wenn Rabe und Fuchs einander suchen

Kapitel 1:

Wenn Rabe und Fuchs einander suchen
 

Eine pulsierende Kralle. Was gab es stärkeres für einen Ghul als seine Kagune? Nichts. Im Kampf entschied allein die Art und Weise, wie man mit seiner Kralle hantierte, ob man aus dem Kampf als Gewinner oder Verlierer hervorging. Setzte man sie weise ein? Hatte man eine Strategie entwickelt, eine eigene Struktur? Doch am wichtigsten: Was tun um seinem Gegner gewachsen zu sein? Yomo rätselte über die Fähigkeiten der ihm unbekannten, mysteriösen Ghula, die Schuld an den Rumoren im seinem, dem Bezirk des Antiks, war. Ihre Kagune erinnerte ihn an einen anderen Menschenfresser, doch es fiel im zum Biegen und Brechen nicht mehr ein, an wen. Sie war dornig, zackig, schillerte in tiefem orange und bündelte sich wie der Schweif eines Tieres. Eines Fuchses, dämmerte es ihm und er wusste sofort, dass Uta ihre Maske, die den eingerollten Fuchs zeigte, angefertigt hatte. Er hatte seinen nächsten Anhaltspunkt gefunden. „Na? Was ist?“, forderte sie ihn heraus. „Willst du oder soll ich den Anfang machen?“ Yomo konzentrierte sich gekonnt auf ihre Schwanzkralle und folgte deren Bewegungen mit jedem Blick. Unaufmerksamkeit stellte eine Schwäche da und wo Schwäche war, war auch Verlust. Niederlage. Nein. Sie würde ihn nicht schlagen, er vertraute auf sein Können. „Warum tust du das?“, fragte er, ohne dabei die Kralle aus den Augen zu lassen. Sie schwankte hin und her, teilte sich in zwei kleinere Schwänze, wuchs heran. „Warum hast du mich angegriffen?“. Sie legte ihre Maske wieder auf. Auch Yomo zog aus seiner Manteltasche die pechschwarze, spitz zulaufende Rabenmaske heraus und platzierte sie auf seinem Gesicht. Er durfte kein Risiko eingehen, die Ghulermittler waren trotz der zurückgehenden Auffälligkeiten im 20. Bezirk aufmerksam geblieben und kannten weiterhin keine Gnade. „Was ist?“ Ungeduldig verschränkte die Ghula ihre Arme vor der Brust, verließ ihre Kampfpose. Wurde sie etwa wieder unaufmerksam? Wie stark sie wohl ist, fragte er sich. Sollte er den ersten Angriff wagen? Doch bevor der männliche Ghul lange überlegen konnte, war seine Gegnerin auch schon auf ihn zugeschnellt. Der Ausdruck in ihren Augen deutlich: Sie wollte ihn besiegen. Ihre Kralle schwang erneut in seine Richtung. Schneller, dynamischer. Er wich aus, doch sie schleuderte wie ein Bumerang zurück. Sie war flink. Wie ein Fuchs, dachte Yomo. „Du redest nicht gern, stimmt’s?“, rief sie ihm, den Angriff weiter ausführend, zu. Ohne auf ihre Fragen weiter einzugehen, sprang er hoch und feuerte blitzartige Schrauben aus seinen düsteren Flügeln, sie erinnerten an einen Raben, ab. Erstaunt beobachtete er ihre Abwehrfähigkeiten: Die zweischwänzige Kagune teilte ich erneut und gabar eine, dritten, dickeren Schweif, den die dunkelhaarige Unbekannte über sich ausbreitete wie einen Schild. In Null Komma Nichts waren seine Schrauben abgefangen, erloschen, absorbiert. Beeindruckend, fand er, dabei bemüht den anderen beiden Schwanzkrallen auszuweichen. Wann war er das letzte Mal so gefordert gewesen? Wann hatte er das letzte Mal zu kämpfen, mithalten zu können? Die Schnelligkeit, die doch so präzise war. Der Rhythmus ihrer Attacken, der so ausgeglichen war. Allein ihre Kagune war so robust und ausgebaut, und doch war sie in der Lage, sie perfekt unter Kontrolle zu haben. Wer war diese Ghula nur? Yomo rätselte, immer dabei bedacht, sich in Sicherheit zu bringen. Etwas an ihrem Kampf erinnerte ihn an die Zeit mit Uta damals im 4. Bezirk. Würde er aufs Ganze gehen, könnte er sie wahrscheinlich schwer stoppen, sie war wirklich stark. Lange war es her, dass er ihn so erschöpfte und gleichzeitig elektrisierte gegen einen anderen Krallenträger anzutreten. Er konnte nicht genau erklären, war es Freude, Aufregung? Er wusste es nicht. Doch was er wusste, war, dass er gerade nicht in die Offensive gehen wollte. Vielmehr war es ihm wichtig, sie durch sein unerschütterliches Durchhaltevermögen zu einem Gespräch zu überzeugen. Sollte ihr Ausdauer einmal versagt haben, was nicht zu passieren schien. Im Gegenteil: Die Schläge wurden kräftiger, die Bewegungen noch schneller und schwerer mit zu verfolgen. Doch dann, die Fremde sprang in die Luft, setzt auf der Überbrückung ab. Sie blieb starr stehen. Ihre welligen Haare wurden von der sanften Nachtbrise nach vorne geweht. Was hatte sie vor? Warum hatte sie so abrupt gestoppt? Yomo beobachtet sie, mit dem leichten Hauch von Enttäuschen über ihren merkwürdigen Abbruch, genauestens. Sie zog ein leeres, weißes Blatt aus dem Nichts hervor. Es reflektierte den Mond in seiner Helligkeit darauf. Mit ein paar wenigen, flinken und doch kontrollier wirkenden Gesten schien sie das Blatt mit Strichen zu füllen. Was wollte sie damit bezwecken? Der Schein des halbvollen Mondes brach durch ihr dunkles Haar und ließ es schimmern. Die drei Schweife wieder zu einem verschmolzen, fuhr sie ihre Kralle ein und nahm ihre Maske ab. „Gewagt“, meint Yomo. Ihre Augen, sie hatten bereits ihre normale Farbe wieder angenommen und blitzen ihn mit smaragdgrünen Pupillen an. Ein freches Grinsen folgte und mit dem nächsten Satz war sie verschwunden. Ihr Schatten wurde eins mit der Dunkelheit. Alles was übrig blieb war ein kleiner Papierflieger, der gen Yomo sauste. Was konnte es nur sein, dass sie da geschaffen hatte? Vorsichtig entfaltete der silberhaarige Ghul das Papier, welches den Weg zu ihm gefunden hatte und staunte nicht schlecht. Sie hatte ihn selbst in kürzester Zeit mit Bleistift aufs Papier gebracht. In seiner vollen Pracht, sogar mit Kagune. Er blieb einige Minuten regungslos stehen, observierte die von ihr gefertigte Zeichnung, dachte nach. Über den Kampf, der ihm seit langen ein Nerven kitzelndes Gefühl gegeben hatte. Konnte man es Lebendigkeit nennen? Er wusste es wieder nicht. Doch er wusste sehr wohl, woher er mehr Informationen über die mysteriöse Ghula bekommen konnte.

Ein leises Glöckchen erklang, als Yomo über den samtroten Eingangsteppich durch die Türschwelle trat. Diese fiel hinter ihm mit einem lauten „Klack“ zurück ins Schloss. „Willkommen im HySy Artmask Studio. Was kann ich für –„ ein junger Mann mit Undercut und schwarzem langen Haar zum Zopf gebunden drehte sich von seinem Rollhocker um – „Oh, Yomo?“. Er erhob sich und tapste lächelnd auf seinen Freund zu. „Wie schön. Was gibt’s?“. „Ich brauche deine Hilfe Uta.“ Er kramte in seiner Jackentasche herum. Der andere Ghul, er hatte sich bereits wieder hingesessen, legte den Kopf schief und beobachtete die Situation. Den Zettel endlich aus seiner Tasche gekramt, hielt Yomo ihn in den Händen und betrachte es nochmals genau. „Hast du von den Gerüchten im 20. Bezirk gehört?“, fragte er seinen Bekannten und trat näher an dessen Schreibtisch. „Du meinst von dem Kannibalen?“, fragte dieser an einem Augapfel leckend. „Willst du?“, bot er an, doch sein Kamerad lehnte ab. „Klar hab ich davon gehört. Warum fragst du?“ „Kannst du damit was anfangen?“. Er drückte eine Kopie der Zeichnung – das Original wollte er sich behalten – auf den Tisch. Plötzlich weiteten sich die tiefroten Pupillen des anderen Ghuls. „Hast du gegen sie gekämpft?“ „Sie?“ „Kisuna Kuromori. Das ist ihr Stil. Sie ist echt begabt.“ „Kisuna Kuromori“, wiederholte Yomo langsam. An seinem Snack kauend schnappte sich Uta das Blatt Papier, warf einen genaueren Blick darauf, hielt kurz inne. „Sie hat dich wirklich gut getroffen, das muss man ihr lassen.“ Ein Nicken folgte als Antwort. „Sie ist stark.“ „Ja, sehr sogar. Was willst du über sie wissen?“ Yomo zuckte auf. „Hast du Kontakt zu ihr?“ Uta grinste. „Sie kommt öfter vorbei. Weißt du, unter uns Künstlern ist jede Meinung herzlich willkommen.“ Kurze Stille folgte. Der hellhaarige Ghul, er kratzte sich nachdenklich am Kinnbart, musste mehr über die stürmische, starke Ghula erfahren. Außerdem musste er sie immer noch Yoshimura vorsetzten. Er stellte dies an erster Stelle. Würde sie zuhören, was sich zwar als schwerer als gedacht entpuppte, und später durch Zustimmung im Antik arbeiten, könnte er immer noch mehr, vielleicht sogar leichter etwas über sie erfahren. Konzentriert blickte er zu seinem Freund. „Uta, kannst du ihr etwas von mir ausrichten?“. Der wurde sofort hellhörig und nickte. „Klar. Was denn?“
 

Wieder erklang das Glöckchen. „Nanu. Heute ist aber viel los. Wilkommen im –„ Uta stoppte erneut. „Kisuna! Was für ein Zufall.“ „Zufall?“ Die langhaarige Schönheit betrat das Studio, ihr Blick neutral, die Kleidung dunkel gehalten. „Egal.“, schwiff der andere Ghul ab, „schön dich zu sehen.“ „Ebenso.“ Sie legte ihren schwarzen Mantel ab, griff nach dem Augapfel, den Uta ihr entgegen hielt und begann darauf zu kauen. „Was führt dich heute hierher?“, wollte der Maskenhersteller wissen. Sein Drehhocker federte nach, als er sich darauf platzierte. Kisuna folgte ihm. Schließlich wollte sie ihn um einen Gefallen bitten. „Sag mal kennst du zufällig einen grauhaarigen Ghul mit einer Rabenmaske aus dem 20. Bezirk?“ Ihr Gegenüber begann zu lachen, suchte etwas auf seinem Schreibtisch. „Meinst du den hier?“. Er hielt ihr die Zeichnung – sie selbst hatte sie gefertigt – vor die Nase. Erschrocken fuhr sie auf. „Woher hast du das? War er hier?“ Uta konnte nicht anders als noch mehr zu lachen. „Hör auf so dumm zu grinsen. Woher hast du es, sag schon!“ „Ganz ruhig. Er hat mir eine Kopie davon gegeben.“ Die Ghula atmete tief aus. „Kennst du ihn?“ „Ja. Er ist ein sehr guter Freund von mir, wieso?“ Ihre Augen begannen zu glänzen. Das würde alles viel einfacher für sie gestalten. Doch bevor sie Uta weiter befragen konnte, sprach dieser längst weiter. „Er wollte, dass ich dir etwas ausrichte.“ Sie zuckte zusammen. „Was?“ „Ja. Du solltest ihn treffen. Er hatte irgendetwas von „Brücke“ und „sie wird wissen was ich meine“ erwähnt. Kannst du damit etwas anfangen?“ Auf einmal durchfuhr es sie mit Spannung. Sie konnte es nicht glauben. Etwas an ihrem Kampf mit dem Unbekannten hatte sie neugierig gemacht. Er war ihr ebenbürtig, sie konnte sich austoben und auch wenn er nicht aktiv angegriffen hatte, konnte er doch mit ihr mithalten. Es war unglaublich so kämpfen zu können und sie wollte es wieder. „Ich weiß was er meint. Uta, sei nicht böse, aber ich muss los.“ Mit einem Schwung ergriff sie ihren Mantel und stürmte zur Tür hinaus. Uta, der immer noch an seinem Schreibtisch saß, musste wieder lachen. „Das könnte wirklich spannend werden.“ Kisuna konnte es kaum abwarten. Gerade noch wollte sie mehr über ihren anonymen Angreifer erfahren, der dafür gesorgt hatte, dass ihr letzter Kampf besonders herausfordernd für sie war, und im nächsten Moment hatte er bereits nach ihr gefragt. Ungebändigt lief sie aus dem Art Studio die Treppe hinauf, wollte gerade um die Ecke biegen, als sie gegen jemanden rumpelte. „Entschuldigung. Tut mir wirklich leid.“ Sie verbeugte sich tief. Erst als sie ihren Kopf hob und in die grauen, eisigen Augen ihres Gegenübers blickte, musste sie feststellen, dass sie hereingelegt worden war. „Ich wusste, du würdest gleich aufbrechen.“

Kapitel 2: Der Fuchs, der Rabe und die Eule

Kapitel 2:

Der Fuchs, der Rabe und die Eule
 

„Ich wusste, du würdest gleich aufbrechen.“

Erst konnte sie ihren Augen nicht trauen. Dann spürte sie eine Mischung aus Wut und Freude gleichzeitig in sich aufsteigen. Einerseits war sie erbost, dass dieser Kerl es doch glatt geschafft hatte, sie auszutricksen. Sogar Uta, ein langjähriger Freund und geschätzter Kollege hatte sich bei dieser hinterrücks Aktion beteiligt. Wie konnte er nur? Andererseits jedoch wollte sie wieder gegen den Fremden kämpfen, hatte auf eine Revanche hingefiebert. Und jetzt wo sie ihn zum ersten Mal richtig im hellen Licht betrachten konnte, durfte sie auch noch feststellen, dass er wirklich attraktiv aussah. In Jeans und ein weißes Shirt gekleidet, seine Muskeln waren klar definiert, stand er aufgebaut vor ihr. Sein weiß-silbern glänzendes Haar – es fiel ihm tief in den Nacken und über seine Ohren - unterstrich seine Strenge noch einmal. Diese reflektiere sich auch in seinem hübschen, maskulinen Gesicht, in das eine einzelne Strähne hing und geschmückt war von einem Kinnbart. Sie schüttelte den Kopf. Egal, was sie von ihm halten würde, sie würde sich nicht auf derartige Gefühle einlassen. Es war zu gefährlich in ihrer beider Welt, der Schattenwelt der Ghule. Das hatte Kisuna schon früh erfahren müssen. Auch wenn ihre Risikobereitschaft in der Regel hoch lag, soweit wollte sie nicht gehen. Jedenfalls nicht ohne berechtigte Gründe, das hatte sie sich fest vorgenommen. „Was willst du von mir?“, fragte sie zynisch. Skeptisch verschränkte die Ghula ihre Arme vor der Brust. So wie auch er es tat. „Reden.“ „Worüber?“ Er warf ihr einen leicht zornigen Blick zu, überlegte, während er an seinem Bart kratzte. Sie fand, es sah lustig aus. Anscheinend war es ihrem Gegenüber enorm wichtig, sollte sie darauf eingehen? Doch er war noch immer ein fremder Ghul. Was, wenn er sie nur wieder wie gerade eben hereinlegen wollte? Kisuna war sich der Stärke ihres Gegners bewusst, schließlich hatte er es mit ihr aufnehmen können. Leider sagte die Begeisterung, die Aufregung, das Feuer in ihr etwas ganz anderes. Tu es, trieb die Stimme in ihr sie an. Auf welches Gefühl sollte sie nur vertrauen? Vernunft? Oder etwa doch Emotion? „OK. Ich höre.“ Sie entschied sich für Letzteres. Überrascht von ihrer plötzlichen Antwort, sah ihr der männliche Ghul tief in die Augen. Dann nickte er, gab ihr ein Handzeichen, das ihr den Aufbruch signalisierte. „Wohin gehen wir?“, fragte sie nach einer Weile, doch er antwortete nicht. Er schien insgesamt kein Mann vieler Worte zu sein. Schon bei ihrer ersten Begegnung, bevorzugte er es zu schweigen, anstatt mit ihr zu kommunizieren. Sie fand es komisch. Was hatte er nur, fragte Kisuna sich die ganze Zeit über. „Hey, bist du mies drauf?“ Wieder kam nichts zurück. Langsam reichte ihr dieses mysteriöse, vergrabene Verhalten. War es denn zu viel verlangt, wissen zu wollen, wohin ein Unbekannter sie brachte, nur um „Reden“ zu wollen? Wohl nicht! Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit des Schweigens – er hatte kein Wort mehr verloren seit sie vor Utas Studio aufgebrochen waren – hielt die Ghula es nicht noch länger aus. Das Geräusch stapfender Schritte durch leere Gassen hallte in ungewöhnlich penetranter Lautstärke zurück und trieb Kisuna fast in den Wahnsinn. Sie ertrug es endgültig nicht mehr. „Sag mal, was soll das Getue eigentlich? Willst du nur geheimnisvoll wirken oder warum sprichst geschweige denn antwortest nicht?“ Sie atmete tief ein und wieder aus. „Das ist echt respektlos und unhöflich von dir.“ Kaum hatte sie ihren Ärger in Worte gefasst, stoppte der Ghul vor ihr. Vor Missmut zu spät bemerkt, lief sie gegen ihn. Doch er drehte sich nicht um, blieb regungslos, doch mit angespannten Fäusten stehen. Und sagte kein Wort. Sie hatte verstanden. Er wollte nicht reden. Nur über das, wofür er sie extra aufgesucht hatte. Sie verstand ihn nicht.

Kisuna war erleichtert, als sie endlich Halt machten. Schon seit die beiden Ghule an der letzten Kreuzung abgebogen waren, war sie sich ziemlich sicher, wohin er sie bringen würde. Sein Schweigen erschien ihr zwar immer noch suspekt, doch freute sie sich auch auf das, was folgen würde. Natürlich ließe sie nicht einfach auf sich einreden, nein. Wollte er angehört werden, musste er sich erneut beweisen. Erst dann, wäre sie willig, ihm auch Aufmerksamkeit für seine Wichtigkeit zu erweisen. Der Ort, wo sie und ihr Gegner sich befanden, war derselbe wie das letzte Mal. Er war perfekt für Ghule. Kisuna hatte ihn vor längerer Zeit gefunden, als sie sich auf Jagd nach Menschenfleisch befand. Es war wunderschön finster, aber man hatte viel Platz geboten. Das Rauschen des fließenden Kanals übertönte außerdem den lautesten Schrei von Verzweiflung und Angst geprägt. Sie hüpfte galant auf den Vorsprung der Brücke. Ihr Gegenüber sah weniger begeistert aus. „Was, dachtest du wirklich, ich würde mir nichts dir nichts einfach nur zuhören? Du bist ein Ghul, ein Gegner. Ich kenne dich nicht.“ „Mein Name ist Renji Yomo.“ Sie sah ihn verwirrt an. „Und wenn du mir zuhören würdest, könnte ich dir alles in Ruhe erklären.“ Seine Worte klangen verärgert, doch sein Gesichtsausdruck blieb neutral. Er bemühte sich wirklich sehr, sie zu überzeugen. Fast bekam sie ein schlechtes Gewissen. „OK, pass auf - “, weiter kam sie nicht, denn ehe sie sich versah, verspürte sie eine Präsenz in ihrem Rücken. Wo war dieser Yomo? Er stand nicht mehr vor ihr, stand nun hinter ihr, umklammerte sie mit seinen muskulösen Armen. Erschrocken stand sie da, bewegte sich nicht, lauschte dieses Mal der Stille. Nein, es war nicht still. Etwas erzeugte ein seltsames Geräusch, dass ihr vertraut vorkam. Ein Tropfen. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen. Tipp, tipp… tipp, machte es. Plötzlich verlor der fesselnde Griff des jungen Mannes an Festigkeit, doch er ließ bestimmt nicht los. Kisuna durchfuhr es wie einen Blitz, sie drehte ihren Kopf schlagartig um. Da sah sie es. Blut. Viel Blut. Unkontrolliert tropfend und sich bündelnd in einem tiefrotem Fleck auf seinem nicht mehr so weißem Shirt. Der Grund dafür ganz klar: Ohne es bemerkt zu haben, aus reinem Reflex heraus, hatte sie ihm ihre Kagune in den Bauch gerammt. Das Blut tropfte – es war dieses eine Geräusch. Dieses eine Geräusch, das sie sonst so frohlocken ließ. Doch nicht jetzt, nicht hier. Ihre Begeisterung nur noch plumpe Regungslosigkeit. „Ich… uh. Das… war keine Absicht.“ Er seufzte tief, sodass kalte Luft in ihren Nacken schoss, es ließ sie erzittern. „Schon gut. Hörst du mir jetzt endlich zu?“
 

Der lieblich wärmende Duft von gerösteten Bohnen und das helle Klirren von Geschirr verfingen sich in ihrer Nase und ihren Ohren, als sie den Laden betraten. „Antik", hatte sich auf dem Schild draußen angekündigt. Was das wohl sollte? Doch das war im Moment nicht der ausschlaggebende Punkt, nein nicht im Geringsten. „Yomo!", ein blauhaariges Mädchen, sie sah aus wie eine Angestellt, stürmte sofort auf die beiden zu. „Was ist mit dir passiert? Wieso blutest du?" Ohne ein Wort zu dem Vorfall zu verlieren, ging der silberhaarige Mann durch die Tür links von ihm. Aus ihm trat auch ein alter, freundlich wirkender Mann heraus, der Kisuna sofort sanft anlächelte. Moment, hatte er sie gerade wirklich einfach allein gelassen? Was sollte das, verdammt, dachte sie sich, während sie versuchte ebenfalls zu lächeln. Doch das passte nun gerade wirklich nicht. „Ah... Dafür bin ich wohl verantwortlich", versuchte sie sich zu entschuldigen. „Was? Wer bist du überhaupt? Was hast du Yomo angetan? Was willst- " „Toka, bitte", der ältere Herr unterbrach die Angestellte. Dann sah er wieder zu Kisuna herüber. „Lassen wir sie doch erst einmal ausreden." „Aber Chef!" „Genug. Das reicht, Toka." Vor Wut rot angelaufen ballte das blauhaarige Mädchen die Fäuste, ließ jedoch dann ab und machte sich wieder an ihre Arbeit. „Nenn uns doch erst Mal deinen Namen. Ich heiße Yoshimura und leite das Antik." Noch etwas perplex versuchte sie sich vorzustellen. „Mein Name ist Kuromori Kisuna und ich habe keine Ahnung was gerade passiert." Der Chef lachte, dann öffnete er die Tür durch die der andere Ghul vorhin verschwunden war. „Lass uns das in Ruhe mit Yomo klären". Da stand er, die Wunde abgedeckt und oben ohne. Das Licht brach seitlich herein und ließ seine Augen funkeln. Es sah auf eine seltsame Weise episch aus. Dann zog er sich ein frisches Shirt über. Leicht aufgewühlt nickte sie und trat ebenfalls in den hinteren Flügel des Hauses. In einem kleineren Raum nahmen beide Parteien auf zwei Sofas, sie waren gegenübergestellt, Platz. Kisuna fühlt sich, als müsste sie eine Intervention über sich ergehen lassen. Wahrscheinlich lag sie da gar nicht so falsch, denn sie saß den beiden Herren auf dem einem Sofa entgegengesetzt. „Der Grund, warum wir mit dir reden müssen, ist dein Verhalten im 20. Bezirk. Dir ist bestimmt bekannt, dass du etwas Unruhe stiftest." Herr Yoshimura bemühte sich um eine gepflegte Ausdrucksweise. Er besaß diese Aura, der man älteren Menschen zuordnen konnte: weise und ausgewogen. „Natürlich habe ich schon davon gehört. Aber Sie wissen bestimmt auch, dass das Gerücht immer größer ist als die Wahrheit dahinter." Mit zusammengeschränkten Armen ließ sie sich in den weichen Stoff fallen, der sofort nachgab. „Es gibt nichts, das dich hier an etwas fesselt. Was ich, wir von dir wollen ist lediglich, dass du für uns arbeitest." „Arbeiten? Wie muss ich das verstehen?" Kisuna blieb misstrauisch. Yoshimura hingegen total gelassen. „Wir vom Antik versorgen seit Jahren Ghule mit Nahrung. Im Gegenzug erhalten wir ihre Arbeitskraft inner- oder außerhalb des Antik. Das ist ein perfektes Arrangement, wodurch der 20. Bezirk als sicherer Zufluchtsort für unsereins gilt. Es wäre schade, wenn dieses Gleichgewicht außer Kontrolle geraten würde." Er zeigte auf den anderen Ghul. „Yomo hier ist meine rechte Hand. Er wird dir alles noch einmal genauer erklären." „Wirklich? Ich habe ihn noch keine 5 Sätze am Stück sagen hören." Ihr Versuch ihn zu provozieren ging nach hinten los, denn er blieb regungslos sitzen, wie erwartet. „Ich denke, das sollte soweit reichen. Leider muss ich mich wieder an die Arbeit machen. Übernimm du bitte den Rest, Yomo." Kaum hatte Yoshimura seinen Satz beendet richtete sich der junge Mann auf, trat auf Kisuna zu und reichte ihr seine Hand. „Komm mit." Doch diese sah es gar nicht ein, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. „Moment. Ich soll hier einfach meine Zusage abgeben oder wie muss ich das verstehen?" Der alte Herr, bereits im Gehen, drehte sich nochmals zu ihr um. „Auf keinen Fall zwinge ich dich zu etwas. Aber ich denke es wäre das Beste für beide Seiten und ich würde mich wirklich freuen. Und du hättest endlich ein festes Heim." Erschrocken sprang sie auf. „Woher wissen Sie dass ich-", doch weiter kam sie nicht, wollte sie nicht. Sie sah die rote Iris des alten Ghuls aufblitzen. „Ich habe mich informiert, mehr nicht." Mit zusammengeknirschten Zähnen fiel sie zurück auf die Couch. „Heißt das, ich bekomme endlich eine eigene Wohnung?" Verzweifelte Hoffnung machte sich in ihrem Gesicht breit. Diese blieb auch Yomo nicht unbemerkt. „Wir haben Wohnungen über dem Antik", warf er ein. „Nicht ganz", unterbrach ihn der Chef. Sofort horchte Kisuna wieder auf. „Es stimmt, es sind durchaus extra Wohnungen für unsere Mitarbeiter, jedoch sind alle derzeit belegt." Nach einer kurzen Pause, die die Ghula bereits erzittern ließ, fuhr er fort: „Es gibt natürlich noch die Möglichkeit, dass du bei einem der Angestellten einziehst. Yomo, wärst du bereit, Kisuna bei dir wohnen zu lassen? Dann kannst du mir auch hervorragend über ihre Fortschritte berichten." Dieser nickte sofort. Missmutig packte Kisuna diesen Yomo am Arm um sich hochzuziehen. Er hielt sie fest, was ihr im ersten Moment unangenehm war, doch ließ er bereits wieder los, als sie festen Stand gefasst hatte. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass sie mit der Situation überfordert war. Es war... seltsam. Doch ohnehin besser als die letzten Tage allein auf der Straße. „Mir bleibt nichts anderes übrig, geben sie es wenigstens zu." Der Chef lächelte sie friedlich an. Damit war alles gesagt.

Kapitel 3: Wenn Fuchs und Rabe sich ein Nest teilen

Kapitel 3:

Wenn Fuchs und Rabe sich ein Nest teilen
 

Der silberne, zum Teil bereits rostige Schlüssel von Appartement drei öffnete nicht nur die Eingangstür zur Wohnung, nein, sie öffnete Kisuna auch endlich den Zugang auf ein besseres Leben. Ein Leben mit der Sicherheit jeden Tag ankommen zu können, ohne von Ort zu Ort schleichen zu müssen. Auch wenn sie dieses Leben mit dem stillen Renji Yomo in diesem Fall teilweise verbringen musste. Nein, es störte sie nicht allzu sehr, denn das wohlige Gefühl sich in einem warmen Bett fallen zu lassen, wann hatte sie das zum letzten Mal so verspürt? Sie wusste es nicht mehr. Die kalten, erstickenden Eindrücke des Umherwanderns ins gefühlte Nichts hatten ihr nicht mehr als die Vision eines ansehnlichen Lebensstils übriggelassen. Doch genau dieses erfuhr sie nun nach langem Warten am eigenen Leib. Ihr sturer Glaube hatte Wunder bewirkt und selbstverständlich die Tatsache, dass sie Rumore ausgelöst hatte. Selbst daraus schien sich jedoch etwas Positives heraus gefiltert zu haben, sonst wären Yoshimura und dessen rechte Hand wohl nicht auf sie aufmerksam geworden. „Willst du das Bett? Dann müssen wir es nämlich teilen.“ Yomo riss sie schlagartig aus ihren Gedanken. „Was?“ „Auf dem Sofa kann man nicht wirklich schlafen und einen Futon habe ich nicht.“ Er schien es todernst zu meinen. Eigentlich störte sie es nicht wirklich, sie hatte schon mit Männern in einem Bett geschlafen, doch wollte sie auf keinen Fall Missverständnisse schaffen, jetzt wo sie einen sicheren Platz zum Bleiben gefunden hatte. „Solange du mir körperlich nicht zu nahe kommst, sollte das kein Problem sein.“ Kisuna wollte nicht zugeben, dass sie, trotz Erfahrung, einen Hauch Nervosität in sich spürte. Etwas an diesem Yomo brachte sie zum Nachdenken. Er war anders, als alle Männer, die sie bis jetzt kannte. Seine Ruhe war ihr unangenehm, dadurch fühlte sie sich beobachtet. So als könnte er durch sie hindurchsehen. „Denkst du das wirklich?“ „Noch einmal, ich kenne dich nicht.“ Sie wollte ihren Standpunkt klar machen, doch der männliche Ghul blieb gleichgültig. Im Gegenteil, er begann einfach sich auszuziehen. „Hey, was hast du vor!?“, rief Kisuna empört aus. Hatte er gerade etwa überhaupt nicht zugehört? „Hörst du mir eigentlich zu?“ Wieder bekam sie keine Antwort. „Erde an Yomo, hallo?“ „Ich gehe duschen. Hier“. Er warf ihr sein Shirt, dem er sich gerade eben entledigt hatte, zu und verschwand dann in das geräumig wirkende Bad. Verdutz richtete sich Kisuna vom Bett auf, griff erst zögernd, dann vehement nach dem übriggebliebenen Kleidungsstück. Was sollte sie damit? Etwa anziehen? Sie hatte doch etwas an. Sie biss sich auf den Nagel. Sollte sie…? Nein! Das wäre doch seltsam… Oder? Ach, es war ihr egal. Forsch klammerte sie es an sich, hielt es an ihre Nase, roch daran. Der Duft war… anders… frem...interessant. Intensiv sog sie den Geruch in sich auf, wurde sich erst dann bewusst, was sie da tat. Mit einem Satz schleuderte sie das Hemd davon, angewidert von sich selbst. „Was machst du da, bist du bescheuert?“, fragte sie sich selbst und ließ sich ausgestreckt wieder ins Kissen fallen. Doch das Shirt ließ ihr keine Ruhe. Immer noch fragte sie sich, was sie damit sollte, warum er ihr es zugeworfen hatte. Sie würde ihn einfach fragen, das war am simpelsten und erschien ihr logisch. Lange schien er nicht mehr zu brauchen, die Duschgeräusche des fließenden Wassers waren schon längst wieder aus, man konnte Schritte vernehmen. Still und leise, wie hätte man es anders erwartet, trat der Ghul wieder ins Schlafzimmer herein, trug nichts, außer einem Handtuch um seine Lende. Es kam ihr vor, wie im Film, doch war es Realität. Von seinem durchtrainierten Körper rann das Wasser hinab über jeden einzelnen Muskel, man konnte es genauestens verfolgen. Die silbernen Haare, zwar verwuschelt, strich er sich galant mit den Händen zurück, die Augen glänzten. War ihm das nicht unangenehm? Einer Fremden seinen Körper so zu präsentieren. Und woher kam plötzlich dieses bizarre Gefühl in ihr? Konnte es etwa sein… das sie rot wurde? Verdammt, wieso denn das? Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt hatte er den Blick auf sie gerichtet, doch seine Miene blieb neutral. „Fühlst du dich nicht“, sie überlegte kurz, wie sie es formulieren wollte, „unwohl, wenn du dich mir so zeigst? Ich meine das nicht böse, aber wie gesagt, wir sind uns doch komplett fremd.“ Kisuna versuchte alles, sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Anblick sie durchaus etwas aus der Fassung gebracht hatte. Das war sie von sich selbst nicht gewohnt, was sollte das also? Wohin war die stets selbstbewusste Frau in ihr verschwunden? „Früher oder später werden wir einander kennen. Schließlich wohnst du ab sofort hier mit mir.“ Hier mit mir, hallte es in ihrem Kopf wieder. Eines war ganz klar: Er war sich seines Charmes gar nicht bewusst, hatte keine Ahnung, was seine Worte bei anderen Frauen bewirkt hätten. Nicht bei ihr, nein. Die Ghula hatte sich mittlerweile wieder gefangen, hatte wieder Klarheit gefasst. Weshalb sie ihn jetzt auch wegen des Shirts ansprechen wollte, aber er kam ihr zuvor, wollte aufstehen. Das durfte sie nicht zulassen, also streckte sie sich nach seinem Arm aus. Doch wie hätte es anders sein sollen, erwischte sie nicht seinen Arm, stattdessen zog ihre Hand am einzigen Teil, das ihn bedeckte und offenbarte alles. Zum zweiten Mal am selben Tag hatte ihre Ungeschicktheit ihm Unannehmlichkeiten beschert.

Kisuna verbeugte sich mehrmals in hohem Bogen, entschuldigte sich noch öfter, doch Yomo schien es kalt zu lassen. Alles was er tat, war, sein Handtuch aufzuheben und es sich wieder umzubinden. Gefolgt von einem „Schon gut.“. Seine Ruhe brachte sie irgendwie aus der Ruhe. Wie konnte er nur so gleichgültig bleiben, ging sie ihm nicht auf die Nerven? Sie selbst würde sich definitiv auf die Nerven gehen, das musste sie sich eingestehen. „Ich ziehe mir besser etwas an.“ „Ich geh‘ dann besser raus.“ Sie wollte ihn nicht noch einmal entblößt vor sich stehen sehen, auch wenn es ihm wahrscheinlich erneut total irrelevant gewesen wäre, dass sie alles von ihm gesehen hatte. Alles. „Ah, eine Frage noch.“ Schließlich hielt sie nach wie vor sein T-Shirt in der einen Hand. „Was soll ich damit?“ „Anziehen.“ Meinte er das etwa Ernst? „Ich verstehe nicht ganz, wieso denn das?“ Kisuna war sich sicher, sie sah gerade bestimmt wie ein Idiot aus, kapierte nicht, was er von ihr wollte. „Du kannst auch in deinen Sachen schlafen. Ich dachte nur, dass es vielleicht so gemütlicher wäre.“ Sein Blick strahlte vollkommene Ernsthaftigkeit und Gelassenheit aus. Sie konnte es nicht fassen. „Danke“, fügte sie noch hinzu, verschwand dann geschwind aus dem Zimmer. War sie etwa verlegen? Auch wenn sie zugeben musste, das es sich wirklich um eine sehr zuvorkommende Geste seinerseits handelte. War sie? Mit gefesseltem Blick starrte sie auf den Stoff, den sie fest in ihren Händen gedrückt hielt. Was war nur so anders an all dem hier, fragte sie sich während des Abstreifen ihrer Kleider. Ohne große Bedachtsamkeit, aus reiner Gewohnheit heraus, hatte sie damit begonnen. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Ihr gegenüber stand Yomo, er hatte sich mittlerweile eine lange Jogginghose angezogen, jedoch kein Oberteil. Das einzige Problem: Kisuna hatte sich bis auf ihre Unterwäsche komplett ausgezogen, gerade dabei das Shirt umzuwerfen. Sie konnte fühlen, wie sein Blick bedacht auf ihr ruhte. „Schau weg!“, mehr brachte sie nicht hervor. Auf ihren Befehl hin, drehte er seinen Kopf zur Seite. Es war das erste Mal, dass sie eine Regung in seinem Gesicht wahrnehmen konnte. „Tut mir Leid.“ „Schon gut. Jetzt sind wir Quitt. Du kannst wieder herschauen, es macht nichts. Ich bin nur erschrocken.“ Versuchte sie sich gerade heraus zu reden, dass sie sich erstmals lächerlich vorkam, halbnackt vor einem Mann zu stehen? Was war nur plötzlich mit ihr? Hastig zog sie sein Shirt über. Yomo, er verbeugte sich nochmals als Entschuldigung, trat aus dem Türrahmen zu ihr heraus. Reflexartig wich die Ghula ein Stück zurück. Wieder diese peinliche Stille. Sie musste etwas dagegen unternehmen. „Also, es ist schon spät, du willst bestimmt schlafen.“ „Korrekt.“ Eine plumpe Antwort, wie überraschend. Einfühlsam versuchte sie zu ihm durchzudringen, doch das würde ihr wohl am meisten Nerven kosten, es erwies sich bereits schwieriger als gedacht. Kisuna fühlte sich bedrückt, verklemmt, ja regelrecht befangen, als sie mit ihrem neuen Mitbewohner ins Bett stieg. Es hatte sich herausgestellt, dass sogar nur eine einzige Decke zur Verfügung stand, was ihrem Motto von keinem Körperkontakt unversehens einen Strich durch die Rechnung machte. Da lag sie nun, ihr Blick wanderte durch den Raum. Zu schlafen, daran konnte sie nun wirklich nicht mehr denken. Viel zu absurd kam ihr auf einmal alles vor. Vor ein paar Tagen, sie wusste es noch genau, als er sie herausgefordert hatte, hätte sie nie auch nur im Geringsten daran gedacht, so plötzlich in einer richtigen Wohnung zu leben. Geschweige denn mit einem athletischen, jungen Mann zusammen. Genau dieser bereitete ihr zunehmendes Kopfzerbrechen. Sie müsste mit ihm klarkommen, sonst würde es nicht klappen, alles wäre nur noch komplizierter. Also startete sie einen erneuten Versuch. „Hey, Yomo.“ Ein träges „Mhm“ kam zurück. Wenigstens etwas. „Tut mir Leid, wenn ich dir auf die Nerven gehe.“ Kisuna erhoffte sich noch eine Antwort, doch ehe sie sich versah, fielen ihre erschöpften Augenlider zu und um sie herum wurde alles schwarz. Zu schwarz. Sie fiel tiefer, tiefer und immer tiefer. „Hallo? Was geschieht hier?“, doch alles blieb still. „HALLO!“ Ängstliche Schreie stießen aus ihrer Kehle, sie hatte wirklich Bange. Es war wieder einer dieser Träume, aus denen sie schweißgebadet und mit Schwindelgefühlen aufwachte. Wann war nur eine Frage der Zeit.

Blitzartig schreckte sie auf. Wie erwartet, der Schweiß tropft von ihrer Stirn, ihre Kehle fühlte sich trocken an und um sich herum begann sich alles zu drehen. Erst jetzt merkte sie, dass sie nicht allein war. Natürlich, wie konnte sie nur vergessen. Yomo, er lag neben ihr. Nein, er lag nicht, er bewegte sich. Total wirr versuchte sie ihm mit den Augen zu folgen, es war unmöglich. Stürmisch wurde sie von zwei Armen gepackt, schon war sie gegen seine Brust gepresst. Es fühlte sich gut, behütet und sicher an. „Ich hatte einen Alptraum.“ „Du hast geschrien.“ „Was? Nein, wirklich?“ Yomo nickte, wobei er einen erleichterten Seufzer ausstieß. Seine Arme hielten sie immer noch streng an sich gedrückt. Wieder durfte sie feststellen, dass er doch nicht so gefühlskalt war, wie sie dachte. Doch dann kam sie zu sich, wandte sich aus seinem Griff, drehte sich aus Scham weg. „Das… ist zu nah.“ Irritiert blickte Yomo auf ihren Rücken. Was eben war das? Wieso hatte er sie gegen sich gedrückt? Es war definitiv zu nahe. Oder? Aber eigentlich fühlte es sich so wohlig an, total vertraut. Als könnte sie wahrhaftig auf ihn zählen. Sie konnte hören wie er sich wieder ins Kissen legte. „Du kannst meine Hand halten, wenn du willst.“ Aufgelöst verarbeitete Kisuna seine Worte im Kopf. Wie bitte? Unmöglich, dachte sie, sich behutsam umdrehend. Und siehe da, er lag tatsächlich, mit dem Rücken zu ihr, aber seine linken Arm nach hinten ausgestreckt, auf seiner Seite des Bettes. Aus einem ihr unbekannten Grund musste sie lächeln. Es war verrückt, doch es war real. Zögernd griff sie nach seiner Hand, selbst diese fühlte sich muskulös an. Ihr Gegenüber drückte leicht zu, als wolle er ihr signalisieren, dass alles in Ordnung sei. Auch sie drückte leicht zu, damit er sich keine Sorgen machen musste. Er hatte davor so besorgt gewirkt. Etwa wegen ihr? Nein, oder etwa doch? „Kisuna?“ Zum ersten Mal hörte sie, wie er ihren Namen aussprach. „Ja?“ „Du nervst nicht. Entschuldige, wenn du das dachtest.“ Seine Worte klangen wie Zauberworte. „Wirklich nicht? Ich verstehe ja, dass du ein schweigsamer Mensch bist, aber ich komme damit noch nicht so gut klar.“ „Du gewöhnst dich dran.“ Daran musste sie festhalten, etwas anderes stand ihr auch nicht zur Auswahl. „Ich bemühe mich. Danke.“ Die Ghula drückte die Hand ihres Mitbewohners erneut fester. „Ich bin wirklich dankbar für das hier“, gestand sie leise. Sie merkte, wie ihre Lieder bereits wieder schwerer wurden, sie war kurz davor wieder einzuschlafen. Vor ihrem inneren Auge wurde es wieder finster, doch nicht angsteinflößend. Diese Nacht konnte sie seit langem wieder einmal durchschlafen.

Kapitel 4: Wenn Rabe den Fuchs rettet

Kapitel 4:

Wenn Rabe den Fuchs rettet
 

Am Morgen saß Kisuna alleine im Bett, ließ die letzt Nacht noch einmal Revue passieren. Ihr Verstand war wie eine Krankheit, die sie Tag für Tag mit sich schleppte. Wie einen Schatten, nur viel schlimmer. Sie konnte sich an alles erinnern. An den Alptraum, die Schreie, den Schwindel, Yomos starke Brust und seine wärmende Hand. Es fiel ihr wirklich schwer zuzugeben, dass sie, anders als sonst, bei diesem Mann mit ihrem Latein am Ende war. Wo steckte der eigentlich? Kisuna erhob sich aus der Matratze. Grelles Licht, es schien aufgrund der Morgensonne in den Raum, blendete sie, weshalb sie sich ihre Hand als Schutz vor die Augen hielt. Ihre Sicht war noch etwas benebelt und ihr Gang wacklig. Wie spät es wohl war? Plötzlich konnte die Ghula Geräusche, sie schienen aus dem Wohnbereich zu kommen, vernehmen. Neugierig, jedoch auch vorsichtig, pirschte sie zur Tür. Kurz zögerte sie, ließ ihre Hand auf der Klinke ruhen. Was, wenn ihr männlicher Mitbewohner wieder nur leicht bekleidet durch die Wohnung ran? Wie würde sie reagieren, wenn sie ihm nun in die Augen sah? Sie schüttelte den Kopf. Für Schamgefühl war nun kein Platz mehr, das hatte er ihr ebenfalls bereits gestern klarmachen wollen. Außerdem hatte sie mit ihrem kleinen Unfall vom Vorabend dem Ganzen gefühlt schon die Krone aufgesetzt, wenn man das so sagen konnte. Mit hektischer Entschlossenheit drückte sie das Stück Metall nach unten und trat durch die Schwelle. Sofort schoss ihr wieder der vertraute Duft von Kaffee in die Nase. Es war derselbe Geruch wie auch im Antik in der Luft lag. Träumerisch sah sie sich um, wollte die Quelle des aufsteigenden Aromas ausfindig machen. Am Küchentresen stehend, baute sich Yomo vor dem Filter auf. Er trug ein weißes Shirt, so eines wie das, das er wegen ihr vollgeblutet hatte und graue Jeans. Augenblicklich musste Kisuna wieder an die Situation denken und fragte sich, wie er sie trotzdem in seinem Heim aufnehmen konnte? Doch sie war auch beruhigt über die Tatsache, dass er überhaupt Kleidung trug, richtig? Sie trat einen Schritt näher. Ohne sich ablenken zu lassen oder umzudrehen, führte der silberhaarige Ghul sein Handwerk präzise und nonchalant fort. „Morgen“. Nicht einmal jetzt, da sie mit ihm sprach, bemühte er sich ihr zuzuwenden, antwortete lediglich mit einem stumpfen „Mhm.“ So nahm sie also einfach am Tisch Platz, wartete auf eine Geste seinerseits, und schwieg. Überrascht durfte sie feststellen, dass dieser bereits gedeckt war, für genau zwei Personen. Leichte Freude stieg in der Ghula auf. Was war dieses Gefühl der Begeisterung bloß? Vielleicht wollte er doch auch zu ihr durchdringen, bemühte sich doch mehr, als sie dachte? Es würde ihr auf jeden Fall eine Menge Aufwand ersparen, wenn er sich offener zeigen würde. Als Yomo sich unerwartet umdrehte, erschrak sie leicht und zuckte auf. Wortkarg wie gewohnt, stellte er den Kaffee, den er eben zubereitete hatte, vor ihr ab. Sie beobachtete ihn genau. Er sah sie an. Sofort spielte sich die Szene vom Tag davor erneut vor ihrem inneren Auge ab und die Röte, sie konnte es deutlich spüren, schoss ihr ins Gesicht. Warum nur? Hastig wandte Kisuna ihren Blick ab. „Danke. Für den Kaffee.“ Yomo nickte nur als Antwort. „Und für gestern.“ Nun sahen sich beide wieder an. Stille. Dann ertrug sie es nicht mehr. „Hast du auch… Fleisch?“ „Wieso?“ Entgeistert sah sie zu ihm. „Zum Essen.“ „Nein.“ „Nicht so schlimm, dann gehe ich später selbst jagen.“ „Wirst du nicht.“ Yomo nahm gemächlich einen Schluck aus seiner Tasse. „Wieso nicht?“, fragte sie empört. Dann stand er auf, zog seinen Mantel an und blickte wieder zu ihr. „Wir gehen ins Antik.“ „Nein.“ Gereizt ruhte ihr Augenmerk auf ihrem männlichen Gegenüber, das wie immer schwieg, wenn es um entscheidende Fragen ging. „Was soll das?“ Als Yomo das sich langsam bemerkbar machende Kakugan in ihrem Ausdruck festmachte, wusste er, wie dringend es war. Blitzschnell jagte er auf sie zu, packte sie an den Armen. Gerade noch konnte der Ghul einem Ausfall entgehen, er war flink wie eh und je. Kisuna, ihr Auge hatte sich durch den Schreck zurückgezogen, sah ihn einige Minuten betreten an. Er hielt sie nur, versuchte wieder in Ruhe überzugehen. Dann stemmte sie ihren Kopf gegen ihn. Es sollte eine Geste der Nachsicht sein. „T‘schuldige.“ Yomo platzierte seine Hand auf ihrem Haupt. „Du musst dich besser zurückhalten können.“ „Ich weiß“, sie sah ihm betrübt in die Augen. „Aber ich habe so enormen Hunger.“ Es war das erste Mal, dass sie ihn leicht schmunzeln sah.
 

Herr Yoshimura begrüßte beide sofort mit einem Lächeln, als Yomo und Kisuna das Antik betraten. Der Kaffeegeruch schien ihr Nase nicht mehr zu verlassen, aber damit konnte sie sich leicht abfinden. „Schön, euch zu sehen.“ Er wandte sich an Kisuna: „Wie ging es dir in der ersten Nacht in deinem neuen Zuhause?“ Das Gesicht der dunkelhaarigen Schönheit nahm wieder rötliche Töne an. „Ganz gut. Danke“ Kurz und knapp fasste sie es zusammen. Oder versuchte es zumindest. Den Vorfall konnte sie trotzdem nicht so schnell vergessen, warum auch immer. Yoshimura sah zu Yomo, dieser nickte. „Warum bin ich hier?“, frage sie, nichtsahnend, dass sie in wenigen Minuten ihrem zukünftigen Job nachgehen würde. „Du fängst heuet mit deiner Arbeit für das Antik an. Ich hoffe, du findest dich schnell gut zurecht. Deine Aufgabe wird es sein, Yomo bei der Nahrungsbeschaffung zu helfen.“ „Nahrungsbeschaffung.“ Irritiert blickte sie zwischen Chef und dessen rechte Hand hin und her. „Soll das ein Witz sein?“ „Keineswegs.“ Yoshimura lächelte erneut. „An Kellnern fehlt es uns nicht, das wäre unnötig. Yomo hingegen kann gut Hilfe gebrauchen.“ „Und was genau bedeutet Nahrungsbeschaffung genau? Jagen?“ „Nein, nein. Das wird dir Yomo schon noch näher erläutern.“ Kisuna überlegte kurz. Mit dem Chef wollte sie sich sicher nicht anlegen, es stünde zu viel auf dem Spiel. „Na gut. Von mir aus.“ Sie wollte ihre Einsicht zeigen. Im selben Moment waren plötzlich stampfende Geräusche zu hören. Bis sie sich umsehen konnte, wurde die Tür, die das Kaffee und den Wohnbereich voneinander trennten, unangemeldet und schlagartig aufgerissen. Aufgeschreckt wich Kisuna nach hinten, prallte dabei gegen Yomos Brust. Dieser hielt sie reflexartig fest, ihr Herz raste. Doch das war lediglich aufgrund des Schrecks der Fall. Oder? Sie musste sich eingestehen, es fühlte sich seltsam zärtlich an. „Chef, Chef! Hinami!“, rief die Person, die heraus gestürmt kam. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war aufgebracht und fassungslos. Schweiß brach von der Stirn aus, kullerte in kleinen Massen über ihr Gesicht und vermischte sich anschließend mit ihren bangenden Tränen zu einem Gemisch, das Panik und Heidenangst wiedergab. Kisuna erkannte in dem Mädchen, die blauhaarige Kellnerin, die sie gestern so schroff angefaucht hatte. „Touka, beruhige dich erst mal. Was ist denn vorgefallen?“ Yoshimura versuchte sie zu beschwichtigen, doch das schien keinerlei Wirkung zu zeigen. „Hinami! Sie ist weggelaufen!“ „Weggelaufen?“ Die Blauhaarige fuhr sich energisch durchs Haar. „Ich wollte mit ihr raus gehen, aber sie wollte lieber etwas essen. Als ich ihr nicht erlaubt habe, sich an den Vorräten zu bedienen, sie aber trotzdem wollte, habe ich sie konfrontiert. Ich hab`aus Versehen gesagt: „Was denkst du, würde Ryoko zu deinem Verhalten sagen?“ Dann ist sie wütend mit Tränen in den Augen weggerannt. Es ist meine Schuld.“ Die andere Ghula war völlig zerstreut. Angespannt schob Yomo Kisuna zur Seite. „Ich gehe sie suchen“, meinte dieser. „Yomo, ich vertraue dir diese Aufgabe an. Bring sie heil nach Hause zurück. Und du Touka, beruhigst dich erstmal. Das, was du gesagt hast, hat Hinami zwar verletzt, aber ihr beiden versteht euch so gut, sie wird dir vergeben, das weiß ich. Es war schließlich keine böse Absicht.“ „Danke Chef. Ich helfe Yomo.“ Die Sorge stand Touka immer noch ins Gesicht geschrieben. Der alte Herr überlegte kurz, legte dann fürsorglich die Hand auf Kisunas Schulter, lächelte wieder sanft. „Würdest du ihm bitte helfen. Ich brauche Toukas Arbeitskraft heute hier im Antik. Eine gute Gelegenheit zu zeigen, dass wir dir vollstes Vertrauen schenken können.“ „Was?! Chef! Wieso SIE?!“ Touka platzte wütend hervor. „Das ist nicht fair! Wir kennen sie nicht einmal richtig! Am Ende bringt sie Hinami noch mehr in Gefahr!“ Empört über diese harschen Worte, richtete sie die schwarzhaarige Schönheit aus Yomos, er hatte sie bis jetzt noch festgehalten, sicheren Griff. „Hör mal, ich weiß ja nicht, was du denkst welch` ein Monster ich bin, aber das hier ist ab jetzt genauso mein Heim, wie es auch deines ist. Also lass diese Anschuldigungen sein und wir können gemeinsam versuchen, den anderen besser kennen zu lernen.“ „Ich stimme ihr zu. Touka, du zeigst doch sonst immer Vernunft. Bedrückt dich etwas?“ Yoshimura bemühte sich weiterhin, sie zur Ruhe zu bringen. Vergebens. „Ihr versteht mich alle doch sowieso nicht! Was mich bedrückt? Was los ist?“, zornig stemmte sie die Hände in die Hüfte. Ihr Blick fokussierte Kisuna. „Ich bin nicht diejenige, die Yomo gestern ein Loch in den Bauch gerissen hat!“ Wütend stapfte sie an ihr vorbei, riss energisch die Eingangstür auf und verschwand. Stille kehrte ein. Ein Kopfschütteln vom Chef folgte, er schien betrübt und besorgt dabei. Dann sah er zu dem silberhaarigen Ghul, sie nickten sich beide wie immer zu, worauf Yomo sie am Arm nahm und mitzog. „Hey, Moment!“ Doch das war umsonst. Lange ging es nicht so, denn kaum waren die beiden draußen angekommen, stemmte sich Kisuna gegen den festen Griff und blieb auf der Stelle stehen. „Yomo, warte bitte kurz.“ Reumütig blickte sie zu Boden, krampfte sich an seiner athletischen Brust fest. Leicht schlug sie dagegen, blickte ihm dann doch tief in die Augen. „Yomo, ich…“ Vorsichtig legte sie ihre freie Hand auf die Stelle des Shirts, wo sie ihn verletzt hatte. „Das tut mir Leid. Wirklich.“ Yomo, verwundert über das, was sie da gerade tat, erfasste beide ihre Hände und drückte diese. Ihr kam es so vor, als wolle er sie beruhigen, denn Worte, wen wunderte es noch, kamen nicht aus seinem Mund. Er drehte sich um, ließ ihre Hand aber nicht los und schritt weiter voran. Sprachlos und verwirrt ließ sich die Ghula darauf ein und folgte ihm, seine Hand haltend. So gingen die zwei eine Weile dahin, auf der Suche nach der entlaufenen Hinami. Doch diese nahm in Kisunas Gedanken den kleineren Teil ein. Die Tatsache, dass Yomo ihre Hand hielt und mit ihr so durch die Straßen schlenderte, war ihr weniger unangenehm. Im Gegenteil, es fühlte sich sogar herzlich an, war nur etwas ungewohnt. Umso mehr störend und unangenehm empfand sie die vielen Menschen. Aussagen wie „Sieh mal, dieses Pärchen sieht so gut zusammen aus“ oder „Hat die Glück, so einen schönen Freund zu haben“ irritierten sie viel zu sehr. Der Fakt, dass ihr extremer Hunger sich ebenfalls wieder anmeldete, unterstützte das Ganze keinesfalls. Es machte nur noch alles unerträglich schwer für sie. Die Erschöpfung aufgrund ihres Drangs nach Nahrung wurde mit jedem Schritt, jedem Atemzug immer stärker und stärker. „Was ist?“, fragte Yomo, wodurch sie aufschrak. Im selben Moment knurrte ihr Magen wir verrückt, es war ungeheuerlich laut. „Muss ich dazu noch etwas sagen?“, seufzte sie vor sich hin. „Wenn wir Hinami gefunden haben, besorgen wir gleich etwas zu Essen.“ „Sie ist dir ziemlich wichtig, hab` ich da Recht?“ „Sie hat ihre Mutter und ihren Vater durch die Tauben verloren.“ Entsetzt riss sie ihre Augen auf. „Das wusste ich nicht…“ Yomo nickte. Die restliche Zeit herrschte wieder Stille. Peinliche Stille. Ihre Aussage kam Kisuna einfach nur dumm vor und ihr Hunger stieß sie immer weiter an die Grenzen des Ertragens. „Ich hab`so verdammt Hunger, ich höre schon Schmatzen.“ „Das ist keine Einbildung“, unterbrach er sie. „Wie? Was denn dann?“ Der männliche Ghul legte seinen Finger auf die Lippe, wollte Schweigen symbolisieren. Sie bogen, er hatte ihre Hand nicht losgelassen, gemeinsam abrupt in die nächste Gasse. Das Geräusch wurde immer lauter und lauter, bis sie stehen blieben. Sie trauten ihren Augen kaum. Eine kleine Ghula, sie fraß genüsslich vor sich hin, war der Auslöser dieser penetrant schmatzender Laute, die sie wahrgenommen hatten. Ohne Regung, starr wie ein Klotz, stellte sich Yomo ihr gegenüber, ließ Kisunas Hand los und verschränkte die Arme vor der Brust. Er betrachtete sie durchdringend. Man konnte die Spannung in seinem muskulösen Körper deutlich erkennen, fand sie. Es war definitiv nicht zu übersehen. Doch es war keine zornige Anspannung, nein, vielmehr eine bewusstgewordene, ausdruckstarke Spannung, die rein seine Präsenz unterstreichen sollte. Und genau diese ließ das begeisternd fressende Mädchen auch im nächsten Moment aufschrecken. Das Blut tropfte ihr aus dem Mund, über die Lippen, bildete schließlich eine tiefrote Lache auf dem grauen Teerboden. Perplex blickte Kisuna zwischen den beiden hin und her, wollte die Stimmung, die in der Luft lag, begreifen. Dann regte sich etwas in ihr, ein Gefühl, tief aus der Magengegend ausgehend. „Nein, bitte nicht jetzt den Verstand verlieren“, bitte sie ihr inneres Ich. Das Rot des Blutes strahlte sie an. Herrlich leuchtendes, sattes Rot, musste sie feststellen. Es wickelte sich um ihre Nerven, umschlang ihre Wahrnehmung, entriss ihr die Kontrolle wie aus dem Nichts. War es der Hunger? Ohne Zweifel. „Hinami! Kisuna!“ Yomos bestimmende Männerstimme brach ihre Trance. Beide weiblichen Ghula sahen zu ihm, erschrocken, ertappt. Seine ernste Miene verstärkte sich um ein Vielfaches und das schlechte Gewissen machte sich in ihr breit. Schuldbewusste strich sich Kisuna das Blut von den Mundwinkeln. Als das Schwarz-Rot aus ihren Augen fuhr, wünschte sie sich nichts mehr, als im mit Blut überlaufenen Boden zu versinken.
 

Eigentlich war nur schweres Atmen zu vernehmen. Immer wieder ein tiefer Seufzer, doch nur von ihrer Seite aus. Yomo, er saß mit verschränkten Armen auf dem Sofa ihr gegenüber, hatte seine Anspannung nicht für eine Sekunde verloren. Es war einschüchternd, fand Kisuna und doch wollte sie sich behaupten. Auch, wenn ihr durchaus bewusst war, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie wollte etwas sagen, doch aus ihrem Mund kamen, anders als gewohnt, keine Worte. Kein einziges. Nur der Geschmack von menschlichem Blut klebte noch an ihren Nerven. Es war eine seltsame Stimmung, die dort im Raum lag wie ein toter Fisch. Genauso fühlte sich Kisuna nämlich gerade: plattgedrückt, auf der Oberfläche treibend, verloren. Wäre sie nicht vom Antik und Yomo abhängig, wäre es ihr egal gewesen, hätte sie nicht gekümmert, sie wäre einfach abgehauen. Doch diese Option gab es nun nicht mehr. Nun stand ihr Unterhalt auf dem Spiel, eine ganz andere Liga. „Nun, Kisuna. Willst du uns erklären, was denn genau vorgefallen ist?“ Die Ghula schrak auf. Yoshimura stand in der Tür, sein Ausdruck freundlich wie gewohnt. Geschwind wandte sie sich ab. „Ich weiß, dass es falsch war.“ „Ich verurteile dich auch nicht.“ Sie schnellte zurück. „Warum bin ich dann hier?“ Aufgewühlt von ihren eigenen Worten, senkte sie den Kopf. Wütend auf sich selbst verschränkte sie ebenfalls die Arme und ließ sich mit einem dumpfen Ton in den Stoff der Couch, auf der sie saß, zurückfallen. Yoshimura kam ein wenig näher. Ein leises Klirren schwirrte durch den Raum, als eine Tasse gefüllt mit schwarzer Flüssigkeit vor ihr platzierte. „Kaffee?“ „Danach wird es dir sicher besser gehen.“ Sie nahm einen großen Schluck. „Schmeckt gut.“ Deutlich stach der Geschmack von Mensch hervor. „Das freut mich.“ „Und jetzt?“ Der Chef nickte Yomo zu. Das machten die beiden ständig. Irgendwie störte es sie. „Yomo hat mir erzählt, was sich zugetragen hat.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich kann nachvollziehen, dass dein Verstand und Trieb aufgrund des enormen Hungers mit dir durchgegangen ist. Gut, dass er dich noch einmal daran gehindert hat, diesem imposanten Gefühl nachzugeben.“ Wie? Sie verstand nicht ganz. Doch ehe sie antworten konnte, ergriff der andere Ghul das Wort. Eine Seltenheit. „Schon gut.“ Er begutachtete sie wieder strengen Blickes, als wolle er verdeutlichen: „Sag bloß nichts Falsches, ich warne dich.“ Kisuna konnte immer noch nicht nachvollziehen, was genau sich gerade vor ihr abspielte. Er hatte sie gedeckt. Aber warum? Wieso sollte er? Was hatte er davon? All diese Fragen schwirrten durch ihren Kopf, darauf wartend, beantwortet zu werden. Von keinem geringeren als Yomo selbst. Sie wollte ihn konfrontieren, sobald die beiden alleine waren. Zuvor interessierte sie jedoch noch etwas anderes. „Wie geht es Hinami?“ Ihre Stimme gewann wieder an Sicherheit. „Soweit gut. Ihr ging es wie dir, der Hunger und der Frust hatten sie übermannt.“ „Verstehe… und Touka? Ist sie noch sauer?“ Yoshimura lächelte erneut sanft. Seine Ruhe war unglaublich ansteckend. Schon seit der ersten Begegnung mit dem kauzigen, älteren Herrn, fühlte sie sich sofort verstanden und akzeptiert. Allein durch seine Ausstrahlung und die Art wie er sich formulierte. „Touka ist eine Person von temperamentvoller, aber verantwortungsvoller Natur. Sie braucht nur ihre Zeit, neue Kontakte zu knüpfen und Vertrauen aufzubauen. Nachvollziehbar in unserer Welt, findest du nicht auch?“ Kisuna nickte konzentriert. „Ich verstehe.“ „Wenn du ihr diese Zeit gibst und somit entgegenkommst, wird sie ihr schroffes Verhalten ganz gewiss abschalten.“ „In Ordnung.“ Sie konnte das blauhaarige Mädchen vollends verstehen. Sie selbst wusste nur allzu gut, wie sie sich fühlte. Wie schwer es sein konnte, mit befremdlichen Personen und Situationen, die einen selbst auf die Probe stellten, zurechtkommen zu müssen. Doch man konnte auch daraus lernen, so wie sie es getan hatte. „Ich würde mich gern etwas hinlegen, um ehrlich zu sein.“ Der ganze Vorfall hatte auch die Ghula selbst Energie und Kraft in hohem Maße gekostet, die nun aufzuladen waren. Der alte Ghul gab Yomo ein Zeichen. „So seltsam, diese beiden“, dachte sie sich. „Komm, ich begleite dich.“ Yomo, er hatte sich aus dem Sofa erhoben und seine Spannung war verflogen, hielt ihr die Tür zum oberen Stockwerk auf. Nacheinander spazierten sie hindurch, ließen Yoshimura und die damit verbundene Aussprache hinter sich. Doch Kisuna fühlte sich immer noch schuldig. Der junge Mann hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, ihrer beiden Chef angelogen, nur um sie und ihre miserablen, unvernünftigen Taten zu decken. Wieso nur? „Yomo, warum hast du mich nicht verraten? Ich hätte es verstanden, es war unklug von mir. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle. Wie immer.“ „Genau deshalb.“ Was? Sie war nur noch verwirrter. „Wie meinst du das?“ Er blieb stehen, wandte sich zu ihr. Seine silbernen Pupillen glänzten als sie direkt in ihre Augen blickten. „Ich bin enttäuscht.“ Das kränkte sie etwas. „Genauso gut kenne ich aber dieses Gefühl, das du heute hattest. Ich habe ihm selbst schon zu oft nachgegeben.“ „Deshalb nimmst du mich in Schutz?“ Er nickte. „Ja.“ „Danke. Glaube ich. Ja doch.“ Verlegen sah sie zur Seite. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand zuletzt so etwas Nettes, abgesehen der Wohnmöglichkeit über dem Antik, für sie getan hatte. Dann stapften beide weiter Stufe für Stufe hinauf, sie folgte ihm stets dicht auf. Seine Worte ließen ihre Gedanken hin und her kreisen. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit und schon verlor sie das Gleichgewicht, drohte nach hinten die Treppe wieder hinunter zu purzeln. Doch ihre Rettung, es war eine männliche Hand, die nach ihr griff und an sich zog, reagierte schneller als der Blitz. So befand sich Kisuna zum zweiten Mal an diesem Tag in den armen ihres muskulösen Mitbewohners. „Du zitterst. Alles OK?“, fragte dieser mit besorgtem Unterton in der Stimme. „Ja, denke schon.“ Sie lachte gequält. „Heute scheint einfach nicht mein Tag zu sein.“ Sie zuckte erneut auf, als Yomo seine Hand auf ihre Stirn legte. „Du hast Fieber.“ „Nein, das kann nicht sein. Ich werde so gut wie nie krank.“ Als hätte der beinahe Sturz eben nicht schon gereicht, verließen die Ghula allen Anschein nach nun auch die letzten Kräfte, sie sackte in Yomos Armen zusammen. Dieser ließ jedoch keine Sekunde vergeudet. Gekonnt packte er sie, hob sie in seine Arme, in denen er sie die Treppe weiter hochtrug. Hilflos krallte sich Kisuna an seine Brust. Zu erschöpft war sie, um auch nur ein Wort zu äußern. „Wieso lande ich nur immer wieder in seinen Armen?“, dachte sie für sich, bevor alle Kraft dahinschwand und sie endgültig zusammenklappte.

Kapitel 5: Wenn Fuchs und Rabe vertrauter werden

Kapitel 5:

Wenn Fuchs und Rabe vertrauter werden
 

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Yomo sich jemals so um eine Frau gekümmert hat. Insgesamt meine ich.“ „Tja, er ist halt ein wahrer Gentleghul.“ „Uta, das war mega unlustig. Aber ernsthaft, hattest du schon mal `ne Freundin? Ich wüsste nichts davon.“ „Ein echter Mann schweigt und genießt, wusstest du das nicht?“ „Itori, Uta! Es reicht.“ Das war Yomos Stimme, eindeutig. „Yomo?“, murmelte sie, unsicher, ob er sie überhaupt hörte oder sie diese Frage nur in ihrem Kopf gestellt hatte. Der brummte nämlich verdammt. „Sieh mal, sie wacht glaube ich auf.“ „Kisuna?“ Er rief sie. Doch mehr als Silhouetten konnte die Ghula noch nicht wahrnehmen. „Hörst du uns, Süße?“, fragte eine weibliche Stimme. Sie kam ihr nicht bekannt vor. „Alles klar bei dir?“ Das war Uta. „Yomo, wo bin ich?“ Kisuna wollte sich aufrichten, wies jedoch nicht genügend Kraft dafür auf. „In unserer Wohnung.“ Ihr Mitbewohner zog sie schließlich vorsichtig und bedacht etwas hoch, seinen Arm als Stütze um sie legend. „Unsere Wohnung“, wiederholte ihre innere Stimme und sie konnte spüren, wie sie leicht rot wurde. „Sie sieht wirklich nicht gut aus“, meinte Uta, woraufhin er einen leichten Schlag auf den Unterarm von der rothaarigen Ghula neben sich kassierte. „Ich bin übrigens Itori“, stellte sie sich ihr vor, doch Kisuna war nicht in der Laune für neue Bekanntschaften. „Kisuna, richtig?“, fragte diese Itori, worauf sie nur ein stumpfes „Mhm“, äußerte. Doch die andere Ghula ließ nicht nach, sie sprühte förmlich vor Energie und Enthusiasmus. „Schön dich kennen zu lernen. Die Umstände sind vielleicht nicht so optimal.“ Damit hatte sie definitiv recht. „Ich glaube, du gehst ihr auf die Nerven“, warf Uta ein, worauf er erneut einen Schlag verpasst bekam. „Wir sind Yomos beste Freunde, wir haben ein Recht darauf, seine Flamme kennen zu lernen.“ Flamme? Hatte Kisuna das den Rotschopf gerade wirklich sagen hören? Lächerlich. „Itori.“ Yomos bestimmender Unterton kam wieder hervor. Er fand es anscheinend ebenso nicht lustig. „Yomo hat auch schon genug von dir“, kommentierte Uta weiter, dieses Mal fing er den Schlag von Itori gekonnt ab. „Ich mache doch nur Spaß“, rechtfertigte diese sich und zuckte mit den Schultern. „Ich finde es toll, eine weitere Frau im Bunde zu haben“, fuhr sie vergnügt fort. Sie plapperte noch weiter vor sich hin, doch Kisuna hörte nicht mehr zu. Viel mehr fragte sie sich, in welcher Beziehung die rothaarige Ghula wohl zu den anderen beiden stand. Die drei ergaben zusammen wirklich ein gutes Bild von einer Freundschaft, man konnte es sehen wie sie miteinander umgingen. Unbekümmert, fröhlich, ohne darüber nachdenken zu müssen, was sie vor den anderen in den Mund nahmen. Sie ergänzten sich: Itori war lebhaft, Uta etwas schräg und Yomo, er war wie die Balance zwischen den beiden anderen. Er brachte Ruhe und Ausgeglichenheit in die Gruppe, bewahrte meistens einen klaren Kopf. Und dennoch wusste er, wann er eingreifen musste und Stärke gefragt war. Kisuna war etwas neidisch. Auch hätte sie sich mit ihrer (spontanen) Analyse auch irren können, doch schätzte sie Andere häufig sofort richtig ein. Es war eine Gabe, die sie nur allzu gut gebrauchen konnte in der düsteren Welt der Ghule. „Kisuna?“, fragte Uta mit einem leicht besorgten Blick. Sie hatte die Gruppe vollkommen ausgeblendet, sodass sie sich erst nicht angesprochen fühlte. Gerade als sie darauf reagieren wollte, versetzte es ihr jedoch einen Stich oberhalb der Schläfen und sie zuckte leicht zusammen. Yomo verstärkte daraufhin seinen Griff, mit dem er ihr noch immer eine Stütze bot. „Ich glaube, wir haben sie schon zu sehr in Anspruch genommen. Sie sollte sich vielleicht besser hinlegen.“ Damit lag Itori richtig, denn Kisuna konnte bereits spüren, dass ihre Kräfte wieder abnahmen. „Ich bringe sie ins Bett“. Yomo erhob sich aus dem kräftig orangefarbenen Sofa und hielt ihr die ausgetreckte Hand entgegen. „Kannst du aufstehen?“, fragte er, sein Blick durchfuhr sie innerlich. Er war anders als sonst. Besorgt, streng und etwas wütend. Nicht wütend auf sie, das war ihr bewusst. Doch was machte ihm dann so zu schaffen? Sie nickte als Antwort und rappelte sich mittels seiner Hilfe auf. „Sieht so aus, als wär`s das für heute.“ Uta erhob sich ebenfalls und warf die Hände in den Nacken. „Schade, aber kann leider nichts machen.“, ergänzte Itori und stieß einen enttäuschten Seufzer aus. „Ich hätte gerne noch mehr über dich erfahren.“ Sie warf Kisuna einen aufmunternden Blick zu und zwinkerte. Was wollte sie nur? Beide Ghule verabschiedeten sich von Yomo mit einer winkenden Geste und verließen das Appartement. An Yomos Hand festhaltend ließ Kisuna sich Richtung Schlafzimmer führen. Sie nahm wirklich nur ungern Hilfe von anderen an, war sie es ja auch nicht gewohnt, dass ihr jemand ernsthaft helfen wollte. Doch sie spürte zu diesem Zeitpunkt etwas, von dem sie geglaubt hatte, sie wüsste nicht einmal mehr wie es sich anfühlte. Geborgenheit. Das Gefühl, zu wissen, man ist nicht allein. Wie lange war es schon her, dass sie sich nicht einsam und ausgestoßen gefühlt hatte? Fremd war ihr jede Art menschlicher bzw. ghulischer Beziehung gewesen seit... Nein, sie wollte sich nicht zurückerinnern. Jeder Gedanke daran, auch wenn er zuerst gut sein würde, würde überschwanken zu den grausamen Bildern, die sich über die Zeit in ihrem Gedächtnis immer wieder neu eingebrannt hatten. „Was hast du?“. Yomos Stimme riss sie aus ihrer Gedankenwelt. „Nichts, schon gut.“ Sie wollte nicht darüber reden. Am liebsten niemals. „Sicher?“ Er hakte nach, doch das würde nichts daran ändern, dass sie still bleiben würde. „Ja, ich bin nur ziemlich schlapp. Das kenne ich sonst gar nicht von mir.“ Kisuna versuchte vom Thema abzulenken. Alles, was sie in diesem Moment wollte, war einfach nur Ruhe. „Man kann nicht immer stark sein“, sprach Yomo und drehte sie um sich, sodass sie auf dem Bett sitzend landete. Damit hatte er durchaus Recht, doch wie sollte man anders in ihrer beiden Welt überleben? „Schwäche führt bei uns zu Tod.“ „Nicht, wenn man Unterstützung hat.“ Er sah ihr wieder tief in die Augen, blieb vor ihr mit verschränkten Armen stehen. „Unterstützung habe ich aber nicht oft am eigenen Leib erfahren, musst du wissen.“ Sie drehte ihre Füße aufs Bett und zog die Decke über sich. Yomo nahm dann doch neben ihr Platz, saß an der Bettkante wie ihr Bewacher. „Erzählst du mir davon?“, wollte er wissen. Nein, das würde sie nicht. Dieser Beschluss war bereits vor einigen Minuten gefallen. „Ungern.“ Er nickte nur darauf. Wahrscheinlich hoffte er, dass sie ihm irgendwann von selbst davon erzählen würde, doch konnte sie nicht beantworten, ob es jemals dazu kommen würde. Mit einem tiefen Atemzug lehnte sie sich nach hinten und seufzte als sie gegen das harte, dunkle Holz des Bettes stieß. Sie sah zu Yomo, der grübelnd seine Arme wieder verschränkt hatte, die typische Pose. Seine Arme wirkten durch sein enges, weißes Shirt noch definierter. Kisuna wusste nicht, ob es vom Fieber kam oder ob sie ihn gerade einfach nur unglaublich attraktiv fand. Seine silbern glänzenden Haare fielen ihm sanft in seinen breiten Nacken, bei jeder Bewegung spannten sich seine Muskeln neu. In ihr entwickelte sich ein seltsames Kribbln, sie spürte, dass sie erregt war. Plötzlich fiel Yomos Blick auf sie, es ließ sie erzittern. Doch... Warum bewegte er sich nun auf sie zu? Bildete sie sich das etwa nur ein? Nein, es passierte wirklich. Kisuna blieb erstarrt sitzen, sie hatte sich wegen des Fiebers nicht unter Kontrolle und es störte sie enorm, dass sie dies nicht ändern konnte. Er stoppte kurz vor ihrem Gesicht, drückte dann seine Stirn gegen die Ihre. Was sollte das? Fokussiert ruhte sein Blick auf ihr, sie konnte sogar seinen Atem auf ihrer Haut wahrnehmen. Völlig konfus lag auch ihr Blick auf ihm, doch hatte die Ghula aufgrund des Schwindels kein klares Bild vor Augen. Für sie glich der Anblick Yomos wohl eher der Sicht durch ein Kaleidoskop. Zu viele von ihm bildeten sich vor ihr ab und zudem seltsam verzerrt. Sie entschied sich dafür kurz die Augen zu schließen. Sie konnte Yomos Atemzüge hören, spüren wie sein Körper mit ihnen auf und ab ging. Als sie ihre Augen wieder öffnete, wich er leicht zurück. „Dein Fieber ist wieder gestiegen.“ Seine Worte hallten in ihrem Inneren weiter wie ein endloses Echo. „Kann sein“, antwortete sie, unsicher ob sie nun wirklich mit ihm sprach oder es sich nur eingebildet hatte. Ein letzter prüfender Blick von ihm, dann übermannte der Schlaf sie letzten Endes doch.

Als sie Stunden später, sie nahm es jedenfalls an, wieder aufwachte, saß Yomo noch immer am Rand des Bettes. Seine Ellbogen stütze er auf seinen Oberschenkeln ab und die Hände verschränkte er nachdenklich vor seinem Mund. War er ernsthaft die ganze Zeit über bei ihr geblieben? Sein Blick fixierte sich in Sekundenschnelle aus dem Augenwinkel wieder auf sie, als er das Rascheln der Bettdecke vernahm. Die Ghula hatte sich wieder aufgerichtet und fuhr sich noch etwas müde durchs Haar. Mit einem genüsslichen Gähnen streckte sie sich, spürte wie ihre Kräfte langsam wieder zurückkehrten. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte sie, während sie die Decke zurückschob und sich neben Yomo platzierte. „Zwei Stunden.“ „Und du warst die ganze Zeit hier?“ Das war ihr gerade einfach so rausgerutscht. Der männliche Ghul nickte und fasste mit der äußeren Handfläche an ihre Stirn. „Wie fühlst du dich?“, wollte er wissen. „Viel viel besser.“ „Gut.“ Er sah ihr wieder in die Augen. Der abendliche Sonnenuntergang, der durchs Fenster seine Farben warf, brachte diese zum schimmern. Sie musste zugeben, dass Yomo sie sehr beschäftigte. Kisuna kannte die Männer, aber er war ihr bis jetzt noch immer ein Rätsel. Seine Art mit ihr umzugehen, so neutral und dann doch wieder fürsorglich. Als würde es ihn nicht interessieren und dann doch wieder. Im Gegensatz zu anderen Männern ignorierte er ihr äußeres Erscheinungsbild, erlebte doch mehr von ihrer inneren Seite, als es bis dahin jemand tat. Lag es an ihm oder an der Tatsache, dass er ihr Unterschlupf gewährte? War er insgesamt nicht der Typ Mann, der eine Frau wollte? Aber er war doch auch gut bestückt, das wusste sie von ihrem kleinen Unfall mit dem Handtuch. War er desinteressierte an allem Sexuellen? War er etwa Jungfrau? Verdammt, warum kamen ihr diese Fragen gerade jetzt in den Sinn?! Lag es noch an den Folgeschäden oder etwa an dem Anblick von ihm, den sie gerade hatte? Sie konnte nicht verneinen, dass er ihr nicht gefiel, aber sie verband damit keine Emotionen. Das hatte sie bereits schon einmal erwähnt, nicht in ihrer Welt. Fürs Vergnügen vielleicht aber in der Welt der Ghule war eine ernsthafte Beziehung zu riskant. Sie wollte nicht, dass sich jemand an sie binden würde, die Verantwortung wäre zu groß. Aber sie fragte sich dennoch, ob sie einen kühlen Charakter wie Yomo ihn hatte, nicht doch verführen könnte. In diesem Moment fasste sie den Entschluss, dieses Spiel zu wagen, ab und an wollte sie schließlich auch etwas Ablenkung vom düsteren und gefährlichen Ghul-Alltag haben. Damit würde sie ihre Regel auch nicht brechen, nichts Ernsthaftes zu starten und dennoch ein wenig Spaß neben der Arbeit im Antik haben. Es stand fest und sie würde sogleich anfangen, ihren Plan umzusetzen. „Wäre es in Ordnung, wenn ich ein Bad nehmen würde?“, fragte sie charmant. Yomo nickte wieder. „Aber ich begleite dich.“ Überrascht von seiner Antwort legte sie den Kopf schief. „Falls du in der Wanne einschläfst“ „Oder mir schwindlig wird?“, ergänzte sie seinen Satz. Erneut erhielt sie ein Nicken als Antwort. Kisuna wollte noch weiter gehen und ihn testen. „Willst du mit mir baden?“ Sein Blick wurde wieder streng und binnen weniger Sekunden richtete der männliche Ghul sich auf und verschränkte die Arme wieder vor sich. Er hielt es wohl für keine gute Idee. „Ich mach doch nur Spaß“, versuchte sie sich herauszureden. Somit war ihr erster Versuch wohl missglückt. Schneller als gedacht. „Ich lasse dir das Wasser schon mal ein.“ Und schon war er ins Badezimmer verschwunden. Mist, das war wohl ein kläglicher Anfang, das musste Kisuna sich eingestehen. Grübelnd biss sie sich auf den Daumennagel. Wie sollte sie ihn nur dazu bringen, eine Regung zu zeigen, die nicht sofort neutral an ihm abklang oder ihn wütend machte? Naja, jetzt wollte sie tatsächlich erst einmal ein erfrischendes Bad nehmen, um wieder zu Kräften zu kommen und etwas abschalten zu können. Sie betrat das Badezimmer mit einer heiteren Laune, denn es ging ihr Minute um Minute schlagartig wieder besser. Ihre Regenerierung hatte nie lange gedauert und darauf konnte sie sich auch dieses Mal verlassen. Yomo hatte bereits etwas Wasser eingelassen, der Schaum quellte bereits auf und ein frisches Handtuch sowie Bademantel lagen auch schon neben der Wanne. „Danke, Yomo.“ Sie warf ihm einen erleichterten Blick zu, er nickte wie gewohnt nur. Dann drehte er sich um und sie begann sich auszuziehen. Als sie es sich im Wasser gemütlich gemacht hatte, teilte sie ihm mit, dass er sich wieder zu ihr drehen durfte. Auf einem Hocker neben ihr nahm er schließlich Platz, drehte ihr aber den Rücken zu und begann ein Buch zu lesen. Er wollte wirklich nicht riskieren, etwas zu sehen. „Um was geht es in dem Buch?“, frage sie ihn, als ihr die Stille zu drückend vorkam. „Kurzgeschichten von Stephen King.“ Er schien wirklich vertieft darin zu sein, denn sein Bick wandte sich nicht von den dünnen, weißen Seiten und kleingedruckten, schwarzen Buchstaben ab. Sie ließ es dabei, denn eigentlich interessierte das Buch sie überhaupt nicht. Aber die Stille war ihr auch zu unangenehm. „Wie hast du davor gelebt?“ „Was?“ Erschrocken reagierte sie auf Yomos plötzliche Frage. Warum wollte er das wissen? „Muss ich das erzählen?“ Eigentlich mochte sie nicht über ihre Vergangenheit reden, wie bereits erwähnt, doch der Ghul schien ihr wohl keine andere Wahl zu lassen. Er würde wahrscheinlich so lange nachhaken, bis sie ihm etwas erzählte. „Na gut, ich erkläre es dir.“ Mit Schwung erhob sie eine Hand aus dem Nass, Schaum spritzte daraufhin in die Luft und landete auf Yomos Shirt. „Ups!“ Jetzt sah er sie wieder im Augenwinkel an. Er klappte sein Buch zu, wischte sich den Schaum von der Schulter und war somit bereit zuzuhören. „Wenn du dich fragst, wie ich davor ÜBERlebt habe, dann ist das eine einfache Antwort: Männer.“ „Männer?“, fragte er, sie weiterhin mit seinem Blick durchbohrend. „Ja, richtig gehört, Männer. Pass auf: Ich habe mich als hilfloses, junges Fräulein ausgegeben, die eine Bleibe für die Nacht suchte. Meine Opfer fühlten sich somit wie die Retter in der Not und ließen mich bei ihnen übernachten. Manchmal wurde ich auch abgelehnt, aber in den meisten Fällen bekam ich, was ich wollte: Einen Ort zum Schlafen.“ Yomo grübelte, man konnte es in seinen Augen erkennen, dann fragte er: „Waren es Menschen?“ Sie hatte bereits auf diese Frage gewartet. „Nicht nur. Es waren Menschen, aber auch Ghule unter ihnen. Ich habe bei ihnen meist nur übernachtet, aber wenn sie mir zu hochmütig oder lüstern wurden, habe ich sie gegessen. Egal ob Mensch oder Ghul.“ Sie sah ihm scharf in die Augen, sein Blick verfinsterte sich. „Du kannst mich nicht verurteilen, Yomo. Hätte ich eine andere Wahl gehabt, hätte ich sie ich genutzt. Mein Leben war meist nur Überleben und ich habe mich daran gewöhnen müssen, allein klarzukommen. Das war sicher kein Spaß.“ Er schien zu verstehen, auch wenn er dennoch wütend dreinschaute. „Du musst wissen“, begann sie, legte ihren Kopf dabei nach hinten gegen ein Wannenkissen. „Ein behütetes Zuhause, das hatte ich vielleicht einmal oder zweimal für kurze Zeit, wenn es hochkommt, aber selbst dann wurde es mir wieder genommen. Irgendwann härtet man ab, man nimmt, was man bekommt. Ich habe das nicht unbedingt gern getan, aber ich musste auch irgendwie am Leben bleiben.“ Kisuna löste den Blick von ihm, drehte den Kopf zur Seite „Dass so etwas wie das Antik existiert, habe ich nicht gewusst.“ In diesem Fall, musste sie sich eingestehen, dass sie so eine Möglichkeit schon gerne früher wahrgenommen hätte. Doch nicht jeder Bezirk war friedlich und einfach. Manche waren taff und mehr als gefährlich. Viel, viel mehr als das. „Ich habe dir schon gesagt, ich verurteile dich nicht.“ Erleichtert und etwas überrascht sah sie wieder zu Yomo. Er hatte seinen Blick nun gen Wand gerichtet, hatte gemerkt, dass es ihr unangenehm war, darüber einfach so zu reden. Sie fühlte sich, als ob sie ihm eine Erläuterung schuldig wäre. „Ich habe ihnen nicht immer das Leben genommen, weißt du. Nur den Aufmüpfigen.“ Kisuna blickte ins vom Badeschaum hellblau gefärbte Wasser und versank selbst als auch wie mit ihren Gedanken darin. Er wollte doch die Wahrheit wissen, die hatte sie ihm nun dargelegt. Sie mochte nicht, dass Yomo nun zornig war, aber konnte sie ihn auch nicht anlügen. Dafür hatten er und Herr Yoshimura bereits zu viel für sie getan. Ihr ein Zuhause gegeben, eine Unterkunft, Arbeit, einen Neuanfang. „Ich will dieses neue Heim nicht wieder verlieren.“ Völlig gedankenfern hatte sie diesen Satz von sich gegeben. As ihr bewusst wurde, was sie gerade ausgesprochen hatte, drehte sie sich perplex zu Yomo. Der beobachtete sie wieder aus dem Augenwinkel heraus mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht. Bildete sie sich das gerade etwa ein? Lächelte Yomo da etwa gerade etwas? Bevor sie noch etwas sagen konnte, erhob der männliche Ghul sich und breitete das Handtuch aus. Er signalisierte ihr damit, dass sie nun aus der Wanne steigen sollte. Den Kopf drehte er zur Site, während die Ghula aus der Wanne stieg und sich ankleidete. Sie hatte gerade ihre Unterwäsche angezogen, da wandte sich Yomo noch einmal zu ihr um. Es machte ihr nichts mehr aus, doch konnte sie es nicht lassen, ihn doch noch zu necken. „Gefällt dir was du siehst?“, frage sie ihn mit einem kecken Lächeln auf den Lippen. Wie erwartet drehte sich Yomo direkt wieder um, spazierte Richtung Schlafzimmer. Doch als er gerade über die Türschwelle treten wollte, blieb er noch einmal stehen. „Ich bin auch nur ein Mann.“ Dann trat er durch die Tür. Moment... Hatte er das gerade wirklich gesagt? Kisuna spürte die Hitze in ihr aufsteigen und dennoch freute sie sich, dass ihr Plan wenigstens etwas aufzugehen schien. Seine Reaktion hatte sie allerdings trotzdem verwirrt. Damit hatte sie nun mal überhaupt gar nicht gerechnet. Mit dem übergroßen Bademantel, der eindeutig Yomo gehörte, spazierte sie triumphierend ebenso ins Schlafzimmer der beiden. Der silberhaarige Ghul stand vor seiner Seite des Bettes, nur in Boxershorts gekleidet und beobachtete jeden Schritt, den sie machte, aus dem Augenwinkel heraus. Sie war von diesem Anblick mehr als nur angetan, das musste sie sich eingestehen. Ihr Blick streifte über seinen gut durchtrainierten Körper, wobei sie sich fragte, wie lange es wohl her war, dass sie wirklich befriedigt worden war. Zu lange wohl, denn sonst würde sie so ein Anblick nicht bereits so sehr antörnen. Schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Yomo wäre für so etwas sowieso nicht zu haben. Doch als sie im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Viel zu sehr beschäftigte sie noch der Blick, den er ihr vorhin zugeworfen hatte. Es ließ sie nicht los, viel mehr noch machte es sie noch mehr an. Nach einer Weile der Schlaflosigkeit drehte sie sich auf die Innenseite des Bettes. Yomo, er hatte sich auch zum Schlafen nach innen gewandt, hatte die Augen bereits geschlossen. Sein Gesicht sah friedlich aus, anders als sonst. Nicht so ernst. Kisuna studierte seine Gesichtszüge, sie waren markant und ebenmäßig. Einzelne silbrige Strähnen fielen ihm immer wieder ins Gesicht, glänzten noch stärker durch das einfallende Mondlicht. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass ein so attraktiver Mann, wie er es war, keine Freundin hatte. Viele Frauen würde sich wahrscheinlich wahrscheinlich alles tun, um ihn kennenzulernen und doch war sie es, die bei ihm unterkam. Auch wenn sie nicht ernsthaft etwas von ihm wollte, fühlte sie sich trotzdem genau diesen Frauen überlegen. Als er aus dem Nichts die Augen aufschlug und sich aufsaß, erschrak sie. „Yomo?“, fragte sie verwundert und richtete sich dann ebenfalls auf. Er fuhr sich durchs Haar, warf dann die Decke etwas zurück, sodass sein nackter Oberkörper wieder frei lag. „Kannst du auch noch nicht schlafen?“, wollte sie wissen, wobei sie versuchte nicht allzu sehr auf seinen durchtrainierten Körper zu starren. Er nickte wie er es für gewöhnlich tat. Das Mondlicht ließ durch den harten Schattenwurf seine Muskeln noch detaillierter erscheinen und verdammt ja, es gefiel ihr wirklich gut. Sie wollte ihn so gerne spüren. Ihr schwirrten einige schmutzige Gedanken durch den Kopf, sodass sie gar nicht bemerkte, wie sich ihre linke Hand wie hypnotisiert auf ihn zu bewegte. „Darf ich dich berühren?“ Halt... Hatte sie sich das gerade wirklich sagen hören? Irritiert von sich selbst schüttelte sie den Kopf etwas, sah dann Yomo an. Der machte jedoch nicht viel Wind darum. Er blieb ruhig, atmete kräftig ein und wieder aus. „Ja.“ Seine Antwort kam Kisuna unrealistisch vor. Die ganze Situation ist unrealistisch, wiederholte sie innerlich. Doch so oder so freute sie sich auch über seine Antwort, die doch unerwartet kam. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seiner Brust ab, als würde sie ein Kleintier streicheln. Sie war sichtlich nervös, warum auch immer. Deutlich konnte sie Yomos Herzschlag spüren, strich dann langsam seinen Körper hinab. In ihr begann es zu kribbeln, sie konnte ihre Lust fühlen. War das allerdings wirklich ein gutes Zeichen? Er selbst hatte ihr geraten, dass sie sich besser unter Kontrolle habe musste. Auch wenn er es auf ihren Hunger bezogen hatte, wusste Kisuna, dass es in diesem Moment ebenso zählte. Doch würde sie wirklich in der Lage sein, dies auch zu beachten... und einzuhalten? Darauf wusste sie keine Antwort. Sie wusste nur, dass sich ihre Hände wie von selbst ihren Weg über den trainierten Körper des männlichen Ghuls suchten. Konnte er ihre Begierde etwa auch spüren? Sein Atem wurde etwas schwerer, was Kisuna freute. Somit wusste sie, dass es doch einen Effekt auf den sonst so kühl wirkenden Kerl vor ihr hatte. Sie fuhr fort seinen Körper abzutasten, ihr Blick dabei völlig konzentriert. Bis sie zu der Stelle kam, an der ihre Kagune ihn durchbohrt hatte. Sofort packte Yomo ihre Hand und drückte sie fest gegen genau diese Stelle. Ihre Blicke trafen sich wieder durch die Dunkelheit und die Schatten ihrer Gesichter hindurch. „Denk nicht mehr daran.“ Seine Worte sollten sie beruhigen. Sie nickte, er ließ ihre Hand wieder locker. So viele Gedanken hatte sie sich noch nicht oft gemacht, wenn sie jemanden verletzt hatte. Doch bei Yomo war es anders. Er hatte sich ihr gegenüber von Anfang an ohne jegliche Vorurteile ehrlich verhalten, ihr ein Zuhause geboten, sie verteidigt, in Schutz genommen und sogar gepflegt, als sie nicht bei vollen Kräften war. Ließ sie nie aus den Augen und war wie eine Stütze für sie seit sie bei ihm war. Kisuna war froh, Teil des Antiks zu sein. So unglaublich dankbar, dass er sie aufgenommen hatte in diese kleine, aber enorm hilfreiche Welt des Cafes, das täglich Ghule sowie Menschen willkommen hieß. Wie lange war es her, dass sie sich einmal fallen lassen konnte? Genau dieses Gefühl gab er ihr. Und er machte es ihr wirklich nicht einfach, wenn er dabei zudem noch so gut aussah. Ihre Hand glitt weiter an seinen Muskeln entlang, sie ließ sich Zeit. Yomo zuckte immer wieder etwas, sie konnte nicht aufhören dies auszunutzen. Dann fiel ihr Blick auf seine Boxershorts. Ein freches Grinsen legte sich sofort auf ihr Gesicht. Es gefiel ihm also! Sie fragte sich, ob sie noch einen Schritt weiter gehen könnte. Ihr Verstand kämpfte noch gegen ihre Lust an, doch würde er sich durchsetzten können? Dieses Mal nicht. Und so wie sie begann, all ihre Finger tiefer und tiefer gleiten zu lassen, konnte sie ihr Blut vor Aufregung durch ihren Körper strömen spüren. Mit einer absoluten Sicherheit hatte sich ihre Hand verselbstständigt und folgte den klar definierten Linien seiner Muskeln. Aufgeregt malte sie sich die Sitzuation bereits aus, ging sogar soweit, dass sie sich vorstellte, wie er sie schlussendlich vor Genuss überfallen würde. Doch würde Yomo dabei wirklich mitmachen? Trickste sie ihre Begierde gerade aus? Sie wollte, nein konnte nicht mehr stoppen. Dann, kurz vor der Grenze zwischen Vernunft und Lust, dem Bund seiner Boxershorts, stoppte er sie. Er hatte sie durchschaut. Verwundert und dennoch verlegen blickte sie ihm in seine grauen Augen, die ihr nur wie üblich einen Blick, so neutral und doch mit einer ernsten Note, zurückwarfen. „Was ist?“, fragte Kisuna ihn unschuldig. „Was soll das?“ Yomo verengte seine Augen etwas, kein gutes Zeichen. Sie kicherte, wobei ihr Augenmerk wieder auf seine Shorts fiel. „Ich dachte es könnte dir gefallen.“ Er packte ihre zweite Hand, wodurch sie nun in seinem Griff gefangen war. Erst sah sie ihn wieder an, der Ausdruck in ihren Augen lüstern und herausfordernd. Doch genau dies kostete ihre Aufmerksamkeit für einen noch so kurzen Augenblick, denn schon hatte er sich aufgerichtet und sich über sie gebeugt. Seine Hände hielten die ihren robust am Handgelenk, drückten sie dabei ins Kissen. Sein Körper spannte sich über sie, erschwerte ihr den Versuch, sich wieder aufzurichten. An ihrem gierigen Ausdruck änderte sich allerdings nichts, sie verfolgte immer noch ihren Plan, Yomo zu verführen. „Willst du denn nicht auch?“, fragte sie ihn während sie ihre Beine um seine Hüfte schlang. „Wieso denkst du das?“ Sie musste auf seine Antwort lächeln. Ihr Blick fiel erneut auf seine Shorts, dann sah sie ihn wieder an. „Ich weiß auch nicht, vielleicht wegen ihm.“ Sein Blick verfinsterte sich, doch sie ließ sich davon nicht abschrecken. Er konnte nicht abstreiten, dass er nicht wenig ein bisschen interessiert an ihr war, denn sonst hätte er nicht darauf reagiert. Und trotzdem kämpft er gegen seinen inneren Trieb an. Warum nur? „Kisuna.“ Er versuchte sie runterzubringen. „Yomo...“ Sinnlich ließ sie seinen Namen über ihre Lippen gleiten. Dass sie ihn dabei nachmachte, war ihm bewusst. Ebenso wie ihm bewusst war, dass er sie nicht die ganze Zeit festhalten konnte, so einfach würde sie sowieso nicht aufgeben. Mit einem tiefen Seufzer ließ er also seine Hände von ihr gleiten, löste ihre Beine von seiner Hüfte, saß sich neben sie und verschränkte die Arme vor seinem Körper. Ein strenger Blick lag wieder auf seinem Gesicht. Die Ghula freute sich allerdings über ihre Freiheit, schwang ihre Beine über ihn und nahm auf seinem Schoß Platz. „Gibst du etwa schon auf?“ „Mach was du willst.“ Sie wollte es eigentlich erneut versuchen, doch war sie sich ihrer Sache nicht mehr ganz sicher. Yomo hatte sich einfach ergeben, nicht aus Verzweiflung, nein aus Nachsicht. Er kannte sie bereits soweit, dass er wusste, sie war nicht leicht von etwas abzubringen, egal um was es sich handelte. Doch Kisuna wollte ihn nicht dazu zwingen. Sie wollte, dass er sie genauso begehrte, dass er aus freien Stücken heraus, sich erneut über sie schwang. Doch nicht um sie zu unterdrücken, sondern weil er sie ebenso wollte. Ob dieser Moment jemals Realität werden würde? Sie wusste es nicht. Wenn sie dagegen etwas wusste, war es, dass sie ihn erneut enttäuscht hatte. Seufzend warf sie die Arme in den Nacken. „Du hast gewonnen.“ Ebenso seufzend nahm er die Arme auseinander und legte seine Hände auf ihrer Hüfte ab. Perplex sah Kisuna ihn an, legte dann auch die ihren auf ihm ab. „Hör auf, es mir noch schwerer zu machen“, erklärte sie ihm bescheiden. Ihren Blick wandte die Ghula dabei beschämt von ihm ab. Nach einer Weile in Stille, beugte sie sich schließlich nach vorne und drückte sich gegen seine Brust. Yomo konnte ihren Herzschlag vernehmen, der immer noch leicht raste. Doch er wurde von Minute zu Minute ruhiger. Ihm war bewusst, dass er diese Nacht nicht viel Schlaf finden würde, schon seit sie ihn berührt hatte. Doch jetzt, da sie, ihren femininen Körper gegen ihn gedrückt, an ihn gekuschelt hatte, würde er erst recht kein Auge zubekommen. „Was hat sie sich nur dabei gedacht“, fragte der silberhaarige Ghul sich. Natürlich würde er darauf reagieren, wenn eine so schöne Frau seinen Körper begutachtete und nach Befriedigung forderte. Nur gut, dass seine Selbstbeherrschung so stark ausgeprägt war und er sich beherrschen konnte. Er wusste selbst nicht, was ihn dazu bewegt hatte, sich ihr physisch so auszuliefern. Doch er wollte er vertrauen, mehr über sie erfahren. Kapitulierend schlang er schließlich seine Arme um sie, es kam ihm in diesem Moment einfach als das Richtige vor. Dann versuchte auch er, vielleicht etwas Schlaf zu bekommen. Doch war er ebenso damit bedient, sie noch ein wenig weiter zu bewachen. „Verlass mich nicht“, murmelte sie nach einer Weile in seine Brust. Ihre Finger krallte sie dabei angespannt in sein Fleisch, ließ dann wieder locker. Yomo erschrak etwas, er konnte ihre Verletzlichkeit deutlich spüren. Sanft strich er Kisuna das Haar von den Schultern, streichelte ihren Nacken behutsam und drückte sie noch etwas stärker an sich. Auch wenn er nicht wusste, was sie so bedrückte, wusste er nur allzu gut selbst, dass jeder eine Vergangenheit hatte. Er wollte ihr helfen. Denn sie beschäftigte ihn wohl genauso, wie auch er sie.

Kapitel 6: Fordere keinen Fuchs heraus

Kapitel 6:

Fordere keinen Fuchs heraus
 

„Nein, ich meine es Ernst, Uta. Ich habe ihn angefasst und er wollte eigentlich gar nicht. Aber ich hab ihn nicht gelassen. Wieso hab ich das getan? Ugh.“ Mit einem von sich selbst genervten Stöhnen warf die Ghula den Kopf in den Nacken, verschränkte die Arme über ihrem Gesicht. Uta saß an seinem Arbeitsplatz und kaute schmunzelnd auf einem Augapfel. „Das ist überhaupt nicht lustig!“, beschwerte sie sich. Doch das überzeugte den anderen Ghul nicht. Er richtete sich von seinem Drehhocker auf und marschierte zu Kisuna. Die war bereits einige Male den Laden auf und ab geschlendert. „Nervosität steht dir nicht.“ Uta erntete dafür einen Todesblick ihrerseits. Erneut seufzte sie tief. „Ich weiß, das ist vollkommen untypisch für mich.“ „Das ist es“, bestätigte der tätowierte Ghul sie. „Aus irgendeinem Grund fühle ich mich in Yomos Gegenwart so seltsam. Verstehst du?“ Uta nickte bloß während er weiter kaute. „Wie fühlst du dich denn?“, hakte er nach. Eigentlich wusste er die Antwort bereits, doch er wollte es aus ihrem Mund hören. Kurz überlegte die Ghula. „Ich fühle mich sicher, aber irgendwie verunsichert.“ Sie hielt kurz inne. „Das macht überhaupt keinen Sinn.“ Dieses Mal konnte sich Uta ein Kichern nicht verkneifen. „Hör auf zu lachen!“, rief Kisuna und boxte ihn in die Seite. Er nahm es gelassen. „Uta, ich weiß nicht warum ich mich in letzter Zeit so seltsam verhalte und fühle und warum es immer“ Wieder hielt sie inne. „Immer mit Yomo zu tun hatte“, seufzte sie, ein Muster dahinter erkennend. Genervt verschränkte sie die Arme vor der Brust, sie fand trotzdem keinen Sinn in der Sache. „Verletzlichkeit.“ Uta drehte sie zu sich und packte sie an ihren Schultern. „Du bist verletzlich, weil du nicht weißt, ob diese Sicherheit, die Yomo dir gibt, bleiben wird.“ Langsam wiederholte sie den Satz in ihren Gedanken und ein wenig Erleichterung war in ihrem Ausdruck zu erkennen. Das musste es sein. Eine andere Option konnte es nicht geben. „Ich weiß, du hattest es nicht immer einfach“, fuhr Uta fort. „Du bist wie ein kleiner Hamster, der in der Tierhandlung unter vielen anderen die ganze Zeit von den Mitarbeitern angefasst wurdest. Und jetzt hast du einen riesen Käfig und mehr Leute, die sich um dich kümmern.“ Verstört sah Kisuna ihr Gegenüber an. „Manchmal werde ich zu philosophisch.“ „Das glaube ich auch.“ Sie konnte natürlich nicht abstreiten, dass Uta mit diesem Vergleich gar nicht so unrecht hatte. Doch sie wollte nicht, dass sich ihr Gedächtnis einschaltete und diese Bilder in ihrem Kopf wieder abspielten. Also wollte sie vom Thema ablenken. Der andere Ghul kam ihr allerdings zuvor. „Und du findest Yomo ziemlich attraktiv“, fügte er hinzu. Als sie dies hörte, errötete ihr Gesicht sich in Sekundenschnelle. „Dein Körper streitet es nicht ab“, meinte Uta während er zurück zu seinem Drehstuhl spazierte. Verlegen strich sich die langhaarige Schönheit sich eine Strähne hinters Ohr. „Klar sieht er gut aus, das habe ich nie abgestritten.“ Sie machte einen Schritt auf ihren guten Freund zu, der bereits den nächsten Augapfel verschlang. „Ich meine, sieh‘ ihn dir an, sein Körper ist durchtrainiert, seine Gesichtszüge eben und sein Ding ist-„ „Uta?“, ertönte eine Stimme von oben, die Kisuna wieder zum Erröten brachte und Uta zum Schmunzeln. „Ich hasse dich.“ „Ich hab dich auch lieb. Willst du deinen Satz beenden, wenn er die Treppe runter ist?“ Mit aggressiven Handgesten verdeutlichte sie Uta, dass sie ihn in diesem Moment gern zerfetzt hätte. Dann betrat das Zielobjekt die Bühne. „Hallo Yomo“, begrüßte der Künstler seinen Freund. Dieser hatte Kisunas Anwesenheit bereits festgestellt, ließ sich davon aber nicht beirren. Leicht genervt hatte diese sich auf eine Ledercouch geworfen. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war dass ihr Mitbewohner sich zu ihr setzen würde. Etwas vorsichtig machte sie ihm Platz und sah dann zu Uta. Der kaute bereits an seinem nächsten Apfel und schmunzelte wieder, worauf sie nur mit den Augen rollte. „Was führt dich heute in mein kleines aber bescheidenes Studio?“, fragte Uta um die Stimmung zu heben. Oder die Stille zu brechen. „Ich brauche eine Maske für Hitori.“ „Das kleine Mädchen? Klar, nimm sie das nächste Mal einfach mit.“ „Danke.“ Die Konversation der beiden männlichen Ghule war binnen Sekunden vorüber und Yomo erhob sich wieder aus der Couch. „Warum hatte er sich überhaupt hingesetzt?“, wunderte sich Kisuna, doch darauf sollte sie sofort eine Antwort bekommen. Ehe der silberhaarige Ghul sich komplett aufgerichtet hatte, warf er ihr einen prüfenden Blick zu. Er wollte sich nach ihr erkundigen, wollte wissen wo sie war und was sie tat. Vertraute er ihr etwa nicht mehr? Hatte er sich nur zu ihr gesellt, um sie zu verwirren? Er war dabei zu gehen, doch Kisunas Reflexe reagierten schneller. „Warte Yomo.“ Sie hielt ihm an Handgelenk fest. Dieses Mal durchdrang sie ihn mit ihrem Blick. Sie war entschlossen dazu, die ganze Sache nicht einfach so auf sich sitzen zu lassen. Und schon gar nicht wollte sie, dass fortan eine merkwürdige oder unangenehme Stimmung zwischen den beiden herrschte. „Wohin gehst du?“ „Antik.“ „Ich komme mit. Bei etwas kann ich bestimmt helfen.“ Ihr gegenüber zögerte kurz, antwortete ihr dann aber mit dem gewohnten Yomo-Nicken. Sie hätte nicht gedacht, dass dies sie einmal beruhigen könnte.

Touka hatte heute frei, der Chef war außerhalb tätig und so kam es, dass Yomo und Kisuna gemeinsam hinter dem Tresen des Antiks landeten. Der Zufall wollte anscheinend ebenso, dass die beiden sich wieder vertrugen. Oder wenigstens dass diese seltsame Stimmung, die über den beiden lag, verschwand. Die Aufgaben waren klar aufgeteilt: Sie nahm Bestellungen auf und bediente, er bereitete alles zu. Zudem zeigte er ihr auch, wie man Kaffe richtig zubereitete. Nie hätte die Ghula gedacht, dass man dabei tatsächlich so vieles falsch machen konnte. Sie war interessiert und aufmerksam, gehorchte ihm heute besonders. Natürlich plagte sie das schlechte Gewissen, aber immer mehr fand sie Gefallen an dem geregelten Ablauf und der entspannten, ruhigen Atmosphäre. Ruhig, so etwas hatte sie davor nicht gekannt. Es war immer jetzt oder nie, verteidigen oder angreifen gewesen. Ein dazwischen hatte es nicht gegeben und wer den Regeln nicht folgte, war ganz schnell Teil der unzähligen Leichen. „Kisuna.“ Er hatte sie aus ihrem Tagtraum (eher Tagalptraum) gerissen. Verschreckten Blickes sah sie ihn an, er schob ihr zwei Tassen Kaffee zu. „Tisch 5.“ Sie nickte etwas stockend und brachte dann die Bestellung zu den Gästen. Heute war nicht viel los, es war unter der Woche und die meisten hatten dann keine Zeit sich gemütlich in ein Café zu setzten. Erst zum Abend hin würden es mehr Leute werden. Schichtende, Schulende oder einfach nach einem entspannten Spaziergang noch einen Kaffee im Laden genießen. Man nahm sich die Zeit, kam runter. Riskant für Mensch als auch Ghul, noch dazu da sie im Antik ständig aufeinandertrafen. Kisuna war fasziniert, dass dieses Konzept so gut funktionierte und es war wohl auch das Geheimnis dieses Straßencafés. Das und der enorm leckere Kaffee. Die Bestellung abgegeben wandte sich die Ghula wieder um, marschierte zurück zu ihrem Platz neben Yomo. Vor diesem direkt an der Theke hatte eine junge Frau Platz genommen. Kisuna schätzte sie ungefähr auf 25 Jahre alt. Ihr Haar war blond, unordentlich zu einem tiefen Dutt im Nacken zusammengebunden. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr in ihr porzelanfarbenes Gesicht, dazu schmälere Lippen auf denen ein rosiger Glanz lag. Ihre hellblauen, großen Augen schenkten Kisuna keine Aufmerksamkeit. Sie waren damit beschäftigt, Yomo zu betrachten. „Wenn sie ihn weiterhin so ansieht, fallen ihr die Augen noch aus“, dachte sie für sich. Dabei hatte sie Yomos Kommando zum Kaffee ausschenken verpasst, was mit einem strengen Blick seinerseits bestraft wurde. Nichts, was die Ghula noch nicht gekannt hatte. Zügig übte sie ihre Aufgabe aus und übergab ihrem Kollegen die Tasse. Ihre Finger streiften indes die seinen minimal, was sie innerlich erzittern ließ. Die Szene von gestern Nacht spielte sich in ihrem Kopf wieder ab und sie war sich sicher, etwas rot geworden zu sein. Kisuna hatte sich noch nicht einmal bei ihm entschuldigt. Zu groß war der Graus vor der Enttäuschung Yomos, die er mit einem üblichen Nicken und seinem ausgeglichenen Ausdruck überspielen würde. Es gefiel ihr in ihrer Vorstellung nicht, also würde es ihr in Realität noch viel weniger gefallen. Ein anderer Weg musste her, um ihm zu zeigen, dass sie sich ihrer Taten schuldig bekannte und wusste, dass es falsch war. Reue war eigentlich nicht ihr Ding, aber sie fühlte sich immer so, als ob sie ihm etwas schuldig wäre. Und sie mochte dieses Gefühlt ganz und gar nicht. Es verschlang zu leicht ihren Verstand und hatte sie bereits verändert. Das war ihr bewusst und es störte sie auch etwas. „Kisuna.“ Yomo ermahnte die Ghula erneut. „Wo bist du mit deinen Gedanken“, flüsterte er ihr zu, als er sich an ihr vorbeiwandte. Sie erschrak etwas. Dass er diese Frage überhaupt stelle, er kannte sehr wohl die Antwort darauf. Dann widmete sie sich, wie befohlen, wieder der Arbeit. Immer wieder trug sie Kaffee, Kuchen und anderes zwischen den Tischen hin und her. Doch nicht nur der Duft der Getränke und Speisen mischten sich hierbei, nein, auch der Geruch von Ghul und Mensch. Etwas, dass sie bei weitem nicht als unangenehm empfand. Was unangenehm seltsam war, war das Verhalten der Ghula, die gegenüber von Yomo saß. Sie blieb Ewigkeiten sitzen, bestellte immer wieder eine Kleinigkeit. Jedes Mal, wenn Yomo alleine dort stand, blickte sie von ihrem Buch, das sie mitgebracht hatte, hoch, beobachtete ihn, lächelte für sich. Jedes Mal, wenn jedoch Kisuna ihrem Mitbewohner hinter der Theke Gesellschaft leistete, verschwanden ihre hellblauen Augen, die außerdem enorm lange Wimpern fassten, wieder in den bedruckten Seiten. Ebenso verschwand ihr Lächeln. Doch sie war ohne Zweifel auch eine Ghula.

„Die steht auf dich“, nuschelte Kisuna nach Schichtende durch ihre Hände hindurch. Ihren Kopf hatte sie darauf gestützt, ihre Ellbogen dabei auf den Tisch. Yomo putze gerade die übrigen Tische und beachtete ihre Aussage erst gar nicht. Die Ghula trat also von der Theke vor, nahm sich einen weiteren Lappen und marschierte zu ihm. „Wer?“, fragte Yomo, während er Kisuna per Handzeichen mitteilte welchen Tisch sie übernehmen sollte. „Na diese Ghula, die die ganze Zeit vor dir gesessen hat.“ Er sah Richtung Theke, wahrscheinlich um sich zu erinnern. Dann blickte er wieder zu Kisuna. „Hm.“ Schon wischte er weiter. Sie wollte gerade noch meckern, da klingelte das Glöckchen der Eingangstür und beide Ghule richteten ihr Augenmerk darauf. Es war bereits geschlossen, also wer sollte jetzt noch kommen? „Wenn man vom Teufel spricht“, dachte sich Kisuna, denn die blonde Schönheit trat zur Tür herein. Sie verbeugte sich tief, entschuldigte sich dafür, noch einmal hereingekommen zu sein, da sie ja eigentlich wusste, dass bereits geschlossen war. Kisuna fand es schrecklich anzusehen, wie die andere Ghula sich anstellte. „Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee sei, aber jetzt bin ich ja hier“, stotterte diese verlegen. „Schon gut.“ Yomo legte den Lappen ab und näherte sich ihr. Kisuna entschied sich bewusst dazu, erst einmal Abstand zu halten, stütze ihre Arme in die Hüften und lehnte sich gegen den Tisch. Sie war ja nur allzu gespannt, was das werden sollte. „Also ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll.“ Leicht errötet faltete die Blondine ihre Hände zusammen. Dann verbeugte sie sich wieder, dieses Mal weniger tief. „Mein Name ist Ito Nozomi. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, mit mir einmal auszugehen?“ Als sie sich wieder erhob stand in ihrem Gesicht ganz groß geschrieben: „Geschafft!“. Kisuna musste sich ein Lachen wirklich verkneifen. Am meisten war sie aber auf Yomos Antwort gespannt. Er war nicht der Typ für Dates, er war insgesamt kein Typ für Romanzen. „Renji Yomo. Danke, aber ich muss ablehnen.“ Jetzt tat ihr diese Nozomi schon fast Leid. Es hatte nicht einmal fünf Minuten für den Ghul gebraucht, einer Frau das Herz zu brechen. Doch diese wollte nicht gleich aufgeben. „Wenn ich fragen darf, wieso nicht?“ Nun fand Kisuna sie schon fast etwas aufdringlich. Doch sie wusste mittlerweile wohl, dass Yomo nicht wirklich für solche Themen zu gebrauchen war. „Weil er schon seiner Freundin den Abend heute versprochen hat“, mischte sich Kisuna in das Gespräch ein und ging zu den beiden anderen Ghulen. „Kuromori Kisuna, freut mich.“ Der Ausdruck in Yomos Gesicht fragte deutlich „Was hast du vor?“, doch davon wollte sie sich nicht ablenken lassen. Sie packte einen seiner muskulösen Arme, verhakte sich darin und schmiegte sich mit dem Kopf an ihn. „Richtig, Schatz?“, fragte sie weiter und zwickte ihn dabei leicht. Er sollte einfach mitspielen. Ein Nicken kam von ihm, womit sie auch schon zufrieden war. „Achso, in Ordnung. Trotzdem Danke, Renji-san.“ Nozomi verließ geknickt den Laden, Yomo sperrte daraufhin zu. Dann sah er wieder zu ihr. „Du hast wirklich keinen Plan von Frauen.“ Kisuna schlängelte sich hinter ihm vorbei und klopfe ihm währenddessen auf die Schulter. „Hoffen wir, dass es auch etwas gebracht hat.“ „Wie meinst du?“ Sie lehnte sich gegen den Tresen. „Naja, sie hat zwar traurig ausgesehen, aber es gibt solche und solche Frauen, Yomo.“ Er schaute nachdenklich zur Tür, dann, nach einem kurzen Augenblick, wieder zu seiner Mitbewohnerin. „Danke.“ Sie lächelte ihn sanft an. „Das war ich dir schuldig nach gestern Nacht.“ Leicht verlegen drehte sie sich um, kreuzte die Arme hinter dem Kopf zusammen. „Lass uns hochgehen.“ Er folgte ihr wortlos.

Yoshimura hatte den beiden Ghulen das Antik für die restliche Woche anvertraut und an sich hatte die dunkelhaarige Ghula auch nichts daran auszusetzten. Im Gegenteil, es machte ihr allmählich richtig Spaß mit Yomo im Café zusammenzuarbeiten. Wäre da nicht eine gewisse Ito Nozomi gewesen, die die folgenden Tage stets zur selben Zeit ins Antik kam, das Gleiche bestellte und Yomo fast schon stalkermäßig beobachtete. Kisuna sollte Recht behalten. Es war, als ob sie jeden seiner Bewegungen studierte und Kisuna war sich ganz sicher, dass sie das nicht tat, weil sie wissen wollte, wie man Kaffee richtig zubereitete. Doch der männliche Ghul ließ sich davon nicht beirren. Er erledigte seine Aufgaben getreu und war von seiner Helferin positiv überrascht. Es freute ihn auch, dass sie sich mittlerweile gut eingelebt hatte und ihm gerne half. Ihm war durchaus bewusst, dass dies ihre Art war, sich zu entschuldigen. Dagegen hatte er nichts. „Was meinst du?“, fragte sie nach Ladenschluss. Dieses Mal hatte sie ihn aus den Gedanken gerissen. „Hm?“ „Hey, du hast mir gar nicht zugehört!“, beschwerte die Ghula sich mit einem kecken Lächeln auf den Lippen. „Ich habe gefragt, was du davon hältst, dass diese Nozomi jeden Tag vorbei kommt. Sie sitzt sogar immer am selben Platz!“ Kisuna beschäftigte diese Sache wohl mehr, als ihren Kollegen. Er hatte immer ein wachsames Auge, wenn ihm etwas bizarr vorkam, doch er ließ es sich nicht derartig anerkennen. „Und?“ „Ich meine ja nur, ich finde das verdächtig.“ Kisuna wischte den letzten dreckigen Tisch sauber und begab sich dann an Yomos Seite. „Fertig?“ Yomo schüttelte den Kopf, nahm dann mehrere Müllbeutel zur Hand, von denen er ihr ebenso einen zudrückte. Die Ghula seufzte, fechelte dann mit ihrer freien Hand über ihre Nase. Es stank bereits, also war es höchste Zeit, das Zeug zu entsorgen. Yomo öffnete den beiden die Vordertür. Draußen angekommen, vernahm Kisuna einen seltsamen Geruch und der ging nicht von den stinkenden Müllsäcken aus. Er verschwand auch nicht, als sie sich dieser in die Gassen hinter dem Antik entledigten. Nein, er wurde viel mehr stärker und kam auf sie zu. Sie wusste, dass es sich um einen anderen Ghul handeln musste, doch er musste sie die Quelle des Duftstroms ausfindig machen um sinnvoll agieren zu können. Dann sah sie plötzlich etwas aus dem Dunkel der Gasse aufblitzen. „Yomo, pass auf!“ Blitzschnell hatte sie ihre Kagune ausgefahren und die Kralle, die auf die beiden zugeschossen kam, aufgehalten. Doch sie konnte etwas ihre Wange hinab rinnen spüren. Die andere Kagune hatte sie noch gestreift. Eifrig wischte sie das Blut weg, leckte es von ihrem Finger. Yomo hatte sich hinter in Kampfposition begeben, gab ihr Rückendeckung. Kisunas Schuppenkralle glühte bereist in einem kräftigen orange-rot, sie war bereit zu kämpfen und wartete auf den nächsten Schritt des Angreifers. Konzentriert lauschte sie, konnte es dann aber nicht mehr abwarten. „Zeig dich!“, rief sie in die Dunkelheit hinein, worauf nur ein hohes Kichern zurückhallte. Schritte waren zu hören und blutrot leuchtende Pupillen stachen aus dem Dunklen hervor. Als das Gesicht der Gestalt, die sie angegriffen hatte, durch die Schatten der Nacht drang, war Kisuna nicht allzu überrascht um wen es sich handelte. Viel mehr war sie wütend. „Verdammt, ernsthaft jetzt?“ Die dunkelhaarige Ghula knirschte die Zähne zusammen. „Ito Nozomi.“ Doch ehe sie sich versah, hatte diese bereits ihren nächsten Angriff angesetzt. „Du bist Schuld, dass ich ihn nicht haben kann!“, rief sie dabei. Kisuna wich der in einem hellen grün schillernden Panzerkralle geschickt aus, schließlich wusste sie, dass diese Kagune der ihren unterlegen war. Anscheinend hatte die andere Ghula es nur auf sie abgesehen, denn Yomo wurde nicht angegriffen. Auch nicht, als er zur Unterstützung mit seiner Kralle auf den Gegner zielte. Kisuna sprang hoch, holte mit ihrer Kralle weit aus und zielte auf Nozomi. Doch die wich aus. „So einfach wird das wohl nicht.“ Also spaltete sie ihre Kagune, sodass sie drei pulsierende Krallen bereit zum Angriff hatte. „Warte.“ Yomos Augenmek lag konzentriert auf ihr. Er kannte diese Kralle, doch wollte er nicht glauben, was er dachte. Kisuna warf ihm einen selbstbewussten Blick zu. „Yomo, vertrau mir.“ Er zögerte. „Bitte.“ Sie wollte es als Chance wahrnehmen, es wieder gutzumachen und die dicke Luft zwischen ihnen zu klären. Schlussendlich nickte er, sie lächelte ihm erleichtert zu. Dann begab sie sich wieder in Kampfmodus. „Na komm!“, rief sie der anderen Ghula zu, diese ließ sich nicht zweimal herausfordern. Eine Weile konnte sie Kisunas dreischwänziger Kralle ganz gut abwehren, doch durch das Gewicht ihrer eigenen Kagune, verlangsamten sich allmählich ihre Bewegungen. Die Schuppenkrallenträgerin hingegen fühlte sich seit langem wieder eng verbunden mit ihrer Natur, dem Ghul-Dasein. Ihre Angriffe wurden immer schneller, präziser, wuchtiger. Sie hatte Nozomi bereits am Bein getroffen, doch das hielt diese nicht auf, weiter alles zu versuchen um sich zu verteidigen. Ihre Kraft schwand mit jeder Sekunde und dann geschah es. Sie hatte Kisuna aus den Augen verloren, ein Fehler, der tödlich enden könnte. „Komm raus!“, schrie sie, wobei ihre Stimme nicht mehr so selbstbewusst wie davor klang. Es glich eher einem Tier, das langsam aber sicher begriff, wie es um es stand: Gar nicht gut. „Gerne doch.“ Die Antwort kam aus der Finsternis. Schreckhaft blickte Nozomi hin und her, hinter sich und über sich. Da sah sie etwas über sich, es zog sie in die Luft, zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Kisuna schwang sich rückwärts über sie und hielt sie mit zwei ihrer drei Krallen fest. Ihre Gegnerin hielt sie nun in etwa zwei Metern Höhe mit ihrer Kagune gegen die Wand gedrückt und gefesselt. „Hab dich“, kicherte Kisuna und setzte ein freches Grinsen auf. Nozomi konnte sich nicht aus diesem Griff befreien, schlimmer sogar, es bohrten sich die Enden der Kagune in ihr Fleisch. Ihre eigene Kralle wurde ebenso festgehalten, ein Fluchtversuch war sinnlos. „Was willst du, Ito-san?“, fragte Kisuna und drückte fester zu. Die andere Ghula zuckte vor Schmerzen auf. „Das reicht.“ Yomo begab sich zu den beiden Damen, seine Kagune hatte er bereits wieder eingefahren. Die dunkelhaarige Ghula sah ihn durchdringenden Blickes an, vermittelte ihm, dass sie sein Vertrauen immer noch benötigte. Yomo sah er sie, dann die andere Ghula an. „Ihn will ich“, keuchte diese. Kisuna sah ebenfalls zu ihrer Gegnerin. Wieder drückte sie fester zu, überließ der anderen die Schmerzen. „Kisuna.“ Yomo hatte seine Hand auf ihrer Schulter abgelegt, wollte sie besänftigen. Prüfend lag sein Blick wieder auf ihr, doch Kisuna ließ nicht locker. Sie wandte sich zu ihm. „Bitte, überlass das mir“, flüsterte sie ihm zu. „Ich werde ihr nichts Schlimmes antun, vertrau mir. Yomo, bitte.“ Er wusste nicht, was es am Ende war, das ihn überzeugt hatte. Etwas an der Art, wie sie seinen Namen aussprach, löste in ihm ein Gefühl der Vertrautheit aus. Ob es gut oder schlecht war, konnte er in diesem Moment nicht entscheiden. „Spiel einfach mit“, fuhr Kisuna fort, zwinkerte ihm dann zu. Yomo hatte keinerlei Ahnung, was auf ihn zukommen würde, doch er überließ ihr die Situation. Kisuna drückte erneut fester zu, was einen weiteren, abgehakten Schrei von Seiten Nozomis als Folge hatte. „Schau gut zu“, sprach sie zu dieser. Sie sah zu Yomo, sah ihm tief in die Augen. Dann legte sie ihre Hände auf seiner Brust ab und lehnte sich etwas zu ihm hoch. Sie hoffte, dass ihr Plan funktionieren würde, doch viel mehr hoffte sie, dass er einfach mitmachen würde und sich nicht dagegen sträubte. Es war skurril, doch vielleicht würde es eben genau deshalb gelingen. Langsam bewegte sie ihre Lippen auf die seinen zu, küsste ihn erst zärtlich, denn sie wollte seine Reaktion abwarten. Als er sich nicht dagegen wehrte (sie hätte es auch nicht gesehen, denn ihre Augen waren zu), küsste sie ihn leidenschaftlicher, brachte auch ihre Zunge zum Einsatz. Dass Yomo nicht daran gewöhnt war, konnte sie spüren, aber das störte sie nicht. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, konnte fühlen, wie er seine Hände auf ihrer Hüfte ablegte und sie näher zu sich zog. Spielte er nur so gut oder gefiel es ihm etwas auch? Nie hätte die Ghula gedacht, dass sie ihn so einfach küssen würde, schon gar nicht nach ihrer Aktion von vorheriger Nacht. Den Gedanken daran verwarf sie allerdings schleunig und widmete sich lieber wieder Yomo. Auch wenn er nicht geübt war, schaffte er es doch, ihrem Rhythmus zu folgen. So als ob sie es öfter täten. Da er sich nicht zu wehren schien, entschied Kisuna sich dazu, ihn noch impulsiver zu küssen. Anfangs leicht überrascht, folgte er ihr jedoch schnell, brachte sie sogar zum Stöhnen. Schauspielern musste sie dabei nichts, denn es gefiel ihr wirklich. Nun öffnete sie ihre Augen währenddessen und sah ihre Angreiferin aus dem Augenwinkel heraus an. Ihr Ausdruck dabei verstohlen, stechend, demonstrativ. Und es zeigte Wirkung, denn sie erntete einen, körperlich als auch emotional, schmerzlichen Ausdruck von der anderen Ghula. Als sich die beiden schließlich aus dem Kuss lösten, untersuchten sie gegenseitig die Reaktion des jeweils anderen. Ihre Blicke ruhten für eine kurze Weile aufeinander, dann erst sprach Kisuna zu ihm: „Geh schon voraus, ich komme gleich nach. Vertraust du mir?“ Nach ihrem Kuss hätte sie womöglich nicht mehr fragen müssen. Yomo drehte sich ohne zu zögern um und verschwand in der Dunkelheit. Dann sah Kisuna wieder zu Nozomi. Deren leidender Gesichtsausdruck war für sie mehr als nur ausreichend. Er war herrlich anzusehen. „Hast du es jetzt verstanden?“, fragte sie diese und drückte ein letzes Mal mit ihrer Kagune zu. Dann ließ sie die andere Ghula fallen. Ein dumpfer Ton erklang, als diese auf dem Boden aufkam. Kisuna ging einen Schritt auf sie zu. „Hast. Du. Jetzt. Verstanden?“ „J-ja, hab ich.“ Schniefend richtete sich Ito-san auf, fasste dann an eine der Wunden und verzog das Gesicht dabei. „Wer bist du wirklich, du bist viel zu stark für den 20. Bezirk.“ Kisuna musste auf diese Frage lächeln. „Nenn mir einen guten Grund, warum ich gerade dir das sagen sollte?“ Nozomi schwieg. „Siehst du. Aber ich will mal nicht so sein“, fuhr die langhaarige Schönheit fort, wobei sie ihr Kakugan verschwinden ließ. „Sagen wir mal so, zu tun was man will, gebührt nur den Starken.“ Sie begab sich, die Hände hatte sie in den Hosentaschen, einen Schritt auf Nozomi zu. Dann packte sie diese mit einer Hand am Hals und zog sie nach oben. Der Ausdruck in ihren Augen blieb eiskalt. „Reicht dir das als Antwort?“ Die andere Ghula biss die Zähne zusammen, gestand sich ihre Unterlegenheit ein. „J-ja, tut es“, japste sie. Kisuna ließ sie nach kurzer Zeit wieder runter, auf ihrem Gesicht ein Siegerlächeln. Sie drehte sich um und spazierte zufrieden davon. Kurz bevor sie in der Finsternis verschwunden war, ihr Gesicht wurde bereits zur Hälfte von den Schatten eingenommen, wandte sie sich noch einmal zu Nozomi um. „Schönen Abend noch.“ Ein leises Knacken hallte anschließend durch die wüsten Gassen.

Kapitel 7: Ein Rabe zur Rettung

Kapitel 7:

Ein Rabe zur Rettung
 

„Und, wie hat dir die Arbeit im Antik gefallen?“ Herr Yoshimura begrüßte Kisuna am darauffolgenden Morgen besonders freundlich. Er hatte um ein Gespräch gebeten. Deshalb nahm sie, wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, auf der Couch gegenüber von ihm in einem der Hinterzimmer des Café Platz. Es kam ihr beinahe zu freundlich vor, das war sie nicht gewohnt. „Gut, wieso fragen Sie? Gab es Probleme?“ „Probleme?“, er lachte vergnügt. „Oh, nein, im Gegenteil.“ Sie verstand nicht wirklich. Bis Yomo sich zu den beiden gesellte und sie diese seltsame, wortkarge Show abzogen, wobei keiner der beiden einen Ton verlor, der andere jedoch sofort wusste, was der Erste meinte. Die beiden waren wirklich eine Klasse für sich. Und sie führten definitiv wieder etwas im Schilde. „Was ist es diesmal?“, fragte sie, wobei sie eine Augenbraue kritisch hochzog. Yoshimura schob ihr einen Kaffee entgegen. „Ich möchte dir etwas anbieten. Schließlich sehe ich, dass du dich wirklich anstrengst. Das soll nicht unbelohnt bleiben.“ Skeptisch runzelte sie die Stirn, sah zu Yomo, der wie gewohnt die Arme vor der Brust verschränkt hatte, dann wieder zu Yoshimura. Der erkannte ihr Misstrauen und wollte sie nicht mehr länger warten lassen. „Yomo hat mir erzählt, dass du zeichnest. Ich habe dein Werk von ihm gesehen, das ist beeindruckend.“ „Danke, aber ich verstehe immer noch nicht ganz, was ihr beide geplant habt.“ Wieder lachte der ältere Herr. Seine Falten bogen sich dabei in die verschiedensten Richtungen, was Kisuna wiederum amüsant fand. „Nun ja, wir haben hier im Erdgeschoss einen Raum, der eigentlich ungenutzt ist. Dort stehen nur ein paar Kisten und Geschirr. Ich habe mir gedacht, wir könnten daraus ein Atelier für dich schaffen. Natürlich nur, wenn du das möchtest.“ „Wirklich, im Ernst?“ Kisuna sprang vor Freude aus dem Sofa. Dann atmete sie tief ein und aus, räusperte sich verlegen und setzte sich dann wieder. „Entschuldigen Sie, aber damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich würde das Angebot sehr gerne annehmen. Sind Sie auch sicher?“ Der Chef lächelte ihr herzlich zu. „Selbstverständlich. Du hast es dir verdient.“ Erneut erhob sich die Ghula, spazierte um den Tisch herum zum anderen Sofa, auf dem der alte Herr saß und verbeugte sich tief. Sie war den beiden anderen Ghulen unglaublich dankbar, dass sie hier eine Unterkunft, ein Heim gefunden hatte. Und doch fand Herr Yoshimura immer noch einen Weg, sie mehr zum Staunen zu bringen. Ein eigenes Atelier, wie genial war das den bitte? Als sie sich wieder hochbeugte sah sie zuerst in Yoshimuras zufriedenes Gesicht, dann zu Yomo. Sie wollte sich auch bei ihm bedanken, doch war sie noch etwas unsicher wie sie dies tun sollte. Eine einfache Verbeugung reichte allerdings für beide eigentlich schon lange nicht mehr aus. Bevor sie die Gelegenheit hatte, zu Yomo etwas zu sagen, unterbrach sie der Chef bereits. „Möchtest du dir den Raum gleich noch ansehen?“ Kisuna nicke zustimmend. Herr Yoshimura gab seiner rechten Hand ein Zeichen, sie verstand sofort. „Yomo wird ihn dir zeigen, ich muss mich leider für heute schon verabschieden.“ Die Ghula verbeugte sich nochmals, bevor der ältere Herr schließlich den Laden über den Seiteneingang verließ. Hoffnungsvoll sah sie zu Yomo, welcher nun gelassen auf sie zukam. Seine Schritte hallten wieder, oder war es etwa das Pochen in ihrem Ohr? Ihr Herz schlug schneller, umso näher er ihr kam. Wieder erinnerte sie sich an den Kuss, den sie gestern geteilt hatten. Hitze stieg in ihr auf, sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Als er sich an ihr vorbeibewegte, konnte sie für einen flüchtigen Moment seinen Geruch wahrnehmen. Er tanzte in ihrer Nase und sogleich fühlte sie sich entspannter. Sie erinnerte sich an den Abend, an dem er sie fest in den Armen gehalten hatte, als sie schreiend aufgewacht war. Bereits dort hatte sein Duft sie verlockt. Yomo stand schon einige Meter vor ihr, hatte sich umgedreht um nachzusehen, wo sie denn blieb. Etwas aufgeregt holte sie ihn auf, betrachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus, als beide wieder Schritt aufnahmen. Er bemerkte dies und sah sie ebenso an. „Was ist?“ Seine Stimme klang ernst, doch gleichzeitig etwas besorgt. Kisuna konnte ihm nicht länger in die Augen schauen, zu sehr hang ihr die Erinnerung nach, spürte sie noch immer seine Lippen auf den ihren. „Nichts“, antwortete sie eintönig, wollte nicht, dass er ihr die Angespanntheit anmerkte. Doch das würde Yomo so oder so. Als er plötzlich stoppte, staunte die Ghula nicht schlecht. „Wow, das ist ja riesig!“, stellte sie überrascht fest. Sie begann den Raum zu observieren, begann sich bereits auszumalen, wie sie ihn einrichten würde, wo und wie sie ihre Materialien anrichten würde. All das während Yomo sie, gegen einen Tisch lehnend, seine Arme verschränkt vor der Brust haltend, beobachtete. Schließlich sah sie zu ihm, er fing ihre Blicke wie magisch ein, schien sie zu absorbieren. Es war als ob er ihre Aufmerksamkeit automatisch auf sich zog, nur in dem er sie stets im Auge behielt. Da fiel ihr ein, dass sie sich noch bei ihm bedanken wollte. Gerade stand sie einfach nur da, sah ihn an und überlegte. Es musste dumm wirken, aber das interessierte sie nicht. Denn weder sie ließ ihn, noch er sie aus den Augen. Der Blick beider Ghule haftete jeweils konzentriert auf dem Anderen. Yomo senkte den Kopf etwas, hinterfragte er die Situation gerade? Dann bewegte sie sich endlich auf ihn zu. Er hob den Kopf wieder, war wohl gespannt, was sie vorhatte. So genau wusste Kisuna dies auch nicht, aber wollte sie nicht mehr länger einfach nur mitten im Raum wie angewurzelt dastehen und Löcher in die Luft starren. Wohl eher Löcher in Yomo starren. Sie wollte sich unbedingt noch bedanken, doch je tiefer Yomos Blick sie durchdrang, umso mehr kreuzte der Kuss ihren Gedanken aufs Neue und ließ sie innerlich erbeben. Es fühlte sich an wie in Trance. Kisuna dachte zurück an das Gefühl seiner Hände auf ihren Hüften, wie er sie an sich, an seinen muskulösen Oberkörper zog, er seine Finger während des Kusses in ihre Haut drückte. Wie seine Lippen auf die ihren trafen und ihre Zungen sich in einem sinnlichen Tanz abwechselten. Wieso musste sie immer noch daran denken? Was war es, dass Yomo in ihr auslöste, sodass sie anscheinend nicht mehr klar denken konnte? Kisuna dachte über all dies nach, während sie auf ihn zuschritt. Versunken in ihrer eigenen, inneren Welt bemerkte sie nicht, wie sie versehentlich stolperte. Sie riss ihre Augen weit auf, als sie bereits am Fallen war. Doch war sie schon nah genug an dem männlichen Ghul gewesen, sodass sie auf ihn fiel und sich vor Schreck an seinem Shirt festklammerte. Yomo hatte einen Arm auf den Tisch hinter sich gestützt um Halt zu bewahren, dabei umschlang sein anderer Arm die gestürzte Kisuna. Diese lehnte an seiner Brust, den Kopf darin vergraben. Als sie hochsah, warf sie ihm einen beunruhigten Blick zu. Verwirrung und Verlegenheit standen ihr ins Gesicht geschrieben, hatte er sie schließlich schon wieder aufgefangen. „Irgendwie lande ich immer in deinen Armen“, lachte sie etwas zaghaft. „Schon gut“, meinte Yomo. Sein Blick schweifte von ihr ab. Moment, war das ein Ausdruck von Verschämtheit seinerseits? War das bei ihm überhaupt möglich? Kisuna hätte schwören können, dass er gerade etwas errötet war... Oder bildete sie sich das nur ein? Ohne Scheu legte sie ihre Wange wieder auf seiner Brust ab. „Erst der Kuss und jetzt das...“, murmelte sie unbedacht vor sich hin. Dann wurde ihr erst bewusst, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Entgeistert sah sie zu ihm hoch, nun wieder in seine Augen. Auch Yomo sah etwas erstaunt aus. „Das ähm, war keine Absich“, stotterte sie betreten. Nanu, was war denn nun mit ihr geschehen? Wieso genierte sie sich so? Seufzend ärgerte sie sich über ihre eigene Absurdität. „Das habe ich mir eigentlich nur gedacht“, fügte sie schließlich noch hinzu. Sie wich seinem Blick aus. Doch die Stille war ihr wiederum ebenso unangenehm. „War es... war es dein erster Kuss?“, hakte sie weiter nach. Blamiert hatte sie sich bereits, also konnte sie ihn auch das noch fragen. Mit einer richtigen Antwort rechnete die dunkelhaarige Ghula bei Yomo bezüglich solcher Themen sowieso nicht. „Und wenn es das war?“ Kisuna zuckte auf, wagte wieder einen Blick zu ihm. Wie gewohnt ruhte sein Augenmerk konzentriert auf ihr. Er hielt sie noch immer in seinen Armen, hatte schon seinen anderen Arm um ihre Hüfte gelegt, damit er sie besser festhalten konnte. Warum genau Yomo diese Nähe ohne Weiteres zuließ, wusste er selbst nicht so genau. Doch es störte ihn nicht, ihr Halt zu geben, sie gegen seine Brust gepresst zu spüren. Wie ihre Hände leicht zitterten und sie sich etwas unsicher an ihm festkrallte. Er wusste, dass sie das nicht bemerkte, doch er ließ sie einfach. Er würde sie nicht von sich wegschieben, was würde das bringen? Oder wollte er es vielleicht auch gar nicht? Kisuna war sichtlich überrascht von seiner Antwort. Andererseits wusste sie, dass er unerfahren auf diesen Gebieten zu sein schien. „Tut mir Leid, dass du deinen ersten Kuss an mich verschwenden musstest.“ Es war ihr deutlich unangenehm. „Wieso verschwendet?“ Wieder zuckte sie auf, ihre Augen durchfuhren Yomo mit Neugierde. „Hat es... hat es dir denn gefallen?“, fragte sie, etwas verwundert und dennoch hoffnungsvoll. Was sollte er denn darauf antworten? Bisher war der männliche Ghul noch nie in solch eine Lage geraten, Kisuna hatte ihn verwirrt. „Schon gut, sag nichts“, unterbrach sie ihn dann aber doch und fuhr sich nervös durchs Haar. „Ich habe dich schon zu sehr mit meiner Fragerei bedrängt“, ergänzte sie, wobei sie verkrampft lächelte. Yomo wunderte sich über ihren plötzlichen Rückzug. Sonst war sie doch immer so aufbrausend? Verlegen senkte sie den Blick und hielt kurz Inne. Dann beugte sich die Ghula etwas hoch und küsste ihn auf die Wange. „Eigentlich wollte ich mich noch bei dir bedanken... also...Danke, Yomo.“ Zaghaft stützte sie sich auf, versuchte sich aus seinen Armen zu lösen. Yomo packte sie jedoch an den Schultern, bevor sie die Chance hatte, sich von ihm abzuwenden. Seine grauen Augen fesselten sie mit seinem Blick, ließen sie nicht entkommen. Kisuna fühlte sich wie in seinen Bann gezogen, wusste dass sie errötete. Sie öffnete den Mund etwas, entschied sich dann doch dazu, zu schweigen und wartete gespannt, was er nun vorhatte. Sein Verhalten war äußerst untypisch, aber das war das ihre wohl auch. Wann war sie schon gar verlegen? Und zierte sich so vor einem Mann? Yomo schaffte es wohl irgendwie, tiefer zu ihr durchzudringen, seine Berührungen allein reichten schon aus um sie in Bedrängnis zu bringen. Das hatte sie noch nie und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Was war es nur? Was würde er jetzt tun? Warum sah er sie so an? Was fühlte sie da? „Was macht ihr beiden denn da?“, platzte eine weibliche Stimme hervor, sie ließ beide Ghule aufhorchen. Es war Touka. Kisuna wandte sich von Yomo los, platzierte sich einen Schritt weit entfernt von ihm mit verschränkten Armen. Gleichfalls tat er dies. „Yoshimura meinte ich würde euch hier finden. Damit habe ich aber nicht gerechnet, was war das?“ „Nichts.“ Yomo antwortete kurz und knapp für beide. „Nach Nichts sah das aber für mich nicht aus.“ Touka drehte sich zu Kisuna hin. „Du bist doch die Neue, habe ich da Recht?“ Diese nickte. „Ja. Kuromori Kisuna, freut mich dich...“, sie überlegte einen kurzen Moment. „...vernünftig kennenzulernen.“ „Tss.“ Die blauhaarige Ghula hielt anscheinend nicht viel von ihrer Antwort, aber das dachte sie sich bereits. Nichts was sie jetzt gesagt oder getan hätte, hätte diese Situation noch retten können. „Und bist du nicht diejenige, die Yomo verletzt hatte?“ Kisuna knirschte die Zähne zusammen. Yomo sah zu ihr, wollte ihr wohl verdeutlichen, Ruhe zu bewahren. „Ja, die bin ich wohl“, entgegnete sie monoton. Touka zog darauf skeptisch eine Augenbraue hoch. „Und jetzt willst du es gutmachen, in dem du dich an ihn schmeißt?“, hakte diese weiter nach. Kisuna war deutlich genervt, doch versuchte sie sich wirklich zurückzuhalten. Herr Yoshimura hatte sie längst aufgeklärt, dass diese Ghula wohl nicht mühelos zu überzeugen war. „Wie lächerlich ist das denn.“ „Touka.“ Yomo funkte dazwischen, bevor sie selbst auch nur ansatzweise reagieren konnte. Besser so. „Du bist auf ihrer Seite?!“ Empört stemmte die Andere die Hände in die Hüften. Kisuna verdrehte genervt die Augen. „Ich bin auf keiner Seite.“ Der männliche Ghul hatte sich aufgerichtet, sein Blick wieder streng. Seine Muskeln spannten sich in seinem gewöhnlichen weißen Shirt und seine Augen verengten sich. Kisuna kannte diese Pose, sie bedeutete nichts Gutes. Glücklicherweise war jedoch nicht sie diejenige, die mit Yomos schlechter Laune bestraft wurde. Nein, es war Touka, die selbst mehr als nur vor Ärger aufgeladen zu sein schien. Eine Weile starrten sich die beiden an, dann seufzte die andere Ghula gereizt. „Ich soll euch ausrichten, dass wir heute zu dritt Schicht haben. Wir öffnen in einer halben Stunde, seit dann vielleicht fertig mit euren Liebeleien.“ Energisch drehte Touka sich um, warf Kisuna dabei noch einmal einen prüfenden Blick zu und spazierte davon. Yomo seufzte ebenso, sah dann zu ihr, die sich nicht einen Zentimeter bewegt hatte, doch völlig verwirrt war. „Was war das denn?“ Sie atmete tief ein und wieder aus. „Ist sie immer so angriffslustig?“ Yomo nickte nur, worauf sie ebenfalls seufzte. „Der Chef hat das mit Absicht gemacht“, stellte sie fest, wobei sie die Hände schwungvoll in den Nacken warf. Auch darauf nickte er.
 

Die Arbeit mit Touka funktionierte relativ entspannt, was Kisuna erstaunte. Vor den Kunden lächelte sie sogar, war freundlich, ganz anders als zuvor zu ihr. Aber das musste sie wohl auch. Beide Ghule brachten nun reichlich schneller die Bestellungen an den Tisch, wobei Kisuna noch öfter Yomo hinter der Theke etwas half. Mittlerweile hatte sie den Trick herausgefunden, damit auch ihr Kaffee vergleichsweise genießbar schmeckte. So gut wie Yomo oder der Chef selbst war sie natürlich lange noch nicht, doch sie freute sich über den Fortschritt, den sie gemacht hatte. Und er blieb auch ihrem Kollegen nicht unbemerkt. Yomo hatte sie gelobt, selbstverständlich hatte sie dies noch um einiges mehr motiviert. „Hey, sieh mal!“, flüsterte sie ihm dann zu. „Das ist doch Nozomi dort drüben, die unbedingt mit dir ausgehen wollte.“ Kisuna deutete auf die blonde Schönheit, sie hatte an einem Tisch am Fenster Platz genommen. Ihr gegenüber saß ein gutaussehender junger Mann, ein Ghul, der ebenfalls öfters das Antik besuchte. Die beiden schienen sich gut zu unterhalten. „Sie ist schnell über dich hinweg gekommen“, scherzte Kisuna. Ein freches Grinsen konnte sie sich dabei nicht verkneifen. Yomo sah sie misstrauisch an. Sie hatte sich auf den Tresen gestützt, der Kopf ruhte in einer Hand. „Was hast du noch getan, gestern?“ Erschrocken fuhr sie auf. Hatte Yomo sie durchschaut? Sein Blick hatte sich verfinstert, kein gutes Zeichen. „Nichts schlimmes, ich habe sie nur noch einmal zurechtgewiesen.“ Er runzelte die Stirn, schien ihre Aussage anzuzweifeln. Sie hatte nicht gelogen, nur die Wahrheit etwas verschönert. Der Blick der anderen Ghula streifte durch den Raum, erfasste Kisuna, worauf sie blitzschnell wieder wegsah. Diese schmunzelte zufrieden, erntete darauf erneut einen strengen Blick von Yomo. „Hey, du bist nicht fürs Faulenzen hier“, beschwerte sich Touka, die mit leeren Tellern zu den beiden zurückhuschte. Kisuna richtete sich auf und half ihr. Dennoch konnte sie spüren, wie Yomos Blick sie weiterhin verfolgte. „Willkommen im Antik, was darf es für Sie sein?“, fragte sie äußerst freundlich am nächsten Tisch angekommen. „Einen Kaffee, schwarz. Und vielleicht noch deine Nummer?“ Wie bitte? Verblüfft sah sie ihren neuen Kunden an. Er war attraktiv, hatte karamellbraunes Haar, das nach hinten geglättet war. Ein paar einzelne Strähnen wollten aber nicht sitzen und fielen ihm in sein schmales Gesicht. Seine Augen schimmerten ebenso bräunlich, jedoch ein paar Töne dunkler als seine Haarpracht, sie musterten Kisuna von oben bis unten. Er war athletisch gebaut, nicht so muskulös wie Yomo, aber dennoch angenehm zu betrachten. Seine schwarze Lederjacke passte zu seinen dunklen Sneakers, die definitiv ein Vermögen gekostet hatten. Und er war ein Mensch. Sie lächelte neckisch, begann dann die Bestellung zu notieren. „Kommt sofort. Wenn du dir das nächste Mal etwas Besseres einfallen lässt, vielleicht.“ Sie zwinkerte ihm amüsiert zu, fragte dann seinen Freund neben ihm nach seinen Wünschen. „Steht das Angebot auch wirklich?“, hakte der Kerl nochmals nach. Kisuna überlegte einen Moment. Warum eigentlich nicht? Vielleicht könnte sie mit ihm ihren Spaß haben. Essen könnte sie ihn sowieso nicht, dann würden der Chef und Yomo sie wohl wieder auf die Straße setzten. Außerdem wollte sie nicht ihr frisch gewonnenes Atelier opfern müssen. Doch ein wenig Unterhaltung, was könnte das schon schaden? „Kommt darauf an, was du zu bieten hast.“ Schwungvoll wandte sie sich um und brachte die Bestellung zu Yomo. Dieser sah überhaupt nicht begeistert aus. Eifrig half sie ihm, alles zuzubereiten, um seinem strikten Ausdruck schnell entfliehen zu können. Was hatte er nun schon wieder? „Hier, das Gewünschte.“ Es klimperte ein wenig, als sie die Tassen abstellte. Der junge Mann nahm seinen Kaffee freudig und vor allem flott entgegen, streifte dabei ihre Hand. Natürlich war dies beabsichtigt, er wollte sie wohl unbedingt überzeugen. „Deine Tattoos sind echt cool und so gut gestochen“, komplimentierte er die Ghula. Dann krempelte er einen Ärmel hoch. „Hab‘ bis jetzt nur eines, aber ich möchte definitiv mehr.“ Kisuna fühlte sich schon etwas geschmeichelt. Da sowohl beide ihre Oberarme, Hände als auch ihr Dekolletee und Hals tätowiert waren, stoß sie häufig auf Ablehnung und Ekel. Viele fanden ihre vielen Tätowierungen widerwärtig, abscheulich und skandalös. Doch das interessierte sie nicht. Viel mehr schätzte sie es jedoch, wenn auch jemand daran Begeisterung fand. Wie Uta oder eben dieser Mann hier. „Du sammelst Pluspunkte, was findest du noch gut an mir?“, wollte sie wissen, wobei sie ihm ein freches Lächeln schenkte. „Wenn ich ehrlich bin, bis jetzt alles. Sonst hätte ich dich doch nicht angesprochen. Meine Name ist übrigens Katou Akio.“ Er lächelte freundlich, doch sein Blick strahlte Stolz aus. Kisuna wollte ihren echten Namen nicht nennen, also überlegte sie sich schnell einen anderen Nachnamen. Er war schließlich immer noch ein Fremder, ein Mensch noch dazu. „Ishida Kisuna. Freut mich.“ Sein Lächeln wurde breiter, seine Augen funkelten noch heller. „Darf ich dich zum Essen einladen?“, fragte er geradeheraus ohne einen Funken Scheu in seinem Ton. Seine Selbstsicherheit ließ sie perplex zurück, sie atmete tief aus. „Warum nicht.“ Katou-san strahlte überlegen, lies sich dann gegen die Lehne des Stuhles fallen. Einen Arm hatte er darauf abgelegt, er wirkte wie einer dieser Aufreißer aus alten Romance-Filmen. „Wie wäre es gleich heute Abend?“ „Von mir aus. Du kannst mich hier abholen nach meiner Schicht, 20:00 Uhr.“ Er nickte gut gelaunt und nahm schließlich triumphierend einen Schluck von seinem Kaffee. Kisuna hatte wieder Kurs zurück zum Tresen aufgenommen, wo Yomo bereits mit düsterem Blick auf sie wartete. Er signalisierte ihr, dass sie mitkommen sollte, gab Touka ein Zeichen, dass sie kurz Pause machten, da nicht viel los war. Mit mulmigem Gefühl verschwand sie mit ihm durch die Tür in den hinteren Gang. „Was ist?“ Sie runzelte verwunder die Stirn. Yomo hatte sich ihr gegenüber aufgebaut, die Arme vor der Brust gekreuzt. Das war seine übliche Pose, die er stets einnahm. „Was war das eben?“ Langsam dämmerte es ihr, was er von ihr wollte. Mit einem schwermütigen Seufzer ließ sie sich gegen die Wand hinter sich fallen, verschränkte die Arme genau wie ihr Gegenüber. „Ich wurde zum Essen eingeladen und habe zugesagt.“ Sie verstand es als nichts Großartiges. „Ja, er ist ein Mensch, aber ich werde ihm nichts tun. Ich will nur meinen Spaß und er meiner Meinung nach genauso. Nicht mehr.“ Nun runzelte Yomo die Stirn. „Spaß?“ Kisuna rollte instinktiv mit den Augen. „Muss ich dir das wirklich erklären?“ „Nein.“ Seine Stimme klang bestimmt und ein wenig erbost. War er nun wirklich auf sie sauer? „Hör mal“, begann sie, während sie Yomo mit ihren Augen fixierte. „Er kann uns nicht gefährden, solange ich ihm nichts antue. Und er kennt auch nicht meinen richtigen Nachnamen.“ Noch immer vorwurfsvoll hob Yomo eine Braue. Es war doch nicht wie bei ihm eine verrücktgewordene Ghula, sondern ein einfacher Mensch, der höchstens einen Hang zur Arroganz aufwies. Das war es aber auch schon, also was sollte das Ganze? Yomo kam einen Schritt auf sie zu, blickte zu Boden. Es wirkte, als ob er nachdenken würde. Nachdem er kurz Inne gehalten hatte, sah er wieder zu ihr. Seine kühlen, grauen Augen durchdrangen sie, ließen sie leicht erzittern. „Du solltest absagen.“ Seine Worte hallten in ihr nach. Er konnte doch nicht einfach so über sie hinweg entscheiden, was dachte er sich dabei? „Werde ich aber nicht.“ Trotzig schnaubte sie durch die Nase aus, spürte dabei wie ihr Atem an ihrer Nasenspitze kitzelte. Wieder kam er näher auf sie zu. Er stemmte die Hände neben sie gegen die Wand, verlagerte sein Gewicht auf ein Bein und fokussierte sie bedrohlich mit seinem Blick. Kisuna fühlte sich bedrängt, denn sie wusste, dass an seinen durchtrainierten Armen kein friedlicher Weg vorbeiführte. Gereizt wich sie seinem Blick aus, sah nach rechts, wo sich der Gang weiter nach hinten erstreckte. „Was soll das, hm?“ Yomo hingegen interessierte ihre Frage aber nicht, er beugte sich weiter zu ihr vor. Nun konnte die Ghula wieder seinen Geruch wahrnehmen, konnte sich diesem ebenso nicht entziehen, auch wenn sie gerade wütend auf ihn war. „Es ist leichtfertig und keine gute Idee.“ Sein Ton wurde zorniger, er meinte es wohl wirklich ernst. „Das ist aber nicht deine Entscheidung“, entgegnete sie ihm schnippisch und starrte impulsiv zurück. Yomos Blick verfinsterte sich erneut. Nach einer kurzen Weile seufzte er, ließ letzten Endes von ihr ab, drehte ihr den Rücken zu und ging Richtung Café. „Wie du meinst.“ Kisuna richtete sich ebenso auf. Spannung verließ ihren Körper, der Ärger wich langsam von ihr. Dafür verspürte sie nun deutlich eine Blockade in ihrer Brust. Es war, als ob jemand auf ihre Lunge drücken würde und sie deshalb nicht vollends ein-und ausatmen konnte. „Verdammt, Yomo...“, murmelte sie für sich.
 

Als ihre Schicht zu Ende war, half Kisuna den anderen beiden noch putzen. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl, wusste das Yomo ihr eindeutig böse war. Er erschien ihr noch stiller als sonst und das war bereits fast unmöglich, da er nie wirklich viel von sich gab. „Fertig.“ Touka ließ erschöpft einen Atemzug ausdringen. Sie machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, somit blieben die beiden allein übrig. „Ich gehe noch schnell mit hoch, mich umziehen“, teilte sie ihm mit, doch er sah sie nicht einmal an. Ein stumpfes „Mhm“, war seine einzige Reaktion. Als sie die Wohnung wieder verließ, fühlte sie stets noch Schwermut, doch versuchte sie dies zu ignorieren. Das Essen hingegen lief einigermaßen gut. Gewiss schmeckte alles für die Ghula einfach grauenhaft, doch ein routinemäßiger Gang zu den Sanitäreinrichtungen glich dies wieder aus. Akio war definitiv von sich überzeugt, hatte einen leichten Drang zur Dramatik, aber das störte sie nicht. Sie musste sich ehrlich eingestehen, dass sie die Hälfte seiner Worte nicht einmal richtig aufnahm. Zu sehr schwebte sie in ihren Gedanken, die stets bei Yomos erzürntem Blick festhingen. Dieser Blick, er erschien ihr auf eine gewisse Art und Weise nicht nur zornig, nein, sondern zudem verletzlich. Kisuna dachte, sie hätte sich dies nur eingebildet, doch er hatte sich so festgesessen, dass sich die Situation immer und immer wieder vor ihrem inneren Auge abspielte. Wie in Dauerschleife sah sie seine grauen Augen direkt durch sie hindurchsehen. Schlug er sie zu, öffneten sie sich sofort wieder mit demselben Ausdruck, der ihr Sorgen bereitete und gleichzeitig Wut in ihr aufsteigen ließen. „Gehen wir?“, riss Akio sie aus ihren Gedanken. Nun hatte sie ihre Chance verpasst, noch ein letztes Mal zu den Toiletten zu gehen. Sie ließ es bleiben, war der Meinung, dass es mittlerweile zu auffällig werden würde. Als sie das Restaurant schließlich verließen, war ihr bereits unwohl in der Magengegend. „Und jetzt?“ Katou-san schien wohl Nichts anbrennen lassen zu wollen. Doch Kisuna war mittlerweile nicht mehr nach Spaß zumute. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, hatte das Gespräch beinahe schon ganz vergessen. Es hatte sowieso keine Bedeutung, wenn sie ehrlich war. Alles, was die Ghula sich aus diesem „Date“ erhofft hatte, hätte sowieso erst zur späteren Stunde stattgefunden, also was nutzte ihr schon der Smalltalk? „Weiß nicht, was meinst du?“ Sie sagte einfach irgendetwas. Akio blieb abrupt stehen, nahm sie an der Hand und gestikulierte mit seiner andern Hand komische Zeichen in die Luft. „Naja, was hast du dir denn gedacht, was wir machen?“ „Um bei der Wahrheit zu bleiben, Bettspaß... Aber ich bin nicht mehr in Stimmung, also bring mich einfach zurück zum Laden.“ Sie schritt voran, doch der junge Mann zog sie zurück. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf, nahm ihre zweite Hand und drückte fest zu. Was sollte das? „Nein, Kisuna. Was wird denn dann aus MEINEM Spaß?“ „Bespaß‘ dich doch selbst. Jetzt lass mich bitte los.“ Katou-san war ihr nicht mehr geheuer. Sein Grinsen ekelte sie an, was hatte sie sich nur dabei gedacht? Nun hielt auch sie es für eine schlechte Idee. Sie wollte einfach nur noch weg. Doch bevor Kisuna es wirklich realisierte, zerrte er sie auch schon mit sich, sein Griff zu fest, um sich loszureißen. Nach ein paar Metern machte er schließlich Halt. Sie waren in einer abgelegenen Seitengasse. Das einzige, das etwas Licht spendete, war ein Getränkeautomat. Genau gegen diesen Automaten pinnte er sie nun, griff höher, sodass er ihre Handgelenke umfasste und presste ihre Arme nach hinten. Ein Bein stemmte er zwischen die ihren, sodass sie sich nicht einmal mehr ansatzweise bewegen konnte. Wieso passierte so etwas immer ihr? Angestrengt versuchte sie gegen ihn anzukommen, für einen Menschen war er ziemlich stark. Ihre einzige Chance war ihre Kralle, doch würde sie sich ihm als Ghul offenbaren, wäre sie dazu gezwungen, ihn zu töten. „Du wolltest doch auch Spaß haben, was hat dir die Laune verdorben?“ Kisuna biss verkrampft die Zähne zusammen, ihre Augen verengten sich. Sie wusste nicht, wie sie dieser Situation gewaltfrei entfliehen hätte können. Sonst hätte sie ihm einfach die Kehle durch geschlitzt, kurz und schmerzlos eben. Doch sie konnte nicht. „Verdammt, Yomo, hätte ich nur auf dich gehört!“, dachte sie sich. Kisuna bereute ihre Entscheidung. Bereute, dass sie ihn sogar noch angeschnauzt hatte. Akio begann ihren Nacken zu küssen, was ihr absolut missfiel. Sie wollte es nicht, wollte weg von diesem Kerl, wollte sich losreißen. Vergebens versuchte die Ghula sich zur Wehr zur setzen, strampelte mit den Füßen, versuchte ihre Handgelenkte unter seinem Griff wegzudrängen. Doch er drückte mit aller Gewalt gegen sie. „Nein, Süße. Vergiss es.“ Er grinste verschmitzt, küsste sie bereits den Hals aufwärts und entlang ihrer Wange. Nein, sie wollte nicht, dass es dieser Mensch war, der sie küsste. Wenn sie von jemandem geküsst werden wollte, dann von einem ganz bestimmten Ghul. Sie erinnerte sich an heute Morgen, als Yomo sie auffing und wieder in den Armen hielt. Er hatte sie nicht losgelassen, obwohl sie bereits Halt gefasst hatte. Doch auch sie hatte sich gar nicht von ihm abwenden wollen, es gefiel ihr sozusagen an seine Brust gedrückt zu werden, während er sie mit seinen starken Armen umschlang. Sie wollte zu ihm nach Hause. Sich in das kuschlige Bett neben ihn legen, seinen Geruch wahrnehmen. Yomos Geruch wahrnehmen. Moment... Dieser Geruch...Yomo?! Konnte das wirklich wahr sein? War es Yomo, den sie da gerade roch? Eine dunkle Silhouette kam aus den Schatten der Gassen langsam und gemächlich auf die beiden zu. Kisuna japste nach Luft, riss die Augen erstaunt auf. Er war es, wahrhaftig! Mit seiner Rabenmaske und der Kapuze übergestülpt hätte sie ihn erst nicht erkannt, doch erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung. Dort hatte er diese ebenfalls getragen. „Was zappelst du so?“, wollte Akio genervt wissen. Kisuna antwortete ihm nicht, nein, sie grinste ihm nur genauso schelmisch zu, wer er es davor getan hatte. Ihr Angreifer war sichtlich verwirrt. Gemessenen Schrittes bewegte Yomo sich weiter auf die beiden zu. Dann bemerkte auch Akio den verhüllten Mann hinter sich. Ruckartig ließ er von Kisuna ab. „Scheiße, was ist das denn. Ei- ein Ghul?!“, schrie er, wobei er am ganzen Leib zitterte. Nun war er wohl nicht mehr so taff. Yomo kam erneut näher. „B-bleib weg von mir, du Monster!“ Katou-san blickte aufgewühlt zu ihr, die sich streckte. „Da, nimm sie, aber verschon mich!“, rief der Mensch, Schweiß rann ihm über das ganze Gesicht, das jegliche Farbe verloren hatte. Als Yomo sich nun weiter auf Kisuna zubewegte, die natürlich wusste, wer auf sie zukam, nahm der junge Mann letztendlich ganz Reißaus. Er lief los, fiel vor Schreck und Bangen noch einmal zu Boden, wandte sich um, um Sicherheit zu haben und floh nach allem mit einem Schrei in die Nachtstille davon. Wie der silberhaarige Ghul dann bei ihr ankam, hielt er sie an ihren Schultern fest, nahm seine Maske mit einer Hand ab. Seine grauen Augen funkelten sie an, dieses Mal jedoch nichts boshaft sonder... besorgt? Sie senkte ihren Blick. „Tut mir Leid, du hattest Recht“, gestand Kisuna ihm. „Ich bin stolz auf dich.“ Was meinte er da? Hatte er das gerade wirklich gesagt? „Wie bitte?“ Erstaunt sah sie Yomo nun wieder an. „Du hast ihm nichts getan, wie versprochen.“ Die Ghula seufzte entkräftet. „Ich wüsste nicht, ob es dabei geblieben wäre, wenn du nicht aufgetaucht wärst.“ „Aber ich bin hier.“ Seine Aussage überraschte sie, sie spürte wie sie errötete. Plötzlich schien Yomo überhaupt nicht mehr sauer zu sein. Er hätte jeden Grund dazu gehabt, doch wieder vergab er ihr direkt. Wie konnte er nur so ausgeglichen bleiben, immer Ruhe bewahren? Kisuna bewunderte ihn definitiv dafür. Erschöpft ließ sie einen schweren Atemzug von sich. „Können wir gehen?“, keuchte sie. Die ungewollten Berührungen von Katou-san hatten sie derartig angeekelt, sie verspürte das dringende Verlangen danach, sich zu waschen. Yomo antwortete ihr mit einem Nicken, bot ihr dann seine Schulter als Stütze, die sie dankend annahm.
 

Das warme Wasser tat gut, es half ihr sich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen. Als sie aus der Dusche stieg und sich anzog, fuhr sie noch einmal über die Stellen, an denen der Mensch sie geküsst hatte. Sie hatte als Ghul schon viele schlimme Dinge erlebt, doch dies hatte ihr wieder einmal gezeigt, dass man nicht so leichtfertig vertrauen durfte. Egal ob Ghul oder Mensch, beide konnten äußerst gefährlich sein. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“, warf sie sich selbst im Spiegel vor. Doch was brachte es jetzt noch, sich Vorhaltungen zu machen? Nichts. Es war geschehen und sie hatte etwas daraus gelernt. Warum sie es überhaupt getan hatte? Wahrscheinlich am Ende nur, um gegen Yomo anzukommen. Denn er war es, bei dem sie sich verletzlich, verwirrt, verlegen fühlte. Das wollte sie nicht, doch sie wusste, dass sie es nicht verhindern konnte. Es war wie ein Reflex, der einfach kam und einfach ging. Wenn seine Augen so fokussiert auf ihr weilten, dann war dies der Auslöser, das musste sie sich eingestehen. Genauso auch, wenn er sie in den Armen hielt, ihr Schutz bot. Trotz all dem spaltete sich ihre Meinung in ihrem Innersten. Eigentlich gefiel es ihr doch auch auf eine seltsame Art und Weise... Sollte sie es hinnehmen und schlichtweg auf sich zukommen lassen? Oder sollte sie es hinterfragen und dem Ganzen auf den Grund gehen? „Kommst du?“ Erschrocken fuhr Kisuna auf. Yomo stand halbnackt im Türrahmen, verschränkte die Arme wie gewohnt. Er schien auf sie zu warten. Als sie ihn ansah, wusste sie was sie zu tun hatte. Auch wenn die Ghula nicht genau bestimmen konnte, was sie in seiner Nähe fühlte, so wusste sie aber mittlerweile genau, wann sie seine Nähe brauchte. Und dieser Moment war zweifelsohne jetzt gewesen.

Kapitel 8: Der Fuchs, fleißig doch geheimnisvoll

Kapitel 8:
 

Der Fuchs, fleißig doch geheimnisvoll
 

Samstagnachmittag, es war ausnahmsweise geschlossen. Eigentlich eine tolle Gelegenheit für Unternehmungen, doch Kisuna saß im Antik und schlürfte ihren vierten, fünften, wievielten Kaffee? Sie hatte aufgehört zu zählen. Herr Yoshimura wollte mit Yomo etwas Wichtiges besprechen. Da sie nicht alleine in der Wohnung bleiben und sich langweilen wollte, war sie also mitgekommen. Leider stellte sich heraus, dass dieses Gespräch unter vier Augen stattfinden sollte, wodurch sie nun mutterseelenallein darauf wartete, dass Yomo wieder zurückkam. Sie rührte den Löffel herum und fragte sich, was für eine geheime Sache die beiden anderen Ghule wohl zu bereden hatten. Ging es etwa um sie? Und wenn ja, um was genau? War sie schon paranoid von dem vielen Kaffee oder sprachen der Chef und Yomo vielleicht wirklich über sie? Lustlos seufzte Kisuna, legte ihre Arme auf dem Tresen ab und vergrub ihren Kopf darin. Was sollte diese Heimlichtuerei bloß? Die Ghula schloss für einen kurzen Moment ihre Augen. Gestern hatte sie Yomo darum gebeten, an seiner Brust einschlafen zu dürfen. Sie wusste nicht genau wieso sie das so dringend wollte, doch das war ja auch nicht wirklich wichtig, oder? Irgendwie hatte sie auch immer noch das Bedürfnis ihn zu verführen. Nicht aber gestern Abend, nein. Zu ihrer Überraschung hatte er sogar zugestimmt und sie musste gestehen, dass sie schon lange nicht mehr so gut geschlafen hatte. Sie fühlte sich tatsächlich entspannter denn je. Umso mehr schreckte sie somit auf, als plötzlich die Tür in den Gang, wie auch die Eingangstür des Antiks aufschwangen. Yomo kam allein zurück und wer betrat den Laden? Es war doch geschlossen... Kisuna wandte sich gespannt um. Als sie den Besucher erfasste, verzog sie genervt das Gesicht Der Ghul, der gerade eingetreten war atmete tief ein, hielt für einen kurzen Moment die Luft an, stieß seinen Atemzug dann mit einem zufriedenen Seufzer aus. „Incroyable! (franz.: Unglaublich!) Er wanderte galant auf die beiden zu. „Shuu Tsukiyama, was willst du denn hier?", fragte Kisuna sichtlich gereizt. Yomo schien ebenfalls nicht erfreut zu sein, den Gourmet zu erblicken. Dieser fuchtelte wild mit seinen Händen herum, versuchte er wieder dramatisch zu wirken? „Kisuna, wie kannst du nur so abweisend zu mir sein?", beschwerte er sich. „Ihr kennt euch?", mischte sich Yomo in das Gespräch ein. Es war, als ob der in Anzug gekleidete Ghul nur auf diese Frage gewartet hatte. „Selbstverständlich!" Shuu grinste ihr mit seinem dämonischen Lächeln zu. „Oder kannst du dich nicht mehr an unsere leidenschaftliche Beziehung zueinander erinnern, hm Kisuna?", fuhr er fort. „Das nennt sich One-Night-Stand, hm Shuu?" Aufgebracht sprang sie von ihrem Platz auf, wollte sich aus dem Staub machen. Doch das hielt den Gourmet nicht davon ab, sie weiterhin zu necken. „Ich bin extra wegen dir gekommen, Chérie." Sie stoppte, warf ihm einen erbitterten Blick zu. „Ach?" „Nein wirkich, ich habe erst jetzt erfahren, dass du nun wohl im 20. Bezirk heimst." Er sah zu Yomo. „Mit diesem Ghul hier." Dieser sah Shuu ebenso erbost an. „Warum genau bist du hier?" „Das frage ich mich auch", unterstützte Kisuna ihn. Der Angeklagte räusperte sich. „Ich fühle mich nicht ganz willkommen", klagte er. „Vielleicht weil du es auch nicht bist", knurrte sie zurück. Dann ging sie flotten Schrittes auf ihn zu, packte ihn an seiner Krawatte und zog ihn näher zu sich. Ihre Stirn berührte dabei fast die seine. Shuu schien zuerst erschrocken, lachte dann aber, wahrscheinlich um das Ganze zu verharmlosen. Doch Kisuna war es ernst. Denn Shuu wusste etwas, dass Yomo und der Chef um keinen Preis erfahren durften. Jedenfalls nicht von ihm. Es wunderte sie sowieso, dass er ihr noch nicht damit gedroht hatte. „Was zum Teufel planst du?", raunte sie. Bevor sie ihn weiter strangulieren konnte, griff Yomo jedoch ein, legte eine Hand auf die ihre, die andere auf ihre Schulter. Kisuna meinte spüren zu können, wie etwas von seiner Ruhe auf sie überging. Trotz allem ließ sie nur widerwillig von Shuu ab, der sie darauf von oben herab beäugte. „Sei vorsichtig." Er fuhr sich durchs Haar. „Tu ne veux pas que je dis la vérité, non? (Du willst nicht, dass ich die Wahrheit sage, oder?)" Kisuna wusste, dass Yomo ihn nicht verstand, aber sie tat es nur allzu gut. Sie schloss kurz die Augen, schüttelte jedoch dann geschlagen den Kopf. Yomo stand nur da, hielt sie noch an den Schultern, sie konnte seine Angespanntheit fühlen. Er wollte es wissen, aber sie würde es ihm nicht übersetzten. Definitiv nicht. Sie wollte nicht, dass er wieder alles anzweifelte, was sie tat, nicht wieder nach ihrer Vergangenheit fragte. Shuu klopfte währenddessen seine Kleidung ab, richtete seine Krawatte zurecht. „Um nun zu dem Punkt zu gelangen, warum ich hier bin." Er verzog die Lippen zu einem kühlen Lächeln. „Kisuna, ich wollte dich gerne um eine Auftragsarbeit bitten." Ihre Anspannung wich nach diesem Satz etwas von ihr. Er war also nicht gekommen, um Probleme zu schaffen? Wie ungewöhnlich. Sie sah sich zu Yomo um, der ihren Blick sofort erwiderte. Er senkte den Kopf etwas, war wohl ebenso überrascht. „Na gut, dann folge mir in mein" Sie musste schmunzeln. „In mein Atelier."
 

Kisuna staunte nicht schlecht, als sie Shuus Anwesen betrat. Sie wusste, dass die Familie Tsukiyama vermögen war, doch trotzdem überraschte sie das Ausmaß der Villa. Shuu hatte sie um ein Selbstportrait von ihm gebeten, als Kulisse wollte er selbstverständlich seine eigenen Häuslichkeiten verwenden. Ihre Unterlagen und Materialien stellte sie sorgfältig in dem von ihm gewählten Zimmer ab, dennoch hatte sie Angst, aus Versehen etwas Wertvolles zu zerstören. Als sie alles aufgebaut und Shuu sich in Pose geworfen hatte, begann sie ihre ersten Skizzen zu machen. Der Gourmet platzierte sich stolz auf einem mit Samt überzogenen Sofa, es hatte schnörkelige Verzierungen an den Seiten und als Beine, alles aus echtem Gold. Für Kisuna sah es aus, wie ein Herrscherportrait aus den alten Zeiten, doch sie malte nur und urteilte nicht. Alles was sie tat, war ihm Anweisungen zu geben, wie er sich am besten positionierte aufgrund der gegebenen Lichtverhältnisse und ihn ermahnen, dass er sich still halten sollte. Doch das schien ihm ein wenig schwer zu fallen. „Also, du und Yomo, hm?" Kisuna schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Sie war nicht zum Plaudern hier, sondern zum Arbeiten. „Kisuna, willst du mir nicht antworten?", hakte er ungeduldig nach. „Wieso? Du redest sowieso nur Unsinn." Empört hob er seine Augenbrauen, doch dann lächelte er wieder. „Ich weiß, dass du Ihnen nicht deinen richtigen Namen verraten hast. Wieso das?" Ein brechendes Geräusch war zu hören, sie hatte die Miene ihres Bleistifts zerdrückt. Kisuna wollte nicht darüber reden, doch Shuu schien das nicht abzuschrecken. „Findest du das lustig?", schnaubte sie. „Keines Wegs, ma Chérie. Aber ich möchte eine Antwort von dir. Warum bist du in den 20. Bezirk gekommen, nachdem er" „Das reicht." Sie sah ihn durchdringenden Blickes an. Ein tiefer Atemzug, sie versuchte, sich wieder zu entspannen. „Halt dich jetzt bitte still." Shuus Blick wich ab, dann schüttelte er den Kopf und sah wieder zu ihr. „Du kannst es ihnen nicht verheimlichen. Nicht auf Dauer." Seine Worte hallten schwer in ihrem Innersten nach. Das wusste sie selbst genauso gut, doch es war noch nicht möglich. Konzentriert ließ sich ihren Blick auf der Leinwand ruhen, die restliche Zeit hielt Shuu sich darauf zurück. Kisuna hatte nach einer Weile einige Entwürfe angefertigt. Als Shuu sich schlussendlich entschied, begann sie auch schon mit dem finalen Bild. Das Malen ließ sie wieder zur Ruhe kommen, denn auch wenn sie wusste, dass Shuu Recht hatte, wollte sie trotzdem nicht mehr über ihre Vergangenheit nachdenken. Sie fühlte sich dabei nur schwach und Schwäche wurde einem in der Welt der Ghule nicht verziehen. Noch schlimmer war es, dass Yomo sie höchstwahrscheinlich ebenfalls nochmal darauf ansprechen würde. Und so gut sie Shuu auch zurückweisen konnte, bei Yomo fiel es ihr mittlerweile deutlich schwerer. „So, das war's für heute. Das Licht ist nicht mehr gut und unter künstlichem Licht fallen die Schatten anders." Sie legte ihren Pinsel vorsichtig zur Seite. „Lass uns morgen wieder daran weiterarbeiten." Kisuna winkte den Gourmet zu sich. Er sollte sich das bisherige Geschaffene ansehen, ob es ihm auch gefiel. Ansonsten wäre alles umsonst gewesen und sie hätte von Neuem beginnen müssen. „Wundervoll, das wird brilliant." Shuu betrachtete das unvollständige Werk, dann sie. Seine Augen verengten sich dabei. „Stimmt etwas nicht?", erkundigte sie sich. Dann, er trat einen Schritt näher, beugte sich zu ihr vor. Sollte das etwa ein Versuch werden, sie zu küssen? Kisuna wandte den Kopf von ihm weg. „Was wird das?" Er wich wieder zurück, wurde mit einem skeptischen Blick ihrerseits bestraft. „Ist es wegen Renji?" „Was soll wegen ihm sein?" Shuu lachte heiser auf. „Amüsant, du hast dich bereits verändert, Kisuna." Er rückte wieder seine Krawatte zurecht, musterte sie amüsant. Die Ghula seufzte daraufhin angestrengt. „Was soll das heißen?" Sie konnte ihren Unmut nicht verbergen. „Du bist nicht mehr so aufbrausend, wo ist deine Leidenschaft?" „Nicht für dich verfügbar", entgegnete sie ihm mit einem frechen Grinsen. Auch er lächelte darauf. „Deine schnippische Art zu Antworten hat sich allerdings nicht verabschiedet."
 

Als sie spät abends, der Himmel war bereits in ein tiefes Blau getaucht, endlich heimkam, erwartete Yomo sie bereits. Er lag auf der Couch, in einer Hand ein Buch haltend, die andere hielt er hinter den Kopf um diesen darauf abzulegen. Seinen Blick hatte er sofort auf sie gerichtet, als sie zur Tür hereingekommen war. „Du hast gewartet?", fragte sie erstaunt. Er richtete sich auf, ging einmal um das Sofa und platzierte sich vor ihr. Yomo gähnte leicht und streckte sich, wobei sich sein trainierter Bauch sichtbar machte. Kisuna blieb dies natürlich nicht unbemerkt, wie hätte sie da schon wegsehen können? „Wie war es?" Überrascht zuckte sie auf, fühlte sich ertappt. Sie wuschelte sich verlegen durch ihr welliges Haar. „Gut, aber anstrengend." „Die Arbeit oder Shuu?" Er wagte ein kleines Lächeln, worauf Kisuna ihm zurückgrinste. „Beides." Vorsichtig schlängelte sie sich an ihm vorbei ins Schlafzimmer, zog ihren Rock und ihr Oberteil aus und schlenderte zu Yomos Kleiderschrank. Er hatte sich inzwischen im Türrahmen positioniert, beobachtete sie genauestens. „Was machst du?", erkundigte er sich. Sein Blick ruhte wie immer auf ihr, die damit beschäftig war sich durch seine Kleidung zu wühlen. Mit einem Schlag zog Kisuna eines seiner weißen Shirts heraus und hielt es triumphierend in die Luft. „Die sind echt bequem!" Sie zwinkerte ihm scherzhaft zu, zog es sich dann bis über den Hals und begann ihren BH zu lösen. „Zu ungemütlich", murmelte sie und versuchte das Stück Stoff loszuwerden. Yomo behielt sie gekonnt im Auge, Ihr Körper hatte die Form einer Sanduhr, wobei ihre Schultern nicht zu breit waren, nur muskulös. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, doch da sie den Kopf gesenkt hielt, fiel sie ihr wieder ins Gesicht. An dem Versuch, ihren BH allein aufzubekommen schien sie heute wohl zu scheitern, wahrscheinlich weil ihre Hände vom Malen erschöpft waren. Yomo ging auf sie zu, hob sein Shirt, das sie trug etwas hoch und half ihr. Sobald er ihn von ihr gelöst hatte, sah er zur Seite. Er wollte nicht, dass sie sich unwohl fühlte und... vielleicht genierte er sich auch etwas? Verschämt zog die Ghula das Shirt komplett über sich, wandte sich zu ihm und beäugte ihn gespannt. „Danke." Sie hob ihren BH auf und legte ihn zu den restlichen Sachen. Dann spazierte sie zum Fenster. Der kleine Balkon, auf dem maximal zwei Personen Platz hatten, kam ihr nun gerade ideal vor. Yomo zog ebenfalls sein T-Shirt aus. Dabei fragte er sich, warum sie ein Frisches aus dem Kleiderschrank genommen hatte, wenn sie genauso auch seines hätte haben können. Seine Jogginghose ließ er an, heute war es bereits deutlich kühler und er wollte auch nicht in Unterhosen draußen stehen. Als er sich zu ihr gesellte, ihre Schultern berührten sich, ließ sie einen angestrengten Seufzer von sich. „Was hat Shuu heute im Antik zu dir gesagt?" Erschrocken fuhr sie auf. Yomo hatte es also doch nicht vergessen. Das hätte ihr eigentlich klar sein müssen. „Hör mal, Yomo", begann sie, wobei sie erneut die Strähne hinter ihr Ohr schob. Diesmal blieb sie auch dort. „Es gibt ein paar Dinge, die ich dir einfach noch nicht erzählen kann." Ihr Blick ging in die Ferne des Nachthimmels, der in den dunkelsten Tönen ertrank. „Verstehe." Seine Antwort erstaunte sie, hatte sie doch damit gerechnet, dass er nachhaken würde. Doch Yomo stand nur gegen das Geländer gelehnt, schaute ebenso in die tiefblaue Nacht hinaus. Kisuna wandte sich zu ihm hin, worauf er das Gleiche tat. Sein Blick zerriss sie. Seine kühlen Augen, die nun silbern strahlten, durchdrangen sie, bargen definitiv Enttäuschung in sich. Es war das erste Mal, dass sie einen solchen Ausdruck in seinem Gesicht erblickte und es schmerzte. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seine Wange, er reagierte natürlich etwas verwundert. „Sieh mich bitte nicht so an", flüsterte sie leise. Dann küsste sie ihn zärtlich und bedacht. Yomo stieß sie nicht weg, er ging überraschend schnell auf den Kuss ein, presste seine Lippen sanft auf die ihren. Als der Kuss intensiver wurde, schlang sie ihre Arme um seinen Hals und schob sich an seine Brust. Yomo zog sei näher zu sich und umfasste sie ebenso. Kisuna kam es vor, als ob er darauf gewartet hätte, was natürlich nicht der Fall sein konnte. Warum er sich also auf all dies einließ, wusste sie nicht. Aber das musste sie auch gar nicht, denn konnte sie nicht abstreiten, dass es ihr genauso gefiel. Ungestüm ließ sie ihre Zunge in seinen Mund eindringen, auch davon ließ er sich nicht abschrecken. Sie genoss es ihn zu küssen, gegen ihn gedrückt zu werden und dabei nichts als sein Shirt und eine Unterhose zu tragen. Natürlich machte sie das an, aber was sie viel mehr beschäftigte, war seine Reaktion. Ihre Küsse hatte er bis jetzt nie abgelehnt. Durfte sie sich darauf etwas einbilden? Funktionierte ihr Plan, ihn zu verführen? Oder war es gar nicht Kisuna, die ihn verführte, sondern Yomo, dem sie nicht mehr widerstehen konnte? Unwichtig, sie wollte ihn einfach weiter leidenschaftlich liebkosen. Was hätte sie nicht gern noch alles getan. Als sie sich aus dem Kuss löste, sah sie zu Boden. Sie fühlte sich hitzig und wollte nicht, dass Yomo ihre Verlegenheit erkannte. Doch der legte ihr Kinn zwischen Daumen-und Zeigefinger, hob ihren Kopf ein wenig an. Sie war gezwungen, ihm in die Augen zu sehen. Aber sie wollte nicht. Sie konnte ihm nicht mehr über sich erzählen, war gezwungen, ihn trotz allem im Dunkeln tappen zu lassen. Kisuna wandte sich von ihm, drehte sich um und steuerte das Bett an. Bevor sie jedoch auch nur mehr als einen Schritt gegangen war, umschlang der silberhaarige Ghul sie von hinten. Sie fiel mit dem Rücken gegen seine Brust, seinen Kopf legte er auf ihrer Schulter ab. Dann beugte er sich zu ihrem Ohr. „Sag so etwas nicht, wenn du mich selbst so schwermütig ansiehst." Sein Flüstern ließ sie erzittern, ihr war plötzlich heiß und kalt gleichzeitig. Verkrampft krallte Kisuna sich an seinen Unterarmen fest. Was hatte er da gerade von sich gegeben? Schwermütig? „Was weißt du schon?", schnaubte sie. Sie fühlte sich angegriffen. Doch bevor die Ghula noch etwas sagen konnte, hatte Yomo sie schwungvoll zu sich gedreht, seine Hände ruhten auf ihren Schulten. Er sah sie eindringlich an. „Du musst nichts sagen, Kisuna." Es war, glaubte sie, das erste Mal, dass er ihren Namen so gelassen aussprach. Sonst waren es meistens immer Ermahnungen gewesen. Betreten entgegnete sie seinen Blick. „Ich dachte, du willst es wissen." Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Yomo seufzte und sah zur Seite. Dann wieder in ihre Augen. „Lass dir Zeit." „Aber-„ Sie hielt Inne. Wieso tat er das? Wieso war er so gut zu ihr? Bedacht legte sie ihre Hände auf seine Brust, ließ sich in seine Arme fallen. Yomo schloss sie in seine Umarmung. Nach einer Weile löste sie sich daraus und saß sich auf die Bettkante, er tat es ihr gleich. „Weißt du ich...", begann sie. Sie hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, ihr Blick richtete sich gen Fußboden. „Ich verstehe nicht, wieso du so gut zu mir bist. Das frage ich mich schon die ganze Zeit." Angespannt spielte sie mit ihren Händen. „Brauche ich einen Grund?" Bei seiner Antwort schreckte sie auf, richtete sich auf und sah zu ihm. Auch er erwiderte ihren Blick. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Was?", stotterte sie ungläubig. Hatte sie ihn gerade richtig verstanden? „Ich brauche keinen Grund um nett zu sein", meinte er. „Außerdem, du bist ein Teil von uns, das weißt du doch, oder?" Sachte tippte er mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. Das Grau seiner Augen schimmerte, es wirkte magisch. „Teil von euch...", sprach sie ihm langsam nach. Dann umgriff sie mit ihren Händen die seine, führte sie von ihrer Stirn weg und hielt sie fest gedrückt. Ihr Blick ruhte für eine Weile darauf. „Du hast wohl Recht, Yomo." Nun sah die Ghula ihn wieder an. „Ich war wohl nicht mehr daran gewohnt, andere um mich zu haben." Sie lächelte ihm erleichtert zu. Anscheinend machte sie sich zu viele Sorgen. Auch wenn sie mittlerweile schon einige Wochen Yomo und dem Antik beiwohnte, fiel es ihr schwer, vollends zu vertrauen. Vielleicht sollte sie ihre Sorgen öfter mit Yomo teilen? Kisuna ließ sich ins Bett fallen. Yomo legte sich neben sie, den Ellenbogen stützte er auf die Matratze, der Kopf ruhte in seiner Hand. Sie sahen sich beide an, schwiegen aber. Es war keine unangenehme Stille, nein. Viel mehr war es entspannt, ruhig und ausgeglichen. „Müde?", fragte Yomo ein wenig später. Die Ghula gähnte ausgiebig. „Ja, könnte man so sagen." Sie streckte sich und rollte sich dann zur Seite, um ihn besser im Blick haben zu können. Ein paar Strähnen fielen ihm ins Gesicht, sie strich sie sanft zur Seite. „Gute Nacht", flüsterte sie leise, bevor die Müdigkeit sie schlussendlich überfiel. Diese Nacht hatte sie keine Alpträume wie sonst.
 

Die nächsten Tage waren für Kisuna ohne Zweifel stressiger als für gewohnt. Vormittags arbeitete sie oft mit Yomo zusammen und beschaffte Nahrung für das Antik. Die Nachmittage verbrachte sie meistens bei Shuu und arbeitete an dessen Portrait. Immer wieder musste sie sich gegen seine unangebrachten Kommentare behaupten, doch nach einer Weile ließ er schließlich von ihr ab. Er hatte wohl keine Lust mehr, sie zu ärgern, nachdem sie ihn einfach nur noch ignorierte oder neutral antwortete. Kisuna hatte auch gar keine Lust, mit ihm zu diskutieren. Sie hegte keinen Groll gegen ihn, aber es war ihr deutlich lieber, wenn er nichts sagte und sie einfach ihre Leistung in Ruhe abliefern konnte. Die letzten Verbesserungen, für die es nicht nötig war, dass Shuu Modell saß, erledigte sie allein in ihrem Atelier im Antik. Ein paar frische Farbakzente, damit das fertige Werk auch lange in seinem vollen Glanz erstrahlen konnte, ein vollständiges Ausfüllen der Flächen, die sie nur angedeutete und vorgemerkt hatte und Voilà, fertig war ein geglücktes Selbstportrait des Gourmets! Shuu holte es sich darauf selbst im Antik ab, wobei er durchgehend von Yomos Blicken verfolgt wurde. Er bedankte sich löblich mit einem Handkuss bei Kisuna, die darauf nur ihre Augen spielerisch verdrehte. Nachdem er den Laden schlussendlich verlassen hatte, ließ sich die Künstlerin erschöpft gegen den Tresen fallen. „Das war vielleicht ein Aufwand. Aber schön, wenn er damit zufrieden ist." Sie lächelte Yomo erleichtert zu. Dieser trat zu ihr und stellte sich mit verschränkten Armen neben sie. Sein Blick ging konzentriert zu Boden. Was hatte er denn? War etwas nicht in Ordnung? Kisuna beobachtete ihn genau, dieser Ausdruck deutete normalerweise nichts Gutes an. „Yomo, alles gut bei dir?" Er wandte den Blick zu ihr, runzelte die Stirn. Das gefiel ihr gar nicht. Überhaupt nicht. Sie schluckte schwer. „Hat er dich fürs Malen bezahlt?", fragte Yomo dann plötzlich. Oh nein, bitte nicht. „Ja natürlich." Sie konnte spüren wie ihr Lächeln langsam einsank. Verdammt, warum interessierte ihn das auch? Konnte er es nicht einfach damit gut sein lassen? „Mit Geld?", hakte er nach. Kisuna musste den Kopf schütteln, ihre Befürchtungen wurden wahr. Yomos Blick verfinstere sich. Bitte nicht. Nach ihrem Gespräch vor ein paar Tagen im Schlafzimmer könnte sie ihn auch nicht anlügen. Sie wollte auch gar nicht, aber sie wollte auch nicht wieder einen schimpfenden Yomo. Sie wollte einen ruhigen Yomo, der ihr vertraute und der sie nicht mit Fragen bombardierte. „Mit Fleisch?" Eindringlich ruhte sein Augenmerk auf ihr, die Stimmung war eindeutig gekippt. „Ja." Für einen kurzen Moment schien er sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben. Dann, sie konnte seinen Gedankengang deutlich in seinem Gesichtsausdruck herauslesen, dämmerte es ihm. „Menschenfleisch?" Kisuna seuftze geschlagen. „Nein, Ghulfleisch."

Kapitel 9: Fuchs und Rabe auf der Flucht

Kapitel 9:
 

Fuchs und Rabe auf der Flucht
 

„Nein, Ghulfleisch." Als sie diese Worte aussprach, konnte sie deutlich beobachten, wie Yomos Blick sich verfinsterte. Was hatte er aber auch erwartet? Natürlich hatte sie sich durch das Beitreten des Antiks auf eine Veränderung eingelassen, aber so schnell würde das doch nicht von Statten gehen. Wieso war er deshalb so sauer? Jedenfalls ahnte Kisuna, dass er nicht wirklich begeistert darüber sein konnte. „Hast du es schon gegessen?" Yomo hatte sich zu ihr gedreht, der Blick ging starr in ihre Augen. „Ja, habe ich", entgegnete sie ihm, wissend, dass es nun unangenehm für sie werden könnte. Würde er es dem Chef sagen? Würde sie sie dann verlassen müssen? Sie wollte nicht gehen, aber was sie wollte, war Yomo gegenüber ehrlich zu sein. Auch, wenn sie es noch nicht bei Allem sein konnte, aber hier war es definitiv nötig. Es brachte und würde nichts bringen, ihn hierbei anzulügen. Nach einer Weile des Anschweigens und Anstarrens stieß Yomo schließlich einen angestrengten Seufzer aus. Er legte die Finger zwischen seine Augen auf seinen Nasenrücken, überlegte. Dann fuhr er sich zügig durchs Haar und seufzte erneut. Kisuna beobachtete ihn gespannt. War das seine Reaktion? Wollte er nicht wütend sein? Nahm er es einfach so hin? Verblüffend. Sie sah zu Boden, überlegte einen Moment und blickte dann wieder in seine Richtung. „Willst du es sehen?" Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll, kurz hielt sie ihren Atem an. War würde er sagen? Wie würde er reagieren? War sie damit zu weit gegangen? Aber sie wollte es ihm zeigen... unbedingt. Wie es aussah, wenn sie ernst machen würde. Sie wollte doch alle, die ein Teil des Antiks waren, ebenso sehr beschützen, wie Yomo es wollte. Dem wurde sie sich erst jetzt so richtig bewusst. Denn sie hatten ihr eine Heimat und Vertrauen gegeben, ohne sie zu hinterfragen. Das mindeste, was sie ihnen entgegenbringen konnte, war diese Leute nicht zu enttäuschen und ihre Sicherheit zu erhalten. Wusste er, dass es ihr damit ernst war? Sollte sie es ihm erklären? „Was?" Yomo sah sie fragwürdig an. „Willst du es sehen, meine Kakuja?" Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. So, wie er es gewöhnlich bei ihr tat. Yomo hingegen wirkte gerade etwas betreten, nickte dann aber zu ihrer Überraschung. Es war ein langsames, zögerliches Nicken, doch er hatte zugestimmt. Und es freute sie seltsamerweise. „Sicher?", hakte die Ghula vorsichtshalber nochmals nach. „Ja."
 

Den Platz, zu dem sie ihn geführt hatte, um ihm ihre Kakuja zu präsentieren, kannte Yomo mittlerweile. Dort, wo sie das erst Mal aufeinander getroffen waren wollte sie ihm also das Ergebnis ihres Kannibalismus vorführen. Es war bereits Abend, die Sonne war weitestgehend untergegangen, wobei sich deren Untergang heute in einem intensiven, satten Rot präsentierte. Besser hätte es wohl nicht passen können. „Bist du gespannt?" Kisuna lächelte ihn aufgeregt an, sie schien die Sache eher positiv zu betrachten. Yomo hingegen wusste nicht genau, was er davon halten sollte, doch ihr plötzlicher Enthusiasmus hatte ihn überrascht. Insgesamt hatte sie sich verändert, ihre Ausstrahlung war nicht mehr so düster, schien... fröhlicher? Ab und an ließ sich noch eine melancholische Note erahnen, hauptsächlich, wenn es um ihre Vergangenheit ging. Doch das akzeptiere der Ghul. Er fragte sich gelegentlich nur, was es war, das sie mit sich schleppte? Was war der Ballast, der es ihr so schwer machte, komplett loszulassen? Yomo bemerkte, wie sie Teile ihrer Kleidung ablegte. „Das geht sonst nur kaputt", meinte sie und reichte ihm die Uniform des Antiks entgegen. Dann atmete sie kontrolliert tief ein und wieder aus. Er konnte nicht leugnen, dass er nicht auch daran interessiert war. Allein die Tatsache, dass sie sich so darauf freute, ließ ihn neugierig werden. Ihre Kakuja, darauf schien sie stolz zu sein, es brachte sie zum Lächeln... Brachte Yomo sie auch zum Lächeln? Irgendwie... wollte der Ghul, dass sie glücklich war, dass sie Freude empfand, wenn sie bei ihm war, sich in seiner Nähe wohl fühlte. Dieses Lächeln, er wollte es öfter sehen. Wollte, dass sie es ihm nicht nur so selten zuwarf. Warum beschäftigte ihn das so sehr? Warum beschäftigte Kisuna ihn insgesamt so sehr? Räuspernd versuchte er sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die Ghula streckte sich indessen ausgiebig, sah dann zu ihm. „Bereit?", erkundigte sie sich voller Tatendrang. Er nickte nur wie für gewohnt und wartete darauf, dass das Spektakel vor seinen Augen begann. Noch einmal nahm sie einen tiefen Atemzug, wollte gerade loslegen, da zuckte sie vor Erschrecken auf. „Dort vorn, ich sehe jemanden!", rief eine Stimme gefolgt vom Klimpern harter Koffer. Die beiden Ghule sahen sich direkt in die Augen. „Tauben...", flüsterte Kisuna, versuchte dabei zu horchen, aus welcher Richtung genau die Geräusche kamen. „Keine Zeit!" Yomo kam zu ihr gelaufen, nahm ihre Hand und rannte mit ihr in die Finsternis davon. Seine grauen Haare wehten ihr entgegen, sie konnte die Eile in seinem Griff spüren. „Sie sind weggelaufen, schnell hinterher!", schrie die Stimme den beiden nach. Sie waren wohl bereits gesichtet worden, ohne Masken und mit der Uniform des Antiks in den Händen. Das könnte fatale Folgen mit sich ziehen. Folgen, die sie unter keinen Umständen riskieren durften. Kisuna verstand den Ernst der Lage, holte Yomo auf, sodass sie gleich schnell liefen. Sie wollte nicht, dass ihnen etwas zustoß. Und genauso wollte sie nicht das Antik, ihr Zuhause, gefährden. Als sie nun ein Stück gelaufen und etliche Male zur Sicherheit abgebogen waren, hielt Yomo zum ersten Mal kurz inne. Seine Augen suchten nach einer Lösung, einem Zufluchtsort. Dabei ließ er ihre Hand nicht los, drückte sogar, wahrscheinlich unbewusst, fester zu. Ein Eingang zu einem Gebäude, in dem noch Licht brannte, schien ihm dann als passender Unterschlupf. Wieder zog er Kisuna mit sich. Diese konnte beim Eintreten noch einen flüchtigen Blick auf den leuchtenden Schriftzug über der Unterkunft werfen und fuhr etwas zusammen. „Warte Yomo, das ist ein-„
 

„Willkommen in unserem Love Hotel. Was kann ich für euch beide tun?" Freundlich lächelte der Mann an der Rezeption ihnen zu. Yomo, er schien gerade erst zu begreifen, wo sie gelandet waren, musste sich leicht räuspern. Darauf konnte sich Kisuna ein leises Kichern nicht verkneifen. Seine unterschwellige Verlegenheit war durchaus amüsant. Doch dieser Ort erwies sich als geeigneter als gedacht. Ihnen würde nicht einfach jemand folgen können, sie mussten nur schnell auf ein Zimmer gelangen. „Eine Nacht für zwei, bitte", übernahm sie und hakte sich munter in Yomo ein. Der hielt immer noch die Uniform des Antiks unter seinem anderen Arm, was dem Rezeptionist nicht unbemerkt blieb. Er schmunzelte und zwinkerte den beiden zu. „Ich glaube", begann er und schob Kisuna bereits geheimnisvoll einen Schlüssel zu „wir haben ein perfektes Zimmer für Sie beide. Entsprechend dem Anlass, meine ich." „Anlass?" Yomo schien nicht ganz zu verstehen. „Wunderbar, nehmen wir!", warf sich Kisuna dazwischen, schnappte den Zimmerschlüssel und schliff Yomo zum Aufzug. Sie sollten nicht auffliegen und ebenso schnell wie möglich aus dem Eingangsbereich verschwinden, um auch wirklich sicher zu sein. Keine Zeit für Fragen oder Ähnliches. Sie würde es Yomo schon zur Not erklären. Das Zimmer, in dem sie diese Nacht unterkamen war riesig, die Möbel hatten einen romantisch-kitschigen Touch und waren in dunklen Tönen gehalten. Das Bett war extra rund angelegt und hatte etliche Kissen darauf platziert. „Wofür braucht man so viele Kissen, wenn man doch nur für eine Sache hierher kommt?", fragte Kisuna sich innerlich, wobei sie Yomo wieder wahrnahm. Der hatte sich auf der Bettkante...oder besser gesagt Bettrundung Platz genommen und zog seine Schuhe aus. Sein Blick war wie immer konzentriert und ruhig, seine Anspannung und Sorge jedoch waren abgeklungen. Er legte die Uniform auf der Kommode ab, die auch zu dem Rest der Ausstattung passte. Erleichtert atmete auch die Ghula endlich aus und saß sich ebenso nieder. „Das war knapp." Sie sah zu ihm, erwartete, dass er Fragen stellen würde oder etwas sagen würde, doch das tat er nicht. Natürlich nicht. Er stand einfach auf, streifte sein Shirt von sich und warf es hinter sich auf die schwarze Matratze. Dann marschierte er Richtung Badezimmer, hielt im Türrahmen noch einmal inne, sah über seine Schulter zu ihr zurück. „Ich gehe baden." Ein Schritt und schon war er ins Bad verschwunden. „Manchmal werde ich nicht aus dir schlau, Yomo", flüstere die Ghula vor sich hin und ließ sich nach hinten in die zahllosen Kissen fallen. Sie schloss ihre Augen. Seltsamerweise war das Erste, das sich vor ihrem Innersten abbildete der silberhaarige junge Mann, mit dem sie nun bereits ein paar Wochen zusammenlebte. Sie dachte wie immer an seine Küsse, warum hatte sich das so in ihrem Gedächtnis eingebrannt? Ihr fiel wieder ihre erste Nacht in seiner... ihrer Wohnung ein, als sie ihm versehentlich das Handtuch von der Lende gerissen hatte. Sie musste kichern, doch dann erinnerte sie sich an das, was sie dabei gesehen hatte. Kisuna rollte sich zur Seite. Verdammt, warum steckte er nur in ihrem Kopf fest? Reichte es nicht, dass sie beinahe jeden Tag mit ihm verbrachte? Reichte es ihr nicht? Ihrer inneren Begierde schien es nämlich nicht zu genügen, sie verspürte ein kribbelndes Gefühl in ihrer Magengegend und ihrer Intimzone. Hastig saß sie sich auf, fuhr sich durchs Haar und biss sich auf ihren Daumennagel. Warum musste Yomo auch so unverschämt attraktiv sein? Kisuna dachte an seinen durchtrainierten Körper, seine silbernen Haare, die ihm leicht in den Nacken fielen, wenn er vor ihr ging und seine grauen Augen, die sie immer im Blick behielten. Seine meistens ernste und grummelige Stimmung und die wenigen Momente, wo sie ihn lächelnd gesehen hatte. Oder jedenfalls etwas, das man als Lächeln durchgehen lassen konnte. Sie musste schmunzeln. Wie konnte er in nur so weniger Zeit ihre Gedanken so eingenommen haben? Wollte sie ihn nicht verführen? Es kam ihr beinahe so vor, als hätte er sie verführt. Erneut seufzte sie, wandte den Kopf zur Seite. Dabei erblickte sie sein Shirt, das er eben ausgezogen hatte. Zögernd legte sie eine Hand darauf, überlegte kurz. Es schien ihr wie in Trance, denn sie konnte nicht leugnen, dass sie gerade unglaublich angetörnt war. „Argh, von was überhaupt?!", schimpfte sie mit sich leise und stütze den Kopf auf ihre Handflächen. Natürlich war ihr bewusst von was, besser gesagt von wem. „Das ist doch kein Zustand", ärgerte sie sich innerlich. Sie musste etwas dagegen unternehmen. Flink sprang die dunkelhaarige Schönheit vom Bett auf, betrachtete dabei nochmals das Shirt. Dann, die rauschenden Töne aus dem Badezimmer klangen aus, Yomo hatte das Bad fertig eingelassen. Und da kam der Ghula eine Idee. Eine Idee, die vielleicht nicht die beste war, aber ihren Plan, Yomo zu verführen unterstützten und zu ihrer eigenen Erlösung beitragen würden. Auf mehr musste sie nicht Rücksicht nehmen, richtig? Vorsichtig näherte sie sich der Badezimmertür. „Yomo, gehst du jetzt in die Wanne?" „Ja." Das bot sich doch geradezu ideal an. Kisuna schlich sich zurück zum Bett, entledigte sich ihrer Kleidung bis auf ihre Unterwäsche und tapste fröhlichen Gemüts gen Bad. Mit einem Schwung öffnete sie die Tür, wartete auf eine Reaktion seinerseits. Yomo, er saß bereits in der übergroßen Wanne, die höchstwahrscheinlich für zwei Personen erdacht war, und entgegnete ihr einen perplexen Blick. Durch den vielen Schaum konnte sie nichts erkennen, allerdings wusste sie ja bereits, was sich darunter verbarg. Sein Blick wurde strenger, er war wohl nicht allzu sehr begeistert. „Ich dachte, ich leiste dir Gesellschaft" Ehe er darauf antworten konnte, begann sie auch schon sich auszuziehen. Es störte sie nicht, ihren nackten Körper vor ihm zu präsentieren, im Gegenteil. Sie wollte, dass Yomo sie als schön betrachtete, wollte sich ihm voll und ganz in ihrer Natur zeigen. Doch dieser sah erst einmal etwas verlegen und gleichzeitig erbost zur Seite. Sachte streifte sie ihr letztes Stück Stoff ab und stieg zu ihm in die Wanne. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Nun, da sie auch voll und ganz in Schaum bedeckt war, wandte er seinen Blick wieder zu ihr, deutlich angestrengt. „Stört es dich sehr?", erkundigte sie sich, als Antwort bekam sie den üblichen Seufzer. Yomo wusste jedoch nicht, das das längst noch nicht alles war, das sie zu bieten hatte. Mit einem Satz rutschte sie zu ihm vor, presste ihren nackten Körper gegen den seinen. Ihre Hände legte sie auf seiner Brust ab und begann seinen Hals zu küssen. Yomo, sichtlich überrascht, platzierte sogleich seine vom Schaum bedeckten Hände auf ihren Schultern und schob sie etwas von sich. „Kisuna, was wird das?" Leicht betreten sah sie ihm entgegen. Dann realisierte sie erst, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war. So würde sie ihn nicht erreichen. So würde er sie nur von sich stoßen, wie gerade eben. Sie hatte etwas Entscheidendes bei der ganzen Aktion vergessen: Yomo! Es war ihr nur um sich selbst, um ihre Befriedigung wichtig gewesen. Dabei hatte sie jedoch seine Gefühle, nein ihn vollständig außer Acht gelassen. Sie kam sich dumm vor. Aufgewühlt fuhr sie sich übers Gesicht und strich ihre Haare nach hinten. Wasser rann von ihrem Scheitel über ihre Augen, Nase und Lippen bis zu ihrem Kinn und schließlich ihren Hals hinab bis es wieder in der Wanne landete. Dann sprang sie abrupt auf, warf sich ein Handtuch um und verließ das Badezimmer. Was hatte sie sich auch dabei gedacht? Sie stoppte vor dem Bett und stöhnte erbittert. „Das kommt davon, wenn man seiner Lust nachgibt", dachte sie sich und seufzte erneut. Es dauerte jedoch keine Minute, da baute sich Yomo hinter ihr auf. Erschrocken und beschämt klammerte Kisuna sich an ihrem Handtuch fest, wandte den Blick von ihm. Es war ihr unangenehm, sie wusste, dass er wütend war. Oder noch schlimmer, enttäuscht. Yomo, nur bedeckt von einem Handtuch um seine Hüfte, sah sie gebannt an. Der Anblick war dem vor ein paar Wochen gleich. Auch wie damals tropfte Wasser in einer betörenden Langsamkeit seinen athletischen Körper hinab, seine Haare waren noch nass und ungebändigt. Nervös strich sie sich eine Strähne hinters Ohr, verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was sollte das?" Sein strenger Blick ließ sie erzittern. Das hätte sie zuvor vielleicht besser durchdenken sollen. „Ich... das war dumm von mir." Kisuna wandte sich um, doch Yomo wusste dies zu verhindern. An ihren Schultern drehte er sie wieder zu sich, sie war gezwungen ihn anzusehen. „Du musst mich nicht verführen um bei mir zu bleiben." Moment... was? Kisuna starrte ihn ungläubig an, fühlte sich wie versteinert. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Schwere breitete sich in ihr aus, es war als würde eine unbekannte Macht sie nach unten ziehen, ihr jegliche Kraft entrauben. Dachte er das wirklich? Empört und aufgelöst riss sie sich von ihm, überkreuzte schützend die Hände vor sich, sodass ihre Finger auf ihrem Schlüsselbein lagen. Sie schämte sich, doch gleichzeitig war sie frustriert, dass er auf diese Idee kam. „Ist es das, was du denkst? Dass ich deshalb so handle?" Ihre Stimme zitterte etwas, doch sie musste es aussprechen. „Ich kann es mir nicht erklären." Yomo wollte einen Schritt auf sie zugehen, doch sie wich zurück. Was hatte er getan? Was hatte er nur gesagt, sodass sie sich von ihm abwandte? Yomo verstand die Welt nicht mehr, verstand nicht, was gerade vor sich ging. „Kisuna, sei ehrlich. Warum hast du das getan?" „Ehrlich?", schnappte sie zurück und warf ihre Arme nach hinten. Ihre Augen funkelten in ihrem Grün wie ein polierter Smaragd. „Na gut, ich bin ehrlich", begann sie und trat ihm unruhig entgegen. Auch Yomos Augen verengten sich, was hatte sie denn nur? „Warum ich das mache?", wiederholte Kisuna, tippte dabei mit dem Zeigefinger auf die Brust ihres Gegenübers. „Weil ich dich attraktiv finde und mit dir schlafen will. Zufrieden?" Aufgebracht drehte sie sich um, senkte dabei den Kopf und klammerte sich wieder an ihr Handtuch. Yomo, erstaunt über ihre Antwort, fuhr sich durchs wirre Haar. Was machte diese Frau nur mit ihm? Er seufzte, dann legte er behutsam eine Hand auf ihre rechte Schulter. Kisuna reagierte darauf und wandte sich ihm wieder zu. Erneut fuhr sie sich übers Gesicht, stöhnte geschlagen und lächelte schließlich trübe. „Ich dachte", sie blickte wieder zu ihm auf. „Ich dachte, du würdest es vielleicht auch wollen, nachdem wir uns schon öfter geküsst haben. Lächerlich, ich weiß." „Sag das nicht." Der Schwermut in ihrem Ausdruck ließ Yomo innerlich erbeben. Wieso? Wieso ertrug er es nicht, wenn sie ihn so ansah? Er wollte nicht, dass sie traurig war, er konnte es nicht mit ansehen, wie sie sich selbst fertig machte. Es schmerzte ihn selbst. Sie nahm seine Hand, führte sie von ihrer Schulter hinab und ließ sie schlussendlich los. „Das war egoistisch von mir. Sorry, Yomo." Wieder dieses traurige Lächeln, es war schrecklich. Dann, ein kleiner Schimmer, unsicher, aber dennoch vorhanden, war in ihren Augen zu erkennen. „Sag, haben dir die Küsse sonst überhaupt gefallen?" Wieso fragte sie so etwas? War ihr das nicht bewusst? Hätte er es denn sonst zugelassen? Doch Worte würden nicht denselben Effekt haben, zu viel hatte Yomo dabei bereits falsch gemacht. Er konnte sowieso nicht gut mit Worten, aber das wusste sie bereits. Damit sie es auch wirklich verstehen würde, musste er es ihr auf anderem Wege vermitteln. Der Ghul sah gebannt zu ihr. Diese Frau, so wunderschön und natürlich wie sie vor ihm stand, löste Etwas in ihm aus, das er zuvor noch nie gekannt oder gefühlt hatte. Und es gefiel ihm auf eine seltsame Art und Weise, auch wenn er nicht wusste, was das bedeutete. Und es raubte ihn den letzten Nerv, aber das konnte er akzeptieren. Er wusste auch, was ihm sein Gefühl in diesem Moment sagte und er handelte nach genau diesem. Damit überschritt er wahrscheinlich all seine eigenen Grenzen. Geschwind zog er sie an sich, küsste sie vorsichtig und dennoch intensiv. Kisuna konnte nicht glauben, was gerade geschah. Küsste Yomo etwa gerade sie? Von selbst? Bevor sie realisieren konnte, was vor sich ging, löste er den Kuss bereits wieder. Seine Augen bohrten sich durch sie hindurch, es war, als würden tausend Blitze durch ihren Körper fahren. „Reicht das als Antwort?", erkundigte er sich, wobei er sie noch an der Hüfte festhielt. Bildete sie sich das ein oder schien er ein wenig verlegen? Kisuna, immer noch perplex, musste schließlich anfangen zu kichern. Sie konnte nicht anders, er hatte es wieder einmal geschafft. „Du überrascht mich immer wieder aufs Neue, Yomo!", entgegnete sie ihm und dieses Mal war ihr Lächeln echt. Sie strahlte wieder, das war es, was er sich erhofft hatte. Und das war es auch, dem er geradezu nicht widerstehen konnte. Verdammt, wo war nur seine Selbstbeherrschung? Er küsste sie nochmals. Dieses Mal konnte sie darauf eingehen, schlang die Arme um ihn und presste ihren Körper näher an den Seinen. Dieser Kuss war leidenschaftlich, wild, aufbrausend und vieles, vieles mehr. Selbstsicher brachte Kisuna ihre Zunge mit ins Spiel, er ging darauf ein. Es war wie ein Sturm, der die beiden vereinte. So stürmisch, dass sie schließlich das Gleichgewicht verlor und samt Yomo in die Matratze hinter sich fiel. Erschrocken unterbrachen sie den Kuss, dann musste Kisuna wieder lächeln. Mit einem lauten Stöhnen warf sie die Arme nach hinten, legte ihren Kopf darauf ab. Ihr Begleiter warf sich neben sie. „So stürmisch heute", schmunzelte sie und rundete das Ganze mit einem Zwinkern ab. Yomo, er hatte den Kopf zur Seite gewandt, griff nach der Decke und zog sie über sich und Kisuna. „Was hast du denn?", hakte sie nach. Neugierig beugte sie sich zu ihm hinüber. „Was, du wirst doch nicht etwa verlegen sein!" „Unsinn." „Schon gut, ich kenn dich ja mittlerweile. Du schweigst lieber." Die Stimmung der Ghula hatte sich gebessert und ebenso war sie sicher, dass Yomo nicht mehr schlecht gelaunt war. Er schaffte es wirklich von Zeit zu Zeit sie komplett zu überraschen. Schwungvoll drehte sie sich auf ihre Lieblingsseite, konnte sich aber einen letzten Kommentar nicht verkneifen. „Übrigens", sie warf ihm noch einen Blick über die Schulter zu. Auf ihrem Gesicht lag ein freches Grinsen. „Dein Freund hier scheint ja doch noch zu funktionieren." Einen Moment lang musste Yomo überlegen, dann wurde ihm bewusst, von was sie eben sprach. Reflexartig schützte er sein bestes Stück mit seinen Händen, auch wenn es bereits von einem Handtuch bedeckt wurde. Von der anderen Seite des Bettes war nur noch Kisunas vergnügtes Kichern zu hören.



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