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Fünfmal Rekrut, einmal Rebell

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hinweis: Dieses Kapitel beinhaltet Themen wie Alkoholismus und Kindeswohlgefährdung (durch Vernachlässigung). Es wird nicht explizit beschrieben und jeder, der Supernatural kennt und einen Gedanken dafür übrig hat, wie die Kindheit von Sam und Dean Winchester ausgesehen haben mag, wird sich denken können, worauf ich hinauswill. Für eine Triggerwarnung finde ich die Story zu vage, aber ich möchte darauf hinweisen, dass es sich hierbei um ein Drama handelt, das sich mit Traumata innerhalb einer Familie befasst. Passt auf euch auf!

Herzlich willkommen zu meinem Wettbewerbsbeitrag!

Ich arbeite bereits seit Juli an dieser Geschichte und habe das erste Kapitel seitdem unzählige Male überarbeitet. Die restliche Story, nach dem wundervollen Konzept des Wettbewerbes, baut auf dieser Endversion auf. Ich lade das erste Kapitel nun hoch, um mich davon abzuhalten, noch weiter daran herumzubasteln (man soll aufhören, wenn's am schönsten ist). :D

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Fanfic hat den Zustatz 'Songfic' (Hey Jude von den Beatles) und eine Triggerwarnung für Trauma erhalten.

Ich spezifiziere Trauma ein wenig, damit ihr vor dem Lesen entscheiden könnt, ob ihr euch dem gewachsen seht:

Es geht um Kindeswohlgefährdung, weiterhin begründet durch elterliche Traumata, was wiederum dazu führt, dass auch die Kinder Traumata erleiden.
Alkoholmissbrauch bzw. Alkoholismus wird aus kindlicher Sicht auf nicht wohlwollende Weise dargestellt, findet aber nur am Rande Erwähnung.

Ich bin an und für sich mit der Triggerwarnung ein bisschen überfordert - also wenn das hier ein Schreifalter liest, dem eine bessere Lösung einfällt, dann bin ich über die Änderungshilfe sehr dankbar!

Viel Spaß beim Lesen zu wünschen, erscheint etwas seltsam, aber ich hoffe trotzdem, dass das Lesen ... einen gewissen Unterhaltungswert hat? Komplett anzeigen

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Pass auf deinen Bruder auf!

Februar 1984

 

Sammy weinte.

 

Dean spürte Adrenalin durch seinen angespannten Körper jagen.

Erhöhter Puls, Rauschen in den Ohren. Nicht, dass er das Gefühl höchster Alarmbereitschaft hätte benennen können, aber er war auch viel zu abgelenkt, um sich groß um die eigenen Empfindungen zu scheren.

Seine kleinen Hände waren schweißnass und seltsam taub. Abwesend wischte Dean sie zum wiederholten Male an seiner abgetragenen Jeanshose ab.

 

Das Zimmer des schäbigen Motels besaß keine Uhren und selbst wenn – er konnte sie noch nicht lesen. Eigentlich spielte es auch keine Rolle, wie spät es war. Oder wie lange sein kleiner Bruder bereits aus vollem Halse schrie. Es fühlte sich wie eine schrecklich lange Ewigkeit an, die jeder hämmernde Herzschlag weiter ausdehnte und somit das Warten schier unerträglich machte.

 

Sammy schrie.

 

Vor knapp drei Monaten hatten sie für eine Nacht im Krankenhaus bleiben müssen. Die Ärzte wollten sicher gehen, dass keines der Kinder eine Rauchvergiftung erlitten hatte.

Hätten die Ärzte nur hören können, welch beeindruckende Lungenkapazität der gerade neun Monate alte Samuel Winchester besaß!

Nun, nach Hause hätte man sie sicher trotzdem nicht geschickt. Ein Zuhause gab es nämlich nicht mehr.

 

Im Krankenhaus hatte Dean sich allerdings nicht annähernd so hilflos gefühlt. Im Krankenhaus waren die Menschen nett gewesen, hatten ihm gesagt, was er tun sollte.

Auch sein Vater sagte ihm, was er tun sollte. Aber das war etwas anderes.

 

Ein Pfleger hatte Dean einen Teddy geschenkt, der jetzt neben Sams dunkelrot angelaufenem Köpfchen auf dem nass geweinten Kissen lag.

Deans Blick wanderte gehetzt zwischen der Zimmertür und dem schlichten Gitterbettchen hin und her.

Wo blieb Dad?

Vor einer (Dean unbekannten, aber für einen Fünfjährigen doch recht langen) Weile hatte John das Motel verlassen, um Abendessen für sie zu holen.

 

Pass auf deinen Bruder auf, Dean! Lass niemanden auf unser Zimmer!“

So lautete die strikte Anweisung seines Vaters – und Dean würde alles tun, um sie zu erfüllen.

 

Seine kleine Welt, alles, was er kannte, war in einer einzigen Nacht lichterloh in Flammen und Rauch aufgegangen. War zersplittert, wie Fensterglas, das in der Hitze des Feuersturms zersprang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass sein Vater schon wusste, was zu tun war. Dad war ein Held. Er war stark.

Und manchmal, da verschwanden Helden einfach in der Dunkelheit, um ihren Job zu erledigen, oder?

 

Sammy brüllte.

 

Seine Stimme versagte manchmal zwischen den Schreien und dem Luftholen, als hätte jemand den Ton abgedreht. Nur ein leises, kehliges Rasseln entwich ihm dann. Diese Momente waren besonders schlimm.

Zweimal hatte bereits ein Zimmernachbar gegen die dünne Wand gehämmert und zeternd nach Ruhe verlangt. Dean wusste, dass jemand die Polizei rufen würde, sollte er Sam nicht bald beruhigen können.

Auch das hatte Dad ihm nachdrücklich eingeschärft. Dass Sammy nicht zu lange schreien dürfe, wenn ihr Vater fort war, denn sonst kämen Männer vorbei, die ihm seine Kinder wegnähmen.

 

Und das willst du doch nicht, Dean!“

Nein, Dad – oder Sammy – zu verlieren, war mit Sicherheit das letzte, was er wollte.

Verlieren bedeutete Verschwinden und Verschwinden, das bedeutete Schmerz. Angst.

 

Dean hatte vor Sams Gesicht Grimassen geschnitten, war vor seinem Kinderbett auf und ab gehüpft. Hatte seinen Zeigefinger in die kleine, speckige Hand geschoben, die zwar kräftig zugriff, aber trotzdem hörte sein Bruder einfach nicht auf zu weinen.

Schließlich hatte Dean mit gebrochener Kinderstimme das Schlaflied gesungen, das er von seiner Mutter kannte und das hatte alles nur noch verschlimmert.

Nicht Sammys Geschrei, nein, aber die Panik, die anschließend in seiner Brust pochte und der Druck, der in seinem Kopf hämmerte. Die Schwere auf seinen erschöpften Schultern, das Reißen in seinem leeren Magen.

 

Gedanken an Mommy waren tabu. Gedanken an Mommy hatten Dad wochenlang regungslos auf dem Sofa sitzen lassen, mit seltsam leblosem Blick ins Leere starrend.

 

Nachdem der beißende Gestank von Feuer und Rauch aus ihren Haaren verschwunden war und sich auch nicht mehr jede Nacht in ihre unruhigen Träume stahl, war ein anderer scharfer Geruch in das Motelzimmer eingekehrt, das sie seit einiger Zeit bewohnten. Er stammte von den goldenen oder bernsteinfarbenen, manchmal auch klaren Flüssigkeiten, die Dad jeden Abend in solchen Mengen trank, als seien sie bloß Wasser.

Dean wusste, dass es Alkohol war. Er wusste auch, dass sein Vater nur schlief, wenn er mindestens eine Flasche davon geleert hatte – eine von den großen, bauchigen, deren Inhalt so verheißungsvoll im trüben Licht der Nachttischlampe und des flackernden Fernsehers schimmerte.

 

Sammy wimmerte.

 

In Deans Ohren erhob sich ein schriller Pfeifton, der es ihm unmöglich machte, klar zu denken. Alles, was Dad ihm aufgetragen hatte ... Er biss sich auf die Lippen und betete im Kopf die Anweisungen herunter, die er inzwischen im Schlaf aufsagen konnte.

 

Wenn Sammy weinte, dann war er müde und brauchte Hilfe beim Einschlafen.

Oder er war hungrig und musste gefüttert werden.

Oder ihm war langweilig und er wollte spielen.

Oder seine Windeln waren voll und mussten gewechselt werden.

Oder er wollte auf den Arm genommen werden, weil er einsam war.

Vielleicht einsamer als Dean?

 

Der Griff um seinen Zeigefinger war schlaffer geworden. Dean fiel nicht auf, dass Sams lautes Weinen in ein ersticktes Gurgeln abgedriftet war.

Erst, als sein eigener den Fingern seines Bruders entglitt, hob er den Kopf und sah zwischen den Gitterstäben hindurch.

Sams kleiner Mund ging auf und zu, aber es kam kein Schreien mehr heraus. Sein Gesicht war blau angelaufen.

Kalte Furcht füllte Deans Lungen, wie Eiswasser anstelle von Sauerstoff, und für einen schrecklich langen Moment kämpften beide Brüder um Atem.

 

Sammy kriegt keine Luft mehr, Sammy stirbt! Das Feuer, Sammy verschwindet, Mommy … Sam stirbt – Dad!

 

„Hilfe!“

 

Plötzlich rastete etwas in Deans jungem Verstand ein; vielleicht war es sein eigener Schrei, der ihn wieder zur Besinnung brachte: Niemand würde ihm helfen. Dad war fort.

Er, Dean, musste selbst Held sein, wenn er nicht hilflos mitansehen wollte, wie er auch Sam verlor.

 

Geistesgegenwärtig kletterte er auf den Stuhl neben dem Kinderbett, hatte sich nie in seinem Leben winziger gefühlt. Er beugte sich über das Gitter und hob seinen kleinen Bruder mit aller Kraft und Behutsamkeit, die er in diesem Augenblick aufbringen konnte, in seine Arme.

So stand er einen Moment zitternd auf der Sitzfläche; Sammy war schwer, wenn man selbst kaum fünf Jahre alt war und es war mehr als eine Herausforderung, mit einem Baby, das keine Luft bekam, einen Stuhl hinunterzuklettern. Kraftlos rutschte er die Lehne hinunter, bis er auf den Hosenboden plumpste.

 

An seiner Schulter saugte Sam röchelnd nach Atemluft.

Dean patschte seinem Bruder hilflos mit der flachen Hand auf den Rücken; ein schwaches Nachahmen dessen, was er bei seiner Mutter so oft gesehen hatte. So gut er konnte, wiegte er das Baby auf seinem Arm auf und ab.

 

Kaum vorstellbar, dass er dieses rasend schnell wachsende Bündel vor nicht allzu langer Zeit noch ein ganzes Stockwerk aus dem brennenden Haus geschleppt hatte ...

Sein Bruder wuchs schneller, als er selbst stärker werden konnte. Wie sollte er ihn so beschützen?

Es war mehr als die Anstrengung, Sammy zu halten, die seine Arme zittern ließ.

Dean war so wahnsinnig erschöpft.

 

Sammy schnaufte.

 

Das Baby auf seinen Armen schnappte noch einmal fahrig nach Luft, bevor sich der Atem wieder zu normalisieren schien. Ein beruhigendes, schnüffelndes, sehr lebendig klingendes Geräusch.

Dean stand der kalte Schweiß im Gesicht und er schloss erleichtert die Augen, presste die feuchte Stirn an Sammys nass geweinte, erhitzte Wange.

Ein fast synchrones Seufzen entfuhr den Brüdern.

 

Es gelang Dean, mit Sam auf dem Arm vom Stuhl aufzustehen und durch den Raum zu dem großen, ungemachten Bett hinüber zu gehen, das er sich zurzeit mit seinem Vater teilte. Seine Arme protestierten bereits, als er seinen Bruder auf der Matratze ablegte. Die Decke knüllte er sorgsam in einer Art Rolle um das Baby herum, damit es nicht vom Bett rutschen konnte. So viel hatte Dad ihm eingeschärft. Sam begann allmählich seine ersten Sitz- und Krabbelversuche und bewegte sich viel. Es war sicherer so.

 

Sams Gesicht war inzwischen nicht mehr blau; sein Hautton hatte sich normalisiert und war wieder blass. In den letzten Wochen waren die Kinder wenig an die frische Luft gekommen und den Mangel an Tageslicht sah man ihnen inzwischen deutlich an.

Ein rosiger Schimmer und die geröteten Augen wiesen noch auf die Anstrengung seines Weinens und den Kampf mit der Atemnot hin.

 

Der Kleine beobachtete Dean aufmerksam, so weit sein Blickfeld reichte.

Dad hatte verboten, dass Dean an die elektrische Herdplatte ging, wenn er allein war und eine Mikrowelle gab es nicht.

Ein Feuer in der Familie war genug. Warum es gebrannt hatte, was vorgefallen war, wusste Dean zwar nicht, aber er begriff, dass sein Vater sich um ihn sorgte. Sorge um jemanden – das Gefühl hatte er in der letzten Zeit zur Genüge kennengelernt.

Leider bedeutete das auch, dass er Sammy kein Essen warm machen konnte. Gläser mit Babynahrung mussten in einem Wasserbad erhitzt werden und dafür brauchte er Dad.

Erneut fühlte Dean sich unendlich hilflos.

 

Er gab Sam zu trinken und während das Baby gierig an seiner Wasserflasche saugte, fiel ihm erst auf, wie durstig er selbst war. Und wie groß sein Hunger.

Seine Zunge hinterließ ein trockenes Schnalzen, als er mit ihr seine Lippen zu befeuchten versuchte. Irgendwo hatten sie noch Instant-Brei. Den Wasserkocher des Motelzimmers konnte Dean ohne Hilfe benutzen und mehr war für die Zubereitung nicht notwendig.

Nachdem Sam fertig getrunken hatte, vergewisserte Dean sich noch einmal, dass die Bettdecke wirklich fest genug um ihn herum gesteckt war. Sicherheitshalber legte er sogar noch sämtliche Kissen vor der Bettkante auf den Boden. Erst dann war er zufrieden und konnte sich an die Arbeit machen.

 

Dean war fünf Jahre alt und darauf war er stolz. Es schien ein gutes Alter zu sein. Allerdings eines, indem man das Lesen noch nicht gelernt hatte. Die Anweisungen zur Zubereitung auf der Verpackung des mehligen Pulvers waren bebildert und er hatte gesehen, wie sein Vater Sammys Essen zusammenrührte. Das musste als Anleitung reichen.

Die Mengenangaben auf dem Karton sagten ihm nichts, aber er schüttete einfach eine großzügige Menge des trockenen Breis in einen tiefen Teller, der halbwegs sauber aussah. Den Wasserkocher füllte er, bis er so schwer wurde, dass er ihn mit beiden Händen tragen musste, um nichts zu verschütten und auch dafür hatte er einen Stuhl vor das Becken in dem kleinen schäbigen Bad rücken müssen, um überhaupt an den Hahn zu reichen.

 

Kind zu sein, stellte sich überraschenderweise als etwas äußerst Lästiges heraus, denn es schränkte einen so sehr in den elementaren Dingen des Lebens ein, über die sich Erwachsene offenbar nur wenig Gedanken machen mussten. Sich (und andere) zu ernähren, zum Beispiel. Vielleicht war fünf doch kein so tolles Alter, vielleicht war sechs besser oder zehn oder dreißig, oder vielleicht war es am besten, wenn man einfach gar kein Alter hatte, weil man nicht auf der Welt war?

 

Sammy. Pass auf Sammy auf!

 

Endlich war es geschafft: Der volle Wasserkocher war in Betrieb und verrichtete blubbernd und zischend seine Arbeit. Während Dean darauf wartete, dass das Wasser kochte, warf er einen prüfenden Blick zum Bett herüber, auf dem Sam strampelte.

Sein kleiner Bruder rollte auf der Matratze herum und tat offensichtlich eine Menge dafür, um sich aus eigener Kraft auf seine vier Buchstaben zu hieven. Seine Rumpfmuskulatur erlaubte es ihm jedoch nur, sich wie eine Robbe auf den Bauch zu drehen, den Oberkörper anzuheben und selbst das wirkte inmitten des Deckenwustes nach einem großen Kraftakt.

Dean lächelte.

Sammy hatte noch nicht aufgegeben, also würde er selbst das auch nicht tun. Sammy war stark. Um auf ihn aufzupassen, musste Dean bloß noch stärker sein. Wenn er sich nur genügend anstrengte ...

 

„Ich pass' auf ihn auf, Dad!“, murmelte er in den Raum hinein, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. Beim Klang von Deans Stimme drehte Sam den Kopf nach ihm um, was ihn mit Stolz erfüllte. Dass sie zusammengehörten, stand schon jetzt außer Frage, obwohl Sam noch so klein war. Dean liebte Sam und Sam brauchte Dean. Das war gut.

 

Das seltene Glücksgefühl währte nicht lange. Hinter ihm zischte es und mit einem Knall sprang der Deckel des viel zu vollen Wasserkochers auf. Siedendes Wasser spritzte durch die Luft und Dean jaulte auf, als er sich herumdrehte und ihn einige Tropfen im Gesicht trafen. Auf dem Bett begann Sammy vor Schreck erneut zu weinen, doch zum Glück war er weit genug entfernt, um nicht selbst von Spritzern getroffen zu werden.

Ein Großteil des Wassers schwappte blubbernd über den Rand des Kochers hinweg und landete zischend auf dem Tisch, von dem noch einiges zu Boden floss.

 

Das war zu viel. Er konnte einfach nicht mehr.

Deans Augen schwammen in Tränen und das Schluchzen ließ sich kaum mehr zurückhalten. Seit Tagen hatte er sich zusammengenommen, um nicht vor Dad zu weinen. Wenn er weinte, bekam Dad immer diesen Ausdruck in den Augen, der nur schwer zu ertragen war und das Weinen schlimmer machte.

Aber nun war Dad fort und das Maß voll und lief über, genau wie das verhängnisvolle Küchengerät.

Mit hängenden Schultern stand Dean der kleinen Katastrophe gegenüber, die sein Missgeschick in diesem Moment für ihn bedeutete.

 

Das Gerät schaltete sich mit einem leisen Klicken ab und auch das Baby verstummte. Wenigstens war die Sicherung nicht herausgesprungen, obwohl Dean dieses Risiko nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Wasser und Strom waren in Verbindung miteinander nicht gut, das wusste er natürlich, aber darüber hinaus fehlte es ihm an Zusammenhängen.

 

Sam brabbelte vor sich hin. Irgendwie hatte er es geschafft, sich selbstständig auf Hände und Knie zu stemmen. Dean schniefte, wischte die laufende Nase am etwas zu kurzen Ärmel seines Shirts ab und blinzelte heftig.

Die Sicht nun etwas klarer, folgten seine Augen der Bewegung auf dem Bett, und so wurde er gerade noch Zeuge davon, wie sein kleiner Bruder die ersten Krabbelversuche unternahm.

Es musste anstrengend auf der weichen Matratze sein, die zu sehr nachgab, wenn zudem noch eine schwere Bettdecke fast alle Fluchtwege versperrte. Doch all das schien Sammy nicht im Geringsten zu stören; seine unergründlichen Augen glühten begeistert und sein kleiner Mund war zu einem nicht mehr gänzlich zahnlosen Lächeln verzogen. Dieses diebische Grinsen, die grenzenlose Freude über den eigenen Sieg auf Sams Gesicht, waren fürchterlich ansteckend und ein Kichern kitzelte seinen Weg aus Deans beengter Brust hervor, bis ebenfalls ein Lachen aus ihm herausplatzte.

Sammy reagierte auf das Geräusch mit einem Quietschen und bahnte sich seinen Weg, noch etwas wackelig, aber zielsicher, durch den Deckenwust.

 

Dean wandte seinem Unfall mit dem Wasserkocher den Rücken zu und lief eilig zum Bett herüber. Er kletterte zu Sam auf die Matratze und zog ihn leise ächzend auf seinen Schoß.

Sam, zunächst unwillig, versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien, indem er sich auf Deans Knien nach vorne lehnte.

Er schmatzte unwirsch, gab ein protestierendes „Mhhmmlll!“ von sich, wollte nicht an seiner Entdeckung der Fortbewegung gehindert werden und Hunger hatte er auch – aber Dean hielt ihn fest.

 

Eine Weile rangelten die Brüder auf dem Bett, ihre Anstrengungen immer halbherziger werdend, bis ihnen allmählich die Augen zufielen.

Sam schlief tatsächlich in Deans Armen, den Kopf auf seinen schmalen Oberkörper gebettet, während Dean das Gesicht im Halbschlaf in Sams dichten, weichen Haaren vergrub, die Arme um den kleinen Körper geschlungen.

Es roch vertraut, wie die Umarmung seiner Mutter und für den letzten winzigen Moment zwischen Wachen und Träumen fühlte er einen seltsamen, tiefen Frieden. Er sah ihr Lächeln hinter seinen geschlossenen Augen, hörte ihre Stimme in seinem Kopf und das erste Mal seit drei Monaten machte es ihm keine Angst.

Es war ein Versprechen: Er war nicht allein.

 

Sein Vater hatte ihm aufgetragen, Sam zu beschützen. Und das würde er, denn Sam war das einzige Zuhause, das einzige Stück Normalität, das ihm geblieben war.

Dad wusste das.

Auch, wenn er wütend wurde, als er die Überschwemmung in der Küchenzeile entdeckte. Auch, wenn er Dean ein bisschen anschrie.

Dad wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte; daran glaubte Dean fest.

Tu, was ich dir sage!

März 1985

 

Dean war so kreidebleich, dass sich jede noch so helle Sommersprosse in gestochen scharfem Kontrast auf seinem Gesicht abzeichnete. Ein unschuldiger Kinderhimmel, voll von sonnigen Pünktchen.

Mit aufgerissenen Augen lauschte er den Worten seines Vaters.

 

„Was machst du, wenn du nachts ein Geräusch unter deinem Bett hörst?“

Johns Stimme war ruhig, aber sein Tonfall durchdringend, streng.

 

Dean saß vor ihm, auf dem Sofa bei Onkel Bobby, und starrte hoch in das Gesicht, das ihm vertraut und merkwürdig fern zugleich war.

 

Wenn Dad von seinen Ausflügen zurückkehrte, war sein Ausdruck jedes Mal düsterer, die Haut ein wenig mehr vom Wetter gegerbt, die Augen noch etwas tiefer in den Höhlen vergraben.

Dean hätte diesen Wandel niemals benennen können, auch nicht das Gefühl, das er in ihm verursachte.

Sein Vater war ihm fremd.

 

Sein Daddy, der ganze Wochenenden damit verbracht hatte, ihm zu zeigen, wie man ein Auto wusch und wachste, obwohl Dean damals noch kaum bis zu den Seitenspiegeln hinauf reichte.

Dad, Deans Held, der vorletztes Halloween noch mit einem kleinen Cowboy, anstelle eines Sohnes, an der Hand von Haus zu Haus gezogen war.

Mom war wütend gewesen; daran erinnerte Dean sich noch gut. Sie hatte Halloween nicht gemocht.

 

Wohin war dieser Dad verschwunden?

 

Tatsächlich fühlte es sich für Dean an, als würde John vor jeder seiner Reisen ein Stück mehr dessen, was von ‚Dad‘ noch geblieben war, mitnehmen und käme nach und nach mit einem ganz neuen Menschen zurück, den er sich übergestreift hatte, wie die Jacke eines anderen.

Er roch sogar anders. Manchmal störte es Dean, wenn der Geruch zu beißend war. Meistens dann, wenn Dad viel trank.

 

Vielleicht war dieser Dad nun bei Mom.

 

Gut ein Jahr war vergangen, seit Sammy zu krabbeln begonnen hatte. Inzwischen konnte er laufen und wackelte auf seinen pummeligen Kleinkinderbeinen in erstaunlich hohem Tempo durch die Welt. Sams Bewegungsdrang schien grenzenlos; irgendwo hatte Dean einmal aufgeschnappt, dass sein Bruder ein Nachzügler sei, ein ‚Spätentwickler‘, was auch immer das genau heißen mochte. Dean erschienen Sams Wachstumsschübe und neu erlernte Fähigkeiten alles andere als ‚verspätet‘ oder zu langsam – vielmehr hatte er das Gefühl, selbst kaum noch hinterher zu kommen.

 

Es war nicht nur das Laufen, nein, seit einigen Monaten brabbelte Sam ganze Worte vor sich hin. Das meiste von dem, was er sagte, war unverständlich, doch das erste Wort, das klar und deutlich aus dem mit Brei verschmierten Mund gekommen war, war ein gurrendes, forderndes „Dee!“ gewesen.

Dean hatte seinen kleinen Bruder perplex angestarrt, den Plastiklöffel, von dem etwas Kartoffelbrei in seinen Schoß zu tropfen begann, in der Luft erstarrt.

Wie sich herausgestellt hatte, bedeutete ‚Dee‘ weder „Ich will Tee!“ noch „Mehr Essen!“.

Obwohl Dean nichts Außergewöhnliches daran finden konnte, dass Sam nun sprach – Jedes Kind fing früher oder später an zu reden, oder? – nahm er seinem Bruder die vollen Windeln und die Schweinerei bei jeder Mahlzeit mit jedem vergnügten „Dee!“ etwas weniger krumm.

Ja, Sam war inzwischen eine deutlich unkompliziertere Gesellschaft für Dean geworden. Er musste ihn nicht mehr so oft tragen und Sam konnte nun sogar alleine essen, auch, wenn das fast immer in einer riesigen Putz- und Badeaktion endete.

 

Seit dieser Zeit hatte John die Jungen immer öfter und für immer längere Zeiträume allein gelassen. Dean hatte bewiesen, dass er alles daran setzte, um auf seinen Bruder aufzupassen. Seitdem genoss er etwas, das sein sechsjähriger Verstand für die Anerkennung und den Respekt seines Vaters hielt.

Beides aufrecht zu erhalten, war schwer; nahezu ebenso schwer, wie seine Pflicht zu erfüllen und für Sammy zu sorgen, aber Dean kämpfte dafür.

Für seinen Bruder.

Für Mom.

Um Dad stolz zu machen.

 

Dad saß breitbeinig vor ihm auf dem flachen Wohnzimmertisch; den Oberkörper vornüber gelehnt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Er war so nah, dass Dean die Fältchen um seine Augen herum erkennen konnte. Dad war eigentlich doch noch gar nicht so alt. Seit wann hatte er Falten?

 

Was machst du, wenn du nachts ein Geräusch unter deinem Bett hörst?

 

Es war nicht das erste Mal, dass er davon hörte, dass Geister und Hexen, Vampire und Werwölfe keine schaurigen Märchen waren, um Kinder davon abzuhalten, zu viele Süßigkeiten zu essen oder spät abends fernzusehen. Dass das alles real war, hatte Dad ihm kurz vor seinem sechsten Geburtstag verraten.

Merkwürdigerweise hatte er diese Nachricht besser verkraften können, als das, was er eben gerade gehört hatte.

 

Was machst du, wenn du nachts ...?

 

Dorthin verschwand Dad also. Nein, natürlich nicht unters Bett, aber er ging auf Monsterjagd. So viel hatte Dean begriffen, auch wenn diese Information nicht ganz leicht zu verdauen war. Dass Dad diese Monster jagte, weil sie dafür verantwortlich waren, dass Mommy tot war.

 

Es bestätigte zumindest Deans lang gehegte Theorie darüber, dass Dad ein Superheld war.

 

„I-ich ... rufe dich?“, fragte er mehr, als dass er antwortete, denn die Augenbrauen von Dad waren in ungeduldige Höhen abgedriftet.

Er erwartete, dass Dean sich verteidigen konnte, das begriff er ja. Dafür musste er mutig sein und das wollte er natürlich – doch Mut war so ein kleines Wort, so schnell gedacht, so ungleich schwerer bewiesen.

 

Onkel Bobby war mit Sam draußen.

Frische Luft“, hatte er in seinen Bart gebrummt und Deans Bruder ohne viel Federlesen mit vor die Tür genommen.

 

John seufzte.

 

Wie gern wäre Dean jetzt bei Bobby und Sam.

 

„Was tust du, wenn ich nicht da bin? Wenn du merkst, dass du nicht sprechen kannst, dass deine Stimme nicht mitmacht?“

Seine Ton war schärfer geworden und ein nervöses Zittern durchfuhr Dean.

 

„Wenn du nicht rufen kannst, weil du Angst hast, Dean?“

Es klang wie eine Drohung. Angst war verboten. Ab heute, hier und jetzt. Keine Angst mehr. Dean zitterte stärker.

Dad schien ganz schön viel von diesem Mut übrig zu haben.

 

„Was tust du, wenn du nicht schnell oder laut genug schreien kannst?“

 

Vielleicht konnte er Dean etwas von seinem Mut abgeben?

Monster waren real, schön und gut, aber bisher hatten sie Dean in Ruhe gelassen. Er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn sich daran auch nichts änderte.

So, wie Dad davon sprach, wäre das auch für die Monster gesünder; John schien nicht gerade sanft mit ihnen umzugehen. Das Problem war nur: John schien zu erwarten, dass Dean es genauso machte.

 

„S-salz?“ Dean schluckte hörbar, doch das brachte den Kloß in seiner Kehle nicht zum Verschwinden.

 

Wenn er Angst hätte haben dürfen, hätte er sich vor Johns Blick gefürchtet. Dad war gänzlich daraus verschwunden; die Frage war nur, wohin. Mit Mommy konnte dieser Ausdruck unmöglich etwas zu tun haben – immerhin war es Dean, der jetzt gerade vor ihm saß. Dad nahm sich Zeit für ihn, weil es wichtig war, weil es in diesem Moment um sie beide ging, richtig?

Um Dean und Dad.

 

Vielleicht war er jetzt gerade Helden-Dad, damit er Dean alles beibringen konnte, was wichtig war. Vielleicht musste er als Held einfach so hart und streng sein. Aber falls doch keine Monster unter dem Bett waren, hätte Dean nichts dagegen gehabt, es sich selbst dort für eine Weile gemütlich zu machen.

 

„Steinsalz! Ich nehme Steinsalz!“

 

Seit einer ganzen Weile schon bestand ein allabendliches Ritual daraus, Salz vor Türen und Fenster zu streuen, bevor Dean sich schlafen legte.

Salz ist rein“, hatte Onkel Bobby dazu einmal erklärt, einfach genug, damit Dean es verstand.

Diese Dreckskerle sind‘s nicht, also woll‘n sie damit auch nichts zu tun haben.“

Dean war nicht dumm. Er war sechs.

 

Johns Antwort war ein dünnlippiges Schweigen. Dean spürte sofort, dass er versagt hatte.

„Wenn Salz das Ding unter deinem Bett nicht abgehalten hat, in dein Zimmer zu kommen, dann wird Salz auch nicht dabei helfen, es zu verjagen!“

 

Dean wollte zusammenfahren, aber er riss sich zusammen. Seinen Vater enttäuscht zu haben, brannte wie ein Schlag ins Gesicht.

Dad mochte keine Schwäche und Dean war nicht schwach. Trotzdem hielt er den Blick gesenkt, konnte dem eigenen Versagen unmöglich in die Augen sehen.

 

Sich selbst zu enttäuschen, war für ihn nicht unbedingt etwas Neues. Dad zeichnete ihm regelmäßig einige seltsame Zeichen und Symbole auf Zettel vor, die er mit einem Stift so oft nach fahren sollte, bis ihm früher oder später das Papier riss.

Dean malte gern, aber einen Kugelschreiber zu führen, war schwierig und er würde erst im Sommer zur Schule gehen; wusste noch nicht, wie man einen Stift für so etwas richtig zu halten hatte. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, ihm das zu zeigen.

 

Die gleichen Symbole wie auf Deans Zetteln, die er wie einen Schatz hütete, pinselte Dad übrigens in jedem Motel, das sie kurzzeitig ihr Zuhause nannten, in Türnähe unter die Zimmerdecke oder versteckt unter einem Läufer oder einer Fußmatte auf den Boden.

 

Mit der Zeit ergaben all diese Rituale mehr und mehr Sinn: Deans Gutenachtgeschichten beinhalteten niemals ein „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“.

Nein. In den Geschichten, die er manchmal zu hören bekam, hieß es höchstens: „Und weil der Junge Weihwasser, sein Silbermesser und die Schrotflinte mit in den Wald genommen hatte, hat er überlebt.“

 

Diese Zeichen gab es auch bei Onkel Bobby an nahezu jeder Zimmerwand und auch er hatte in allen möglichen und unmöglichen Ecken Behälter mit grobkörnigem Salz stehen – sowie Gefäße mit geweihtem Wasser.

Und jetzt, jetzt wusste Dean auch weshalb und wofür. Auch Onkel Bobby war ein Superheld, aber offenbar von einer etwas anderen Art als sein Vater.

 

Und Deans Zettelsammlung wuchs. Ganz gleich, wie zerschlissen und verknickt die Papierstücke auch waren. Ob es sich um mit Fett befleckte Quittungen vom Lieferservice handelte oder um billige Notizblätter mit dem Logo ihrer letzten Unterkunft. Deans Zettel waren Zeugnis von Dads Zeit, die er ihm schenkte. Sie hielten fest, ob er auf einem guten Weg war, selbst ein Held zu werden; je nachdem, wie genau er die vorgezeichneten Linien traf.

 

„Es sei denn, natürlich“, fuhr John unbarmherzig fort, „du hast einen Fehler gemacht und die Salzlinie wurde unterbrochen! Dämonen finden jede Lücke, Dean!“

 

Dämonen waren von allen Monstern, von denen Dad ihm erzählt hatte, so ziemlich die schlimmsten. Sie konnten in Leute rein und sie dazu zwingen, das zu tun, was sie wollten. Man erkannte oft gar nicht, dass eigentlich nette Menschen von ihnen besessen waren, bis es zu spät war. Manchmal hatten sie unheimliche Augen und sie rochen unangenehm.

 

Dad war kein Dämon.

 

Es gab auch noch andere Wesen, wie zum Beispiel Skinwalker, die zumindest so aussehen konnten, als seien sie jemand anderes. Aber die Vorstellung fand Dean bei weitem nicht so schlimm. Wenn jemand nur so aussah, wie ein anderer, waren es ja nicht die eigenen Hände, die etwas Schlimmes taten, oder?

 

Auf Bobbys Sofa rocht es nicht nach faulen Eiern. Dad war nur Dad, er hatte keinen Dämon in sich. Er tat ja nur so, als wäre er in diesem Moment nicht er selbst, um Dean etwas beizubringen. Aber unheimliche Augen hatte er jetzt gerade auch. Sie starrten so finster.

 

Dad roch ganz okay; nur ein bisschen nach Rauch und Schweiß, und Dean wusste, dass er noch nichts getrunken hatte. Vielleicht war seine Laune deshalb so schlecht?

Ein Hauch Trotz kam in ihm auf; nicht genug, um direkt frech zu werden, aber er reichte aus, um zu widersprechen, um den Blick wieder zu heben.

„Ich hab‘ keinen Fehler gemacht, Dad!“, beteuerte er. „Ich gucke immer zweimal an der Tür und allen Fenstern, da ist keine Lücke! Nie!“

 

Ein grimmiges Lächeln, aber immerhin ein Lächeln, war alles, was er von John dafür erhielt. Schließlich ein langsames Nicken.

„Also kein Salz. Was versuchst du stattdessen?“

 

Vielleicht war das da doch nicht sein Daddy. Man konnte nie wissen.

 

Der Trotz in Dean wurde schlagartig zu Wachsamkeit.

 

„Dean, ich rede mit dir! Antworte mir gefälligst!“

 

Die Möglichkeit, dass das hier nicht Dad war, bestand immerhin.

 

Es gab mehrere Tricks, um das herauszufinden. Am einfachsten wäre natürlich, ganz fest daran zu glauben, dass ein Dämon gar nicht erst in Onkel Bobbys Haus kommen konnte. Angeblich war das Haus sicher.

Allein über ihren Köpfen prangte das drohende Symbol einer rostfarbenen Teufelsfalle, wie Dean inzwischen gelernt hatte. Wäre in Dad ein Dämon, der ihn steuerte, dann könnte Dean ganz einfach weglaufen, aber der Dämon könnte nicht hinterher.

 

Und hier saß Dad und erklärte Dean, dass es manchmal keine Rolle spielte, wie gut man sich vor dem Bösen dieser Welt zu schützen versuchte. Wenn unter seinem Bett trotzdem ein Monster sein konnte, egal, wie sehr er sich an Dads Regeln hielt, dann konnte der Mann vor ihm auf dem Sofa auch jemand anderer sein. Vielleicht hatte ein Dämon ein Schlupfloch gefunden, weil Dean einen Fehler gemacht hatte.

 

„Sieh mich an, Dean!“

 

Das tat er. Fest und unerschrocken, so hoffte Dean zumindest. Ein bisschen half es, daran zu denken, dass auch er ein Held sein wollte, seinen Vater vielleicht eines Tages würde retten müssen. Vielleicht heute.

Er nahm all seinen Mut zusammen; hoffte, dass es schon heute dafür reichte, wie sein Dad zu sein. Wenigstens ein bisschen.

 

„Christo!“, flüsterte Dean und starrte eisern in die braunen Augen vor sich, die so wenig Ähnlichkeit mit seinen hatten.

 

Die Augen starrten zurück, für den Bruchteil einer Sekunde vor Überraschung geweitet.

Dean hätte gern den Kopf eingezogen, spürte aber, dass es jetzt, auf diesen einen Moment ankam, dass er nur die eine Gelegenheit hatte, um sich zu beweisen.

 

Mut.

Das kleine Wort, das so viel kostete.

 

Die Augen blieben braun. Das Urteil in ihnen war milde. Kein Dämon.

 

John lächelte; ein Zucken in seinem rechten Mundwinkel, das mit der Bewegung etwas Wärme über seine Züge huschen ließ. Dean badete darin, als wäre Dad seine Sonne. Er reckte sich dem Licht entgegen, setzte sich noch eine Spur aufrechter hin, begierig darauf, etwas von Dads Heldenglanz zu erhaschen.

 

Der lachte plötzlich schallend. Es war ein befremdlicher Laut. Dean hatte ganz vergessen, wie sich Dads Stimme anhörte, wenn er lachte.

 

„Ausgezeichnet, Junge“, sagte Dad und fuhr sich über das Gesicht, auf dem es mit einem Mal feucht glitzerte.

Konnte man vor Lachen weinen? Dean war sich nicht sicher und betrachtete fasziniert, wie sich die Fältchen um Dads wässrige Augen kräuselten.

 

„Sehr gut, Dean!“

 

John sah so viel netter aus, aber hatte immer noch wenig Ähnlichkeit mit dem faltenlosen Dad, an den er sich noch deutlich erinnern konnte. Das lächelnde Gesicht aus seiner Erinnerung verblasste immer mehr, aber er wusste noch, wie warm die Stimme klingen konnte und wie gut seine Jacke gerochen hatte, wenn er ihn auf den Arm nahm. Nach Dads Rasierwasser, nach der Autowerkstatt, in der er schon seit langem nicht mehr arbeitete, und nach Leder.

Er spürte eine schwere Hand auf seiner Schulter, warm, riesig.

 

„Sei immer auf das Unmögliche vorbereitet. Das war gut!“

 

Dean zitterte, diesmal nicht vor Angst, sondern vor Aufregung.

„Okay, Dad!“, sagte er und das Herz war ihm so leicht, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

 

So fühlte es sich an, wenn Dad stolz auf ihn war.

 

 

*

 

Onkel Bobby konnte tatsächlich kochen – zumindest deutlich besser als John. Und als Dad ein wenig seiner Aufmerksamkeit seinem Jüngsten widmete, stand Dean mit Bobby in der Küche, Dean auf einem kleinen Hocker, die Nase dicht über den Topf gesenkt, aus dem es verführerisch duftete.

 

„Schnabel weg, du verbrennst dich!“, brummte der Mann, den er als Onkel kannte, doch es klang nicht unfreundlich.

Dean verringerte den Abstand zu der köchelnden Soße nur geringfügig und starrte weiterhin andächtig auf das träge Blubbern zwischen Gemüse und Fleisch.

Bobbys Blick ruhte eine Weile auf den schmalen Kinderschultern, die in abgetragenen Hemdsärmeln schlotterten.

 

„Hier“, sagte er plötzlich und drückte dem perplexen Dean den Kochlöffel in die Hände, mit dem er gerade noch selbst in der Soße gerührt hatte.

„Rühr du mal! Und lass mir ja nichts anbrennen!“

 

Dean tat, wie ihm geheißen. Er war an derlei Töne gewöhnt und trotzdem war es nicht unangenehm, dass Bobby so mit ihm sprach. Der Mann war knurrig und ähnelte in einigen Dingen seinem Vater, aber im Umgang mit den Brüdern strahlte er eine Art besorgte Wärme aus, die Dean dazu veranlasste, sich bei ihm wohlzufühlen.

Bei Onkel Bobby war er ein Kind; zwar eines, das auch eine gehörige Portion an Verantwortung zu übernehmen hatte, aber ein Kind, das eines sein durfte.

 

Die Soße roch köstlich und Deans Magen knurrte laut.

Ein altes Radio lief leise knisternd im Hintergrund und spielte Songs, die Bobby aus seiner eigenen Kindheit kannte und die man ‚Oldies‘ nannte.

Dean hatte seit Ewigkeiten keine Musik mehr gehört. Das Radio in Dads Auto blieb immer stumm, wenn sie von einem Motel zum nächsten fuhren oder aufbrachen, um bei einem von Dads Freunden zu übernachten.

Bobby war einer dieser Freunde. Johns Auto stand nun in dessen Werkstatt, die an das vor Monstern geschützte Haus grenzte. Dad konnte Autos reparieren, aber seit sie so viel unterwegs waren, und ‚zu Hause‘ überall sein konnte, fehlte ihm das nötige Werkzeug dafür. Viel mitnehmen durften sie jedenfalls nie.

 

Bobby konnte auch Autos reparieren; er verdiente damit sogar Geld. An Dads Auto ließ John ihn aber nicht heran, es durfte nur in seiner Werkstatt stehen. Etwas war kaputt, irgendetwas mit den Achsen, wie Dean aufgeschnappt hatte, obwohl man von außen keinen Schaden erkennen konnte.

Der Chevrolet Impala, so hieß das Auto, glänzte nach wie vor eindrucksvoll wie frisch poliert und war eindeutig und mit Abstand der schönste Besitz der Winchesters.

Aber manchmal, manchmal sah man eben von außen nicht, ob etwas kaputt war. Und: Auch schöne Dinge konnten kaputt gehen. Das begriff Dean allmählich. Manchmal sahen sie danach trotzdem noch schön aus.

 

Dean rührte von seinem Hocker aus mit Feuereifer in dem riesigen Topf auf dem Gasherd herum, dessen Rand ihm beinahe bis zum Kinn reichte. Bemüht, dass nichts von der Soße dabei heraus schwappte, bekam Dean nur zur Hälfte mit, wie Bobby alarmiert nach seinem Kragen griff, um ihn daran zu hindern, vornüber in ihr köchelndes Abendessen zu fallen.

 

„He! Kein Dean in meinem Essen!“

 

Dean lachte. Manchmal war Onkel Bobby so witzig, obwohl er fast immer schlecht gelaunt tat. Meistens war er nur witzig, wenn Dean mit ihm allein war.

 

„Ich schmeck‘ auch gar nicht“, versicherte er Bobby altklug und jagte mit dem Holzlöffel ein Stück Karotte zwischen zwei Fleischbällchen hindurch. Dann wurde er nachdenklich.

 

„Dad hat gesagt, Hexen essen Kinder“, erzählte Dean und blickte angestrengt in den Topf hinein.

 

Bobby hinter ihm brummte bloß. Es klang nicht allzu begeistert.

 

„Das stimmt, oder?“, bohrte Dean weiter, als der Mann nichts weiter dazu sagte.

 

„Manche“, gab Bobby widerwillig zu, „Aber wir sind keine Hexen und niemand von uns will kleine Rotznasen im Abendbrot.“

 

„Hab‘ gar keine Rotznase!“, sagte Dean schniefend und wischte sich die Nase, wie aufs Stichwort, wieder einmal am Ärmel über seiner Schulter ab.

 

Bobby nahm ihm den Kochlöffel aus der Hand und zog ihn ein Stück auf dem Hocker zurück, fort vom Essen.

 

„Das sehe ich“, sagte er trocken, ließ den Löffel mit einem Schlenker über der Soße abtropfen und legte ihn zur Seite. Mit einer Handbewegung scheuchte er Dean aus dem Weg, der vom Hocker hinunter sprang.

 

Bobby begann damit, Kartoffeln zu schälen. Dean sah ihm mit großen Augen dabei zu. Dad machte so etwas nie, aber er erinnerte sich daran, dass Mom das manchmal getan hatte.

 

„Deck‘ schon mal den Tisch. Kannst du das?“

 

„Ja, Sir!“, sagte Dean nicht ohne Stolz und grinste so breit, dass man die frische Zahnlücke in seinem Mund erkennen konnte.

Bobby hielt damit inne, Kartoffeln zu schälen und drehte den Kopf nach ihm um.

 

Sir? Woher hast du das denn?“

 

„Von Dad! Dad hat gesagt, echte Soldaten sagen das so!“

 

„Willst du denn ein Soldat sein?“, fragte Bobby.

Stirnrunzelnd sah er Dean an. Von der halb geschälten Kartoffel in seiner Hand schlängelte sich ein breites Band Schale hinunter bis aufs Schneidebrett.

 

Dean überlegte kurz.

„Nee“, sagte er dann kopfschüttelnd.

„Ich will sein wie Dad!“

 

Er lief zum Kühlschrank, öffnete ihn und holte zwei Flaschen Bier heraus.

Eine für Dad, eine für Bobby. Er wusste, dass Dad später am Abend, wenn Dean längst schlafen sollte, noch mehr trank, aber manchmal reichte eine Flasche beim Abendessen schon, um ihn etwas aufzumuntern.

Bobby trank auch, vor allem abends.

Wobei die Mengen, die Dad und Bobby tranken, keinerlei Bedeutung für Dean hatten.

Der neue Dad trank mehr als der alte, aber nicht ganz so viel, wie Bobby an dem Tag getrunken haben musste, als sie vor einer Woche bei ihm in Sioux Falls angekommen waren. An dem Tag hatte er sie an der Tür fast nicht erkannt.

 

Und die meisten erwachsenen Männer, die Dean in der letzten Zeit kennengelernt hatte, tranken mehr Alkohol als Wasser, also schien das durchaus etwas Normales zu sein.

Es war wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass man erwachsen war und oft mutig sein musste. Vielleicht war es notwendig, um ein Held zu sein, der Monster jagte. Was bedeutete, dass Dean sich früher oder später auch an Alkohol würde versuchen müssen.

 

Dass er sein wollte, wie Dad, war vielleicht nicht ganz die Wahrheit.

Dean wollte so sein, wie Dad ihn haben wollte, wollte so sein, wie Dad ihn brauchte, wünschte sich von ganzem Herzen, dass Dad zufrieden mit ihm war. Er wusste bloß nicht, wie er das hätte sagen können, so dass Onkel Bobby ihn auch verstand. Bobbys Laune war manchmal finsterer als die von John; vor allem, wenn sie zu viel von Deans Vater redeten.

 

Dean stellte die kalten Glasflaschen auf dem abgenutzten Küchentisch ab. Er wusste, dass unter der Tischplatte ebenfalls eine Teufelsfalle prangte. Er hatte sie entdeckt, als er zusammen mit Sammy beim Ballspielen auf dem Boden herumgekrochen war. Dean hatte sich dabei fürchterlich den Kopf gestoßen, wobei ihm auch der erste Wackelzahn ausgefallen war. Aber weil Sam darüber gelacht hatte, bis er Schluckauf bekam, war es nicht ganz so schlimm gewesen. Und auf die Zahnlücke war Dean mächtig stolz. Sie war ein Zeichen dafür, dass er endlich älter wurde.

 

Bobby sagte nichts zu Deans Wunsch, wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und reichte Dean wortlos einen Stapel Teller aus einem der oberen Schränke.

 

Dean packte die Teller mit beiden Händen, zählte sie, in dem er unauffällig den Daumen über den Rand eines jeden einzelnen gleiten ließ – eins, zwei, drei, vier, Daddy, Bobby, Sammy, Dean – und trug sie vorsichtig zum Tisch hinüber. Das Radio knisterte ein wenig stärker, als das nächste Lied zu spielen begann. Bobby schälte weiter Kartoffeln.

 

Hey Jude, don't make it bad

Take a sad song and make it better

 

Dean ließ den kleinen Tellerstapel etwas härter als beabsichtigt auf die Tischplatte knallen und erstarrte.

 

„Vorsicht, Junge“, knurrte Bobby, ohne von den Kartoffeln aufzusehen.

 

Remember to let her into your heart

Then you can start to make it better

 

„Das Lied, Onkel Bobby, das Lied!“, rief Dean und seine helle Kinderstimme überschlug sich beinahe vor Aufregung.

Nun sah Bobby doch zu ihm hin, ließ erneut Kartoffelschalen von einer gelben Knolle herab kringeln.

 

„Was ist damit?“, fragte er gelassen, auch wenn er Dean eindringlich musterte.

 

„Das ist Moms Schlaflied! Sie hat das immer gesungen!“

Dean war so aufgeregt, so überdreht, dass er kaum still stehen konnte. Am liebsten wäre er zu Dad und Sammy gerannt, um sie an seiner Entdeckung teilhaben zu lassen. Das Lied im Radio zu hören, war wie ein persönlicher Gruß von Mom.

 

Bobbys Lächeln wirkte ein wenig seltsam, aber Dean sah ihn ohnehin kaum an.

 

„Ist ja gut, Junge“, sagte Bobby irgendwann, als Dean, in einer Art arrhythmischen Tanzes, mit ausgebreiteten Armen mehrere Runden um den Küchentisch gerannt war. Schließlich blieb er andächtig vor dem altersschwachen Radio stehen, um dem Lied mit halb geschlossen Augen bis zum Ende zu lauschen.

 

So let it out and let it in, hey Jude, begin

You're waiting for someone to perform with

And don't you know that it's just you, hey Jude, you'll do

The movement you need is on your shoulder

 

Hey Jude, don't make it bad

Take a sad song and make it better

Remember to let her under your skin

Then you'll begin to make it

Better, better, better, better, better, better, oh

 

 

Das Lied endete mit einem langen, sich wiederholenden „Nah, nah, nah, hey Jude!“

Dean sah zu Bobby auf, der hinter ihn getreten war und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Ein bisschen so, wie Dad am Nachmittag, als Dean etwas richtig gemacht hatte.

Bei Bobby fühlte es sich allerdings irgendwie anders an. Nicht ganz so bedeutungsvoll. Nicht ganz so kompliziert.

 

„Wer ist sie?“, fragte Dean, als ein Moderator in die letzten Klänge des Liedes hinein die Abendnachrichten ansagte.

 

„Die Frau aus dem Lied?“

 

Bobby drehte den Ton am Radio ein bisschen leiser. Seine Augen lagen im Halbschatten der abgetragenen Baseballmütze, die er fast nie vom Kopf nahm. Dean konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.

 

„Onkel Bobby? Das ist nicht …“

Dean brauchte einen Moment, um die Frage zu ende zu bringen. Sie war nicht leicht zu stellen und an ihrer Antwort hing sehr viel für ihn.

 

„Das ist nicht … nicht … Mom, oder?“

 

Bobby zögerte. Dean merkte, dass er etwas antworten wollte, was ihm offensichtlich schwer fiel. Er erkannte das, weil es ihm manchmal selbst so ging, dass jemand eine Antwort von ihm erwartete, er aber einen Moment lang brauchte, bis er das Richtige sagen konnte. Etwas, das niemandem weh tat, niemanden wütend machte.

Außerdem hatte er ja auch für die Frage etwas Zeit gebraucht.

 

„Dean, deine Mom – “, setzte Bobby zum Sprechen an, aber wurde von Dad unterbrochen, der in diesem Moment mit Sam auf dem Arm die kleine Küche betrat.

Sammy hatte den Kopf auf Johns Schulter gelegt und beide Arme um seinen Nacken geschlungen. Abgesehen von der Anspannung, die Dad auszustrahlen schien, war es ein friedliches Bild. Es erinnerte Dean an früher.

 

John musste gehört haben, was Bobby gesagt hatte, denn er blieb wie angewurzelt stehen und starrte Bobby an. Einen Augenblick lang standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber.

 

Dads Gesicht konnte Dean, im Gegensatz zu Bobbys, sehr gut sehen und er erkannte, dass Dad nicht wütend war.

Er war fuchsteufelswild.

 

Was wolltest du meinem Sohn gerade sagen, Bob?“, sagte er und seine Stimme klang so bedrohlich, dass Dean sich am liebsten Sam geschnappt und mit ihm aus dem Zimmer gerannt wäre.

Aber Sam war auf Dads Arm, außer Reichweite, und inzwischen so groß und schwer, dass es nicht mehr so einfach war, ihn in der Gegend herumzuschleppen. Sam zuckte bei dem Tonfall seines Vaters zusammen. Seine Ärmchen lösten sich von Johns Hals.

 

Onkel Bobby wirkte plötzlich ebenfalls wütend. Dean merkte es daran, wie der Griff auf seiner Schulter fester wurde und Bobby sich anspannte, als würde er sich zum Sprung bereit machen.

Dean wand sich innerlich. Er wollte Bobby nicht wütend sehen, aber wenn er sich entscheiden musste, wessen Zorn er mehr fürchtete, war es nicht der des Mannes hinter ihm.

 

„Dad! Bobby hat nur – “

 

„Sei still, Dean!“, sagte John in einem Tonfall, der Dean zurückfahren ließ.

„Unterbrich Erwachsene nicht, wenn sie über Dinge reden, die du nicht verstehst!“

 

Offensichtlich hatte John damit etwas Falsches gesagt.

 

„Das reicht!“, donnerte es über ihm und Dean duckte sich, als Bobby die Hand von seiner Schulter weg nahm. Es war ein Reflex, von dem er nicht wusste, was ihn ausgelöst hatte.

 

„Nicht in diesem Tonfall, nicht in meinem Haus und schon gar nicht vor deinen Kindern, John!“

 

„Du redest mit meinen Kindern nicht von ihr!“

Es war kein Schreien, aber verdammt nah dran.

 

Sammy weinte.

 

Er weinte vor Schreck.

 

Vermutlich hat er Angst, dachte Dean und sah mit bangem Blick zu seinem Vater auf.

John starrte das Kleinkind auf seinen Armen an, als bemerkte er erst in diesem Moment, dass es noch da war. Er ging in die Knie und drückte Dean ohne Umschweife den wimmernden Sam in die Arme.

 

„Geh mit ihm raus, Dean. Sofort!“

 

Dean musste Sam mit beiden Armen um den Bauch fassen. Dabei rutschte Sams Pulli hoch bis unter seine Achseln. Wahrscheinlich war es auch für seinen Bruder nicht allzu angenehm, so durch die Gegend geschleppt zu werden, denn er gab zwischen all dem Jammern einen protestierenden Schmerzenslaut von sich. Dean versuchte, ihn vorsichtiger zu tragen, aber dazu wehrte Sam sich zu sehr. Er konnte nicht verhindern, dass die Beine seines Bruders über den Boden schleiften.

 

„JOHN!“

 

„Raus hier, raus, alle beide! Tu, was ich dir sage, Dean!“

 

Sammy schrie.

 

Angst und Schreck waren aus seinem Heulen verschwunden; inzwischen klang er wütend.

Sam machte sich schwer, ließ sich fast fallen. Dean hielt ihn – gerade so. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus, als er seinen kleinen Bruder aus dem Zimmer zu schleifen begann. Ihn ins Wohnzimmer zu tragen, war ein Kampf.

 

Kümmer dich um deinen Bruder.

 

Männerstimmen grollten hinter ihnen, bedrohlich wie Donnerschläge. Dean hörte nicht mehr zu, bekam nur am Rande mit, dass es immer noch um Mom ging.

Aber auch noch um etwas anderes.

 

Deine Kinder –

 

Meine Kinder –

 

Du kannst nicht –
 

Geht dich nichts an –

 

In meinem Haus –

 

Ich muss –

 

Die Kinder –

 

Sammy brüllte.

 

Dean schaffte es, das schreiende, strampelnde Paket namens Sam bis ins Bad zu schleifen. Es lag am weitesten von der Küche entfernt. Sam trat inzwischen um sich; seine kleinen Fäuste sausten ziellos durch die Luft und landeten beinahe rücklings einen Treffer auf Deans Nase.

 

„Nein, Dee, nein!“, heulte Sammy.

 

„Sei still, Sammy! Hey! SAM!“

 

„Nein! Dadda, nein! Dee, nein! Bobbo, nein! Will nicht! Lass, Dee, lass!“

 

Dean biss sich auf die Lippen, ließ Sam vorsichtig auf die hässliche braune Matte im Badezimmer plumpsen, auf der er mit dem Hintern voran landete. Während Dean die Badezimmertür mit dem Fuß zu kickte, um das Gebrüll aus der Küche auszusperren und Sam am Weglaufen zu hindern, rollten ihm stumme Tränen über die Wangen.

Er war so wütend.

Vielleicht sogar wütender als Dad in diesem Moment.
 

Dad hatte das Lied von Mom kaputt gemacht und das Abendessen von Bobby und überhaupt war im Moment einfach alles kaputt.

In diesem Moment war John Winchester kein Held. 

Drei Winchesters in einem Haus, und alle drei waren sie außer sich vor Zorn.
 

Auf dem Badezimmerboden hatte Sam gerade einen ausgewachsenen Tobsuchtsanfall. Er schrie und trat um sich, wand sich auf der Matte, wie ein kleines wildes Tier, das sich nicht mehr unter Krontrolle hatte.

Dean starrte seinen kleinen Bruder sekundenlang an, die eigene Wut für den Moment wie weggefegt.

 

Er sah dabei zu, wie Sammy beängstigend rot anlief. Es rief eine unangenehme Erinnerung in ihm wach, eine Szene aus einem Motelzimmer, von vor noch gar nicht allzu langer Zeit.

 

Nein, er konnte seinen Bruder auf keinen Fall weiter so schreien lassen.

 

„HEY, SAM!“, versuchte Dean gegen das Gebrüll anzuschreien.

Sam hielt sich die Ohren zu und kullerte in blinder Raserei weiter auf dem Boden herum.

 

„Nein! Nein! Nein! Nein!“

 

Dean packte Sam erneut, ignorierte, dass er einen erstaunlich festen Schwinger auf den Mund bekam, nach dem er kurze Zeit später Kupfer schmeckte. Seine Unterlippe war aufgeplatzt.

Sam musste aufhören zu schreien! Sonst würde er wieder keine Luft bekommen ...

 

Rückwärts und mit Sam im Schwitzkasten kletterte er in die Dusche, wobei sich die Brüder beinahe im aufbauschenden Vorhang verhedderten. Kühl und feucht streifte er Deans verschwitzten Nacken, bevor sich Sams strampelnde Beine doch noch im Saum verfingen.

 

„Sammy, STOP!“

 

„Lass, Dee, lass!“

 

Dean reckte sich nach oben, bekam den Wasserhahn zu fassen und zog ihn auf, bevor er selbst, den tretenden, halb verhedderten Sam an sich gepresst, auf den Hintern fiel. Mit einem Reißen sauste der Duschvorhang wie ein feuchtes Laken auf sie herab in die Duschwanne, während ein lauer Wasserstrahl auf sie niederzuprasseln begann und ihre Kleider und Haare binnen kürzester Zeit durchweichte.

 

Sam hatte aufgehört zu schreien, als das Wasser sie traf. Er hing nun, da sie sich größtenteils aus dem Vorhang frei gekämpft hatten, schwer in Deans Armen, ließ sich halten. Er zitterte beim Luftholen, jedes einzelne Mal. Aber er atmete.

 

Das Wasser prasselte von oben herab auf sie und den Duschvorhang. Es klang wie das Trommeln von Regentropfen, die auf einem aufgespannten Schirm landeten.

Wo der Wasserstrahl auf die Keramikwanne der Dusche traf, hörte es sich ein bisschen an wie Pipi, das ins Klo plätscherte. Möglicherweise war Dean ein Missgeschick in der Hose passiert, aber ganz sicher war er sich nicht.

Vermutlich ging es Sam, der seit ein paar Wochen immer mal wieder ohne Windeln herumlief, nicht anders und nass waren sie jetzt schließlich sowieso.

 

Eine Weile lauschten sie dem Wasser, während Dean mit Sammy im Arm vor und zurück schaukelte. Er hatte die Hände über seinem Bauch gefaltet, über Sams Unterhemd; der Pulli war noch immer bis unter die Arme hochgerutscht. Es spielte keine Rolle.

Sam hatte die Hände über Deans gelegt und spielte an seinen Zeigefingern herum. Er zitterte immer noch bei jedem Atemzug, aber er war ganz ruhig. Fast entspannt.

 

„Hey, Jude. Don‘t make it bad. Take a sad song ...“, flüsterte Dean heiser in Sammys Ohr. Zusammen schaukelten sie vor und zurück.

 

„… and make it better.“

 

Vor und zurück.

 

„… don‘t carry the world upon your shoulders ...“

 

Vor und zurück.

 

Bis der Lärm aus der Küche verstummt war.

 

Sammy seufzte.

 

Dean hielt inne.

 

„Dee? Hast du Aua, Dee?“

 

Dean schüttelte den Kopf und bettete das Kinn in Sams nasse Locken. Die aufgesprungene Lippe puckerte dumpf.

 

„Nee. Alles gut, Sammy.“

 

Er fuhr mit der Zunge über die kleine Wunde, bis sie brannte und schaukelte sie beide vor und zurück unter dem kälter werdenden Wasserstrahl.

 

 

*

 

„Pack deine Sachen, Dean“, sagte John, eine Zeit später am Abend.

 

Nachdem sich der Lärm aus der Küche gelegt hatte, schien er für eine ganze Weile aus dem Haus verschwunden gewesen zu sein. Eine Weile, in der Bobby bald die Kinder in der Dusche fand. Eine Weile, in der er ihnen dabei half, die nassen Sachen auszuziehen und den Urin und – in Sams Fall – Schlimmeres abzuwaschen und sie wieder zu trocken zu bekommen. Er hatte sie in ihren Schlafanzügen in die Küche gelassen.

 

Während Dean versucht hatte, seinen kleinen Bruder zum Essen zu überreden, steckte Bobby ihre schmutzige Kleidung in die Waschmaschine.
 

Die ganze Zeit über sprachen sie kaum, selbst Sammy war ziemlich still.

 

Als John zurück ins Haus gekommen war, wischte er sich mit einem alten Lappen etwas Öl von den Händen.

 

Sam war auf dem Sofa zwischen Bobby und Dean eingeschlafen.

Bobby hatte Dean erlaubt, fernzusehen; Looney Tunes, auch wenn er über das Programm die Nase gerümpft hatte.

 

John ließ nicht durchblicken, was er davon hielt. Der Cartoon sandte ein unruhiges Flackern durch den halbdunklen Raum und warf unheimliche Schatten an die Wände, wenn Dean zu genau hinsah.

 

„Pack deine Sachen“, wiederholte John mit Nachdruck. Dean merkte, dass er und Bobby sich nicht ansahen, obwohl sie miteinander sprachen. Bobby hatte Dad gerade erzählt, dass Sam und Dean zu Abend gegessen hatten, wofür Dad sich tatsächlich bedankte.

 

„Warum? Wo woll‘n wir denn hin?“, fragte Dean und sah seinen Vater mit offenem Mund an. Er hatte mit sehr vielem gerechnet. Mit mehr Streit, mit viel Alkohol. Damit, dass Dad über Nacht verschwand und ein paar Tage später wieder bei Bobby auftauchte, um ihn und Sammy abzuholen.

Aber nicht damit, dass er und Sam die Nacht nicht bei Bobby verbrachten.

 

Tu, was ich dir sage, Dean“, sagte John bloß. Er war nicht besonders laut, aber es klang streng, unnachgiebig.

 

Dean musste schlucken. Dad sah so … groß aus, wie er in der Tür stand und sich mit grimmigem Gesicht die schmutzigen Händen abrieb. Die schwere Lederjacke schien seine Umrisse nur noch zu vergrößern und der flackernde Fernseher warf verzerrt und undeutlich einen riesigen Dad-Schatten an die Wand. Kein Wunder, dass Monster seinen Vater fürchteten! Es war besser, auf ihn zu hören. Es machte das Leben einfacher.

 

„Ja, Sir“, sagte Dean, mit einem Blick auf seinen Bruder.

 

Sammy schlief.

 

Der Anblick machte ihm etwas Mut. Sammy schlief und Sammy atmete. Alles war gut.

Bobby wickelte ihn in eine Decke und hob ihn in Johns Arme. Während Dean den Teddy aus dem Krankenhaus, seinen Ball und die Zinnsoldaten in seinen Rucksack packte, trug Dad Sam zum Auto.

 

Wortlos reichte Bobby Dean seine Jacke, die er sich über den Schlafanzug zog. Es war seltsam, in Schlafsachen wegzufahren. Normalerweise nahm Dad sie nicht mit, wenn er über Nacht wegfuhr.

Diesmal schien alles ein klein wenig anders zu sein.

 

John und Bobby verabschiedeten sich bloß mit einem Kopfnicken voneinander. Bobby fuhr Dean zum Abschied durch die Haare.

 

„Grüß Sam von mir, wenn er wach ist“, brummte er.

 

Dean teilte mit dem tief und fest schlafenden Sam den Rücksitz, als Dad den Impala von Bobbys Hof lenkte. Er war im Begriff, sich umzudrehen, wollte Bobby, der regungslos in der Einfahrt stand und ihnen nachsah, durchs Heckfenster winken, als ihm Dads Augen im Rückspiegel begegneten.

 

„Bleib sitzen. Sieh nach vorne, Dean.“

 

Dads Stimme war leise. Vermutlich, um Sam nicht zu wecken.

 

Also tat Dean, was Dad ihm gesagt hatte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Als Pädagoge habe ich mir sehr viele Gedanken über Deans und Sams Kindheit, die Familienkonstellation im Falle Winchester, ihre Beziehungen, ihre Psychen und ihr Bindungsverhalten gemacht. Sagen wir, ich verknüpfe gern meinen Job mit dem Hobby. :P
Seitdem ich dem Supernatural-Fandom verfallen bin, war es ein Traum, eine Fanfic zu schreiben, die die Lücke zwischen Mary Winchesters Tod und "Dad is on a hunting trip and he hasn't been home in a few days" füllt. Ich habe schnell gemerkt, dass ich leider nicht in der Lage bin, ein Projekt auf die Beine zu stellen und zu beenden, das handlungsmäßig JAHRE in diesem detailliertem Maße umfasst (denn detailliert wäre meine Vorstellung dazu gewesen).
Wir Fans haben 13 Staffeln, in denen eine Menge passiert, und man kann als aufmerksamer Zuschauer schon ziemlich genau sagen "Oh, Ereignis X in Staffel 9 hat Dean insofern verändert, dass er jetzt so und so drauf ist!". Mich interessieren aber auch immer die Basics - die Ausgangsversion von Staffel 1: Wie wurde Dean zu diesem Dean, den wir mit 26 Jahren kennengelernt und (WÖRTLICH) durch Himmel und Hölle begleitet haben?

Durch Zufall bin ich auf den Wettbewerb gestoßen und es wie ein einziges riesiges YES, weil der WB mich inspiriert hat, einen Kompromiss zu diesem Wunsch und einer realisierbaren Umsetzung zu gehen. Dafür ein unwahrscheinlich großes Dankeschön an Sensenmann. Das war die Inspiration und Muse, die ich brauchte!

Ich werde noch eine Weile brauchen, bis es mit dieser Story weitergeht, aber bin bereits mitten in den anderen Kapiteln und tobe mich aus. :) Bis dahin würde ich mich über Kommentare freuen, denn die sind beim Schreiben immer ein guter Ansporn. :D

Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hier habe ich einen Blogeintrag explizit zu diesem Kapitel geschrieben. Meine Gedanken dahinter, der Schreibprozess etc.

Hier findet ihr einen Blogbeitrag, in dem es allgemein um die Hintergründe zu dieser FF geht.

Der ganze Blog ist meinen persönlichen FF-Projekten gewidmet. Wer Interesse an Hintergründen, Recherche, Trivia zu FFs grundsätzlich hat, schaut vielleicht gern mal vorbei. Komplett anzeigen

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