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go to hell

karashima / heaven&hell crossover
von

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Ruri

Der Song ging zu Ende. Ruri zog auf seiner E-Gitarre konsequent und ohne Unterbrechung ins nächste Lied weiter. Der Rest der Instrumentalos fluchte und maulte leise, als sie hektisch darum ruderten, den Einstieg ebenfalls noch irgendwie zu kriegen. Der einzige, der sofort mitzog, war Katorihito, der Sänger. Ihn brachten solche Aktionen nicht aus dem Konzept, da war er Profi. Beziehungsweise war er mit Ruri eingespielt genug, um niemals den Anschluss zu verlieren.

Das Publikum kreischte auf, als sie den Song schon anhand der ersten, markanten Akkorde erkannten.

Ruri sprang nach vorn ins Zentrum der Bühne.

Katori machte ihm mit einem Lächeln auch bereitwillig Platz, damit der Gitarrist sich feiern lassen konnte.

Die Fans gingen ab wie die Hölle. Ruri konnte die Massen echt rocken, wenn er wollte. Nur leider wollte er in so kleinen Hallen meistens nicht. Diese Clubs mit kaum 200 Zuschauern langweilten ihn fürchterlich, er wollte größeres. Er war es gewohnt, in Stadien mit fünfstelligen Besucherzahlen zu stehen. Das machte ihm Laune, von der Bezahlung ganz zu schweigen. Damit die Ego-Kanone in so kleinen Locations wie dieser hier wenigstens so tat, als hätte er Spaß an seiner Musik, musste man ihm schon wirklich gut zureden.

Katori selber sah das entspannter. Er mochte auch die kleinen, familiären Clubs ganz gern. Da hielt sich sein Lampenfieber zumindest so weit in Grenzen, daß es ihn nicht aus dem Rennen zu nehmen drohte.

Und der Rest der Band ... naja ... wurde nicht gefragt. Der Bassist und der Drummer waren beide Nachwuchs-Musiker, um einiges unerfahrener und unprofessioneller als Ruri und Katori, und auch um Jahre jünger. Für Ruri waren sie nur ein notwendiges Übel, weil eine Band ohne Bass und Schlagzeug halt nicht funktionierte. Katori ging mit ihnen sehr viel kollegialer und freundschaftlicher um, sorgte aber ebenfalls dafür, daß die beiden die Klappe hielten und in der Bandpolitik nicht mitmischten. Die machten Ruri und Katori unter sich aus. Nur überzeugte Katori die beiden lieber mit Sachkompetenz und Erfahrung. Ruri machte sich diese Mühe nicht, er fuhr einfach diktatorische Methoden auf und dann hatten die Nesthäkchen ihre Meinung für sich zu behalten.

Die Band war in so ziemlich allen Dingen in diese zwei Lager gespalten, nicht nur im Alter und Professionalitäts-Grad der Mitglieder. Während Katori und Ruri die klassischen Rocker waren, die viel in schwarzem Leder und Nietenbeschlag herumliefen, waren die anderen beiden eher legere, bunte, fröhliche Mode-Typen. Während Katori und Ruri mehr hartes Trash Metal predigten, waren die anderen beiden Fans von melodischen Klängen. Während Katori und Ruri ein verschworenes Team bildeten, waren der Bassist und der Drummer nur simple Arbeitskollegen, die außerhalb der Proben nicht mehr viel mit dem Rest der Band zu tun haben wollten. Nun gut, letzteres war vielleicht auch ihren familiären Umständen geschuldet. Im Gegensatz zu Katori und Ruri hatten die beiden noch ein privates Leben abseits der Bühne und keine gemeinsame Vergangenheit.

Katorihito hatte inzwischen die zweite Strophe des Songs beendet und hatte nun in der Bridge kurz Pause. Ruri tourte noch weiter hoch. Sein Gitarren-Solo. Da gab er sich keine Blöße. Da musste jeder Ton zelebriert werden und auf den Punkt genagelt sitzen. Auch wenn das Publikum es mangels Fachwissen nicht würdigte.

Katori war auch klug genug, ihm nicht dazwischen zu quatschen, solange er in der Gegend rumsolierte. Normalerweise nutzte der Vocal Textpausen ganz gern mal dazu, das Publikum mit 'Go! Go! Go!'-Rufen, 'come on'-Aufforderungen oder ähnlichem weiter aufzuheizen. Aber jetzt ließ er Ruri seinen Spaß und ließ ihn ungestört seine Show abziehen. Am Rande bekam er mit, wie ihr Bassist mit den Augen rollte.

Ruri kam mit seinem Solo zu Ende und wetzte zu seinem Mikrophon zurück. „Vielen Dank, daß ihr da wart! Besucht uns bald wieder!“, gröhlte er dem Publikum zu, wofür er sein Gitarrenspiel auf ein Minimum reduzierte. Ein simpler Akkord-Shredder in monotonem Takt und ohne Griffwechsel. Nicht etwa, weil er nicht gleichzeitig hätte reden und spielen können, sondern reinweg als Test, wie der Rest der Band reagierte. „Ihr wart super! Vielen Dank, Leute! Wenn wir dürfen, kommen wir gern mal wieder!“ Dabei gab er dem Tontechniker ein kryptisches Handzeichen, was dieser auch zu verstehen schien und sofort emsig an seinem Pult herumregelte. Demnach war es vorher abgesprochen gewesen. Auch so etwas, was Ruri und Katori von den anderen beiden unterschied. Die dachten weit genug mit, sich vorher mit ihrer Crew abzustimmen, damit alles bestmöglich funktionieren konnte.

Die Fans jubelten laut. Obwohl es das letzte Lied der Zugabe war, gaben sie nochmal alles und rockten, als wären sie noch taufrisch.

Der Sänger nahm mit einem Lächeln die Bühnenmitte wieder selber ein und taktete die letzte Strophe des Songs und damit das Finale auf. Danach war Sense, das Konzert war vorbei. Schade eigentlich. Er hätte gern noch ein bisschen weiter gemacht. Aber in so kleinen Clubs würde sich Ruri nie und nimmer zu noch einer zweiten Zugabe breitschlagen lassen. Der war froh, wenn das hier vorbei war, egal was er dem Publikum gerade gesagt hatte. Ruri nahm sich ja viel raus, aber so knallhart, den Fans zu sagen, daß sie ihn langweilten, war er dann Gott sei Dank doch nicht.
 

Mit einem Seufzen kam Katori in den Backstage-Bereich zurück und zog sich den Schal vom Hals. Im Visual Kei waren Optik und schicke Accessoires alles, aber es war echt eine dämliche Idee gewesen, zu diesem Outfit ausgerechnet einen Schal zu wählen. Auch wenn es nur ein dünner Seidenschal war, starb er damit auf der Bühne unter den Backofen-Scheinwerfern immer fast ab. Aber nun gehörte der Schal halt einmal dazu, nun musste er ihn auch tragen. Zum Glück behielten sie im Visual Kei ihre Outfits ja nie lange. Der nächste Wechsel kam bestimmt.

Ruri, der schon eher von der Bühne verschwunden war als der Vocal, stellte gerade seine E-Gitarre zur Seite. Er schmunzelte Katorihito verzeihungsheichend an. „Ich hab dich verwirrt, oder?“, wollte er wissen.

„Ja, was war denn los, sag mal?“, gab der zurück und ließ sich erschöpft auf irgendeinen Sitzplatz fallen. „Du hast andauernd signalisiert, daß du unzufrieden bist. Aber ich wusste nicht, warum. Mir ist irgendwann nichts mehr eingefallen, was ich noch anders hätte machen können.“

„Das Signal war gar nicht für dich bestimmt. Mich hat Haruko gestört“, erklärte er und ließ den blonden Bassisten damit fragend herumfahren. „Mir ist nur erst nach ner ganzen Weile aufgegangen, daß er meine Rüge nicht kapiert.“

Harukos Augenbraue rutschte sauer nach oben. Diese Wortwahl war wieder so typisch für Ruri. Nicht kapiert! Als sei der Bassist einfach zu dumm für die Welt. Signale für Unmut? Haruko wusste nichts von irgendwelchen Signalen. Wie bitte sollte er denn etwas mitbekommen, was nie abgesprochen worden war?

„Tut mir leid, wenn ich dich damit verunsichert habe. Das wollte ich nicht“, fuhr Ruri an seinen Sänger gewandt fort. Da war es wieder. Katori war der einzige Mensch auf Erden, der jemals eine Entschuldigung – und sei sie nur rethorisch – von Ruri zu hören bekommen hatte. An andere? Undenkbar!

„Was hat dich denn so tierisch an mir gestört?“, mischte sich der Bassist angefressen von der Seite ein.

Ruri zischelte amüsiert, weil es für ein richtiges Lachen nicht reichte. „Wo soll ich da anfangen? Aufzuzählen, was mir gefallen hat, ginge schneller: Nichts! Was mir nicht gefallen hat: Der ganze Rest.“

„Du bist so ein Wichser, Ruri!“, jaulte Haruko empört auf. Seine Lautstärke stieg sprunghaft an. Er war schon immer ein kleines Pulverfass gewesen, wenn er sich über irgendwas aufregte. „Du lässt uns auf der Bühne voll reinfallen, indem du unvorgewarnt von einem Song in den nächsten springst, oder Songs einfach mal arschlochmäßig einen Halbton tiefer spielst, so daß mein Bass nicht mehr dazu passt, oder indem du aufs Timing pfeifst und uns damit sämtliche Einsätze verpassen lässt ... und du beschwerst dich über UNS!?“

„Ja! Weil ihr Pfeifen seid!“, bescheinigte Ruri ihm humorlos. „Ihr beide spielt nicht als Band zusammen und miteinander, als eine Einheit. Ihr spielt nur nebeneinander her und macht jeder euren eigenen Stiefel. Ihr müsst mal ein bisschen drauf achten, was die anderen auf der Bühne so treiben. Und, die Fähigkeit, sich an Melodie und Timing anzupassen, setze ich als Grundfertigkeit voraus. Das sind basics für jeden Musiker, der sich 'Profi' nennen will und auf der Bühne steht! Katori kann´s doch auch! Hast du ihn bei all meinem Rumgezauber jemals einen Einsatz verkacken hören? Und dich muss ich ja auch regelmäßig auffangen, wenn du mal wieder zwischen den Takten landest.“

„Aber mit welchem Recht spielst du Songs einfach mal in ner anderen Tonart!?“, motzte Haruko wütend weiter. „Das hast du heute bei den letzten beiden Songs auch wieder gemacht, du Idiot!“

Ihr Drummer setzte sich derweile vor den Spiegel und begann sich in aller Seelenruhe abzuschminken, als ginge ihn nichts etwas an. Und Schminke hatten sie als Visual Kei Band immer mehr als genug im Gesicht. Vor allen Dingen Katori. Der lief zum Beispiel gerade mit goldenen Drachenschuppen um die Schläfen- und Augenpartien herum. Im Gegensatz zu Haruko hatte der Schlagzeuger es sich schon lange abgewöhnt, mit Ruri streiten zu wollen. Ruri war keiner gewachsen. Der verhängte bestenfalls Sanktionen, wenn es ihm zu bunt wurde und er die Nase voll hatte.

„Hast du Katoris Stimme nicht gehört?“, gab Ruri ernst aber ruhig zurück. Harukos explosive Art lockte ihn nicht aus der Reserve.

„Was, Katoris Stimme?“ Haruko schaute sich kurz nach dem Sänger um, der den Zoff interessiert verfolgte, sich aber nicht einmischte. „Nein!? Und überhaupt, was hat das damit zu tun?“

„Ihm ist in der Zugabe die Stimme abgeschmiert. Wir mussten eine etwas bequemere Tonlage spielen, damit er die Töne noch sauber treffen kann. Ich wollte ihm damit nur helfen. Das meine ich, wenn ich sage, ihr müsst auch mal drauf achten, was der Rest der Band treibt. Dann würdet ihr sowas auch mitkriegen!“

„Katori hat total sauber gesungen! Du bildest dir in deinem krankhaften Perfektionswahn schon Fehler ein, wo gar keine sind!“

Als Ruri sich entrüstet mit Luft vollsaugte, um einen Gewittersturm loszulassen, schritt Katori doch lieber selber ein und ging mit einem „Ruri hat Recht“ dazwischen, bevor hier irgendwas richtig eskalierte. „Mir ist wirklich die Stimme flöten gegangen. Ich hab sie nur noch mit Technik gehalten. Mit der Korrektur um einen Halbton nach unten hat er mir das Leben echt leichter gemacht.“

„Und das war wohl auch abgesprochen, was!?“, keifte Haruko. Noch immer lauter und böser als nötig.

„War es. Ich habe es Ruri zu verstehen gegeben, daß er das bitte so machen soll.“

„Wann denn!? Und wie!? Ich hab euch nicht reden oder Zeichen machen sehen! Ihr rühmt euch immer mit euren hochgeheiligten Signalen, die ihr untereinander austauschen würdet! Ich sehe nie welche!“

„Weil du eine blinde, taube Nuss bist, ich sag´s ja!“, streute Ruri zornig ein.

„Die gehen auch sehr ins Subtile hinein“, versuchte der Sänger das Gespräch weiter diplomatisch und Haruko weiter ruhig zu halten. „Meistens ist es nicht mehr als ein unmerklicher Atemzug im richtigen Moment, der mich wissen lässt, daß Ruri mir in den Gesang reinhaken wird oder ich ihn wieder selber übernehmen soll. Oder ein kurzes Niederschlagen des Blickes auf den Gitarrenhals, was mir sagt, daß Ruri ein improvisiertes Leitthema abbrechen und was neues anfangen wird. Mitunter sogar ein bloßer zusätzlicher Ton auf der Gitarre, der da nicht hingehört, oder eine Betonung. Das ist nichts, was man offensichtlich mitbekommen würde. Das Publikum soll es ja nicht sehen.“

Haruko winkte genervt ab und begann sich endlich aus seinen verschwitzten Show-Klamotten zu schälen. „Ja-ja, ihr zwei seid Profis, und wir nur Plinsen, schon klar.“

„Willst du das etwa abstreiten?“, schoss Ruri zurück.

„Ruri!“, mahnte Katorihito tadelnd.

„Was denn!? Ich lasse es mir nicht bieten, daß Haruko seine eigene Unfähigkeit aufwiegt, indem er sie MIR anzukreiden versucht.“

„Schon gut. Ich glaube, das hat er verstanden.“

„Glaub ich nicht. Das versuche ich seit 2 Jahren erfolglos, ihm begreiflich zu machen.“

Katori rollte nur mit den Augen und gab es ebenfalls auf.
 

Nachdem endlich alles abgebaut und verstaut war, verkrümelten sich Katori und Ruri aus der Konzerthalle. Das Equipment war in einen Transporter gestopft worden und würde von einem Staff zum Probenraum gebracht werden. Entladen würden sie den Transporter aber erst morgen. Dafür war es heute entschieden zu spät. Sie wollten allesamt nur noch nach Hause. Ruri fuhr seinen Chevrolet-Oldtimer, den er mit viel Geld und Liebe in Schuss hielt, und Katori lungerte müde auf dem Beifahrersitz herum. Der Gitarrist fuhr ihn nach Hause. Sie beide bildeten meistens eine Fahrgemeinschaft, denn sie liebten die gemeinsame Zeit zum ungezwungenen Plaudern ohne den Rest der Band. Mal fuhr Ruri, mal fuhr Katori. Manchmal fuhr Ruri auch mit Katoris Auto, denn der hatte einen fixen Sportwagen, den der Gitarrist ziemlich für seine PS-Zahl und Geschwindigkeit hypte, die er sonst nur von seiner eigenen Kawasaki Ninja kannte. Katori liebte es auch, sich auf der Ninja mitnehmen zu lassen. Er hatte sogar einen eigenen Motorradhelm, extra dafür. Aber auf Konzertreisen, wenn sie mit Instrumenten unterwegs waren, war das unpraktikabel. Ruri nahm seine Gitarren immer mit, die ließ er nie im Probenraum oder gar über Nacht in einem Transporter.

„Bist du immer noch so grummelig wegen Haruko?“, wollte Katori mit einem unterschwelligen Schmunzeln wissen. Er amüsierte sich immer wieder über Ruris schlechte Laune, solange sie nicht ihm galt. Sein Styling hatte er komplett abgelegt. Die schwarzen Haare waren sauber ausgebürstet, das wilde Visual Kei MakeUp war weg. In natura sah er recht süß aus, wenn auch unscheinbar.

Ruri dagegen fiel immer auf, ob in Aufputz oder nicht. Obwohl, so gänzlich ohne Aufputz ging es bei Ruri ja nie. Seine markanten, blonden Strähnen in der wuscheligen Löwenmähnen-Frisur erkannte man selbst aus fünfzig Metern Entfernung noch zweifelsfrei. Das diese Haare schön effektvoll stachelten, dafür sorgte er zu jeder Tages- und Nachtzeit, selbst daheim. Sein Ego erlaubte ihm keine optischen Nachlässigkeiten. Und seine schmalen Augen wirkten immer ein wenig überheblich, auch ganz ohne betonenden Kajal drum herum. Ruri schnaubte leise auf die Frage. „Seine große Klappe macht mich noch wahnsinnig.“

„Da dürftest du dich aber als letzter drüber beschweren.“

„He!“, begehrte Ruri empört auf. „Haruko hat die große Klappe, aber nichts auf der Pfanne. Das ist bei mir ja wohl was anderes. Ich kann mir das leisten!“

Katori kicherte nur gut gelaunt. Ruri und sein berühmtes Ego. Bedauerlicherweise war es berechtigt. Weder mit seinem praktischen Können, noch mit seinem theoretischen Wissen war er jemals von irgendwem an die Wand gespielt worden. Ruri war wirklich meisterhaft. Gut, er, Katori, war das auch. Aber er ließ es nicht so selbstgefällig raushängen.

„Du hast ja keine Ahnung, was du mir damit angetan hast, mich in diese Band zu holen, Ka. Und ich versteh auch bis heute nicht, was DU hier willst.“

„Wäre es dir lieber, unsere alte Band wieder ins Rollen zu bringen?“

„Gott, nein! Das gäbe Tote“, keuchte Ruri. „Aber gibt es denn da draußen nichts besseres als Haruko und Satsu?“

„Ich weiß nicht, was du im Grunde gegen die beiden hast“, meinte der Vocal mild und schaute beim Nachdenken melancholisch aus dem Fenster. „Ja, wir sind älter und routinierter als die zwei. Wir beherrschen unsere Posten in der Band besser als sie ihre. Aber, meine Güte, irgendwo müssen die 20 Jahre musikalische Laufbahn ja hin sein, die wir ihnen voraus haben. Du kannst nicht verlangen, daß sie die innerhalb von wenigen Wochen nachholen und mit uns gleichziehen.“

„Ist ja nicht so, als ob wir uns keine Musiker suchen könnten, von denen uns keine 20 Jahre Vorsprung trennen.“

„Satsu ist der Grund, warum ich überhaupt wieder auf der Bühne stehe. Sei etwas nachsichtiger, komm schon“, bat Katori versöhnlich. Er war schon immer eine eher sanftmütige Seele gewesen. Wenn er auf der Bühne hochdrehte, um dem harten Musikstil gerecht zu werden, dann war das nur gut gespielte Show. „Und ich war jetzt auch nicht böse darüber, erstmal wieder klein anzufangen. Ich hätte mich nicht schlagartig wieder vor eine ausverkaufte Yokohama Arena stellen müssen.“

Ruri bog in die Straße ein, in der der Sänger wohnte, und fuhr an die Seite ran. Den Motor ließ er laufen. „Da wären wir. Bist du mir böse, wenn ich mit Blick auf die Uhr nicht nochmal mit rauf komme?“

„Nein, natürlich nicht. Es ist spät genug. Danke für´s Heimbringen“, entgegnete Katori vergnügt lächelnd.

„Dann schönen Abend noch.“

„Dir auch. Komm gut nach Hause.“ Der Sänger stieg aus, warf die Autotür mit einem Knallen von außen zu – bei diesem Oldtimer brauchte man dafür etwas mehr Schwung, sonst ging sie nicht zu – und winkte Ruri nochmal fröhlich, bevor er auf seinen Wohnblock zustiefelte.

Ruri konnte sich ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen, während er einen Gang einlegte und weiterfuhr. Er mochte es, Katori heiter und freudestrahlend zu sehen. Das war ja noch nicht lange so. Der war erst in den letzten anderthalb bis zwei Jahren wieder so aufgeblüht. Was das anging, hatte diese Nachwuchs-Band ihm wirklich gut getan. So sehr diese halbseidene, erfolgsunwillige Hobby-Truppe Ruri auch ankotzte, aber das musste er Satsu und Haruko zu gute halten: mit ihrem Sänger gaben sie sich Mühe. Langsam, aber immer deutlicher, kam der gutherzige und liebe Sonnenschein-Charakter wieder durch, der eigentlich in seiner Natur lag.

Da waren Ruri und Katori übrigens wie Tag und Nacht. Optisch mochten sie sich zwar nicht groß unterscheiden. Sie liefen beide gern in schwarzer, nietenbesetzter Rocker-Lederkombi rum. Aber während Katori eher niedlich, harmlos und harmoniebedürftig war, ständig ein Lächeln auf den Lippen hatte und keine sms ohne smiley davonkommen ließ, war Ruri der selbstgefällige, starke und leider meistens etwas herrische Gegenpol dazu. Das hatte auch seinen Grund. Er war Katoris Schutzschild, denn der war noch nicht lange wieder in der Lage, auf sich selber aufzupassen. ... Aber das war ein anderes Kapitel. Fakt war, sie beide waren wie Pech und Schwefel, trotz ihrer so unterschiedlichen Persönlichkeiten.

Taiken

Taiken erwachte mit einem Gähnen, rollte sich auf der Seite zusammen und kuschelte sich nochmal extra gemütlich in seine Decke, um noch einen Moment in der behaglichen Wärme zu schwelgen. Er hatte noch keine Lust, die Augen auf zu machen. Zum Glück musste er das auch nicht. Als Herr der Unterwelt beliebte er so lange zu schlafen wie es ihm in den Kram passte. Wozu unterhielt er schließlich einen Stab von Handlangern und Verantwortlichen? Doch nicht nur, damit er jemanden köpfen konnte, wenn er es für angebracht hielt. Die mussten die Arbeit für ihn erledigen.

Irgendwann blinzelte er aber doch endlich die Augen auf und schaute verschlafen in die Runde. Uhren gab es hier unten nicht, genauso wenig wie Tageslicht, Jahreszeiten oder die psychologisch-zeitliche Dimension eines endlichen Menschenlebens. Das einzige, was dem Dasein hier einen gewissen Rhythmus gab, waren die Schlaf- und Wachphasen. Zeit war in der Unterwelt halbwegs bedeutungslos. Darum war es hier auch meistens recht langweilig. Man musste sich schon was einfallen lassen, um sich die Zeit – die man nicht hatte – zu vertreiben. Am besten konnte man sich bei Laune halten, wenn man irgendwie einen Engel zu fassen bekam.

Ohne Eile bemühte sich Taiken aus seinem großen, bequemen Bett heraus und begann sich anzuziehen. Seinen Kettenbehang, der wie ein viel zu weitmaschiges Netzhemd seinen Oberkörper umbaumelte. Und darüber den Umhang mit dem plüschigen Pelzkragen, ganz klar. Das Tattoo, das sich sonst um seinen rechten Arm wand, war verschwunden. Das hieß, Kira war schon wach und unterwegs. Diese Schlangen-Dämonin hatte eine besondere Verbindung zu ihm. Als seine Schutzpatronin war sie an ihn gebunden. Oft wurde sie zu einem Teil von ihm und wickelte sich als Tattoo um seinen Körper. Aber sie konnte sich auch von ihm lösen und selber auf Achse gehen. Dann nahm sie die Form einer weißen Schlange an. Das war hier in der Unterwelt gar nicht so unüblich. Kurou, einer seiner Jäger, hielt die gefangenen Seelen auf die gleiche Weise fest. Sie zeichneten sich ebenfalls als Tattoos auf seinem Körper ab, bis er sie in der Unterwelt abgeliefert hatte. Eine sehr nützliche Form von Siegel-Bann.
 

Als Taiken zu seiner Zufriedenheit hergerichtet war und auch die rostbraunen Haare perfekt saßen, verließ er seine Privatgemächer und machte sich auf die Suche nach etwas zu essen. Auf dem Weg zur Küche traf er auf seinen Berater.

„Ah, zum Gruß, Mister Taiken“, meinte der Mann mit einer höflichen Verbeugung. Floskeln wie 'Guten Morgen' oder 'Guten Tag' waren in der Unterwelt nicht gebräuchlich, da es hier weder Tag noch Nacht gab.

Taiken zeigte sich etwas salopper. „Hallo“, erwiderte er. Dieses Wort war hier unten eigentlich auch nicht üblich. Ein Souvenir aus der Menschenwelt, die er dann und wann besuchte. Die, die mit Taiken persönlich zu tun hatten, kannten diese Begrüßung inzwischen auch. „Was steht heute an?“, hakte der Herr der Unterwelt gleich mal nach, wenn er seinem Berater schonmal begegnete.

„Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen. Das Henkersfest kann morgen wie geplant stattfinden. Alle werden da sein.“ Mit 'morgen' war 'noch einmal schlafen' gemeint. Das verstand sich von selbst.

Taiken bemühte sich, beim Hängenlassen der Schultern nicht gänzlich in sich zusammen zu fallen. Das Henkersfest, stimmt, da war ja was. Das hatte er bisher erfolgreich verdrängt, weil es ihn so furchtbar nervte. Es war langweilig. Ein Stammtisch all der alten, verstaubten Würdenträger der Unterwelt. Und das waren alles närrische Querköpfe, die sich liebevoll gepflegte Fehden und Kleinkriege lieferten, über ihre Situation jammerten, oder völlig realitätsferne Forderungen an ihn als Herrn der Unterwelt stellten. Das Ende vom Lied war in der Regel, daß die eine Fraktion sich bis zur Ohnmacht betrank, die andere sich die Köpfe einschlug und die dritte haltlos auf Taiken herumhackte. Oder gern auch alles zusammen, wenn man wollte. Meistens rollten ein paar Köpfe, weil es immer ein paar Leute übertrieben.

„Ich hätte da übrigens noch ein paar Dinge mit euch abzuklären, Mister Taiken. Die Weinhändler möchten unter anderem ...“

Taiken hob unterbrechend die Hand. „Jetzt nicht, Mann. Ich bin ja noch gar nicht ganz da. Ich hab noch nichtmal was gegessen.“

„Okay“, lenkte sein Berater verstehend ein. „Dann ... äh ... komm ich damit einfach später nochmal vorbei, oder so.“

„Oder so!“, stimmte Taiken zu. Dann verabschiedete er sich und machte schnell wieder Kehrt, bevor dem Kerl noch mehr Hiobsbotschaften einfielen.
 

Zurück in seinen Wohnräumen stand der Herr der Unterwelt wieder vor seinem Spiegel und überlegte. Manchmal war es echt eine Stütze, sich selber beim Denken zuzuschauen. Es war, als würde sich der Einfaltsreichtum dadurch verdoppeln. Als würde noch jemand für einen mitdenken und beim Grübeln mithelfen. Und wenn ein Einfall Grütze war, dann konnte man es auf den anderen schieben, der da im Spiegel gestanden und den Vorschlag gemacht hatte. Henkersfest. Da hatte er ja vielleicht Lust drauf. Konnte man dem nicht entgehen? Entgehen, das war die Lösung. Er verschwand einfach. Die sollten das blöde Fest ohne ihn feiern, fertig. Taiken warf seinen Herrschermantel ab und zog sich um. Sein Ausgeh-Outfit, oder 'aus-der-Hölle-rausgeh-Outfit', wie er es auch liebevoll nannte. Es bestand aus einem Muskelshirt und einer kurzen Hose, dazu hohe Stiefel und ein leichter, halbdurchsichtiger Mantel.

Eine weiße Schlange kam über den Boden angeschlängelt und ringelte sich neben ihm zusammen, um gleichfalls mit in den Spiegel zu schauen.

„Kira, da bist du ja wieder. Ich geh in die irdische Welt. Kommst du mit?“

„Fluchtreflex, was?“, gab sie zurück.

„Wie kommst du darauf?“

„Du drückst dich mal wieder vor der Pflicht, das Henkersfest auszurichten.“

„Das hat gar nichts damit zu tun!“, beharrte Taiken beleidigt. Er hasste es, so durchschaut zu werden. Das war ja nervig. „Ich geh einfach nur mal aus, damit ich hier in dieser diesigen, nebeligen, dunklen Unterwelt keine Zustände kriege. Und das Fest ist eh jedes Mal das selbe. Langsam sollten die das doch auch ohne mich auf die Reihe kriegen. Die organisatorischen Abläufe sind ja wohl hinreichend bekannt.“

Die Schlange grinste. Taiken könnte schwören, daß sie grinste! „Komm nicht zu spät zurück, okay?“

„Als ob mir das möglich wäre. Die Knalltüten warten ja auf mich. Das Fest wird ohne mich leider nicht losgehen.“

„Dann lass sie nicht zu lange warten“, lachte Kira und schlängelte sich wieder davon.

Seufzend blies Taiken seine Wangen zu großen Pausbäckchen auf und sah in den Spiegel. Mist, das alles. Irgendwann zog er sich doch fertig um.
 

Etwas später war er schon wieder bester Laune. Er spazierte fröhlich durch die Straßen von Tokyo. Sicher, als Durchschnitts-Japaner ging er auch hier nicht durch, wohl aber als Visu. Die Kerlchen vom Visual Kei hatten ja fast alle wuschelige, gefärbte Haare und schräge Klamotten. Da konnte Taiken mit seinen rotbraunen Haaren, den kurzen Hosen trotz der Winterkälte und den hohen Stiefeln mithalten. Er wurde auch erstaunlich selten schief angeschaut. Visual Kei war hier offenbar gang und gäbe, daran nahm keiner Anstoß. Im Übrigen mochte Taiken diese Musik auch. Er war schon gelegentlich auf einem Konzert gewesen. Auf so einem sollte er sich jetzt am besten auch gleich mal sehen lassen, wenn er schonmal hier war. Er hatte ja alle Zeit der Welt. Und wenn er sie nicht hatte, dann nahm er sie sich einfach. Pfeif auf dieses mischuggene Henkersfest, das würde ihm sowieso nicht erspart bleiben, selbst wenn er erst in 3 Wochen zurückgekehrt wäre.

Gerade stand die Weihnachtszeit auf dem Plan. Die ganze Stadt war hübsch erleuchtet, auf extra dafür eingerichteten Weihnachtsmärkten wurde man mit heimeligem Kerzenlicht, Gebäck und dem Duft von Zimt- und Pfefferkuchen-Gewürzmischungen geködert, und überall gab es Geschenke. Und an jeder Ecke prangten Poster mit diesem dicken, unrasierten Mann im roten Schlafanzug. Taiken hatte sich schlau gemacht. Der Kerl wurde 'Weihnachtsmann' genannt und brachte dem Volksglauben nach die Geschenke. Um ihm dafür zu danken, stellte man ihm ein Glas Milch und einen Teller Kekse hin. Kein Wunder, daß der so dick war, wenn er sich bei jeder Familie vollstopfte. Taiken fand die volle Glühlämpchen-im-Schnee-Dekoration der Stadt ja ganz hübsch, aber dem Weihnachtsbrauch an sich konnte er absolut nichts abgewinnen.

„Gottes Segen!“, grüßte ihn jemand von der Seite.

Taiken bekam einen akuten Würgereflex und musste aufpassen, sich nicht zu übergeben. Wer in aller Welt wagte es, ihn so zu beschimpfen!? Als er sich umdrehte, stand da ein junger Mann in Firmenkleidung mit einem Einkaufskorb voll faustgroßer Plastikkugeln. Solche, die man in zwei Hälften öffnen konnte wie ein Überraschungs-Ei. Ein Kundenfänger also.

„Möchten Sie eine Weihnachtskugel haben?“, fragte der junge Mann betont freundlich, wie es sich hier in Japan geziemte, und hielt Taiken einladend eine hin.

„Was ist denn da drin?“, wollte er wissen und gab sich Mühe, ihn nicht wegen seiner verfehlten Grußformel anzuzinken. Der Junge konnte es ja nicht besser wissen.

„Oh, das ist unterschiedlich. Meistens nur Schokolade oder Teebeutel. Aber manchmal auch kleine Sachpreise wie Parfüm- oder Creme-Proben, Gutscheine für unsere Drogerie, und wenn sie ganz viel Glück haben, dann der Hauptgewinn.“

„Und was ist der Hauptgewinn?“

„Finden Sie es heraus!“, schlug der Junge vor.

„Deal“, kommentierte Taiken und begann in dem Korb zu ramschen.

Der Kundenfänger schaute irritiert zu, seine angebotene Weihnachtskugel noch in der einen Hand, den Korb in der anderen. Letzteren hielt er nach dem Überwinden seiner Verwirrung dann auch diensteifrig ein Stück höher, damit sein Kunde sich nicht mehr bücken musste.

Die Plastikkugeln waren alle in weihnachtlichem Rot oder Grün gehalten und blickdicht. Man sah von außen nicht, was drin war. Aber Taiken wäre nicht der Herr der Unterwelt gewesen, wenn er dieses Rätsel nicht gemeistert hätte. Natürlich war er in der Lage herauszufinden, welche Kugel den Hauptpreis in sich barg, sofern es einen gab. Konnte ja sein, der war schon von jemand anderem gezogen worden. Eine von den grünen Kugeln erkannte er nach langem Herumgewühle endlich als die gesuchte. Und machte sie auch gleich vor der Nase des jungen Mannes auf. „Hauptgewinn! Bitte melden Sie sich in unserer Filiale“, las er den Zettel laut vor, den er heraus zog.

„Tja ... äh ... Glückwunsch ...“, nuschelte der junge Mann nun endgültig verstört. Ihm war es verständlicherweise schleierhaft, was hier gerade passiert war. Er hatte keinerlei Betrug erkennen können, aber ganz sauber war das doch sicher auch nicht vonstatten gegangen, oder?

Taiken zeigte auf den Ladeneingang hinter dem Kundenanimator. „Ich bin mal eben meinen Gewinn abholen. Ich sag dir dann Bescheid, was es war.“
 

Der Herr der Unterwelt schlenderte in die Drogerie hinein, angekündigt von einem Tür-Gong, und wuschelte sich zuerst die Haare zurecht und richtete sich den Mantel. Eine Verkäuferin rief ihm das übliche „Irasshaimase – Willkommen!“ zu.

„Zum Gruße!“, gab Taiken feierlich, fast theatralisch, zurück und verwirrte die arme Frau damit gehörig. So hatte ihr hier noch kein Kunde geantwortet.

„Wie ... wie kann ich Ihnen denn helfen?“, fragte sie unsicher nach.

„Ich suche Oster-Dekoration.“

„Ostern? Es ist doch Weihnachten.“

„Na und? Den Weihnachts-Kram habt ihr doch auch schon 4 Monate vorher in den Läden. Ostern ist bald!“, beharrte Taiken.

„Das ... also ... ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht helfen“, meinte sie überfordert.

„Dann will ich den Geschäftsführer sprechen und mich beschweren!“

„W-Wie bitte!?“

„Ja! Ich will mich beschweren! Das kann ja wohl nicht sein, daß ihr um diese Zeit noch keinen Oster-Krempel in den Regalen habt! Geh schon und hol den Chef her! Los, ein bisschen zügig! Wo nicht glatt ist, darf gerannt werden!“

Die Verkäuferin schaute ihn noch eine halbe Ewigkeit fassungslos an, dann ging sie tatsächlich langsam los und verschwand.

Taiken beherrschte sich gerade noch, bis sie außer Sicht- und Hörweite war, bevor er belustigt losfeixte und ein leises Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. Die hatte ihm das ernsthaft abgekauft. Ein Spaß.

Etwas später kam sie in der Tat mit einem untersetzten, älteren Mann in Anzug und Krawatte zurück, der ihn mit einem „Frohe Weihnachten, der Herr“ empfing. „Ich bedauere, daß es offenbar Probleme gab. Für welches Anliegen darf ich Ihnen denn zur Verfügung stehen?“

Taiken grinste sich immer noch einen. „Nein-nein, 'Probleme' ist vielleicht etwas übertrieben“, versicherte er. „Aber euer Kamerad da draußen vor der Tür hat mir das in die Hand gedrückt.“ Er hielt dem Filialleiter seinen Hauptgewinn-Zettel vor die Nase.

„Oh! ... Ah! ... ähm ...“ Der Anzugträger ruderte kurz mit den Händen, weil er bei einem mutmaßlichen Beschwerde-Kunden damit nicht gerechnet hatte und erstmal überlegen musste, was jetzt zu tun war. „Da ... also Glückwunsch, wollte ich sagen! Na, kommen Sie doch erstmal mit! Hier entlang bitte.“

Der Chef führte Taiken unter viel TamTam, Verbeugungen und Freudebekundungen in sein Büro und bat ihn, Platz zu nehmen. Taiken rechneten schon fast damit, mit Konfetti und Luftschlangen überschüttet zu werden, so wie der Mann sich aufführte.

„Was habe ich denn nun so super-tolles gewonnen?“, brachte der Unterweltler es gleich etwas schnippisch auf den Punkt.

„Einen high quality mp3-player! Das neueste Model! Der kommt erst nächstes Jahr auf den Markt, aber Sie bekommen jetzt schon eine Promo-Version davon! Das ist wirklich ein ganz fetziges Ding, mit dem neuesten Schnickschnack und auf dem aktuellsten Stand der Technik!“

Na super, dachte Taiken etwas ernüchtert. Es war zwar nett, sich seine ganze Lieblingsmusik da drauf packen und anhören zu können. Aber in der Unterwelt hatte er keine Steckdosen, um bei diesem Ding den Akku aufzuladen. Naja, mal sehen. Vielleicht fand er bei seinen Rundgängen im Diesseits eine Möglichkeit, irgendwo Strom-Piraterie zu betreiben ...

Katorihito

„Satsu, du solltest dir endlich mal ein zweites Schlagzeug kaufen. Eins für den Probenraum, und eins für die Konzerthallen, was du immer gleich in den Kisten verpackt lassen kannst. Das ist noch lästig, das ständige Auf- und Abbauen“, meinte Ruri, während er dem Drummer half, die Base Drum aus ihrem riesigen Rollcontainer zu hieven. Die war zwar nicht übertrieben schwer, aber verdammt unhandlich. Es war der nächste Tag und sie entluden gemeinschaftlich den Transporter. Abgesehen von Haruko, der traditionell zu spät kam. Langsam brauchte er auch nicht mehr kommen. Sie waren schon fast fertig, auch ohne ihn.

„Du bist ja nicht der, der es immer wieder auf- und abbauen muss.“

„Trotzdem. Nervt dich das nicht?“

„Ich hab nicht so viel Geld locker, mir ein zweites Schlagzeug zu kaufen. Und außerdem muss so ein Schlagzeug ständig gespielt, gepflegt und immer mal wieder durchgestimmt werden, sonst bekommt es Standschäden. Deine Gitarren werden ja auch nicht besser, wenn du sie immer im Keller liegen lässt und nie spielst.“

„Ist das nicht was anderes?“

„Nö, Metall und Holz, das ist nichts anderes als meine Drums“, meinte Satsu. Er kletterte inzwischen auf dem Fußboden zwischen den Floor Toms herum und versuchte alles an seinen Platz zu bekommen.

„Aber das dauernde Auf- und Abbauen macht das Schlagzeug auch nicht besser.“

„Kannst du mir die Kick Drum bitte mal noch etwas herschieben?“, wechselte Satsu das Thema. „Damit ich das Fußpedal ran kriege? Ich kann das Pedal nicht ranrücken, wegen der Verkettung mit dem Hi Hat.“

Ruri wuchtete die Base Drum ein paar Zentimeter weiter. Ganz rustikal mit dem Knie, anders kam man alleine nicht weit.

„Danke. Okay, den Rest bastel ich selber zusammen.“

„Gut“, stimmte Ruri zu und wandte sich an seinen Sänger, der gerade noch seinen Verstärker an seinen angestammten Platz schob und das Kabel von seinem Mikrophon anstöpselte. „Fertig?“

„Fertig“, stimmte Katorihito fröhlich zu.

„Lass uns Okonomiyaki essen gehen. Ich lass Satsu den Schlüssel da, damit er den Probenraum abschließen kann, wenn er fertig ist.“

Katori stand schon ein begeistertes 'Bin dabei!' ins Gesicht geschrieben, aber er hielt an sich, bevor er das laut sagte. „Willst du etwa abhauen und Satsu hier mit seiner ganzen Arbeit alleine lassen?“, fragte er stattdessen.

„Wieso nicht?“

„Das ist doch unsolidarisch.“

„Er hat doch gerade selber gesagt, daß er den Rest alleine machen will. Soll ich mich vielleicht aufs Sofa setzen und ihm dabei zugucken?“, widersprach Ruri uneinsichtig.

„Aber vielleicht wäre er ins Okonomiyaki-Restaurante gern mitgekommen.“

Satsu warf ein vielsagendes Räuspern ein. „Könntet ihr mal aufhören, über mich zu reden, als wäre ich nicht da?“

„Bitte sehr, gib deinen Senf dazu, wenn du was zu sagen hast!“, warf Ruri ihm an den Kopf und schaute ihn wartend an. Mit in die Hüften gestemmten Händen.

Der Drummer zog ein überraschtes Gesicht. Auf so eine Antwort war er nicht gefasst, daher wusste er spontan kaum, was er sagen sollte. „Ich ... ähm ... muss nicht unbedingt mit ins Hana Sekai. Aber ich wünsch euch guten Hunger und viel Spaß da.“

„Na, warum meckerst du dann?“, konterte Ruri kühl. Kopfschüttelnd marschierte er aus dem Probenraum hinaus, wahrscheinlich nochmal auf Toilette, bevor er mit Katori um die Häuser zog.

Satsu und Katori seufzten synchron, als der Gitarrist weg war.

„Was hab ich Ruri nur getan?“, wollte Satsu frustriert wissen und werkelte weiter an seinem Schlagzeug herum.

Der Vocal zog hilflos die Schultern hoch, zum Ansatz eines Achselzuckens. „Das ist einfach kompliziert.“

„Hasst er mich wirklich so? Beziehungsweise uns? Haruko kommt ja meistens auch nicht besser weg als ich.“

„Ruri ist nicht leicht zu beeindrucken. Es ist schwer, ihm zu beweisen, daß er einen ernst nehmen sollte.“

Satsu warf ihm einen giftigen Blick zu. „Willst du damit sagen, wir geben uns mit unserer Musik nicht genug Mühe?“

„Interpretiere es wie du willst“, meinte Katori lächelnd. „Ich sage nur, daß Ruri schwer zu beeindrucken ist, mehr nicht.“

„Das musst du mir nach 2 Jahren nicht mehr sagen ...“, maulte der Schlagzeuger. Damit war das Gespräch spürbar beendet. Sein Tonfall sagte, daß er das Thema nicht weiter ausdiskutieren wollte.

Katori nickte nur verstehend und hielt die Klappe.

Eine schweigsame Weile später kam Ruri wieder hereingeplatzt. „Bist du fertig, Ka?“

Katorihito wurde schlagartig wieder euphorisch. Okonomiyaki ließ ihn immer sofort in die Gänge kommen. „Klaro. Jacke schnappen, und weg sind wir.“

„Dann los! Tschüss, Satsu. Wir sehen uns morgen zu den Band-Proben. Ich leg dir den Schlüssel hier hin“, meinte der Gitarrist und pappte selbigen gut sichtbar mitten auf die Tischplatte.

„Nehmen wir meinen Wagen oder deine Ninja?“, wollte Katori auf dem Weg nach draußen wissen. Beide Rennschleudern standen unten auf dem Parkplatz. Sie hatten also freie Auswahl. Sie mussten nach dem Essen nur wieder hier her zurück kommen, damit das stehengelassene Gefährt noch abgeholt werden konnte.

„Was ist dir denn lieber?“, hakte Ruri gut gelaunt nach.

„Die Ninja, wenn du mich so fragst. Ich hab meinen Motorradhelm im Kofferraum.“

Dann fiel die Probenraumtür hinter den beiden zu und Satsu blieb allein zurück. Er war ein bisschen hin und her gerissen. Einerseits war er schon traurig, nicht mitgegangen zu sein. Er mochte Okonomiyaki ja auch. Und er hätte gern mal wieder ungezwungen Freizeit mit Katori verbracht. Das Problem war, man bekam Katori nie alleine zu fassen. Ihn und Ruri gab es nur im Doppelpack. Und den Teil mit dem 'ungezwungen' konnte man streichen, wenn Ruri dabei war.

Etwas später kam ihr Bassist Haruko mit verbissenem Gesicht hereingestapft und warf wortlos seine Jacke auf das Sofa, statt den Kleiderständer zu benutzen.

Satsu musste sich ein Grinsen verkneifen. „Du bist Ruri noch begegnet, oder?“, wollte er statt einer Begrüßung wissen.

„Ja. Mister Bandleader hat mich draußen ungespitzt in den Boden gerammt“, bestätigte der blonde Bassist sauer.

„Naja, was hast du erwartet? Du bist ...“ Satsu sah auf die Uhr. „fast eine Stunde zu spät. Ruri war ziemlich angefressen, daß du beim Entladen des Transporters nicht mit geholfen hast. Da waren ja schließlich auch deine Boxen und dein Bass drin.“

„Ja-ja, schon gut. Das hat er mir deutlich genug klar gemacht. Das nächste Mal komm ich einfach noch später, um ihm nicht mehr vor die Nase zu laufen.“ Haruko machte eine wage Handbewegung in Richtung des Haufens Drums und Gestänge. „Soll ich dir wenigstens mit dem Schlagzeug noch helfen?“

„Nein, lass mal. Das mach ich lieber alleine“, wiegelte der Drummer ihn schnell ab. Haruko hatte die lästige Gabe, alles kaputt zu machen. Der sollte sich mal nur an seinem eigenen Equipment vergreifen.
 

Katori saß im Okonomiyaki-Restaurante 'Hana Sekai', die Stamm-Location von Ruri und ihm, und studierte eingehend die Speisekarte.

Von der anderen Seite des Tisches kam ein Seufzen. „Du kannst die Speisekarte doch auswändig, Ka. Wieso liest du sie jedes Mal wieder stundenlang?“

„Weil ich mich nicht entscheiden kann. Das klingt alles so lecker.“

„Soll ich für dich entscheiden?“, bot Ruri augenrollend an.

„Nein. Du erwischst wahrscheinlich das einzige Gericht auf der ganzen Karte, auf das ich gerade keinen Appetit habe.“

„Dann mach die Augen zu und tippe blind mit dem Finger auf irgendwas“, hatte der Gitarrist gleich den nächsten Vorschlag parat.

„Kümmer dich um dein eigenes Essen!“, maulte Katori mit aufgesetzter Flunsch.

„Ich weiß schon, was ich esse, ja!?“

Der Vocal legte die Karte weg und griff stattdessen nach einem Aufsteller mit dem Tagestipp, der auf dem Tisch stand.

„Was ziehst du denn in die nähere Auswahl?“, piesackte Ruri ihn weiter.

„Ich schwanke zwischen Hähnchen und Garnelen.“

„Garnelen-Okonomiyaki bestelle ich mir. Nimm du doch Hähnchen, dann machen wir halbe-halbe und tauschen. So hast du von beidem was.“

Katorihito pappte enthusiastisch den Aufsteller wieder auf den Tisch und lächelte. „Klingt nach einem Plan.“ Er schaute sich zufrieden im Restaurante um. Am Nachbartisch saß ein einsamer, junger Mann mit langen, rostroten Wuschelhaaren, der für sich allein sein Okonomiyaki futterte und Katori dabei interessiert beobachtete. Ob absichtlich oder rein zufällig, mangels eigenem Gesprächspartner, er verfolgte den Essensfindungs-Prozess des Sängers mit unverhohlener Neugier. Seinem Erscheinungsbild nach steckte er wohl auch auf die eine oder andere Weise mit in der Visual Kei Szene drin, ein Seelenverwandter, also lächelte Katori ihm freundlich aus der Ferne zu. Da senkte das Kerlchen seinen Blick schnell wieder auf den Teller und konzentrierte sich auf seine Mahlzeit. Er fühlte sich wohl ertappt, dachte Katori belustigt.
 

Taiken verließ das Okonomiyaki-Restaurante eher als sein neues Interessenobjekt, da er einfach eher fertig gewesen war und nicht auffallen wollte. Er hielt sich aber in der Nähe, um die beiden zu erwischen, wenn sie rauskamen. Irgendwas reizte ihn an dem Kameraden mit dem spiegelnden Glas-Effekt in den rabenschwarzen Haaren. Er konnte es nur noch nicht so richtig definieren. Dieses glückliche, fröhliche Lächeln, diese sanftmütige Aura, die er um sich hatte. Der würde doch am Ende kein Engel sein!? Es gab ja durchaus ein paar Engel, ebenso wie Dämonen, die im Diesseits mitten unter Menschen lebten, auch wenn sie selten waren. Sie konnten sich ganz gut tarnen, um selber als Menschen durchzugehen. Aber die hatten dann in der Regel nicht solche Ego-Kanonen als Freunde, wie den Typen mit den blonden Strähnen, der da noch am Tisch gesessen hatte. Mysteriös. Das musste Taiken im Auge behalten. Wenn das wirklich ein Engel war, würde er ihn sich definitiv nicht entgehen lassen.

Die zwei ließen sich Zeit. Taiken stand noch fast eine halbe Stunde draußen im Schnee, bevor die beiden ebenfalls endlich heraus kamen. Sie schlenderten ohne Eile davon und der Herr der Unterwelt folgte ihnen heimlich in sicherem Abstand. Seine große Chance bekam er, als der Begleiter mit den blonden Strähnen sich an einer öffentlichen Toilette anstellte und der Sonnenscheinchen-Typ abseits auf ihn wartete.

Taiken stellte sich einfach mal rotzdreist dazu und bekam erneut in herzliches Lächeln geschenkt.

„Hey, so sieht man sich wieder.“

„Ja, so ein Zufall“, flunkerte Taiken. „Tut mir leid, ich wollte dich im Restaurante nicht so anstarren. Ich habe nur überlegt, woher ich dich kenne.“

Der Kollege fiel darauf herein, wohl auch Taikens Modestil geschuldet. „Hm, kennst du die VK-Band Bunkai? Ich bin der Sänger davon. Vielleicht ja daher.“

„Aaaah! Ja, das kann sein“, log Taiken und musste aufpassen, nicht gehässig zu grinsen. Das war ja fast zu einfach. „Wie war gleich dein Name?“

„Du kannst Katori zu mir sagen.“

„Okay. Katori. ... Und dein Kumpel da?“

„Ruri, mein Gitarrist.“

Ruri also. Den Namen würde er sich besser mal merken. „Ich bin Taiken.“ Er fuhr sich vielsagend durch die Haare, um Katori auf den Trichter zu bringen, daß er gleichfalls ins Visual Kei gehören könnte. Nur für den Fall, daß sein Outfit da noch nicht aussagefähig genug war. „Ich bin auch in einer Band“, log er eiskalt. „Äh ... The Taiken Company. Kennst du sie?“

Katori strahlte ihn begeistert an. „Nein, leider nicht. Es gibt einfach zu viele Bands. Man kann gar nicht alles kennen. Aber dann bist du wohl der Gründer und Chef von deiner Truppe, wenn sie schon nach dir benannt ist.“

„Jaaaa~“, machte der Herr der Unterwelt gedehnt. „Kann man so sagen.“ Hölle, dieses rührende Lächeln! Und diese offene Art! Der Kerl konnte nur ein Engel sein. Ganz sicher. Den musste er irgendwie gefangen kriegen. Nur möglichst bald, denn morgen musste er ja wieder in der Unterwelt auf der Matte stehen und dieses blöde Henkersfest begehen. Mit einem Engel ließ sich das sicher besser ertragen. „Lass uns doch mal zusammen essen gehen, damit wir in Ruhe über Musik quatschen können. Und damit ich mich für meine Unhöflichkeit entschuldigen kann. Was hältst du davon? Hast du heute Abend schon irgendwas vor?“

Katorihito gab einen nachdenklichen Ton von sich. „Ins Hana Sekai?“

„Schon wieder? Da waren wir doch allesamt heute mittag erst.“

„Da kann man nie oft genug hingehen“, lächelte der Sänger. „Ich bin süchtig nach Okonomiyaki, ehrlich.“

„Wie du meinst. 6 Uhr abends?“

„Gerne. Ich freu mich drauf.“

Taiken sah Ruri von weitem zurückkommen und beschloss, die Flucht anzutreten. Diesem finsteren Typen ging er lieber aus dem Weg. „Ich freu mich auch. Bis heute abend. Ich muss weiter!“ Damit wandte er sich ab und ging.

Als das Kerlchen mit den rotbraunen Haaren weg war, ließ Katori sein vergnügtes Lächeln fallen, das nur eine gut gespielte Fassade der Höflichkeit gewesen war, und zückte sein smartphone.

Ruri gesellte sich wieder dazu und schaute Taiken fragend nach. „Wer war´n das?“, wollte er neugierig von Katori wissen.

„Angeblich ein Musiker. Problem ist nur: seine Band gibt es nicht.“ Der Vocal hielt ihm sein smartphone hin, auf dem die Google-Suche gerade '0 Treffer' anzeigte.

Übergriff

Pünktlich 6 Uhr abends stand Taiken voller Vorfreude vor dem Hana Sekai und wartete auf seine Verabredung. Ein Engel! Er würde sich einen Engel schnappen! Das wurde doch noch ein toller Tag! Ihm schlief allerdings gehörig das Gesicht ein, als plötzlich der düstere Kerl mit den blonden Strähnen in den sonst naturschwarzen Haaren neben ihm stand. Was in aller Welt ...?

„Hi. Ist Katori schon da?“, quatschte Ruri ihn auch gleich ganz selbstverständlich an, als würden sie sich kennen.

Taiken schaute ihn reichlich dumm an. „Äh ... nein!? ... Was willst du denn hier?“

„Mitkommen.“ Ruri schob lässig die Hände in die Hosentaschen. Heute trug er mal ganz nobel Hemd und Anzug, passförmig und maßgeschneidert, aber natürlich so tiefschwarz wie alle seine Klamotten. Statt nach seinem Sänger Ausschau zu halten, wie man es von einem Wartenden erwarten würde, widmete er seine ganze Aufmerksamkeit Taiken. „Du bist also Musiker, ja?“

„Mindestens genauso gut wie ihr.“

„Was treibst du denn so?“, bohrte Ruri weiter.

„Ich bin Keyboarder“, behauptete Taiken selbstsicher. Langsam hatte er den Schreck überwunden und wurde wieder Herr der Lage. Er hatte nicht vor, von seinem Plan abzulassen, nur weil dieser Ruri hier mit auftauchte. Einfach ein wenig improvisieren, dann ging das. Die zwei waren Sänger und Gitarrist, also sollte er sich besser als etwas anderes ausgeben. Die könnten sonst ziemlich schnell merken, daß er nicht halb soviel Ahnung davon hatte wie er behauptete.

„Keyboarder, soso“, erwiderte Ruri in undeutbarem Tonfall. Ob er Taiken nicht glaubte oder Keyboards nur als keine qualifizierten Rock-Instrumente einstufte, blieb der individuellen Fantasie überlassen. „Elektrisch, elektronisch oder digital?“

Er zog kurz irritiert eine Augenbraue hoch. Das klang, als wüsste Ruri, wovon er sprach. Das war gar nicht gut. „Digital“, blöffte er sehr überzeugend.

„Cool. Wie hast du deine Velocity-Kurve eingestellt?“

„Meine was?“

„Die Anschlagskurven.“, übersetzte Ruri ihm freundlicherweise und beobachtete dabei ganz genau Taikens Mimik.

„Aha ...“, war alles, was dem Herrn der Unterwelt dazu einfiel. Anschlagskurven, alles klar. Was auch immer das sein mochte.

„Ein mechanisches Klavier ist anschlagsdynamisch. Je fester man auf die Tasten haut, desto lauter schlägt der Hammer auf die Saite. Bei digitalen Tasteninstrumenten wird das elektronisch simuliert. Da misst ein Sensor die Geschwindigkeit, wie schnell die Taste nach unten gekracht wird, und regelt die Töne entsprechend leiser oder lauter. Im MIDI-Format gehen die Werte von 0 – 127, das ist der lauteste. Wenn man die Kurven zu leicht- oder zu schwergängig einstellt, kann es sein, daß man die leisesten oder lautesten Töne im Spektrum nie erreicht.“ Ruri machte eine effektvolle Pause. „Du bist kein Musiker“, diagnostizierte er dann anhand von Taikens ahnungslosem Gesicht kühl. „Und deine tolle Band 'The Taiken Company' existiert auch nicht. Wir haben nachgesehen. Wenn du uns veralbern willst, musst du dir schon mehr Mühe geben. Also was willst du von uns?“

'Von DIR gar nichts!', dachte Taiken und atmete genervt durch. Sein Bluff war also aufgeflogen, schön. Er war deswegen nicht kleinlauter als vorher oder hatte gar ein schlechtes Gewissen. Er war nur mürrisch, daß er sich mit diesem lästigen Besserwisser befassen musste. Dafür hätte er nicht aus der Unterwelt hier herkommen müssen, das hätte er auch zu Hause haben können. Und es störte seine süßen Pläne. „Gut, du hast gewonnen. Ich bin einfach nur ein Fan von ihm und wollte halt mal mit ihm quatschen. Man hat ja sonst nie die Chance, an seine Stars ran zu kommen. Aber hätte ich ihm das gesagt, wäre er nicht gekommen.“

„Darauf kannst du wetten“, stimmte Ruri zu. „Dann verrate mir doch mal, welche deine Lieblings-Songs sind, wenn du soooo ein großer Fan von uns bist.“

Das konnte Taiken zum Glück beantworten, denn auch er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er hatte die Zeit bis zu seiner Verabredung damit verbracht, sich in einem CD-Laden Scheiben von Bunkai anzuhören. Ein paar Titel hatte er sich gemerkt. „Ich mag euer 'Petroleum' ganz gern. Und 'Sterne über Wasser' auch.“

Damit gab sich Ruri zufrieden und wandte sich nun endlich der Straße zu, um zu schauen, wo Katori denn blieb. Sie hatten zwar vereinbart, daß der ein paar Minuten später kam, damit sich Ruri den ominösen Visual Kei Verschnitt erstmal alleine vorknöpfen konnte, aber so langsam sollte er doch aufkreuzen. Katori war sonst nie zu spät. Als wäre Ruris Blick in die Runde ein Ruf gewesen, schälte sich der Sänger plötzlich aus einem dunklen Hauseingang gegenüber, der ihm als Versteck gedient hatte.

„Hallo, Leute“, grüßte Katorihito beim Näherkommen unverbindlich in die Runde.

Taiken war empört. Er verschränkte beleidigt die Arme. „Hast du schon die ganze Zeit dort gestanden und aus der Ferne beobachtet, was hier abgeht?“

„Glaubst du, ich lasse Ruri mit einem undurchsichtigen Lügner alleine?“

„Ihr scheint ja eine Menge Angst vor mir zu haben. Ich weiß gar nicht, warum. Gehen wir jetzt was essen, oder nicht?“, maulte der Unterweltler.
 

Als sie etwas später mit ihren Okonomiyaki im Restaurante saßen und Taiken sich mit den Stäbchen ein wenig von dem Grillwerk in den Mund fädelte, war Katori schon längst wieder in seinen gute-Laune-Modus zurückgekippt. Auch Ruri gab sich inzwischen deutlich versöhnlicher. Allem Anschein nach hatten sie es hier tatsächlich nur mit einem harmlosen Fan zu tun. Und so wie Taiken ihnen lachend erzählte, wie er die arme Verkäuferin mit der Oster-Deko geärgert hatte, kam er ja auch schon viel vertrauenswürdiger und netter rüber. Katori erzählte ihm im Gegenzug, wie sie ihren Drummer Satsu im Hotel die ganze Nacht wach gehalten hatten, indem sie ihm heimlich einen Koffer ins Zimmer gestellt hatten. Er hatte geglaubt, sein Zimmer sei versehentlich doppelt belegt worden und hatte sich die ganze Nacht nicht getraut, zu schlafen, weil er ständig dachte, der Besitzer des Koffers würde plötzlich im Zimmer stehen.

Das Gespräch lief alles in allem völlig locker und ungezwungen, abgesehen von einigen zynischen Spitzen, die sich Ruri und Taiken gegenseitig an den Kopf warfen. Taiken schien ein ähnlich großes Ego zu haben wie der Gitarrist, gab sich ungern geschlagen und musste oft das letzte Wort haben. Da hatten sich also die zwei richtigen gefunden. Außerdem zeigte sich Taiken sichtlich angetan von Katorihitos fast kindlicher Fröhlichkeit. Aber gut, er hatte sich als Fan von Katori ausgegeben, daher gab darauf keiner der beiden Musiker sehr viel. Irgendwann war alles aufgegessen und die Rechnungen bezahlt. Der Abschied kam mit großen Schritten und Taiken überlegte fieberhaft, wie er Ruri endlich loswerden sollte, um Katori schnappen zu können.

Sie erhoben sich von ihren Sitzplätzen. Katori rieb sich zufrieden den flachen Bauch und schnurrte dazu ein 'hmmm'. Das Essen war wirklich gut gewesen.

Ruri angelte derweile schon die Packung Zigaretten aus seiner Jacke. „Hör mal, darf man noch deinen Namen erfahren, Kumpel?“

„Taiken.“

„Das sagtest du bereits“, entgegnete Ruri. „Und weiter?“

„Wie, weiter?“, wollte Taiken irritiert wissen.

„Gibt´s keine Nachnamen, da wo du herkommst?“

„Ä-öhm ... nein!?“

Ruri zog unwillig die Augenbrauen zusammen. „Woher kommst du denn bitte? Aus dem Dschungel, von irgendeinem Stamm afrikanischer Wilder?“

Taiken lachte. „Ja, das trifft es ganz gut, würde ich sagen. Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Herr der Unterwelt.“

Der Gitarrist kratzte sich unschlüssig an der Oberlippe und sagte erstmal einen Moment lang gar nichts dazu. Versuchte nur, die Situation neu einzuschätzen. Langsam wurde der Kerl ihm doch wieder suspekt. War der wohlmöglich gefährlich? „Is' klar ...“, kommentierte er schließlich doch noch.

„Ich muss nochmal auf´s Klo, bevor wir gehen“, warf Katori von der Seite ein.

„Ja, ich auch“, meldete Taiken und behielt seine Mimik im Griff. Jetzt bloß nicht euphorisch oder anderweitig verdächtig reagieren.

Ruri nickte nur. „Ich warte draußen auf euch und rauche inzwischen eine.“

Taiken senkte den Blick, um sich nicht zu verraten. Das war es. Das war es! Er würde mit Katori alleine sein! Ab ging die Party! Wuhuu! Nein, ganz ruhig, jetzt bloß nicht den Kopf verlieren. Mit stoischer Miene schloss er sich dem Sänger an.
 

Ruri stellte sich vor die Tür und zündete sich eine Kippe an. Es war stockdunkel draußen, obwohl es noch gar nicht so übermäßig spät war. Typisch Winter. Die schreiend bunten Leuchtreklamen, mit denen die Straßen von Tokyo überflutet wurden, leisteten da zwar etwas Abhilfe, aber es war trotzdem deprimierend.

In Gedanken ging Ruri seine Termine für die nächste Zeit durch. Am zweiten Weihnachts-Feiertag stand nochmal ein Konzert an. Das letzte für dieses Jahr. Das hieß, sie beide konnten dieses Jahr nicht nach Miyajima runter, um mit Katoris Eltern Weihnachten zu verbringen. Katori hatte sich netterweise dazu bereit erklärt, das Konzert hier noch zu geben, weil es echt ein mega Event war und viel Geld, viel Publicity und unter Umständen Folgeaufträge dran hingen. Aber zumindest würden sie dann gleich nach dem Konzert losfahren und wenigstens Silvester mit seinen Eltern feiern.

Nur lange konnten sie dann auch nicht bleiben, denn im neuen Jahr ging es auch gleich wieder scharf. Sie hatten Interviews und Fotoshootings auf dem Plan, und ihr Plattenlabel nervte sie auch schon wieder mit einer neuen Deadline. Ruri musste sich langsam Gedanken zum nächsten Motto-Wechsel und einem entsprechenden Konzept machen. Katori hatte seinen Kopf gerade wo anders, vielleicht erlaubte er deshalb ja ausnahmsweise mal Haruko, sich da mit reinzuhängen. Seine Ideen waren oft nicht die schlechtesten. Immerhin war er auch einer ihrer Haupt-Songwriter.

Oh, und dann sollte er sich langsam drum kümmern, einen Termin in der Werkstatt zu kriegen. Seine Ninja brauchte dringend einen neuen Shaken, sonst bekam er noch Probleme. Analog zum TÜV in Europa war der Fahrzeug-Prüfstand auch hier in Japan aller 2 Jahre Mode und wurde bei Überfälligkeit derb geahndet.

Was noch? Brauchte er noch Weihnachtsgeschenke? So viele Leute gab es ja nicht, denen er etwas zu schenken geruhte. Ruri zog nochmal an seiner Zigarette und schaute dann, wie weit sie inzwischen heruntergebrannt war. Viel zu weit. Wo zum Geier blieb Katori denn? Warum brauchte der so lange? Gehässig überlegte er, ob er den Sänger mal auf dem Klo anrufen und fragen sollte, ob er da eingeschlafen war. Er warf durch die gläserne Eingangstür einen suchenden Blick nach drinnen. Aber irgendwie ließ es ihm doch keine rechte Ruhe. Böses ahnend fischte Ruri beim Ausblasen des Rauchs sein Asche-Etui aus der Innentasche, drückte seine Kippe darin aus und ging wieder ins Restaurante hinein, um nachzusehen.
 

Katori kam wieder aus seiner Klo-Kabine heraus und blieb, den Türgriff noch in der Hand, verdutzt stehen, als er Taikens böses Lächeln sah. Der lehnte mit dem Hintern am Waschbeckenrand, hatte die Arme verschränkt und die Füße lässig überkreuzt. Eine Wartehaltung, die ausdrückte, daß hier gleich irgendwas losgehen würde.

Er musterte Katori mit einem durch und durch überlegenen Blick. „Und? Fertig?“, wollte er in süffisanter Tonlage wissen.

„Naaa~“, begann Katori verstört. „Hände waschen müsste ich schon noch.“

Taiken trat demonstrativ zur Seite und deutete einladend auf das Waschbecken, an dem er eben noch gelehnt hatte. „Dann bitte!“

„Ist irgendwas passiert?“

„Ja. Du wirst jetzt keine Zicken machen und gefälligst mitkommen. Ich nehme dich mit. Aber ich bin ja kein Unmensch. Auf´s Klo wollte ich dich vorher wenigstens noch lassen, wenn du musst. Sonst wäre das eine verdammt lange Reise für dich geworden.“

„Was soll denn das werden? Eine Geiselnahme?“

„Sozusagen.“

„Was willst du? Geld?“, hakte Katori erstaunlich nüchtern nach. Er war selbst überrascht, daß er nicht auf der Stelle hysterisch wurde. „Daran soll es nicht liegen. Wenn ich alles soviel hätte wie Geld ...“

„Pfeif auf dein Geld. Ich will kein Geld. Ich will dich in persona.“

„W-...“ Er haderte kurz, ob er 'was' oder 'warum' fragen sollte. Dann brach er das angesetzte Wort wieder ab, da er sich nicht entscheiden konnte.

„Kleine, süße Engel wie dich kann ich immer gut brauchen“, grinste Taiken.

„Was, Engel?“

„Engel! Diese geflügelten Dinger aus dem Himmel.“

„Hä!?“ Katori zog ein Gesicht, als würde er mit einem Psychopathen reden. Er kam sich endgültig veralbert vor. Engel. Sowas gab es nicht. Wo hatten die diesen Freak denn bitte rausgelassen? „Ich bin kein Engel!“, diskutierte der Sänger.

„Wie langweilig. Das behaupten alle Engel, die ich zu fassen kriege. Aber deine niedliche, gutmütige Art ist eindeutig genug. Du bist einer. Also, wenn du dir jetzt doch keine Hände mehr waschen willst, dann lass uns endlich gehen.“ Taiken machte eine flüchtige Handbewegung Richtung Fenster, welches daraufhin geruhsam von selbst aufschwang wie durch Geisterhand.

„Ich glaub, ich schnappe über ...“, murmelte Katori überwältigt und gaffte mit offenem Mund das Fenster an.

„Die Tür können wir ja leider nicht nehmen. Zu viele Zuschauer, du weißt schon“, fügte Taiken mit wahrhaft dämonischem Lächeln an, streckte als nächstes die Hand nach Katori aus und beförderte ihn mit der gleichen, telekinetischen Kraft schwungvoll durch das offene Fenster nach draußen. War ja Erdgeschoss, da ging das. Und Engel hielten schon ein bisschen was aus.

Nur seinen Kampfkunstreflexen war es zu verdanken, daß Katori sich bei seinem Freiflug nicht das Genick brach, sondern sich draußen mit einer Rolle abfangen konnte. Aber ehe er wieder auf die Beine kam, oder auch nur wusste, wie ihm geschah, war Taiken schon durch das Fenster hinterher geklettert und nagelte ihn erneut fest. „Was zur Hölle bist du, Mann!?“, keuchte der Vocal, mit telekinetischer Macht auf den Boden gedrückt, so daß er nicht aufstehen konnte.

„Das sagte ich doch bereits. Der Herr der Unterwelt. Und genau dorthin nehme ich dich jetzt auch mit, mein Engelchen.“ Er zog Katori am Handgelenk auf die Beine und lief mit ihm in Ruhe los.

Katori hatte keine Chance, sich zu wehren. Er riss zwar sauer seine Hand aus Taikens Griff frei, aber er fühlte sich dennoch wie von einem unsichtbaren Bulldozer durch die Straßen geschoben, immer hinter dem Kerl mit den rostroten Haaren her. Taiken musste ihn nicht am Handgelenk ziehen, um ihn dort hin zu bekommen, wo er ihn hin haben wollte. Stehenbleiben oder in eine andere Richtung gehen, das war ausgeschlossen. Das überstieg echt jede Vorstellungskraft.
 

Ruri schaute sich aufmerksam im Restaurante um, ob Katori und dieser Taiken irgendwo herumstanden und über ihrem Gequatsche die Zeit vergessen hatten. Aber keiner der beiden war irgendwo zu sehen. Also ging Ruri weiter zu den Toiletten im hinteren Bereich des Gastraums.

Als er eintrat, fand er alle Kabinen sperrangelweit offen. Keine war besetzt. Aber von Katori auch hier keine Spur. Nachdenklich schaute der Gitarrist zu dem Fenster, das ebenfalls bis herum auf stand. Ein sehr unschöner Gedanke machte sich in seinem Kopf breit. Auf´s Schlimmste gefasst schaute er durch den Durchlass nach draußen. Dazu musste er sich leicht auf die Zehenspitzen stellen, weil es sonst zu hoch gewesen wäre. Aber er sah auf dem Fußweg Katoris mp3-player liegen, ohne den er nie einen Fuß vor die Tür setzte. Den hatte er wohl beim Ausstieg aus dem Fenster verloren. Kurzentschlossen holte Ruri Schwung und zog sich in den Fensterrahmen hinauf, um ebenfalls auf diesem Weg nach draußen zu springen. Gott Lob war er sportlich, was das anging. Er hob den mp3-player auf, wickelte das Kabel der Ohrstöpsel auf und schaute dabei die Straße hinauf und hinunter. In welcher Richtung sollte er suchen?

Fährmann

Ein Hoch auf die geheiligte SpyWare. Zum Glück hatte Ruri sich diesbezüglich einiges von seinem paranoiden Sänger abgeschaut. Der recherchierte immer jedem gründlichst hinterher. Zur Not auch mit Abhör-, Auslese- und Ortungsprogrammen, die er auf fremde Handys und Computer lud. Er war da manchmal echt ein kleiner Krimineller. Ruri hatte ebenfalls gerade so ein Spionageprogramm laufen, ortete Katoris smartphone und folgte ihm dadurch kreuz und quer durch die Stadt. Er war augenscheinlich nicht sonderlich schnell unterwegs, hatte aber einiges an Vorsprung, daher hatte Ruri seine liebe Mühe, ihn wieder einzuholen. In was für eine Gegend war der bloß unterwegs? Die Straßen wurden immer enger, verfallener und menschenleerer. Aber zumindest sollte er gleich wieder in Sichtweite kommen. Hinter der nächsten Ecke. Er konnte auf dem Stadtplan, den sein Handy ihm zeigte, noch nicht ganz deuten, was dort war. Sah wie ein kleiner Park aus.

Ruri bog hurtig um das Haus und fand sich unvermittelt im Eingang eines Friedhofs wieder. „Bitte was!?“, murmelte er zu sich selbst und blieb erstmal irritiert stehen. Was sollte das denn werden? Er ließ den Blick über die Grabsteine schweifen, die nur vom Vollmond notdürftig beleuchtet wurden. Das musste ein uralter Friedhof sein. Heutzutage gab es in Tokyo solche Gräber nicht mehr. Da hatte man bei so vielen Menschen auf so knappem Lebensraum gar nicht den Platz dafür. Tote wurden inzwischen grundsätzlich eingeäschert. Eine Bewegung in der Ferne ließ Ruri aufmerken. Dieser Taiken zerrte Katori gerade am Handgelenk quer über den Gottesacker und in Richtung eines halb verfallenen, flachen Steinbaus. Das war wohl mal ein Mausoleum gewesen, aber wie die meisten uralten Steinbauten in diesem von Erdbeben geplagten Land hatte es schon gehörig gelitten.

Ruri quetschte sich durch eine Lücke im Zaun, rannte los und versuchte, die beiden zu erreichen, bevor sie in dem Mausoleum verschwanden. Am Ende stürzte das Ding noch über ihnen zusammen. Allerdings verkniff er es sich, nach Katori oder Taiken zu rufen. Er wollte sich lieber noch nicht verraten. Vielleicht war ihm der Überraschungsmoment noch von Nutzen, denn inzwischen hatte er keine Ahnung mehr, woran man mit diesem Taiken war. Wenn der hier das tat, wonach es aussah – nämlich Leute entführen – dann stimmte mit dem irgendwas nicht.

Ruri erreichte die Gruft nicht mehr ganz rechtzeitig. Taiken hatte Katori bereits durch den Spalt gestopft, um den die eiserne Tür offen stand, und war selber hinterher geklettert. Ohne nachzudenken stürzte sich Ruri in die Lücke und schnippte ebenfalls hindurch. ... und traute seinen Augen nicht. Unvermittelt kam er ins Stolpern und blieb stehen, um sich erstmal umzusehen. Er befand sich nicht mehr in einem Gebäude, sondern vor ihm erstreckte sich eine trostlose Steinwüste mit ein paar wenigen, vereinzelten, gänzlich kahlen Bäumen, die wie Skeletthände aus der Erde ragten. Die Luft war dunstig und ließ die Stadt mit dem darüber aufragenden Palast unwirklich und demotivierend weit weg erscheinen. Von Katori und Taiken keine Spur mehr. Ruri schaute zurück und fand hinter sich einen maroden, kleinen Bretterschuppen. Durch den war er also gekommen. Keine Ahnung, wo das Mausoleum hin war. Er schaute auf sein smartphone, ob er Katori noch orten konnte oder wenigstens angezeigt bekam, wo er hier war. „GPS ausgefallen und kein Netz, na super ...“, murrte er leise, schaltete das Telefon aus und steckte es weg. Was nun?
 

Der Gitarrist atmete seufzend durch und ging weiter. Es half ja nichts, er musste Katori wiederfinden, auch wenn ihm das hier wie ein böser Traum vorkam. Nach ein paar Metern gelangte er zunächst an einen breiten Fluss, der ihn noch von der Steinwüste trennte. Das Wasser war trüb und brackig, aber es gab einen Steg mit einem angelegten Boot. Irgendwie kam man da also rüber, wenn man wollte. Als Ruri näher kam, sah er einen Mann der Länge nach im Bootsrumpf liegen, die Hände im Genick verschränkt und gemütlich vor sich hin dösend. Er sah ebenso rockig aus wie Taiken. Ruri erkannte da sofort Zusammenhänge. Das hatte alles was miteinander zu tun, was hier lief.

Das Kerlchen öffnete verschlafen die Augen, als er Ruris Schritte auf dem Holzsteg hörte, sah ihn fragend an und setzte sich nach einem Moment Bedenkzeit auf. „Eh, was willst du denn hier? Du lebst doch noch!“, meinte er anstelle einer Begrüßung.

Ruri verengte seine ohnehin schon schmalen Augen noch weiter. „Natürlich lebe ich noch. Was soll die dämliche Feststellung?“

„Na, dann krümel dich wieder zurück in die Welt der Lebenden, Mann! Die Unterwelt ist nichts für dich. Komm wieder, wenn´s so weit ist.“

Unterwelt. Das hatte dieser Taiken auch schon gesagt. Sollte das hier etwa wirklich ...? Er schaute sich unter diesem Gesichtspunkt nochmal in der Landschaft um. Ja, die Kulisse würde dazu passen. Dann war dieses Mausoleum auf dem Friedhof in Tokyo also eine Pforte ins Jenseits gewesen?

„Du bist ja immer noch da!“, maulte der Kollege im Boot und stand ganz auf, um aus seinem schaukelnden Boot zu klettern und mit auf den Steg hinauf zu kommen.

„Ich bin auf der Suche nach meinem Sänger und einem gewissen Taiken. Hast du sie vielleicht gesehen? Sie müssen auch gerade hier durchgekommen sein.“

„Klar. Hab sie gerade auf die andere Seite gebracht. Dieser Katori hat auch noch gelebt. Aber Mister Taiken wollte ihn trotzdem mitnehmen. Hat mich schon gewundert.“

Der wusste sogar Katoris Namen? Sah so aus, als konnte dieser Typ ihm helfen. „Wo sind die beiden hin?“, hakte Ruri hoffnungsvoll nach.

„Na, im Palast, wo sie hingehören. Mister Taiken ist doch der Chef hier.“

Ruri kräuselte die Stirn in Falten. „Ah ja. Und du bist ...?“

„Ich bin Kao!“, stellte der Mann klar und verschränkte etwas beleidigt die Arme. Das ging ja wohl gar nicht, daß das einer nicht wusste. Aber gut, der Kerl war ja noch nichtmal ordentlich tot, was wollte man da erwarten? „Ich bin der Fährmann der Unterwelt. Ich schippere die Seelen da rüber.“

„Super. Kannst du mich auch rüberbringen?“

„Nein. Wieso sollte ich? Stirb erstmal, dann darfst du wiederkommen.“

Ruri griff seufzend nach seiner Geldbörse. „Na schön. Der Fährmann will also bezahlt werden. Das kennt man ja. Wieviel?“

„Von Lebenden nehme ich kein Geld. Das bringt bloß Unglück. Ihr habt hier nichts zu suchen, ja? Nun hau schon ab. Es ist ungesund für dich, hier rumzulungern.“

Genervt zog Ruri seine Packung Zigaretten aus der Jacke, damit die Geldbörse wieder hinein passte.

„Woah! Oh! Warte mal!“, jubelte Kao da begeistert auf. „Du hast Kippen?“

Ruri schaute ihn prüfend an. „Willst du auch eine?“

„Oh ja! Unbedingt! Ich steh voll auf das Zeug. Aber hier unten in der Unterwelt kommt man schwer an welche ran, weißt du?“

„Na, dann bring mich da rüber“, forderte Ruri ungerührt und zeigte über den Fluss. „Dann geb ich dir welche.“

„Kommt gar nicht in Frage. Das ist ja Bestechung.“

„Wie du meinst.“ Der Gitarrist schob sich eine seiner Zigaretten zwischen die Lippen und steckte sie sich genüsslich an.

Kao haderte sichtlich mit sich. Eigentlich konnte es ihm ja egal sein, ob der Besucher noch lebte oder nicht. Das würde sich sowieso innerhalb einiger Stunden von selber klären. Wenn er erstmal da drüben war, war er eh so gut wie tot. „Gut, ich mach´s. Aber ich will die ganze Packung haben!“

„Kannst du knicken“, entschied Ruri souverän. „Fünf Stück geb ich dir, mehr nicht.“

„Zehn!“

„Fünf!“, beharrte Ruri. „Und vielleicht nochmal fünf, wenn du mich von dort drüben wieder abholst und zurück bringst.“

Kao zog ein wütend-machtloses Gesicht und schmollte.

Ruri nippte wieder überlegen an seiner Zigarette und blies den Rauch genüsslich durch die Gegend. Was bei dieser trüben Atmosphäre hier eh keinen Unterschied machte.

„Du bist ein Halsabschneider. Gut, steig ein!“, gab der Fährmann irgendwann nach und kletterte in sein Boot zurück.

Ruri folgte ihm grinsend. Er nahm noch einen Zug von seiner Kippe und reichte diese dann an Kao weiter, als er Platz genommen hatte. Er schüttelte noch fünf der Glimmstängel aus seiner Schachtel. Zum Glück war die Packung neu und noch fast voll. Das gab ihm offensichtlich eine solide Verhandlungsposition.
 

Kao stand am Bug seines Bootes, welches ohne Paddel und Segel über das Wasser schlich, und ohne Ruder oder Flößstange seine Richtung fand. Es schien fast, als würde der Fährmann sein Schiffchen mit reiner Gedankenkraft lenken. Da er dabei auch unablässig nach vorn schaute, nur hier und da kurz von einem Zug an seiner Zigarette unterbrochen, störte Ruri ihn lieber nicht und verhielt sich still. Er musste nur immer häufiger husten. Diese muffige, stinkende Luft hier legte sich auf die Atemwege und kratzte fürchterlich im Hals. Und es schien immer schlimmer zu werden, je näher sie der anderen Seite kamen. Die Unterwelt war echt kein sehr idyllischer Ort.

Der Fährmann drehte sich fragend um, als Ruri mal wieder hustete. „Widerlich, was? Das ist der Schwefel-Dunst. Der bekommt euch Lebenden nicht. Auch so ein Grund, warum du besser nicht hier sein solltest.“

„Ich gedenke nicht lange zu bleiben“, krächzte Ruri. Seine Sandpapier-Stimme klang dabei noch etwas rauher als sonst schon.

Das gegenüberliegende Ufer kam in Sicht. „Okay, hör zu“, begann Kao zu erzählen und setzte sich mit in den Bootsrumpf. Der Kahn schien doch alleine zu schwimmen, ohne sein Zutun. „Wenn du da drüben bist, gib dich um Himmels Willen nicht als Mensch zu erkennen. Schon gar nicht als Lebender. Sonst wirst du das nicht mehr lange sein.“

„Als was soll ich mich denn sonst ausgeben?“

„Als Dämon natürlich. Hier gibt es nur Dämonen. Und eine Handvoll Engel, die gefangen gehalten werden. Aber als solcher solltest du dich besser auch nicht ausgeben, wenn du das hier überleben willst.“ Kao musterte ihn von oben bis unten. „Naja, als Engel würdest du sowieso nicht durchgehen ...“

„Schönen Dank auch“, maulte Ruri theatralisch, nicht wissend, ob er lachen oder beleidigt sein sollte. Es war ja nicht so, als ob er gern ein Engel gewesen wäre.

„Dein Freund Katori geht schon eher als Engel durch. Sehr süß und lieb, und so. Ich schätze, das ist auch der Grund, warum Mister Taiken so ein Interesse an ihm hat.“

„Weißt du, wo ich Katori finden werde?“

Der Fährmann wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Im Palast ist gerade das Henkersfest in vollem Gange. Wenn ich raten müsste, wird Mister Taiken wohl mit ihm feiern. Also, ihn auf der Feier als Attraktion vorführen, meine ich.“

Ruri griff sich kurz verzweifelt an die Stirn und schloss die Augen. Das machte es ja richtig einfach, dachte er zynisch.

„Wenn du als Dämon durchgehen und nicht sofort auffliegen willst, dann trink dort bloß keinen Alkohol, der dir angeboten wird. Der hat mit eurem Alkohol im Diesseits absolut nichts zu tun. Von dem Essen solltest du auch die Finger lassen, das wird dir genauso wenig bekommen. Lass dir nicht anmerken, wenn du frierst. Dämonen haben kein Kälteempfinden. Und schlaf bloß nicht ein. Dämonen geben beim Schlafen ganz markante Atem-Geräusche von sich. Ihr Menschen werdet das wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen, aber Dämonen tun es. Wenn dich einer schlafend findet, und du diese Geräusche nicht machst, bist du tot. ... Ach ja, und mach einen Bogen um die kleinen, süßen Hündchen und Kätzchen, die du vielleicht im Palast herumtollen siehst. Die sehen zwar schmusig aus, aber ihre Augen hypnotisieren Menschen. Dann ist deine Tarnung als Dämon auch futsch, wenn sie dich high in der Ecke liegen sehen. Diese Tierchen sind nicht so harmlos wie die Viecher bei euch.“

Ruri nickte verstehend. „Warum erzählst du mir das alles?“

„Ich will dir nur helfen. Wenn du nicht lebend wiederkommst, krieg ich ja meine restlichen Zigaretten nicht mehr“, schmunzelte Kao. Inzwischen hatten sie das andere Ufer des Flusses erreicht und waren buchstäblich gestrandet. „Gib dir als Dämon Mühe, hörst du? Das passende Aussehen hast du ja zum Glück schon“, fügte er an und deutete auf die Stachelfrisur des Gitarristen.

Ruri nickte wieder. „Wie rufe ich dich, wenn ich wieder abgeholt werden will?“

„Brauchst du nicht. Wenn du zurück kommst, werde ich es wissen und schon hier Gewehr bei Fuß stehen. Das ist mein Job.“

„Danke.“

„Ach, noch was. Ihr Menschen habt doch immer eure schicken Handys.“

„Ja?“

Kao streckte ihm fordernd die Hand hin. „Her damit. Dämonen haben sowas nicht. Wenn das Ding einer findet, geht die Hölle los. Dann fangen sofort alle an, nach dem Besitzer zu suchen. Du kannst es dir wieder bei mir abholen, wenn du es wirklich lebend zurück schaffen solltest. Und wenn nicht ... naja, dann brauchst du´s eh nicht mehr.“

Dem hatte Ruri nichts entgegen zu setzen. Und er verspürte auch keine Lust, zum Andenken Fotos von diesem Ort zu machen. Also holte er schweren Herzens sein smartphone aus der Tasche, schaltete es ab, und übergab es dem Fährmann. Katoris mp3-player legte er auch gleich mit dazu. War ja das gleiche Kaliber. Er war zwar beim Sturz kaputt gegangen und tat keinen Mucks mehr, wie Ruri inzwischen festgestellt hatte, aber nichts desto trotz würde ihn dieses Ding verraten. „Haben Dämonen denn Geldbörsen?“

„Die, die gelegentlich in der Menschenwelt rumspazieren, schon. Mitnehmen kannst du sie. Nur nützen wird sie dir hier nichts.“ Kao schnippte seine inzwischen aufgerauchte Kippe in den Fluss. „Na dann, viel Erfolg.“

Ruri schaute mit unwohlem Gefühl zu der Stadt hinauf, die inzwischen schon viel näher wirkte. Der Palast, der wie eine japanische Burg hoch über der Siedlung thronte, war düster und eindrucksvoll. Nach kurzem Hadern stieg er aus dem Boot aus und sprang in den Sand des diesseitigen Ufers. Er holte wieder seine Zigarettenschachtel hervor und schüttelte eine Fluppe heraus. „Hier hast du noch eine. Für deine Hilfe.“

Kao strahlte begeistert vor sich hin.

„Hast du eine Idee, wie ich in diesen Palast am dümmsten reinkomme? Gibt es einen Geheimgang ohne sowas?“

„Ich hab keine Ahnung. Ich war da noch nie drin. Ist nicht meine Aufgabe. Aber ich sag mal so: Da sind eh gerade alle mit Feiern beschäftigt. Und mit einem wie dir wird auch keine Sau rechnen. Ich glaube nicht, daß sich jemand um dich schert.“

Tolles Glücksspiel. Der Gitarrist bedankte sich und sah wieder seinem Reiseziel entgegen. Mit einem neuerlichen Husten ging er los.

Unterwelt

Katori saß auf einer Decke auf dem Fußboden und beobachtete schlecht gelaunt das Fest, das um ihn herum tobte. Man hatte ihn mit einem eisernen Halsreifen in eine Ecke gekettet, damit er nicht abhauen konnte. Ab und zu wurde er in die Mitte des Saals gezerrt, um die versammelte Mannschaft mit einem Lied zu unterhalten, obwohl ihm das Treffen sauberer Töne bei der schwefelschwangeren Luft hier nicht gerade leicht fiel, oder irgendwelche seltendämlichen Aufgaben aufgetragen zu bekommen, mit denen er sich gehörig zur Feile machen konnte. Eigentlich waren alle pausenlos nur damit beschäftigt, sich über ihn lustig zu machen. Es war zwar noch keiner von denen richtig gemein oder ruppig geworden, aber das war bei steigender Stimmung eigentlich nur noch eine Frage der Zeit. Katori kam sich vor wie Taikens persönlicher Hofnarr.

Daran, daß er sich tatsächlich in der Unterwelt befand, hatte er inzwischen keinen Zweifel mehr. Er hatte beim Blick aus dem Fenster die steinige Einöde gesehen, und die hitzeflirrenden Lavafelder in der Ferne. Und spätestens, seit er den ersten Kollegen mit echten Fledermausflügeln durch die Luft hatte fliegen sehen, und diese weiße Schlange Kira, die sich als Tattoo um Taikens rechten Arm gewickelt hatte, war sein Weltbild gründlich reformiert worden. Dämonen gab es! Wie war er hier bloß reingeraten? Was hatte er als lebender Mensch in der Unterwelt zu suchen? Taiken hatte ihm jedenfalls versichert, daß er kein Reaper sei, der tote Seelen einsammelte um sie ins Jenseits zu begleiten, und daß Katori auch nicht tot wäre.

Taiken tauchte auf und ging vor Katorihito in die Hocke, um mit ihm halbwegs auf Augenhöhe zu kommen, und sei es nur, um Gemeinheiten loszuwerden. „Na? Amüsiert sich mein Engelchen?“

„Oh ja, total!“, schoss Katori sarkastisch zurück.

Der Herr der Unterwelt legte ihm den Zeigefinger unter das Kinn und hob sein Gesicht an, damit Katori ihm in die Augen sah. „Möchtest du für mich nicht endlich mal deine wahre Gestalt annehmen?“

„Was denn für eine wahre Gestalt?“, zischte der Sänger genervt. Dann hustete er, weil die schadstoffdurchsetzte Luft ihm im Hals kratzte.

„Na, deine Engels-Gestalt. Zeig mir doch mal deine hübschen Flügel!“

„Ich BIN kein Engel! Ich HABE keine Flügel! Wie oft denn noch, verdammt!?“

Taiken grinste gehässig. „Ich krieg dich schon noch dazu. ... Und bis dahin bespaßt du uns noch ein wenig. Komm mit“, legte er fest und machte sich an dem Halsring zu schaffen, mit dem Katori festgekettet war.

„Schon wieder? Ich hab keinen Bock mehr.“

„Das ist mir doch egal, ob du Bock drauf hast.“
 

Taiken bugsierte den Sänger wieder einmal in die Mitte der u-förmig aufgestellten Tische, wo jeder ihn sehen konnte. „Unser liebes Engelchen wird uns jetzt ein wenig bei Laune halten. Was haltet ihr davon?“, rief er dabei laut in die Runde, damit auch alle Gäste ihre Aufmerksamkeit auf Katori richteten.

Gegröhle und Gejohle wurde laut.

„Und was soll ich machen?“, wollte Katori begeisterungsfrei wissen.

„Wie wäre Pantomime? Wir sagen dir, was du bist, und du musst es uns vorspielen.“

Der Sänger stöhnte leise. Das durfte nicht wahr sein.

„Also los, was ist er?“, fragte Taiken in die Runde.

„Ein Bodybuilder!“, rief jemand.

Der Herr der Unterwelt lachte. „Das ist gut! Das will ich sehen! Komm, Engelchen, mach uns den Bodybuilder!“

Notgedrungen zog Katori seine schwarze Lederjacke aus, da man im T-Shirt einfach die Oberarme besser sah, und ließ die Muskeln spielen. Natürlich versagte er dabei kläglich. Er war ja kein Muskelprotz, er war dürre wie ein Spargel.

„Ein Model auf dem Laufsteg!“, gröhlte jemand dazwischen.

Gut, damit konnte Katori was anfangen. Für ein Visual Kei Label gemodelt hatte er ja durchaus schonmal. Er schnappte seine Jacke wieder vom Boden, warf sie sich lässig über die Schulter und schwebte los wie auf dem Catwalk.

„Ein Schwuler!“, forderte die Meute als nächstes.

„Och, nö!“, protestierte der Sänger und sank etwas in sich zusammen. „Das ist nicht euer verdammter Ernst, oder?“

„Nagut, lass dir was anderes einfallen“, gestand Taiken ihm erheitert zu. „Aber sei gut. Ich will was zu lachen.“

Der Vocal rollte unmotiviert mit den Augen und überlegte. Was einfallen lassen, schöner Shit. Er hatte die Nase voll. Jetzt würde er Taiken zeigen, wo der Hammer hing. „Okay, kann losgehen“, entschied er. „Ein neues Spiel. Ich brauche zwei Stühle, zwei Becher Wein und noch einen Freiwilligen. Zusätzlich zu dir, meine ich.“

Irgendwo sprang ein sichtlich angetrunkener Würdenträger auf. „Hier, ich!“ Er schnappte den Stuhl, auf dem er zuvor gesessen hatte, und brachte ihn mit, als er sich in das Tisch-U gesellte. Andere, die ebenfalls begierig darauf waren, was passieren würde, brachten einen zweiten Stuhl und Wein.

Katori stellte die beiden Stühle voreinander und ließ Taiken und den anderen Dämon sich direkt gegenüber sitzen. So nah, daß sie sich die Hand geben konnten, wenn sie wollten. Die beiden waren auch gut genug drauf, um es willig mitzumachen. Als nächstes sollte jeder von ihnen den Mund voll Wein nehmen. „Jetzt ist flache-Witze-Challenge angesagt. Ich erzähle Witze und wer von euch beiden zuerst lacht, hat verloren.“

Belustigtes Raunen ging durch den Festsaal.

Taiken und sein Kollege starrten sich gegenseitig leicht verkniffen, verbissen und mit vollen Bäckchen an. Herausforderung angenommen, der Wettkampf konnte beginnen. Möge der Bessere gewin-... Taiken prustete seinen Wein plötzlich in hohem Bogen hinaus wie ein Wasserspeier, direkt ins Gesicht seines Gegenübers. Und lachte sich die Seele aus dem Leib.

Der ganze Saal gröhlte lauthals mit.

„Ich hab doch noch gar nicht angefangen!“, warf Katori ein.

„Der guckt aber so blöd!“, feierte Taiken, vor Lachen nach vorn gekrümmt. Er deutete mit dem Zeigefinger unverhohlen auf seinen Challenge-Gegner. „Das Gesicht! Ich konnte nicht mehr!“ Er kicherte weiter. Nebenbei wischte er sich den verkleckerten Wein von seinem Kinn.

„Naja. Aufgabe erfüllt. Was zu lachen hattet ihr jedenfalls“, merkte Katori nüchtern und etwas enttäuscht an. Er hatte so gehofft, daß Taiken derjenige sein würde, der den Wein ins Gesicht gespuckt bekam.

Der andere Dämon nahm langsam eine knallrote Gesichtsfarbe an und wandte sich sauer dem Sänger zu. In Kombination mit der sichtbaren Rotweindusche sah das dennoch ziemlich ulkig aus. „Du kleiner Wichser!“, fluchte er. Jetzt fand er das Spiel, das Katori vorgeschlagen hatte, gar nicht mehr so lustig. „Ich werde dich ...“

„Nix da! Der gehört mir“, ging Taiken sofort dazwischen, stand auf und schnappte Katori am Kragen. „Komm, du bist erstmal wieder entlassen“, meinte er, bevor es hier noch Ärger gab. Er schob den Vocal in seine Ecke zurück und kettete ihn wieder an.

Katorihito pflanzte sich etwas ermattet auf seine Decke auf dem Boden. Er hustete wieder. Und langsam fühlte er auch eine leichte Übelkeit in seinem Magen aufsteigen. Die Unterwelt bekam ihm wirklich nicht. Wie lange würde er hier wohl durchhalten, mal ganz abgesehen von Taikens Schikanen?

„Du bist echt witzig“, lachte der Herr der Unterwelt. Er war wirklich bester Laune. „Ich hatte noch nie so ein spaßiges Henkersfest.“

„Das sollte ich wohl als Lob auffassen ...“, murmelte Katori. Er warf einen beiläufigen Blick auf seine Armbanduhr, um zu erfahren, wie lange er schon hier war. Aber sie zeigte immer noch die gleiche Uhrzeit wie schon von Anfang an. Entweder war das elende Ding stehen geblieben, oder hier unten gab es sowas wie Zeit nicht. „Hör zu, ich bin langsam echt hundemüde“, fuhr er dann fort, bevor Taiken sich vom Acker machte. „In meiner Welt wäre es sicher schon längst Schlafenszeit. Würde es dir was ausmachen, wenn ich dich morgen weiter belustige?“

Taikens Lächeln schwand schlagartig. „Du wagst es allen Ernstes, dich gegen meinen Willen aufzulehnen!?“

„Gegen welchen Willen denn? Hast du mir irgendeinen Befehl gegeben, den ich überhört hätte? Das war nur eine ganz höfliche Frage!“

„Du wagst es, Forderungen zu stellen?“

„Höfliche Frage!“, korrigierte Katori sauer.

„Du wirst mich solange bespaßen, wie ich es sage, merk dir das!“, stellte der Herr der Unterwelt herrisch klar, bedachte ihn noch mit einem todwünschenden Blick und stiefelte von dannen.

„Pisser ...“, zischte Katori ihm leise hinterher.

Sofort stand Taiken wieder auf der Matte. „Wie war das!?“

Der Sänger schaute ihn erschrocken an. Hatte der das gehört? Trotz der Entfernung und der allgemeinen Partylautstärke hier im Saal? Fuck, hatte der gute Ohren!

„Das wirst du mir büßen, Freundchen!“, kündigte Taiken humorlos an, befreite Katori wieder von seinem an die Kette gelegten Halsreifen und zerrte ihn grob vom Boden hoch. Dann stieß er ihn vor sich her, aus dem Festsaal hinaus.

Jetzt wurde es Katori doch langsam anders. Er war so eine streitlustige, bestimmende Art ja durchaus schon von Ruri gewöhnt, daher hatte Taiken ihm nicht übertrieben viel Angst gemacht. Unterwelt hin oder her, es war bisher nichts passiert, was Katori nicht längst von Ruri kannte. Wohl darum hatte er gedacht, mit Taiken einfach genauso umspringen zu können wie mit ihm. Jetzt erkannte er den Denkfehler bei der Sache. Ruri mochte ein überheblicher Sack sein, so sehr er wollte, und gern auch mal rigeros durchgreifen, wenn ihm etwas zu bunt wurde, aber er war sein unzertrennlicher Busenfreund und eingeschworener Mitstreiter. Taiken war das nicht. Jetzt hatte Katori es offenbar irgendwie übertrieben und der Unterweltler verstand keinen Spaß.
 

Taiken verfrachtete den Sänger mit körperlichem Nachdruck in den Kerker und suchte sich eine leere Zelle, in die er seinen Gast schmeißen konnte. Er schnappte eine Fackel von der Wand, um sich den Weg zu beleuchten, sowie den Schlüsselbund, der gleich daneben hing. Letzteren ließ er sich mit seiner telekinetischen Fähigkeit in hohem Bogen entgegen fliegen und fing ihn aus der Luft. Die Verließe waren kalte, modrige Kellerlöcher mit nacktem Steinboden. Nichtmal Stroh war hier ausgelegt, geschweige denn sowas wie ein Bett.

Katori erhaschte beim Vorbeigehen einen Blick durch eines der vergitterten Sichtfenster in den Holztüren, die den Gang zu beiden Seiten säumten. Da drin hing ein Skelett in Ketten von der Wand. Um den Kollegen hatte sich offenbar schon sehr lange keiner mehr gekümmert. Der Vocal schauderte unwillkürlich. Ein undefinierbares Heulen wogte durch das Verließ. Konnte ein Geist sein, oder ein Werwolf. Nein, sicher nur der Wind, versuchte sich Katori fröstelnd einzureden.

Taiken schloss die Zelle neben dem Skelett auf und beförderte Katorihito mit einem groben Stoß zwischen die Schulterblätter hinein.

Der Musiker kam durch den harten Schwung ins Stolpern und taumelte ungelenk zu Boden. Aber er verkniff sich abgesehen von einem leisen Stöhnen jeden Protest.

„Wir sprechen uns wieder, wenn die Feier zu Ende ist, Freundchen“, drohnte der Herr der Unterwelt in überlegener Gehässigkeit. „Dann wirst du wenigstens berechtigten Grund haben, mich mit irgendwelchen Beleidigungen zu betiteln.“ Er ließ die schwere, eisenbeschlagene Holztür ins Schloss krachen. Seine Schritte verhallten wieder im Gang, als er sich entfernte.
 

Taiken wollte gerade den Schlüsselbund wieder an seinen angestammten Platz hängen, als ihn ein Schatten im Augenwinkel ablenkte. Da war doch gerade irgendwas hinter der Ecke gewesen. Skeptisch ging er nachsehen und stand plötzlich vor einem Mann mit dicken, blonden Strähnen in der stacheligen Löwenmähnen-Frisur. „Himmel!“, jappste Taiken, was in der Hölle als ein ziemlich rüder Fluch galt. Ihm schlief kurz das Gesicht ein. Ruri? Hier?

Ruri hatte seine Mimik besser im Griff. Obwohl er gleichfalls ziemlich überrumpelt war, so unvermutet von Taiken aufgegriffen worden zu sein, blöffte er sehr glaubhaft. „Ah, du bist das. Ich hab mich gerade gefragt, wer wohl hier unten am Arbeiten ist, während da oben alle feiern.“

„Was zum Geier tust du hier? Wie kommst du in die Unterwelt?“

„Na, darf ich das nicht? Ich bin ein Dämon!“, stellte Ruri klar, in Erinnerung an den Rat des Fährmanns, sich bloß nicht als Mensch zu outen. Auch nicht gegenüber dem Boss, da hatte Kao keine Ausnahmen definiert.

Taiken gaffte ihn weiter mit offenem Mund an. Nur seine Augen verengten sich skeptisch ein wenig. Bitte, WAS war der Kerl? Ein Dämon? Hätte Taiken davon nicht wissen müssen, als deren Herrscher?

„Ich suche meinen Sänger. Du hast ihn dir ausgeborgt, falls du dich erinnerst“, fuhr Ruri souverän fort. Überzeugend zu sein und die große Klappe zu haben, waren seine Parade-Disziplinen. „Ich bräuchte ihn aber zurück. Wir haben im Diesseits noch Konzerttermine einzuhalten.“

Taiken schaute ihn immer noch an wie ein achtes Weltwunder.

„Hörst du mir zu?“, rückversicherte sich der Gitarrist schließlich, um endlich mal eine Regung zu provozieren.

Der Unterweltler mit den rostbraunen Haaren nickte. Langsam machte sich auch ein böses Lächeln auf seinen Zügen breit. „Ja-ja. Ich höre dich. Katori suchst du? Dann komm mal mit, Dämon.“ Er machte Kehrt und fischte im Vorbeigehen wieder den Schlüssel vom Wandhaken. „Was haben denn ein Engel und ein Dämon in der Welt der Lebenden miteinander zu schaffen?“, plauderte er dabei los.

Ruri überlegte fieberhaft, was er darauf antworten sollte. Taiken hielt Katori ernsthaft für einen Engel? Nun, das erklärte vieles. Aber er sollte besser nicht richtigstellen, daß Katori bloß ein ganz schnöder, gewöhnlicher Mensch war, sonst wäre Katori vermutlich ziemlich schnell tot. Kao hatte ihm ja wohl nicht grundlos eingebläut, daß man sich hier unten lieber nicht als Mensch outen durfte. „Äh ... Engel kann man gut als Arbeitssklaven halten. Als Frontmann auf der Bühne sind sie echte Publikumsmagneten“, sog sich Ruri schnell eine glaubhafte Erklärung aus den Fingern. „Du würdest staunen, wie lukrativ das in dieser Musik-Sparte ist, einen Engel unter seiner Kontrolle zu haben. Und unter Kontrolle halten lassen sie sich ja ziemlich leicht.“

Taiken warf ihm einen zynisch-amüsierten Blick zu, der irgendwo auf dem Level 'kannst du deiner Oma erzählen' rangierte. Dann schloss er eines der Verließe auf, vor dem er inzwischen stehengeblieben war, und öffnete die Tür. „Viel Spaß mit deinem lukrativen Engelchen“, wünschte er, griff grob mit einer Hand in Ruris Haare und bugsierte ihn daran in die Zelle hinein.

Ruri war zu überrascht, um noch etwas tun zu können. Schneller als er reagieren konnte, war er an den Haaren in das Kerkerloch gezerrt worden, was echt verflucht weh tat und damit etwaige Gegenwehr schon im Keim erstickte. Dann fiel die Tür krachend hinter ihm zu und er war eingesperrt. Verfluchter Dreckskerl! Murrend sah er sich um, während er sich die Haare wieder zurecht wuschelte. Seine Augen mussten sich erstmal an die Dunkelheit hier drin gewöhnen.

„Ruri?“, fragte eine wohlbekannte Stimme aus einer Ecke der Zelle.

Kerkerloch

„Katori!“, jauchzte Ruri erfreut, als er die Stimme natürlich sofort erkannte. Er ging vor dem auf dem blanken Boden sitzenden Sänger auf die Knie, schloss ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Erleichtert, ihn wiederzuhaben. „Gott, bin ich froh, dich zu sehen. Bist du okay? Entschuldige bitte, Katori. Echt, es tut mir so leid.“

„Was denn?“, wollte der verwirrt wissen und erwiderte die Umarmung, die er sich von keinem anderen sonst hätte gefallen lassen.

„Na, das alles hier. Das du hier gelandet bist.“

„Da kannst du doch nichts dafür, daß dieser Taiken mich verschleppt hat. Ich hätte ja auch mal selber ein bisschen Acht geben können. Suspekt war der Kerl uns ja von Anfang an, das hätte mich eigentlich hellhörig machen müssen. Sonst lasse ich mich doch auch nicht so leicht umgarnen.“

„Trotzdem. Ich hätte dich mit ihm nicht alleine lassen dürfen.“

„Unsinn!“, entschied Katori vehement und löste sich wieder aus Ruris festem, leicht verzweifelten Klammergriff. „Das ist nicht deine Schuld.“

Der Gitarrist musterte ihn nochmal seufzend von oben bis unten, soweit das bei den Lichtverhältnissen hier möglich war. „Bist du auch wirklich in Ordnung?“

„Ja. Ein bisschen genervt, aber sonst ...“ Katori hustete. Zu der immer lästiger werdenden Übelkeit hatten sich inzwischen auch Kopfschmerzen gesellt. „Diese Schwefel-Luft hier bringt mich noch um.“

„Ja. Ich schätze, die ist auch nicht ganz ungiftig. Wir sollten zusehen, daß wir hier schnell wieder weg kommen.“

Synchron schauten sie zur Tür ihres Verließes, auch wenn sie beide sicherlich komplett gegenteilige Gedankengänge dazu hatten. Während Ruri abschätzte, wie man die am besten aufkriegen könnte, lag Katoris Gutachten ungefähr bei 'niemals'.

„Wäre doch gelacht“, entschied Ruri, stand wieder auf und ging hinüber. Er nahm kurz Maß. Immerhin war das nicht die erste Tür, die er eintrat. Er hatte da schon ein bisschen Berufserfahrung. Er zog das Bein an und sprang mit aller Wucht gegen das Schloss. Und prallte davon zurück wie ein Springball. Das eiserne Schloss hielt. Fluchend versuchte Ruri es noch ein zweites und drittes Mal, dann mit einer anderen Technik, dann an einer anderen Stelle der Tür. Erfolglos.

„Komm schon, Ruri, lass es. Du wirst dich noch verletzen“, meinte Katori aus dem Hintergrund. „Oder noch schlimmer, du machst mit deinem Lärm jemanden auf uns aufmerksam. Glaubst du, hier gibt es keine Kerkermeister?“

„Ich hab keinen gesehen“, diskutierte Ruri und warf sich als nächstes mit der Schulter gegen die Tür. Auch das brachte nichts. „So ein Shit. Hast du dein Handy noch?“

„Ja, wieso?“

„Gib mal her. Ich brauch Licht. Entweder eine Taschenlampen-App oder zur Not halt die Bildschirmbeleuchtung.“

Einverstanden quälte sich Katori ebenfalls vom Boden hoch und kam herüber. Er hustete wieder, zunehmend bronchial.

„Du klingst aber gar nicht gesund, Junge“, warf Ruri besorgt ein.

Der Sänger beleuchtete nur kommentarlos das Schloss für ihn.

Er schaute sich die Misere eine Weile an. „Hm. Das ist noch ein total mittelalterlicher Mechanismus. Wäre gar keine große Sache, wenn wir das richtige Werkzeug hätten. Da ist nur so ein kleiner Kipphahn drin, den man erwischen muss. Du hast nicht zufällig eine Haarnadel einstecken, oder?“

„Nein.“

„Und irgendeine andere Nadel? Sicherheitsnadel, Button, irgendwas?“

Katori schüttelte den Kopf.

Ruri sah wieder nachdenklich auf das Schloss. „Ich hab ein Feuerzeug. Meinst du, ich kann die Tür einfach abfackeln? Hier ist doch sonst nichts aus Holz, was brennen könnte. Alles nur Stein. Sollte eigentlich ungefährlich sein, wenn wir Abstand halten.“

„Würde ich lieber lassen. Wer weiß, was in dieser ekelhaften Luft außer Schwefel noch alles drin ist“, gab Katori zu bedenken. Kurz Ruhe. „Aber ich hätte eine Kugelschreiber-Miene. Ginge die auch?“

„Oh ja, super! Gib her!“, stimmte Ruri erfreut zu.

Katori angelte seinen Stift aus der Innentasche der Jacke. „Wann hast du gelernt, Schlösser zu knacken?“, wollte er beim Aufschrauben wissen.

„Du kennst mich doch. Ich habe viele Talente.“ Der Gitarrist nahm die Metallmiene, die er hingehalten bekam, und fing an, damit derb im Schloss herum zu stochern. Offenbar brauchte man für diese Aktion ein bisschen Kraft, solche antiken Eisenriegel waren keine Feinmechanik.

Es gab einige knackende und klickende Geräusche, die Katori mehr als einmal Hoffnung machten. Aber es rührte sich trotz Ruris konzentrierter Bemühungen nichts. „Viele Talente, ja-ja“, lästerte er kichernd, um seinen Kumpel aufzuziehen.

„Willst du´s selber machen!?“, nörgelte der biestig zurück.

Katori lachte leise.

„Scheiß-Teil“, grummelte Ruri, langsam etwas ungeduldig. Wieso war dieses verdammte Schloss so störrisch? „Hast du manchmal noch einen zweiten Kugelschreiber einstecken?“

„Warum? Hast du die Miene abgebrochen?“

„Nein. Aber mit zweien ginge es besser. Dann könnte ich mit einer den Hebel da ... Oh! Hat sich erledigt!“, bemerkte Ruri erfreut und schob die Tür einen Spalt weit auf. Er hatte sie wirklich auf bekommen!

„Respekt. Gut gemacht.“ Katori griff nach der Kugelschreiber-Miene, die Ruri ihm wieder hinhielt, und bastelte mit ein paar schnellen, sicheren Handgriffen seinen Stift wieder zusammen.

„Jetzt müssen wir nur noch ungesehen hier wegkommen, ohne Taiken nochmal vor die Nase zu laufen. ... Steck das Handy weg! Das darf keiner sehen.“

„Wieso?“

„Weil die dich sonst als Mensch erkennen. Und dann bist du tot.“

„Die haben mich für einen Engel gehalten, das ultimative Feindbild der Dämonen. Noch schlimmer kann es kaum noch werden“, glaubte der Sänger.

„Lebende Engel werden hier wohl geduldet, zumindest wenn sie Gefangene sind. Lebende Menschen nicht. Die haben in der Unterwelt nichts verloren.“

„Und Engel und Dämonen, die in der Menschenwelt leben, können keine Handys haben?“

„Daaaaaas~ ... ist ne gute Frage“, gestand Ruri irritiert.

Einen Moment herrschte Schweigen, als sie sich gegenseitig anschauten, jeder auf einen Lösungsvorschlag vom anderen wartend.

„Wie du meinst.“ Katori schaltete sein Handy wieder aus und steckte es ein. „Wo ist eigentlich dein Handy hin? Akku alle?“

„Nein, das hab ich bei Kao gelassen. Wenn wir ihn wirklich nochmal wiedersehen sollten, können wir ihn ja fragen, warum Engel und Dämonen angeblich keine Handys haben sollen.“

„Wer ist Kao?“

„Der Fährmann, der uns allesamt über den Fluss geschippert hat. Du sollst ihm angeblich auch schon begegnet sein. Los jetzt, weg hier.“

„Keine Einwände“, meinte Katorihito.
 

Ruri schaute kurz durch die Sichtluke in der Tür, die aber leider keinen sehr großen Winkel einsehen ließ, schob die Tür auf und prallte entsetzt zurück.

Draußen im Gang lehnte Taiken an der gegenüberliegenden Wand, die Arme bequem vor der Brust verschränkt, die Füße überkreuzt, und lächelte gehässig in sich hinein. Er machte den Eindruck, als hätte er schon sehr lange da draußen gelehnt und sich das Spektakel von der anderen Seite der Tür aus angesehen. „Ruri, Ruri ...“, meinte er tadelnd. „Hast du denn gar kein schlechtes Gewissen?“

„Mir fiele da schon was ein. Was genau hast du im Sinn?“, konterte der Gitarrist.

„Du hast mich angelogen. Du bist ja doch kein Dämon, wie ich euren Gesprächen entnehmen durfte.“

„Kann ich was dafür, wenn du als angeblicher Herr der Unterwelt drauf reinfällst?“

„Übertreib´s nicht, Freundchen!“, meinte Taiken humorlos. Dann schien er sichtlich hin und her zu überlegen, was er jetzt machen sollte. Er war durchaus ein bisschen beeindruckt von Ruri. Die Schlösser des Kerkers zu knacken, das hatte bisher noch keiner fertig gebracht. Oder als lebender Mensch einfach mal rotzdreist und unbemerkt in den Palast rein zu spazieren und dabei nicht aufzufallen. Das musste man schon anerkennen, gestand Taiken sich ein. „Katori ist wirklich kein Engel, was?“

„Nein, ist er nicht.“

„Nun, dann hat wenigstens er nicht gelogen. ... Ihr seid also beide Lebende.“ Taiken haderte weiter mit sich. Was tun? Was tun!? Irgendwann seufzte er. „Sehr bedauerlich. Dabei können wir es leider nicht belassen. Lebend habt ihr in der Unterwelt nichts zu suchen. Das Gesetz ist da recht eindeutig.“

„Dann wirst du uns also umbringen?“, übersetzte Katori mit unwohlem Gefühl.

Taiken lächelte versöhnlich. „Nein, LEIDER nicht. Das steht mir nicht an. Eure Zeit ist noch nicht abgelaufen. Ihr müsst zurück in die irdische Welt. Aber vielleicht sehen wir uns ja wieder, wenn es soweit ist.“ Er löste sich von seiner Wand und winkte den beiden, ihm zu folgen. „Kommt, ich bring euch zurück ins Diesseits.“

Katori fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Alter Schwede. Wenn das hier wirklich vorbei war ... Das glaubte ihm kein Mensch!

„Oh, Katori!?“, meinte Taiken in sich erinnerndem Tonfall. „Du bist ein goldiges Kerlchen. Du gehst wirklich astrein als Engel durch, ich mag dich. Nimm es mir nicht übel, daß ich dich mit einem verwechselt habe.“ Er hielt dem Sänger den noblen Premium-mp3-player mit dem aktuellsten Schnickschnack und dem neuesten Stand der Technik hin, den er beim Weihnachts-Gewinnspiel der Drogerie als Hauptpreis gezogen hatte. „Hier, nimm das als Andenken an mich. Oder meinetwegen als Entschädigung für die Unannehmlichkeiten, die ich dir gemacht habe.“
 

Am nächsten Tag kamen Haruko und Satsu gemeinsam in den Probenraum. Wie immer, wenn Haruko mit von der Partie war, waren sie zu spät. Daran änderte sich auch nichts, wenn der Drummer ihn im Auto mitbrachte, damit er nicht die öffentlichen Verkehrsmittel nehmen musste. Haruko war einfach immer zu spät. Satsu hatte fast 20 Minuten auf ihn warten müssen, und als sie dann endlich losgefahren waren, hatten sie nochmal umdrehen müssen, weil Haruko etwas vergessen hatte.

„Wieso kannst du auch nie pünktlich sein? Ruri wird uns umbringen!“, jammerte Satsu, als sie sich der Tür zum Probenraum näherten. Er war auf das Schlimmste gefasst.

„Dann haben wir´s wenigstens gleich weg“, erwiderte Haruko gelassen. „Wenn wir rechtzeitig gekommen wären, würde er irgendwas anderes finden, wofür er uns rund-erneuern kann.“

„Vielleicht haben wir ja unverschämtes Glück und Ruri ist noch gar nicht da. Ich hab die Ninja nicht auf dem Parkplatz gesehen.“

„Quark. Er wird einfach bei Katori mitgefahren sein. Katoris Flitzer stand unten.“

Sie blieben verwundert in der Tür stehen, als sie sahen, was im Probenraum gerade los war. Oder vielmehr, daß hier gar nichts los war. Ruri lag lang auf dem Sofa der Sitzecke, Katori hing windschief im Sessel, und beide schliefen tief und fest. Ihre Kaffeetassen auf dem niedrigen Couch-Tisch waren noch randvoll. Ruri hatte es nichtmal geschafft, wenigstens seine Jacke auszuziehen.

„Meine Fresse. Sieht aus, als hätten die ne lange Nacht gehabt“, kommentierte der Schlagzeuger dieses Bild verwundert. Er hatte sofort und intuitiv Flüsterlautstärke angenommen.

„Können die nicht zu Hause pennen?“, raunte Haruko.

„Das werden doch heute keine gescheiten Bandproben, so fertig, wie die zwei offensichtlich sind. ... Wollen wir sie wecken?“

„Bist du irre?“, meinte Haruko leise. „Drachen weckt man nicht! Sei froh, daß Ruri schläft und stör ihn nicht dabei! Vor allem können wir dann behaupten, wir wären pünktlich gewesen und hätten sie nur schlafen lassen. Komm, wir verziehen uns in die Teeküche und holen uns auch einen Kaffee.“

Katori, von dem Getuschel unterschwellig geweckt, drehte sich zur Seite und zog die Beine an, um sich auf dem gemütlichen Sessel zu einem Ball zusammen zu rollen, dann schlummerte er in Ruhe weiter.

Von Ruri auf dem Sofa kam keine Regung. Der schlief wie ein Stein. Diese durchgemachte Nacht in der Unterwelt hatte ihm echt den Rest gegeben. Er wurde langsam zu alt für solchen Scheiß.

Satsu schaute die beiden noch einen Moment an. Schließlich schnappte er mit einem angetanen Lächeln zwei der Filzdecken, mit denen sie sonst ihre Verstärker verpackten. Eine davon zog er der Länge nach über Ruri, um ihn zuzudecken, die andere wickelte er um den eingerollten Sänger. „Ja, lass uns Kaffee holen“, stimmte er dann schmunzelnd zu und winkte Haruko, mitzukommen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... so, und Zan wird euch dann in den Kommis verraten, was richtig und was falsch war. :D Komplett anzeigen

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